Ada, wo bist du? - Melanie Kleinloh - E-Book

Ada, wo bist du? E-Book

Melanie Kleinloh

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Beschreibung

Ada Stratmann verlässt das Haus - scheinbar, weil sie mit ihrer Tochter und den Enkelkindern im Wald verabredet ist. Als Johan Stratmann nach Hause kommt, muss er mit Entsetzen feststellen, dass seine pflegebedürftige Frau verschwunden ist. Nachdem Ada bis zum Abend nicht aufgetaucht ist, verständigt Johan die Polizei. Es beginnt eine fieberhafte Suche, währenddessen bei Ada Realität und Fantasie zunehmend verschwimmen. Die gesamte Familie wird von ihrer Vergangenheit eingeholt ... Wichtige Themen wurden über Jahrzehnte totgeschwiegen, weil niemand die richtigen Worte gefunden hat. Glück und Leid haben tiefe Spuren hinterlassen. Gemeinsame Erinnerungen werden lebendig und ganz unterschiedlich gewertet. Verletzungen und Bitterkeit kommen an die Oberfläche. Und das alles wegen dem kleinen Leo. Gibt es Heilung für gebrochene Herzen? Macht das Leiden einen Sinn? Wird am Ende alles gut? In ihrem Debüt-Roman gelingt es Melanie Kleinloh, sich mit Emotion und Stil den unterschiedlichsten Charakteren zu nähern. Jetziges und Vergangenes werden geschickt miteinander verwoben und malen das Leben in einer Tragweite vor Augen, die selten in einem Buch zu finden ist: die Realität einer intensiven, herzergreifenden und schmerzhaften Liebe zwischen zwei Menschen. AUTORIN Melanie Kleinloh hat in Heidelberg Erziehungswissenschaft, Philosophie und Religionswissenschaft studiert (Magister). Sie lebt dort in der Nähe mit ihrer Familie und arbeitet als Schulsozialarbeiterin. Melanie treibt ein unersättlicher Hunger nach Literatur. Bücher tragen ebenso zu ihrem Glück bei wie tiefe Freundschaften. Wenn sie nicht mit Wanderrucksack auf einsamen Routen oder mit dem Fahrrad quer durch Deutschland unterwegs ist, findet man sie in der afrikanischen Steppe, um in wilden Schluchten den galoppierenden Zebras und lachenden Hyänen zu lauschen.

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Melanie Kleinloh Ada, wo bist du?

Melanie Kleinloh

Ada, wo bist du?

Der Roman einer Familiengeschichte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 by Fontis-Verlag Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Bild Frauenporträt: Anastasiia Popova/shutterstock.com Bild Hintergrund: Christian Holzinger/unsplash.com E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-658-9

Happy times together we’ve been spending I wish that every kiss was never-ending Oh, wouldn’t it be nice?The Beach Boys

— 1 —

März 2017

Während Ada in den Spiegel schaute, verschwamm das Bild vor ihrem Gesicht, und für einen Moment strahlten ihr die Augen eines achtzehnjährigen Wildfangs entgegen. Die Wangen braungebrannt und voller Sommersprossen. Die langen, lockigen, ungebändigten Haare von der Sonne in vielerlei Blondtönen gesträhnt. Das tiefe Grübchen im Kinn, das immer dann zu sehen war, wenn sie der Welt ein Lächeln schenkte.

Überrascht und gerührt sog Ada das Bild ganz tief in sich auf und schloss dann rasch die Augen, bevor die harte, mitleidslose Realität ihr klarmachen konnte, dass dieses Counterfeit aus einer anderen Zeit nicht das Geringste mit ihrer Gegenwart zu tun hatte. Hinter ihren geschlossenen Lidern nahm sie die Umrisse der jungen Frau noch immer wie eine Silhouette wahr.

Ein graues Schattenbild, das mehr und mehr mit dem schwarzen Hintergrund verschmelzen und bald nicht mehr sichtbar sein würde.

Doch Ada weigerte sich, diesen unerwarteten Besuch aus der Vergangenheit so einfach ziehen zu lassen. Noch einen kurzen Augenblick wollte sie dort verweilen und das Glück und die Unbeschwertheit ihrer eigenen Jugend nachempfinden. Und so begann sie, leise ein Lied zu summen:

Wouldn’t it be nice if we were older? Then we wouldn’t have to wait so long …

Wider Erwarten verschwand die Silhouette nicht in der Dunkelheit, sondern sie wurde klarer und deutlicher und erwachte zum Leben.

♦ ♦ ♦

August 1977

Ada sah sich selbst, mit glänzenden, aufgeregten Augen im Schein eines Lagerfeuers, tanzend mit der Liebe ihres Lebens.

In der guten Stube ihrer Erinnerung war es Johan, der das Lied leise sang, während sich beide im Takt dazu hin- und herwiegten.

And wouldn’t it be nice to live together In the kind of world where we belong …

Ada war achtzehn und Johan zwanzig Jahre alt gewesen, als sich die beiden während eines diakonischen Einsatzes in den Sommerferien kennenlernten. Beide hatten ihren Schulabschluss gerade hinter sich gebracht. Ada ihre Mittlere Reife und Johan das Abitur. Sie kamen aus ganz verschiedenen Ecken Deutschlands.

Ada war als Mitglied einer großen Familie in einem kleinen, beschaulichen Ort im Schwarzwald aufgewachsen, während Johan seit seiner Geburt mit der alleinerziehenden Mutter in einer spärlichen Wohnung im Zentrum Berlins lebte.

In vielen Bereichen unterschied sich die Kindheit und Jugend der beiden grundlegend. Doch trotzdem hatten sie nach kürzester Zeit den Eindruck, jemanden gefunden zu haben, den die Seele schon lange gesucht hatte.

Beide waren sie mit einer Jugendgruppe für vier Wochen in Berlin stationiert, um dort bei einem Hilfsprojekt mitzuarbeiten. Ein Pastor der Heilsarmee, Alexander Schneider, oder der «Bahnhofs-Pfaffe», wie er von seinen Schäfchen liebevoll genannt wurde, setzte sich seit ein paar Jahren mit viel Herzblut und Leidenschaft für die berühmt-berüchtigten Kinder vom Bahnhof Zoo ein: blutjunge Menschen, die auf der Straße lebten, kokainsüchtig waren und sich das Geld für ihren nächsten Schuss durch Prostitution und Kriminalität beschafften.

Pastor Schneider hatte ein kleines Café in Bahnhofsnähe eröffnet, in dem die Kinder und Jugendlichen sich wärmen und stärken konnten. Einen Ort, an dem sie immer ein offenes Ohr für ihre erschütternden Sorgen und Nöte fanden.

Nun war es die Vision des «Bahnhofs-Pfaffen», im Nebengebäude des Cafés eine kleine Kapelle zu errichten. Dort könnte mit den Straßenkids regelmäßig Gottesdienst gefeiert werden. Viele der Junkies waren auf der Suche nach Sinn und Hoffnung, die wenigsten jedoch trauten sich in ein gewöhnliches Kirchengebäude, um sich dort unter die piekfeinen Damen und Herren in ihren eleganten Sonntagsroben zu mischen, nur um von ebendiesen argwöhnisch beäugt und leichtfertig verurteilt zu werden.

In dem vierwöchigen Hilfseinsatz sollte es also zum einen darum gehen, den alten, sanierungsbedürftigen Nebenraum des Cafés in eine einladende Kapelle umzufunktionieren. Zum anderen sollte die Gruppe den Cafébetrieb am Laufen halten, da viele der ehrenamtlichen und vollzeitlichen Mitarbeiter derzeit in ihrem wohlverdienten Sommerurlaub waren.

Ada hatte einen Artikel über die Arbeit der Heilsarmee am Bahnhof Zoo gelesen und war gleich Feuer und Flamme für das Herz und die Vision des «Bahnhofs-Pfaffen». Als im gleichen Zeitschriftenartikel über den geplanten Hilfseinsatz mit freiwilligen Ehrenamtlichen berichtet wurde, wusste sie mit Sicherheit, dass sie daran teilnehmen wollte.

Und so eröffnete sie an einem regnerischen Donnerstagabend ihrer schmatzenden und schlürfenden Großfamilie am Abendbrottisch ihre Pläne.

«Du, Papa, ich werde im August für ’ne Weile nach Berlin gehen.»

Ihr Vater verschluckte sich an der würzigen Gulaschsuppe und hustete unkontrolliert. Seine Frau und die jüngste Tochter Salome, die rechts und links von ihm saßen, schlugen ihm mit Eifer auf den Rücken, um den Hustenreiz zu mildern. Nachdem Herr Weingärtner wieder Luft bekam, schaute er seine Tochter prüfend an.

«Was hast du gesagt?»

«Ich werde im August für ’ne Weile nach Berlin gehen», wiederholte Ada geduldig.

«Junges Fräulein, das heißt nicht ‹Ich werde nach Berlin gehen!›, sondern ‹Darf ich bitte nach Berlin gehen?›. Nur weil du seit ein paar Tagen achtzehn bist, heißt das noch lange nicht, dass du jetzt selbst bestimmen kannst.»

«Doch, das heißt es!», kicherte Ada vergnügt. «Das ist sogar so ziemlich die exakte Definition von Volljährigkeit.»

Herr Weingärtner begriff, dass der Versuch, seine Autorität geltend zu machen, bei seiner eigensinnigen volljährigen Tochter nicht viel bringen würde. Also räusperte er sich ausgiebig und versuchte es mit einer anderen Masche.

«Töchterchen, schau mal. Du bist in einem 500-Seelen-Dorf aufgewachsen. Wenn du nach Freiburg zum Einkaufen fährst, leidest du zwei Tage lang an einer Reizüberflutung. In Berlin findest du nicht eine einzige Kuh, die dir den Handrücken abschleckt, ganz zu schweigen von einer grünen Wiese, auf der du rücklings liegen und den Himmel betrachten kannst.»

«Kühe gibt es da höchstens in Form von amerikanischen Buletten in Schnellrestaurants», pflichtete Frau Weingärtner ihrem Mann eifrig bei.

Ada schaute ihre Eltern amüsiert an und zuckte mit den Schultern.

«Spart euch die Überredungsversuche!», kam Theo seiner großen Schwester zur Hilfe.

«Schaut euch mal ihren Blick an. Den kennt man doch schon. Und ihre roten Backen. Und die blaue Ader um ihr rechtes Auge, die sich bei Aufregung verdunkelt. Ada hat ihre Entscheidung längst getroffen.»

Dankbar knuffte Ada ihrem Bruder in die Seite, und es brach begeistert aus ihr hervor:

«Da wohnen dieser Pastor Schneider und seine Frau. Ich hab einen Bericht von denen gelesen. Die sind selbst noch total jung. Die waren erst voll bürgerlich drauf: schickes Reihenendhaus im Berliner Westen, guter Job, polierter Mercedes. Aber dann haben sie sich dazu entschlossen, alles aufzugeben, um stattdessen am Bahnhof Zoo mit den Straßenkids zu arbeiten. Die leben mittendrin, sag ich euch. Sind in ’ne schäbige Wohnung gezogen, direkt neben einem alten Abbruchhaus. Die lassen die Straßenkids sogar bei sich wohnen, und manchmal nehmen sie welche bei sich auf, die dann ’nen cold turkey probieren.»

«Cold turkey?», fragte Frau Weingärtner interessiert. «Ist das was zu essen?»

«Nein, Mama!», belehrte Theo sie altklug. «Das ist ein kalter Entzug. Wenn Süchtige von heute auf morgen mit den Drogen aufhören, dann nennt man das so.»

Frau Weingärtner wich die Farbe aus dem Gesicht, und sie zog laut hörbar die Luft ein.

«Ach du meine Güte, Ada», rief sie erschrocken aus.

Herr Weingärtner lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wischte sich den Mund und die Stirn mit dem weißen Baumwolltaschentuch, das er immer in der Tasche seiner grünen Cordhose aufbewahrte.

Dann schaute er seine älteste Tochter streng an, doch Ada sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen.

«Danke, Paps. Das wird super!»

Sie sprang auf und quetschte sich auf seinen Schoß, wobei sie beinahe sein Weizenbier-Glas umwarf.

Herr Weingärtner strich ihr über den Lockenschopf und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin:

«Du verrücktes, verrücktes Huhn. Nichts als verrückte Ideen im Kopf. Und immer mit dem verrückten Lockenkopf durch die Wand.»

Johan, der selbst in Berlin und damit quasi in der Nachbarschaft wohnte, hatte durch einen Bekannten von dem Projekt am Bahnhof Zoo gehört. Eigentlich wäre er gerne ins Ausland gegangen. Am liebsten in ein Waisenhaus in Kenia, das sein großer Freund Benjamin vor Jahren dort gegründet hatte. Doch seinem relativ knappen Budget war es nun geschuldet, dass er stattdessen direkt vor der Haustüre aktiv wurde.

Für Ada und für Johan ging ein Traum in Erfüllung. Endlich konnten sie die Schulbücher zur Seite legen und sich ganz praktisch daran beteiligen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Wie oft hatten beide genau davon geträumt, während sie Nachmittag für Nachmittag chemische Formeln auswendig gelernt und mittelalterliche Dramen analysiert hatten.

Schon im Zug nach Berlin hatte Ada die schüchterne Irene kennen gelernt. Durch Zufall erfuhr Ada, dass auch Irene an dem sozialen Einsatz in Berlin teilnehmen würde, hatten sie doch kurioserweise im gleichen Abteil gesessen und waren miteinander ins Gespräch gekommen. Die beiden verstanden sich von Beginn an blendend.

«Tut mir leid, dass ich so viel quassele. Das tue ich immer, wenn ich aufgeregt bin», ließ Ada mehrmals verlauten.

Für die stille Irene war sie genau das richtige Gegenüber.

Später hatte Irene Ada gebeichtet, dass sie vor Angst kurz davor war, kehrtzumachen, bevor sie Ada im Zugabteil getroffen hatte. Auch während der ersten Tage in Berlin war Irene Adas ständige Begleiterin. Eine neue Freundschaft war geschlossen.

Der offizielle Beginn des Einsatzes war an einem Mittwochabend. Die achtzehn Gruppenmitglieder waren in der Jugendherberge, die für die nächsten vier Wochen ihre Unterkunft sein sollte, angekommen. Nach einem gemeinsamen Abendbrot wurden alle von Markus, dem Einsatzleiter, begrüßt und in die Planung für die bevorstehende Zeit eingeweiht.

Zu Adas Enttäuschung informierte Markus das Team darüber, dass Pastor Schneider und seine Frau aus persönlichen Gründen nicht am Einsatz teilnehmen würden. Sie erwarteten ein Baby, und es hatten sich Komplikationen in der Schwangerschaft eingestellt. Alexander Schneider hatte entschieden, die Einsatzleitung an Markus zu übergeben, um für seine Frau und das ungeborene Kind da sein zu können.

Ada seufzte. Sie hätte das dynamische Ehepaar gerne kennen gelernt und sich von ihnen inspirieren lassen. Doch während Markus den Ablauf der nächsten Wochen erläuterte, stellte sich schnell wieder die aufgeregte Erwartung und Vorfreude ein, die sie schon seit Wochen in ihrem Inneren verspürt hatte.

Es würde ein Renovierungsteam, ein Küchenteam und ein Café-Team geben. Gleich am nächsten Morgen sollte es losgehen.

Den Rest des Abends verbrachte die Gruppe im Aufenthaltsraum, und Ada war hellauf begeistert von den vielen netten Menschen, die sie bereits am ersten Abend kennen gelernt hatte, und den zahlreichen inspirierenden Gesprächen, die sie hatte führen können.

Johan hingegen hatte erst mal aus einer Beobachterposition heraus alles in sich aufgenommen. Dennoch war sein Resümee am Ende ähnlich positiv wie Adas.

Am dritten Tag nach ihrer Ankunft beschloss die komplette Truppe, nach getaner Arbeit gemeinsam zu einem nahe gelegenen See zu fahren. Ein paar Leute aus dem Team waren schon am Vorabend dort gewesen und hatten eine wunderschöne Stelle am Ufer gefunden, an der es sogar eine provisorische Feuerstelle gab. Außerdem war die Verkehrsanbindung günstig. Sie konnten den Bus nicht weit vom Café nehmen, und auch abends spät gab es noch einen Bus zurück zur Jugendherberge.

Es war Anfang August, die Temperaturen hatten inzwischen ein Rekordhoch erreicht, und alle freuten sich auf eine kleine Abkühlung im erfrischenden Nass.

Im Bus angekommen, ergab es sich, dass Irene nicht wie gewöhnlich neben Ada Platz nahm. Sie musste noch eine Einkaufsliste mit Markus, dem Einsatzleiter, erstellen. Am nächsten Tag fand eine Veranstaltung im Café statt, und man rechnete mit einer großen Anzahl von Gästen, die alle verköstigt werden sollten. Da Irene sich innerhalb des Küchenteams in den ersten Tagen sehr geschickt angestellt hatte, wollte Markus ihr die Verantwortung für das Einkaufen und das Zubereiten der Eintöpfe übergeben. So setzten die beiden sich auf der Fahrt zum See nach hinten in den Bus, um dort in Ruhe planen zu können.

Der dadurch entstandene freie Sitzplatz neben Ada wurde von Johan in Beschlag genommen.

Im Nachhinein hatte Johan ihr lachend gebeichtet, dass diese Aktion, sich so ungeniert neben Ada zu setzen, der wohl riskanteste und unvernünftigste Schritt seines damaligen Lebens gewesen war. Er hätte Angst gehabt, sein Herz würde ihm im Brustkorb zerbersten, als er sie anschaute und ein möglichst ungezwungenes

«Hallo, ich bin Johan» über die Lippen brachte.

Ada hatte von all der Aufregung nichts gemerkt. Sie war froh, einen Sitznachbarn zu haben, da das Alleinsein sie immer etwas nervös machte. Dies mochte daran liegen, dass sie aus einer Großfamilie stammte.

Ada hatte Johan in den Tagen vorher ein paarmal zur Kenntnis genommen, auch wenn er in einer anderen Gruppe mitarbeitete als sie. Johan war vor allem beim Renovieren der Kapelle aktiv, während Ada sich zumeist im Café aufhielt und dort mit den Gästen Gespräche führte.

Wann immer Ada die Kapelle passierte, um auf die Toilette zu gehen oder etwas im Abstellraum zu holen, war Johan konzentriert bei der Arbeit gewesen und sah dabei sehr ernst aus. Aufgefallen war ihr Johan auch dadurch, dass er schon kräftig am Schuften war, wenn sie morgens im Café ankam, und noch immer Balken schleppend oder Werkzeuge aufräumend durch die Gegend lief, als sie schon längst Feierabend gemacht hatte und es sich mit ein paar anderen Teilnehmern und einer kräftigen Tasse Kräutertee draußen auf der Bank gemütlich machte.

Dort im Bus, der über die schmalen Schotterwege in Richtung See zockelte, begannen Ada und Johan ihre erste längere Unterhaltung. Und sie mussten von den restlichen Gruppenmitgliedern angestupst werden, als das Ziel erreicht war, da sie sonst den Ausstieg verpasst hätten. Und sie redeten auf dem Weg zum See, und dort angekommen setzten sie sich auf eine Bank und redeten weiter.

Irgendwann kamen Markus und Irene an ihnen vorbeigerannt. Sie hatten sich bereits in den urigen, blaugestrichenen Umkleidehütten umgezogen und wollten gerade ins Wasser spurten, als sie bemerkten, dass Ada und Johan in ihrer kompletten Arbeitsmontur in der prallen Sonne saßen und nicht mal auf den Gedanken zu kommen schienen, sich in den erfrischenden See zu stürzen.

Widerwillig unterbrachen Ada und Johan schließlich ihr Gespräch und schwammen mit dem Rest der Gruppe zur nahegelegenen Insel. Abends wurde ein Feuer entzündet und Stockbrot gebacken, und schon bald fanden die beiden sich erneut in einen intensiven Dialog verwickelt, bei dem sie alles und jeden um sich herum zu vergessen schienen.

Da es für das ganze Team ein wundervoller Abend gewesen war und die Tage so heiß blieben, verbrachte man beinahe alle folgenden Feierabende in gleicher Weise am See. Wenn die Dunkelheit hereinbrach, wurde ein Feuer entzündet, und oft war es Mitternacht, als das letzte Grüppchen den Bus zur Unterkunft nahm.

Keiner wunderte sich inzwischen mehr darüber, dass Ada und Johan nur noch aufeinander fixiert waren und für niemand anderen ein offenes Auge oder Ohr hatten. Bis auf ein paar kleine freundschaftliche Sticheleien und Seitenhiebe hier und da wurden sie weitestgehend in Ruhe gelassen.

Zu Adas großer Freude und Erleichterung wurde sie von Irene nicht sonderlich vermisst, da diese neuerdings oft und gerne ihre Zeit mit Markus verbrachte.

Und so saßen Ada und Johan nach Feierabend zusammen und redeten und redeten. Wenn Johan etwas erzählte, konnte Ada förmlich sehen und schmecken und riechen, von was er da sprach. Alles schien ihr so absolut vertraut.

Und je mehr sich Ada öffnete, ihm Dinge zu erzählen, die sie nie zuvor einem anderen Menschen anvertraut hatte, desto überraschter war sie von der Tatsache, dass Johan sie nicht etwa befremdlich nickend anschaute und versuchte, seine Verwirrung über ihre Gedanken zu vertuschen. Stattdessen nickte er eifrig und begeistert und erwiderte etwas, was für sie wiederum absolut Sinn machte und ihren Gedanken genau da aufgriff, wo sie stehengeblieben war.

Es erschien ihnen seltsam, dass sie sich so gut verstanden, obwohl sie sich in ihrem Wesen und Charakter so stark unterschieden.

Selbst die Teamteilnehmer, die die beiden ja erst seit ein paar Tagen kannten, wunderten sich hinter vorgehaltener Hand, was denn die quirlige Ada und der besonnene Johan aneinander fanden.

Und dann kam der Abend ziemlich am Ende ihrer gemeinsamen Zeit, an dem ein paar Jungs aus der Gruppe ihre Gitarren dabei hatten.

Nach einer bewegenden Zeit, in der einzelne Teilnehmer von ihren Erlebnissen und Erfahrungen während der vergangenen Wochen berichtet hatten, ein paar bedeutsame Gebete gesprochen und einige tiefsinnige Choräle gesungen waren, saß die Gruppe noch bis spät in den Abend am Lagerfeuer und musizierte zusammen.

Um Mitternacht packten die Letzten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Heimweg – bis auf Ada und Johan. Da es Freitag war, fuhr noch ein späterer Bus um 1 Uhr, und obwohl von ihnen erwartet wurde, dass sie am nächsten Morgen um Punkt 9 Uhr bei der Arbeit zu erscheinen hätten, wollten die beiden die Zeit am See so lange wie möglich auskosten.

Markus, der seine Verantwortung als Gruppenleiter sehr ernst nahm, hatte zunächst Bedenken, die beiden unbeaufsichtigt alleine zurückzulassen. Doch da sie die Volljährigkeit bereits erreicht hatten und er meinte, sich auf sie verlassen zu können, ließ er sie mit ein paar gut gemeinten Ratschlägen schließlich zurück.

«Sollen wir tanzen?»,

fragte Johan, als sie gemeinsam am Feuer saßen und in die zuckenden Flammen schauten.

Überrascht sah Ada ihn an. Für den sonst so ernsthaften und vernünftigen Johan war das ein sehr ungewöhnlicher Vorschlag.

«Klar»,

grinste sie und stand auf. Er stellte sich ihr gegenüber, nahm sie in seine Arme und begann leise zu singen:

Wouldn’t it be nice if we could wake up in the morning when the day is new? And after having spent the day together hold each other close the whole night through …

Die beiden wiegten sich langsam zum Takt der von Johan gesummten Melodie.

♦ ♦ ♦

Nach einer gefühlten Ewigkeit erwachte Ada aus ihrem Tagtraum. Sie stand noch immer vor ihrem runden Schlafzimmerspiegel und hatte sich mit beiden Händen an der alten Eichenkommode abgestützt, auf der all ihre Parfümflaschen, ihr Schmuck und ihre Haarbürste liebevoll arrangiert waren.

Ada schaute sich lange im Spiegel an. Ihr Blick war müde, doch wenn man ganz genau hinschaute, erkannte man noch das abenteuerlustige Funkeln in ihren tiefblauen Augen. Ihre Haut war weich und ein wenig aufgeschwemmt. Doch noch immer zeichneten sich die hohen Wangenknochen ab und gaben ihrem Gesicht diese ein wenig exotische Form. Um ihre Augen herum tummelten sich zahlreiche Krähenfüße, die man mit ein wenig gutem Willen als Lachfalten bezeichnen konnte. Langsam hob sie ihre Hand und strich sich ein paar Mal die Haut um ihre Augen glatt:

«Das müsste Johan dringend mal bügeln», flüsterte sie und musste über ihre alberne Bemerkung kichern.

Johan war, seit sie sich kannten, im Haushalt für das Bügeln der Wäsche zuständig. Dies hatte er oft betont, wenn es darum ging, befreundete Männer zu erziehen, die mit ihren Macho-Sprüchen die Frauen an den Herd scheuchen wollten.

Ja, der gute Wille war bei Johan in jedem Fall da gewesen, amüsierte sich Ada. Wenn auch der Korb mit der Bügelwäsche so manches Mal in irgendeiner Ecke des Schlafzimmers vergessen wurde und schon mal mehrere Monate verstrichen, bis Ada den Leinenrock, den sie am liebsten sonntags trug, oder ihre blau-weiß gestreifte Bluse wieder am Kleiderbügel hängend vorfand.

Manchmal hatte sie die verschollenen Kleidungsstücke bereits vergessen und tat belustigt so, als ob Johan sie großzügigerweise mit einem verfrühten Geburtstagsgeschenk oder einem verspäteten Valentinsmitbringsel bedacht hätte. Für gewöhnlich schlich sie sich dann in ihrem verloren geglaubten Outfit von hinten an Johan heran, umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr:

«Vielen Dank, Darling. Du hast mal wieder genau meine Größe und meinen Stil getroffen.»

Dann lief sie einmal wie auf einem Laufsteg vor ihm hin und her und drehte sich mit einem provokanten Schulterblick zu ihm um. In den meisten Fällen führte dies zu einer wilden Hetzjagd durch das gesamte Haus und manchmal auch durch das Außengelände, bis die beiden sich am Ende lachend und küssend in den Armen lagen.

«Jetzt aber Schluss mit dem sentimentalen Quatsch»,

schalt Ada sich leise und strich sich durch ihr noch immer schulterlanges Haar, das inzwischen mit vielen grauen Strähnen durchzogen war und, ehrlich gesagt, ziemlich störrisch und strähnig in alle Himmelsrichtungen abstand.

Entschlossen befestigte sie eine besonders widerspenstige Strähne am Hinterkopf, fixierte sie mit einer Spange und schlug beherzt mit den Handflächen auf die Kommode.

«Los geht’s … Wo war ich stehengeblieben?»

Ada umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, hielt einen Moment inne und überlegte angestrengt. Dann hob sie in einer ruckartigen Bewegung ihren Kopf und schaute erschrocken auf die Kuckucksuhr, die sie durch die offene Schlafzimmertüre im Flur hängen sah. Eine Uhr, die schon in ihrem Elternhaus gehangen hatte. Mit einem Kuckuck, der schon in ihrer Kindheit für sie gerufen hatte.

«Verflixtes Großhirn!», rief sie aufgelöst.

Irgendwie war sie in letzter Zeit wirklich vergesslich geworden. Heute Morgen hatte doch Talia, ihre älteste Tochter, angerufen. Sie hatte um Unterstützung mit den beiden Zwillingen gebeten. Louis und Justus waren letzten Sonntag drei Jahre alt geworden, doch leider schalteten sich die «terrible twos» nicht immer termingerecht ab, und so gab es viel Gebrüll und Gezeter im Hintergrund, während sie mit Talia eine Verabredung ausgemacht hatte.

Sie würden sich heute Mittag zum Picknick auf der Kullerwiese treffen.

Ja, so war es gewesen … Moment noch gleich … Um wie viel Uhr?

Jetzt war es 11.30 Uhr. Es konnte also nicht schaden, wenn sie sich auf den Weg machte. Sie würde ja auch eine Weile brauchen, bis sie mit ihrem Fahrrad dort angelangt war.

Eilig zog Ada ihren alten Wanderrucksack aus der Dielenschublade. Meine Güte, wo hatte der sie schon überall hinbegleitet? Sie packte ihren Regenponcho und eine Picknickdecke ein, welche sich gleich in der darüber liegenden Schublade befanden. Anschließend trabte sie in die Abstellkammer neben der Küche und griff nach ihren Lieblingskeksen und einer Flasche Wasser.

Dann eilte sie ins Schlafzimmer, kramte in der hintersten Ecke des Spiegelschrankes eine vergilbte Kiste hervor, zog eines der alten Fotoalben heraus und verstaute dieses sicher in einem gesonderten Bereich des Rucksacks.

So, mehr würde sie nicht brauchen.

Schnell die Kiste zurück an ihren Platz, den Schrank schließen und noch rasch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Dann konnte es losgehen.

Beherzt drückte Ada die Türklinke der Haustüre hinunter, nur um im selben Moment festzustellen, dass die Türe abgeschlossen war.

«Schakalaka!»

Diesen Ausdruck hatten sich Johan und Ada an einem lauen Sommerabend auf der Veranda ausgedacht, als Ada sich darüber beklagt hatte, dass sie ständig in Anwesenheit der Kinder «Scheiße» sagte. Und tatsächlich hatte sich das «Schakalaka» eingebürgert und war über Generationen hinweg als ein adäquates Alternativ-Schimpfwort innerhalb der Familie, und darüber hinaus auch in ihrem Freundeskreis, äußerst beliebt. Neuerdings wurde es sogar von Adas dreijährigen Enkelkindern benutzt.

Der Ausdruck «Scheiße» wurde im Hause Stratmann nur noch in absolut extremen Ausnahmesituationen benutzt, und wenn man ihn hörte, wusste man, dass die Kacke wirklich am Dampfen war.

Ada ruckelte erneut an der verschlossenen Haustüre.

Wo war bloß der vermaledeite Schlüssel?

So schusselig konnte man doch gar nicht sein. Sie suchte noch ein wenig kopflos, riss hier und dort eine Schublade auf, durchforstete ein paar Schränke und schüttelte einige Jacken, die an der Garderobe im Flur hingen.

Kein Schlüssel weit und breit.

Das konnte doch echt nicht wahr sein.

Sie machte sich gerade auf den Weg zum Wohnzimmer, um Johan auf der Arbeit anzurufen, als sie merkte, dass sie dringend zur Toilette musste. Hektisch stampfte sie ins Badezimmer. Während sie auf dem Klo saß, überlegte sie fieberhaft, wie sie ihren Mann zu überreden vermochte, schnell nach Hause zu kommen, um ihr die Türe aufzuschließen. Sie konnte seine genervte Stimme förmlich hören:

«Ada, ich hab jetzt keine Zeit, die Fehler auszubügeln, die du durch deine Schusseligkeit verursacht hast.»

Da haben wir es wieder: Nie hat er Zeit zum Bügeln!

Wenn es gut lief, würde er ihr vielleicht anbieten:

«Ich kann um 13 Uhr nach Hause kommen, wenn die Besprechung fertig ist. Früher nicht.»

Nein, das war keine Option! Um 13 Uhr musste sie ja bereits an der Kullerwiese sein.

Da fiel ihr Blick auf das kleine Fenster des Badezimmers, und eine Erinnerung durchzuckte ihre Gedanken.

Die Kinder hatten früher häufig draußen gespielt und nur selten einen Schlüssel dabei. Wenn Ada dann kurz zu einer Nachbarin oder in den Laden von Frau Schulze musste, hatte es sich eingebürgert, dass sie einfach das Fenster der Toilette offenstehen ließ, während sie weg war. Die Kleinen freuten sich immer, wenn auf ihr Klingeln keine Reaktion kam, denn sie hatten einen Riesenspaß dabei, sich an der etwa zwei Meter hohen Fassade hochzuziehen und ins Haus zu klettern. Meistens waren sie zu zweit, und dann war es gar kein Problem, dass einer mittels Räuberleiter auf die Schultern des anderen kletterte und sich dann nach drinnen hievte.

Spätestens jetzt erwachte Adas Abenteuerlust. Sie würde einfach durchs Fenster rausklettern. Zum Glück zeigte dieses zum Garten und konnte weder von der Straße noch von den Nachbarn eingesehen werden.

Ada musste bei dem Gedanken kichern, dass der alte Herr Meier von nebenan ihr dabei zusah, wie sie ihren fast sechzigjährigen, nun so gar nicht mehr athletischen Hintern aus dem Fenster wuchtete, während sie mit beiden Beinen Halt suchend in der Luft baumelte. Da Herr Meier einen Großteil seiner Zeit an seinem Küchenfenster saß und nach draußen schaute, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieses Schauspiel etwas Farbe in seinen tristen Alltag bringen würde.

Doch glücklicherweise war das Fenster ihres Badezimmers so gelegen, dass es sich von Herrn Meiers Küche aus in einem toten Winkel befand. Vor Jahrzehnten, kurz nachdem das Bad eingebaut worden war, hatten sich Johan und Ada einen Spaß daraus gemacht, dies auszutesten. In diesen Zeiten hatten die beiden nicht oft gemeinsam lachen können. Die unbeschwerten Streiche und Neckereien der vorangegangenen Jahre waren zu einer Seltenheit geworden. Doch aus irgendeinem Grund hatte ihnen an diesem Nachmittag der Sinn danach gestanden, etwas Unsinniges zu tun. Ada hatte eine genüssliche Dusche im neuen Badezimmer genommen, welches damals als Gästebad fungieren sollte, während Johan Herrn Meier mit zwei leckeren Zimtschnecken besuchte, um diese dort am Küchentisch mit ihm zu verspeisen.

Sie hatten ausgemacht, dass Johan überprüfte, ob man Ada aus irgendeiner Perspektive der Küche heraus sehen konnte. Sollte dies der Fall sein, hatte Johan hoch und heilig versprochen, Herrn Meier so geschickt abzulenken, dass er das Schauspiel im Nachbarhaus auf keinen Fall mitbekam.

Zu Adas Glück (Herr Meier mochte das vielleicht anders beurteilen) gab es tatsächlich nichts zu sehen, und zufrieden verließ Johan nach einer halben Stunde den etwas verwirrten Herrn Meier, der sich nicht so recht erklären konnte, warum Johan an diesem Nachmittag so unruhig und fahrig gewesen war.

Einer Flucht durchs Fenster stand also nichts im Wege, und erst mal bei Talia und den Jungs angekommen, konnte sie sich ja den Schlüssel ihrer Tochter ausleihen.

Talia hatte den Schlüssel aus ihrer Jugend nach ihrem Auszug aus dem Elternhaus niemals abgegeben und trug ihn, gut organisiert, wie sie war, an ihrem dicken Karabinerhaken immer bei sich. Und so sauste Ada in den Flur, um den bereits gepackten Rucksack zu schnappen, und von dort aus sofort zurück ins Badezimmer, wo es ihr nach einigem Rucken und Zerren gelang, das Fenster zu öffnen.

Sie ließ zuerst den Rucksack auf den Rasen fallen und schob dann den Wäschekorb unter das Fenster, um diesen als Hocker zu benutzen. Unter größter Anstrengung und mit wild pochendem Herzen baumelte sie schließlich tatsächlich in der Luft und hielt sich nur noch mit ihren beiden Händen am Fensterbrett fest. Aus dem Inneren des Hauses hörte sie gedämpfte Musik.

«Mist. Ich hab vergessen, den CD-Player abzustellen», dachte sie noch.

Dann glitt ihr Blick nach unten, und sie sah, dass es nur etwa zwanzig Zentimeter bis zum Boden waren. Das würden ihre alten Knochen schon aushalten. Und so ließ sie sich los und landete einen Augenblick später etwas unsanft im Gras.

Sie rappelte sich auf, ungläubig den Kopf über sich selbst schüttelnd, zog den Rucksack auf ihren Rücken, schob ihr altes Hollandrad aus dem Schuppen und fuhr los.

Zuerst auf Kopfsteinpflaster durch die alte Gasse, in der ihr Haus stand, an der Dorfkirche und dem Laden von Frau Schulze vorbei. Freundlich nickte sie der alten Ladenbesitzerin zu, die gerade dabei war, die Obstkörbe im Schaufenster zu füllen.

Am Brunnen in der Marktgasse herrschte geschäftiges Treiben. Eine Schulklasse hängte zusammen mit ein paar Lehrerinnen den Osterkranz auf. Ada fuhr weiter, doch an der Sparkasse hielt sie inne und besann sich.

Moment mal.

Hier war sie völlig falsch.

Dies hier war der Weg zur Talsperre, die sie auch oft an heißen Wochenenden aufgesucht hatten.

Aber um zur Kullerwiese zu kommen, hätte sie einen komplett anderen Weg nehmen müssen.

Wo war sie nur mit ihren Gedanken?

Ada wendete ihr Rad. Diesmal würde sie die Parallelstraße zum Marktplatz entlangfahren, um zu schauen, ob ihre Freundin Jutta zu Hause war.

Da Juttas BMW nicht in der Einfahrt stand, sparte sich Ada die Stippvisite und radelte pfeifend weiter. Schon bald hatte sie das Dorf hinter sich gelassen und fuhr durch die Felder und Schrebergärten zum Wald.

Der Frühling war in diesem Jahr besonders zeitig ins Land gezogen, und so blühten schon die ersten Tulpen und Narzissen in den Gärten, obwohl es erst Ende März war. Auch die Magnolien, die Ada besonders mochte, zeigten sich bereits in ihrer vollen Pracht.

Ada genoss die kleine Radtour in vollen Zügen. Es fühlte sich an, als sei es Ewigkeiten her, seit sie das letzte Mal mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war.

Es gab nicht viele Empfindungen, die Ada so sehr liebte wie dieses Gefühl, das jedes Jahr im Frühling erneut aufkam. Sie spürte mit allen Sinnen, dass die Natur zum Leben erwachte. Sie staunte darüber, wie aus dem kargen und tristen Erdboden plötzlich ein Farbenmeer von Blumen und Blüten herausbarst, so als hätte dieses satte, fröhliche, bunte Leben in der Dunkelheit darauf gewartet, hervorzuquellen und die Welt zu erobern.

Die Gerüche und Farben rings um sie herum, die fröhlichen Gesänge der heimkehrenden Vögel, die ersten warmen Sommerstrahlen, die sie an der Nase kitzelten – schon aus ihrer Kindheit kannte sie diese ganz besondere Energie, wenn sie all dies zum ersten Mal nach langer Kälte und Dunkelheit wieder wahrnahm. Das Gefühl, dass etwas Neues anbrach: neue Abenteuer, neue Entdeckungen, neuer Aufbruch.

Und so fuhr sie gut gelaunt und voller Vorfreude auf den Tag immer weiter.

Als die Kinder noch klein waren, hatten sie viele Sommersonntage auf der Kullerwiese verbracht. Ihre Tochter Amelie hatte der versteckten Lichtung im Wald, durch die ein kleiner sprudelnder Bach floss, diesen Namen gegeben, nachdem sie und ihre Schwester Talia sich einen ganzen Nachmittag lang die kleine Anhöhe an der Seite hinuntergekullert hatten.

Es würde ihr doch mit Leichtigkeit gelingen, diesen so wohlvertrauten Ort wiederzufinden.

Into the great wide open Under them skies of blue Out in the great wide open A rebel without a clueTom Petty and the Heartbreakers

— 2 —

Johan bog müde und abgeschlagen mit dem alten Volvo in die Pflastersteingasse ein. Am alten Brunnen war der Osterkranz befestigt worden. Dies war eine feste Tradition in dem Dorf, in dem Ada und Johan vor etwa zwei Jahrzehnten mehr oder weniger heimisch geworden waren.

Johan mehr, denn er hatte durch seinen Beruf als Architekt und die vielfältigen Ehrenämter in politischen Gremien schnell Fuß fassen und die Bevölkerung kennen lernen können.

Ada eher weniger, denn sie war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, als dass sie Kraft und Energie für neue Kontakte aufbringen konnte.

Der Osterkranz wurde in wochenlanger liebevoller Handarbeit von den Schülern der ansässigen Grundschule und ein paar engagierten Müttern zusammengesteckt, um dann in einer feierlichen Zeremonie, die eine Rede des Bürgermeisters, eine Andacht des Pfarrers und ein paar Gedichte und Lieder der Schüler beinhaltete, am Brunnen befestigt zu werden.

Das offizielle Programm war schon seit einer Weile beendet.

Die Schranken, die den Marktplatzbereich absperrten, wurden gerade zur Seite geräumt. Aber es waren immer noch viele Passanten versammelt, was für Johan bedeutete, dass er nur sehr langsam mit seinem Wagen weiterfahren konnte.

Ein Vater hatte sein kleines Mädchen auf die Schultern gesetzt und lief direkt vor Johan her. Alle paar Meter schlug der Mann einen Haken und machte einen überraschenden Sprung zur Seite. Dafür wurde er jedes Mal mit einem lauten Jauchzen von seiner Tochter belohnt, deren kleine Patschehände sich dann haltsuchend im Bart oder an den Ohren des Vaters festkrallten.

Skurril erschien es Johan, mit welcher Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit dieses kleine Papa-Tochter-Spiel vonstattenging. Noch skurriler aber war, was es in Johan auslöste.

Würde Ada jetzt bei ihm im Auto sitzen, so dachte er, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie beim Betrachten des jungen Mannes, der mit seiner Tochter spielte, zu weinen anfinge.

«Sieh dir das an!»

Johan konnte in seinen Gedanken förmlich ihre bebende Stimme hören.

Wie ein stummer, leidender Beobachter würde Ada dasitzen und zuschauen. Ein Beobachter, der den anderen Menschen beim Leben zuschaut, selber aber keinen Anteil mehr daran hat. Als hätte das Leben sie hinausgeworfen. Als wäre sie nur noch ein Besucher, der nach bezahltem Eintritt nun das Geschehen von außen betrachten durfte. Gut getrennt durch Gitterstäbe, Sichtfenster und tiefe Gräben, wie in einem Zoo.

«Der hat keine Ahnung, wie gut es ihm geht!», würde sie leise vor sich hin flüstern. «Der weiß nicht, was für ein Glück er hat.»

Dann würde sie apathisch vor sich hinstarren, während ihr die Tränen in endlosen Rinnsalen die Wangen hinunterliefen. Sie hätte den Blick in die Ferne gewandt.

Spätestens jetzt würde Johan das Radio anstellen, um dieses verfluchte monotone Jammern seiner Frau nicht länger anhören zu müssen. Nervös würde er mit seinen Händen gegen das Lenkrad trommeln und dagegen ankämpfen, Ada anzuschreien.

«Halt doch endlich deine verdammte Klappe», das waren die Worte, die in seinem Inneren rumorten. Zum Glück hatte er sie noch nie ausgesprochen. Sie erschreckten ihn selbst zu Tode.

Oh, wie unglaublich zornig ihn diese niemals endende Trauer seiner Frau machte.

Oh, wie unglaublich wütend es ihn machte, dass dieser Vater einfach die Unverschämtheit besaß, so ungeniert in aller Öffentlichkeit sein Glück zur Schau zu tragen.

Konnte er nicht zu Hause im Garten mit seiner Tochter «Hoppe Reiter» spielen? Dort würde er niemanden mit seinem albernen Gehabe belästigen.