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Jenseits der vorhandenen Fronten, die sich zwischen Verehrung und Wiederentdeckung Stifters im Zeichen des sanften Gesetzes bzw. einer Ablehnung als Dichter der Restauration bewegen, entwirft Leopold Federmair einen völlig neuen Zugang zum Werk des Autors. In diesem Essay versucht Federmair ein Gesamtbild Stifters für die heutige Zeit zu entwerfen. So steht die Bigotterie als Nährboden für die Widersprüche und Bruchlinien im Werk des Autors im Vordergrund der Betrachtungen. Hinweise und Aktionen
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Seitenzahl: 532
Veröffentlichungsjahr: 2013
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LEOPOLD FEDERMAIR
Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie
Leopold Federmair
ADALBERT STIFTER UND DIE FREUDEN DER BIGOTTERIE
OTTO MÜLLER VERLAG
www.omvs.at
ISBN 3-7013-1095-5eISBN 978-3-7013-6095-6
© 2005 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG–WIEN Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Ulrike Leikermoser Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg
Druck und Bindung: Ueberreuter, Korneuburg
Inhalt
1. Brigitta & Co.
2. Rettende oder vernichtende Kritik?
3. Was ist Bigotterie?
4. Das zerschlagene Fenster
5. Das Mädchen mit dem Wasserkopf
6. Das weiße Ungeheuer
7. Der Spätling
8. Gute Beispiele für die beste Welt
9. Der Baum mitten in der Welt
10. Allmählichkeit
11. Rosen und Marmor
12. Der Kaktus
13. Der Kult des Kultivierens
14. Agrarrebellen
15. Ökologie oder Terror?
16. Gewißheiten
Die Schöpfung
Verteidigung des Christentums
Das Tigerartige in uns
Der Sinn der Geschichte
Die Wirklichkeit
17. Ordnungsliebe
18. Stifter und der Antisemitismus
19. Das Offene und das Geschlossene
20. Das Handwerk der Sprache
Sätze
Dialoge
Codes der Empfindsamkeit
Einfach? Kompliziert?
Der schweifende Blick
Schweigende Erzähler
21. Außenseiter und Grenzgänger
22. Auch Stifter war in Italien
23. „Es war eine Leere gekommen…“
24. Stifter goes Pop
25. Vorläufer, Nachfolger: Verklärung, Verstörung
Manzoni
Jules Verne
Nietzsche
Heidegger
Kafka
Kawabata
Ponge
Thomas Bernhard
Innerhofer
Stifter in Japan
26. Die Normalerzählung
27. Freudenstifter
Anhang
1. Brigitta & Co.
Ich kann mich nicht erinnern, in der Schule jemals etwas von Stifter gelesen zu haben. Als ich neulich Turmalin las, mein Gedächtnis sagt mir: zum ersten Mal, kam mir irgend etwas, die erzählte Geschichte oder ihre Atmosphäre oder auch nur der beschriebene Ort mit dem verfallenden Haus, in dem das Mädchen mit dem großen Kopf und sein Vater wohnen, bekannt vor. Es war, als wäre ich diese leicht abschüssige Straße in der Wiener Vorstadt, die mein inneres Auge aber nicht in Wien sieht, sondern an einem traumartigen Ort mit punktuellen Wirklichkeitsbezügen (Bezügen zu meiner Wirklichkeit), schon oft gegangen. Habe ich die Geschichte also doch irgendwann einmal gelesen, vielleicht bevor ich das Alter erreichte, in dem man solche Geschichten liest (gerade Turmalin ist, obwohl eine Kindergeschichte, „nichts für Kinder“), vielleicht nachdem ich zu einem der in Leinen gebundenen, mattgrünen Bände gegriffen hatte, die im Regal meiner Tante standen? Bunte Steine, Feldblumen, Die Mappe meines Urgroßvaters, Bergkristall, Brigitta, Der Hochwald… Solche Titel waren nicht dazu angetan, den Heranwachsenden in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Lektüre zu verlocken. Zusammen mit dem mattgrünen Leinen, der gotischen Schrift und den kitschigen Bildchen auf der ersten Seite konnten sie den Heranwachsenden nur abschrecken. Diese Titel klangen altertümlich, provinziell, die Frauennamen erinnerten an die Namen meiner Tanten oder, noch schlimmer, irgendwelcher Basen aus entfernt verwandten Bauernfamilien, sie ließen mich an die geduldigen Stickereien der Tanten denken, an die Goldhaube meiner Mutter, an der sie jahrelang arbeitete, um sie dann für immer in einem schwarzen Schutzbehälter verschwinden zu lassen, an jene Frauen, die mit großen schwarzen Flügeln in dunklen Gewändern und mit um die Stirn gewundenen Zöpfen vor weiß gekalkten Wänden saßen – die letzte von ihnen, die mir leibhaftig untergekommen ist, war meine Großmutter väterlicherseits. Nein, diese Welt war endgültig dem Untergang geweiht. In ihr gab es keine Autobahn, keine Tankstelle, keine Musikbox, kein Fernweh. Und Stifter habe ich nicht gelesen. Ich hatte genug Stifterliches in der täglichen Wirklichkeit vor meinen Augen. Mit den Relikten der Vergangenheit konnte und wollte ich nichts anfangen.
Ich bekam zu der schönen Kultur meines Landes, die einerseits vor meinen Augen lag, andererseits im Bücherregal meiner Tante Fanny aufbewahrt war, ebensowenig Zugang wie zu der bösen, noch nicht weit zurückliegenden, ebenfalls mit den Händen zu greifenden Geschichte meines Landes. Eines Tages, als ich erwachsen war, stieg ich in mein Auto, allein, ohne jemandem etwas zu sagen, und fuhr die dreißig Kilometer bis zum Konzentrationslager Mauthausen und war überrascht über die Schönheit dieses einschichtigen Ortes, die Schönheit der vom Gras umwucherten Steinbruchtreppe, die schaurige Erhabenheit der Baracken und der leeren Plätze. Eines Tages nahm ich den Nachsommer zur Hand, allein, ohne daß mich irgendwer hingewiesen hätte, und trat ein in eine Welt des Liebreizes und der Achtung vor den lebenden und den toten Wesen, der Achtung vor der Geschichte und dem, was aus ihr werden sollte. Ganz anders als Arno Schmidt, der sein Abscheubedürfnis zu befriedigen hatte, entdeckte ich in diesem sanft wogenden, schier unendlichen Buch, das mir einen Rhythmus der rieselnden Sätze zu spüren gab, den ich so ähnlich erst wieder bei der Lektüre von Hundert Jahre Einsamkeit empfand, die unbegrenzten Möglichkeiten des Wohltuns, die der Mensch hat und die er jederzeit ausüben sollte, mit der hilfreichen Hand des Gärtners, der die Bäume beschneidet, damit sich ihre Kraft nicht verzettelt und sich nicht verliert, sondern aufs Wesentliche konzentriert bleibt, auf die Erfüllung der Form und die Ausbildung der Frucht. Diese Dinge entdeckte ich voll Staunen, ohne den Ursprung von Stifters Utopie aus meinem eigenen Heimatland zu erkennen – ich hielt die Nachsommerwelt für eine ferne, idealische, nord-südliche Gegend, ein Renaissance-Italien mit gemäßigtem Klima, vielleicht wie die Toskana, aber sicher nicht Sattledt oder Bad Hall oder Kremsmünster. Und doch wurde ich von dem Buch zurückgelenkt auf die mich umgebende Wirklichkeit, die ich zwar nicht benannte, die für mich nur „das Feld“ im November war, wenn Nebelschwaden über der langgezogenen Mulde schwebten, oder der Lindenbaum vor einem der großen Bauernhäuser draußen zwischen den Feldern, deren Kinder einst mit mir in der Volksschulklasse gesessen und die alle aus meinem Leben verschwunden waren – nein, nicht alle, das ist nicht wahr, noch heute kehre ich zurück in das Dorf, um zwischen den Feldern zu gehen, den Autobahnlärm hinter mir lassend, und zu staunen, wie schön die Gemeinschaft zwischen Mensch und Natur sein kann, wenn sie einander helfen, und ich kehre ein beim Heideleder, wo der Mostkrug und das Geselchte auf den großen viereckigen Küchentisch gestellt werden, während ich mich auf die Eckbank setze.
In diese Welt, die ich schon immer bewohnte, hat mich der Nachsommer als ein bodenständig-überirdisches Buch geführt, ohne daß er mich verlockt hätte, mich auch den Novellen Stifters oder gar dem Witiko – wieder so ein schrecklicher Titel – anzunähern. Erst Jahre später habe ich akzeptiert, daß der Nachsommer keine von einem heiligen Geist herstammende Bibel ist, sondern von einem Autor geschrieben wurde, der mit vielen, sehr realen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und so unsäglich dreinsah wie auf den meisten der überlieferten Porträts: eher ein Fleischhauer oder ein frustrierter Schulmann als ein über den Dingen des Lebens stehender Autor. Warum hat Stifter bloß diese unsäglichen Titel gewählt? Oder passen sie vielleicht doch zu den Werken? Sind sie durch einen Zeitgeist bedingt, das Biedermeier, das den Autor Das Haidedorf über die Geschichte von der langen Dürreperiode setzen ließ, so wie sich die Bücher heute Generation Golf oder Zonenkinder nennen, weil die Namen halt in der Luft liegen und den Verkauf fördern? Ich erfuhr, als ich mich schließlich doch für die Person des Autors zu interessieren begann, wie oft Stifter seine Titel, und nicht nur die Titel, änderte und wie unsicher er war, obwohl die zur geschlossenen Form neigenden Texte auf den ersten Blick keine Unsicherheit verraten. Man müßte diese Erzählungen alle umbenennen, die Titel neu erfinden oder die ursprünglichen, die oft die besseren sind, wieder einsetzen und die ganze Geschichte der Rezeption von vorne beginnen lassen. Aber damit wären die Texte selbst andere, das Spiel der durchkreuzten Erwartungen, des langsamen Entdeckens, das Hineingezogenwerden in die Zwiespältigkeiten von Stifters Leben und Werken könnte so nicht stattfinden. Vielleicht brauchen die Erzählungen Stifters die verharmlosenden Titel wie einen Schild, der unruhigen Lesern den Zugang erschwert? Etwa so wie die phantastischen Tiere und schrecklichen Krieger vor Shinto-Schreinen, die die bösen Geister vom heiligen Bezirk fernhalten sollen…
Mit Grillparzer war es einfacher. Grillparzers Geschichtsdramen lasen wir in der Schule mit verteilten Rollen aus den gelben Reclamheftchen, und uns war klar: Das hatte mit unserem eigenen Leben nichts zu tun. König Ottokar, Libussa, Medea… Figuren aus einer fernen Vergangenheit, die wir nicht einmal als Vergangenheit, als etwas vor unserer Gegenwart Geschehenes, identifizierten. Könige, Imperien… Österreich war ein kleines, ruhiges Land. Grillparzer ein Nationaldichter. Das Nationale, das Klassische, die hohe Sprache, das war bereits eine Zuordnung, eine Verbannung in den Schulstoff, dort sollten die Texte bleiben. Aber bei Stifter schwankt die Zuordnung immer noch, seine Abkanzelung als Blumen- und Käferpoet ist so grotesk, daß sie nur Leute aufnehmen und wiederkäuen, die nicht lesen, worüber sie schreiben, zum Beispiel Kulturjournalisten. Und für die ernsthafteren Forscher ist er der Romantiker, der sich zum Klassiker wandelte, aber andererseits drängt sich der Begriff „Biedermeier“ dazwischen, der dem Autor nicht nur einen Platz in der Geschichte zuweist, sondern auch im alltagssprachlichen Gebrauch deutliche Vorstellungsbilder wachruft (was ein Vorteil ist), und außerdem ist da die Figur Stifters als Erzieher, als Aufklärer, als einer, dessen Wurzeln tief ins 18. Jahrhundert reichen – so tief vielleicht, daß er schon wieder ins zwanzigste vorausweist, ein Vorläufer der Moderne, ja, ein Verkünder des nouveau roman, denkt man an sein nüchternes Spätwerk, an den Versuch einer Bestandsaufnahme des Seienden. Also machen wir es uns einfach und stellen ihn in die Reihe der Unzeitgemäßen, so daß wir mit einem Schlag auch eine Nähe zu Friedrich Nietzsche behauptet haben, dessen Sympathie für Stifter immer wieder mit Staunen zur Kenntnis genommen wird. Oder sollen wir doch anders, gerechter, strenger akzentuieren und ihn als schon seinerzeit veralteten, immer nur konservative Bedürfnisse befriedigenden Autor porträtieren? Als einen von Anfang an zu spät gekommenen, trödelnden Geist, der seine Behäbigkeit zur schönen Allmählichkeit idealisierte? Und vielleicht ist diese Mischung der Einflüsse selbst wiederum typisch für eine historistische Zeit, die sich, wie später die Postmoderne, an den voraufgegangenen Epochen zu ihren eigenen Zwecken bedient.
Dieser tastende Klassifizierungsversuch, der die in Frage kommenden Kategorien keineswegs erschöpft, soll zeigen, daß Stifter an einer Vielzahl von geistesgeschichtlichen Strömungen mehr oder minder intensiv Anteil hatte. Die Zuordnungen selbst mögen interessant sein, sie verlieren aber an Aussagekraft, wenn es darum geht, die Eigentümlichkeit des Autors zu bestimmen. Das gilt freilich nicht nur für Stifter, sondern für viele Autoren seiner Zeit, und es gilt für unsere Gegenwart mehr denn je. Am ehesten scheinen diese Kategorien zum Verständnis Stifters beizutragen, wenn man zwei von ihnen gegeneinander führt und die daraus entstehende – womöglich den „historischen“ Gegebenheiten entsprechende – Spannung betrachtet. So läßt sich zum Beispiel kaum bestreiten, daß seine Erzählungen immer wieder zur Idylle tendieren und damit zur Erstarrung. Gleichzeitig aber weisen viele dieser Idyllen Risse auf, durch die „etwas anderes“ scheint, und oft macht sich die Möglichkeit des Zerreißens oder Platzens umso kräftiger bemerkbar, je eindringlicher der Autor bei seiner Erzählkonstruktion auf das harmonische Ideal zusteuert. Brauchbar ist trotz aller Bedenken das Wort „Biedermeier“; vor allem deshalb, weil sich der Wille des Autors, die „Sittlichkeit“ zu befördern, auf verschiedenste Weise in seinem Werk geltend macht. Vielleicht sollte man aber ein spezifizierendes Epitheton hinzufügen: Stifters Biedermeier erscheint ähnlich „abgründig“ wie dasjenige Grillparzers. Denn es gibt Momente, da schiebt er plötzlich das Sittengesetz beiseite oder verwirft es, weil er es als schmerzhaften Zwang empfindet. Stifter hat Texte geschrieben, die von der besten Welt nur einen Trümmerhaufen übriglassen, als wäre der Autor persönlich ein verzweifelnder Hiob, der, vom Glauben abgeirrt, nicht mehr zu ihm zurückfindet.
Stifter war kein großer Theoretiker; seine essayistische Begabung hält sich in Grenzen. Hin und wieder hat er jedoch seine ästhetischen Intentionen dargelegt, und es empfiehlt sich, diese Erläuterungen ernst zu nehmen, gerade weil sie bieder und schematisch wirken. Wie zu fast allem, was ihm nicht nur im Reich der Ideen, sondern leibhaftig unterkam, hatte Stifter auch zu den Aufständen im Frühjahr 1848 eine ambivalente, zögernde Haltung. An dem im März jenes Jahres verfaßten Aufsatz Über Stand und Würde des Schriftstellers läßt sich dieses Einerseits/ Andererseits sehr gut ablesen. An oberster Stelle des Anforderungsprofils steht nach Stifter die sittliche Aufgabe des Schriftstellers, und für deren Verwirklichung sieht er in den politischen Ereignissen sowohl Chancen als auch Gefahren. Die Zensur in der Metternichzeit hatte Stifter zufolge auf die Entfaltung der schöpferischen Kräfte hemmend gewirkt, doch der neu gewonnenen Freiheit habe man sich „durch Männlichkeit und Maßhalten“ erst würdig zu erweisen. Da der Schriftsteller die Menschheit „in ihrer sittlichen und menschlichen Blüte“ darzustellen habe (der pleonastische Stil gehört zum Original), müsse er selbst „alle Kräfte der Menschheit in Blüte besitzen“, was durch eine umfassende, gleichsam polyhistorische Ausbildung, vor allem aber durch eine den Vernunftprinzipien untergeordnete Charakterbildung zu erreichen sei. Der „würdige“ Schriftsteller muß seine Leidenschaften beherrschen, und zwar bis zu einem Punkt, „daß er gar keine mehr hat“; er muß also jenem klassisch-humanistischen Persönlichkeitsideal, das im Nachsommer so ausführlich gestaltet wird, entsprechen. Dazu gehört nicht zuletzt die Tugend der Geduld, die gewährleistet, daß die humanistische Persönlichkeit dem Mitmenschen – und erst recht, wenn sie ein Vater oder Lehrer ist, ihrem erziehungsbefohlenen Schützling – zu seiner Entwicklung genügend Raum gibt. Ob Stifter selbst diesem Ideal entsprach, also nach seinen eigenen Kriterien ein „würdiger“ Schriftsteller war, kann man sich fragen. Wie auch immer die Antwort ausfällt, die Widersprüche sind nicht von der Hand zu weisen. Das Ideal übt auf den, der sich an ihm abarbeitet (oder abquält), einen stetigen Druck aus. Dieser Druck scheint im Fall Stifters nach 1848 immer mehr angewachsen zu sein. Er hat zum Entstehen großer Werke wie dem Nachsommer beigetragen, aber auch zu Zusammenbrüchen des Autors und manchmal zu Infragestellungen des Ideals.
Das Begriffspaar „klassisch/romantisch“ läßt sich im literaturgeschichtlichen wie auch im typologischen Zusammenhang verwenden; die darunter subsumierten Merkmale tauchen im Verlauf der Geistesgeschichte in immer neuen Varianten auf. Was Stifter betrifft, so steht außer Zweifel, daß seine literarischen Anfänge von Autoren beeinflußt sind, die der deutschen Hochromantik ihren persönlichen Stempel aufdrückten: Jean Paul und Ludwig Tieck. Ohne die intensive Jean-Paul-Lektüre während seiner Zeit als Student und Hauslehrer wäre er wahrscheinlich gar kein Schriftsteller geworden, sicher aber nicht der Adalbert Stifter, den wir kennen. In den frühen Erzählungen Stifters ist der Wille zur Gefühlsaufwallung, zur prosodischen Abbildung heftiger, oft sentimentaler Gemütsregungen, „des inneren Wogens und Waltens“, wie es in der vor 1840 entstandenen Geschichte der zween Bettler heißt, unüberhörbar. Die vielen Gedankenstriche der frühen Prosa bezeichnen die Höhepunkte und Abbrüche des Fühlens, aber wesentlich für die stilistische Umsetzung ist der Aufbau der Sätze, die sich wie Wellen heben und senken und den Leser zu überschwemmen und mitzureißen bestrebt sind. Einerseits dürfte diese Schreibweise Stifters Charakter entsprochen haben, oder genauer: seiner Empfindungsweise zur Zeit seines Wiener Junggesellendaseins, als er noch nicht genau wußte, welches seine schöpferischen Möglichkeiten waren und worauf er die Kräfte konzentrieren sollte: Kunst oder Amt, Malerei oder Dichtung. Andererseits sind diese Sätze aber nach einem bestimmten Muster gemacht, das er bei Jean Paul oder auch in Goethes Werther fand und auf zunehmend eigenständige Weise in seinen Erzählungen weiterentwickelte. Der Erfolg, den er mit seinen frühen Erzählungen errang, erklärt sich aus der Empfänglichkeit des Lesepublikums für ein längst vorgeprägtes Genre sowie aus der Mode der Almanache, jener jährlich erscheinenden Verlagspublikationen mit Belletristik verschiedener Autoren und vermischten, oft melodramatischen oder humoristischen Inhalts, in denen Stifter zu Beginn seiner Karriere veröffentlichte und deren Popularität nach 1848 rasch sank.
Stifter als Versager darzustellen, wie es in letzter Zeit manchmal geschieht, ist nicht ganz richtig. In den vierziger Jahren wußte er die Konjunktur der Almanache geschickt zu nutzen, und es ist fraglich, ob er jemals einen Verleger gefunden hätte, wenn er mit einem klassizistischen Werk wie dem Nachsommer angetreten wäre. Andererseits: Wäre seine Entwicklung in der Etappe der spätromantischen Novellen stehengeblieben, würden wir ihn heute bestenfalls als epigonalen Trivialschriftsteller verbuchen… Derlei Überlegungen sind natürlich reine Spekulation. Der Nachsommer und selbst der Witiko sind ohne die vorhergehende Entwicklung, ohne die romantische Ausgangslage gar nicht denkbar. Daß Stifter die Bindung an die Romantik bewußt zu überwinden trachtete, zeigt allein schon die Tatsache, daß er die Erzählungen aus dem Zusammenhang ihres konjunkturellen Erscheinens löste, um sie neuerlich zu bearbeiten, aufeinander abzustimmen und in einem „bleibenden“ Gesamtwerk aufgehen zu lassen, über dem am Ende nur ein Autorname und ein äußerst schlichter Titel stehen sollte: „Studien“. In dieser planerischen, Zusammenhänge stabilierenden Sorgfalt erweist sich der Übergang von spontanem Ausdruck hin zu bewußter Konstruktion, und auch die Gefahr monolithischer Erstarrung zeichnet sich hier bereits ab.
Im Nachsommer „biologisiert“ Risach, Stifters Alter ego, den hier beschriebenen Vorgang, indem er ihn als gleichsam naturwüchsigen darstellt, als autonomes Schema von Entwicklung und Verfall, das jedes Individuum, exemplarisch aber den Künstler, erfasse: „Die Jugend sieht in der Dichtung die eigene Unbegrenztheit und Unendlichkeit der Zukunft, diese verhüllt die Mängel und ersetzt das Abgängige.“ Demgegenüber sieht der alte Mensch alles im „sanften Spiegel der Erinnerung“, auch die „Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer Dunkelheit und Grenzenlosigkeit“ oder die „Träume künftiger Taten und künftiger Größe“. Unbegrenztheit, Unendlichkeit, Dunkelheit: Schlüsselwörter der deutschen Romantik. Daß seine eigenen Träume von künftiger Größe in seine frühen Erzählungen einflossen, scheint Stifter bewußt gewesen oder im Lauf der Zeit bewußt geworden zu sein. Das von den Wörtern „sanft“, „mild“, „ruhig“, „lieblich“ aufgespannte semantische Feld kennzeichnet den klassischen Stifter, der den Subjektivismus seiner jugendlich beschwingten, überschwenglichen Werke hinter sich gelassen hat. Der Nachsommer ist nicht zuletzt deshalb als Stifters Schlüsselwerk zu lesen, weil er eine Ebene poetologischer Selbstreflexion enthält, auf welcher der Autor sein Bewußtsein von der klassischromantischen Spannung mitteilt, die ihn auszeichnet und die einzelnen Werke, unabhängig von der jeweils vorherrschenden Machart, erst ermöglicht. Dieser Befund mag wenig spektakulär sein und in seiner „biologisierten“, als Lebenslehre vermittelten Fassung altvaterisch wirken. Er hat aber den Vorteil, daß er sich an den Texten belegen läßt, und eröffnet die Möglichkeit, die Gespaltenheit der Stifterschen Existenz samt ihren Gefährdungen und Bigotterien in ästhetische Begrifflichkeit zu übersetzen. Gegen Ende seines Lebens, erschöpft von der Arbeit am Witiko und mitunter daran zweifelnd, wenn nicht gar an seiner raison d’être verzweifelnd, hat Stifter in Texten wie Nachkommenschaften oder Der Kuß von Sentze versucht, ästhetische Dynamiken der Ironie und der antimoralischen Lockerung von neuem in sein Erzählen einfließen zu lassen. Vielleicht entspricht auch dies einer menschlich-lebensgeschichtlichen Tendenz, nämlich jener, die alte Leute am Ende, wenn sie nichts mehr zu verlieren oder zu gewinnen haben, die nie ganz zerstörte Frische ihrer Anfangsjahre wiederfinden läßt.
Jahrelang trug ich die Bilder eines Romans oder einer Erzählung mit mir herum, zu dem mir Text und Autor entschwunden waren. Ich wollte glauben, es handele sich um den Nachsommer, aber die Wiederlektüre hat mich eines anderen belehrt. In jenem verlorenen Roman steigt der Erzähler am Ende einer Wanderung eine grasbewachsene Böschung hinauf, ehe er ein Hochplateau und das dort gelegene Landhaus erreicht. Der Hausherr empfängt den Wanderer, zeigt ihm das Anwesen, führt ihn nach und nach in die Geheimnisse seines Wirtschaftens ein. Unter anderem erklärt er ihm die Notwendigkeit, die Bäume zu stutzen: Dies sei im Interesse des Kreislaufs der Lebensströme und damit letztlich der Bäume selbst. Was zunächst begrenzt und beschnitten wird, kann später um so kräftiger wachsen. Hemmungsloses Wuchern schwächt die Kräfte des gesamten Organismus, es gilt daher, die jeweils geeignete Form, das entsprechende Maß zu finden. Derlei Belehrungen sind im Geiste des Nachsommers, aber die Buchstaben selbst findet man nicht in dem Buch. Die liebliche Atmosphäre rings um das Landhaus läßt mich weiters an Hugo von Hofmannsthal denken – warum, weiß ich nicht. Im Romanfragment Andreas oder die Vereinigten habe ich die beschriebene Szene nicht wiedergefunden, und der Chandos-Brief atmet einen ganz anderen Geist. Trotzdem glaube ich eine Verwandtschaft zwischen diesem Werk des Sprachzweifels und dem sprachseligen Nachsommer zu spüren; sie scheint mir geknüpft durch die Art, wie die Dinge beschworen werden. Nicht die grausigen Ratten und ihren angeblich schönen Todeskampf meine ich; dergleichen kommt im Nachsommer nicht vor. Sondern die „nichtigen Kreaturen“, den Hund, den verkrümmten Apfelbaum, den sich über den Hügel schlängelnden Karrenweg. Vielleicht bin ich vor vielen Jahren diesen Weg gegangen und habe gesehen, was nicht im Brief stand. Habe mir, angeregt durch den Hofmannsthalschen Morbus, eine klassisch-ausgewogene Natur-und-Menschenwelt erfunden. Habe das Werk unbewußt gegen den Strich gelesen. Lord Chandos, der Schreiber des Briefs, ist nämlich bei aller Verzweiflung ein glücklicher Mann. Wenn auch nur augenblicksweise. Aber was will er mehr? Etwa das Ganze, diese Schimäre? Und wozu, frage ich mich jetzt, so viele Jahre später, das ganze Gerede um das Nicht-reden-Können, wo sich des Briefschreibers Sätze doch so wunderbar zusammenfügen, daß sie die schönsten Phantasien zu erzeugen vermögen? Widerlegt der Brief nicht den Zweifel, indem er ihn niederschreibt? Wozu Chandos’ Frage nach dem Wozu?
Stifter kannte die Frage nicht, er schrieb im Vertrauen auf die alten Mechanismen, die zwischen Zeichen und Bezeichnetem vermittelten: von seinem Baum aus schrieb er sich in die umgebende Welt hinein. Ausgreifend, ausschreitend, heimkehrend. Bis ihn Zweifel ankamen, die er verschwieg. Redselig wie Hofmannsthal, und dennoch verschwiegen.
2. Rettende oder vernichtende Kritik?
„Rettende Kritik“ ist eine griffige Formel, die Autoren gern anwenden, wenn sie einem fragwürdigen Gegenstand Gutes tun wollen. Der Name Walter Benjamins verleiht der Formel eine gewisse kulturgeschichtliche Weihe, auch wenn Benjamin selbst dieser Formel keinen großen Theorie-Gehalt aufladen wollte. Das Epitheton läßt als solches, noch vor seinem Gebrauch, einen messianischen Kontext erwarten. Retten, gut… Aber wovor? Und wozu? Die Formel impliziert, daß das zu Rettende bedroht sei. Bedroht von Verdammnis, Verstoßung, Verbot oder Vergessen. Geht es um Kunst oder Literatur, liegt die Idee des Kanons nahe, auch wenn jene Autoren, die die messianische Formel gebrauchen, solche Nachbarschaft nicht gern erwähnen. Sie „arbeiten“ an einem neuen Kanon oder sind von einem überlieferten Kanon abhängig oder wollen in seinen Räumen, seinen Abteilungen gewisse Umschichtungen vornehmen, damit sie im Machtkampf der gerade laufenden Kanondiskussion ihre Favoriten und damit sich selbst plazieren können.
Auf der anderen Seite gibt es zum Rettenden einen Komplementärbegriff, nämlich das Vernichtende (oder Verdammende, will man den heilsgeschichtlichen Duktus bewahren). Tatsächlich wird immer wieder versucht, Autoren aus dem Kanon hinauszukomplimentieren, meist in der Absicht, anderen dadurch Platz zu schaffen. Arno Schmidt hat auf solche Unternehmungen einige Energie verschwendet, mit alles in allem geringem Erfolg: Stifter zum Beispiel ist immer noch „drinnen“, und der Platz eines Motte-Fouqué ist immer noch am unteren Ende der Tafel der Literaturgeschichte. Schmidt wollte Stifter vernichten, wie Friedrich Hebbel ihn seinerzeit aus dem Literaturbetrieb draußen haben wollte: die Geschichte samt ihrer zeitresistenten Moräne, dem Kanon, ist letztlich nur der Langzeitaspekt des Betriebs. Bei seinen kritischen Bemühungen ist Schmidt auf etwas gestoßen, das ich nach längerem Sträuben als wahren Kern akzeptiert habe: In dem sanften Freund des Menschen, der Natur und der Schöpfung, als der sich der Rosenherr im utopischen Roman Der Nachsommer um jeden Preis präsentieren will, steckt ein potentieller Gewalttäter. Gustav von Risach, der rosenzüchtende Gutsbesitzer, weist verschiedene, zwar idealisierte, aber erkennbare Züge des Autors auf. Was für Risach gilt, gilt mutatis mutandis auch für Stifter, und Stifter selbst war sich der Ambivalenz seines Charakters durchaus bewußt. In seinen Schriften hat er diese Ambivalenz nur in wenigen Momenten offen darzulegen versucht. Zumeist verschweigt oder transformiert er sie, wie auch im Nachsommer die Problematik viel komplexer ist, als Arno Schmidt, der sich bei seiner vernichtenden Kritik nur auf die eine Romanfigur bezieht, wahrhaben will. Der Lebenslauf Risachs wird den Erfahrungen und Absichten seines jungen Schützlings Heinrich Drendorf gegenübergestellt, und zwischen beiden gibt es sowohl Gegensätze als auch Übereinstimmungen. Die Frage nach der Gewalt hinter dem schönen Schein rumort im Gefüge von Stifters utopischem Roman. In anderen Werken des Autors läßt sie sich laut vernehmen. Manchmal mit einer Stärke, daß der schöne Schein zerreißt.
Nolens volens ist mit diesen Überlegungen bereits ein Stück rettender Kritik geleistet. Wobei es nicht darum geht, Stifter oder seine Figuren von einer Schuld reinzuwaschen, von einem ästhetischen oder ethischen Vergehen, sondern darum, einem Werk gerecht zu werden, das sich nicht so einfach auf der Soll- oder Habenseite verbuchen läßt. Vielleicht gibt es trotz aller Skepsis einen dritten Weg: den der Gerechtigkeit. Auf diesem Weg kann man die Augen vor den Beschränktheiten eines Menschen und seiner Zeit nicht verschließen; man wird sein Werk aber auch nicht an einem Ideal – etwa dem der „wahren“ Sanftheit – messen, sondern sich fragen, an welchen Stellen jene Schwächen in Stärken umschlagen. Eine vernichtende Kritik, wie sie Thomas Bernhard in seinem Roman Alte Meister betrieb, neben vielen anderen Aspekten auch auf den „Umstandsmeier“ Stifter zielend, hat in erster Linie ästhetischen Wert und kann in zweiter Linie daran erinnern, daß vor dem Tod alles lächerlich ist – oder eben daran, daß auch die größten Meister nur mit Wasser kochen. Der oberste Richter ist bei Bernhard der allmächtige Tod; bei Georg Lukács ist es „die Geschichte“, zu deren unerbittlichem Verlauf alle Werke in Beziehung gesetzt werden. Stifter erfüllt nicht die Kriterien des bürgerlichen Realismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts die „fortgeschrittenste“ literarische Ausdrucksform darstellte. Unter diesem Blick verliert sich Stifter in Einzelheiten, weil er keine Weltanschauung, keinen Sinn für das Ganze hat. Solche Urteile setzten voraus, daß sich der Mann, der sie formuliert, im Besitz des Schlüssels zur Geschichte wähnt. Die Hegelianer Hebbel und Lukács waren davon überzeugt, und auf andere Weise auch Stifter selbst. Die Auseinandersetzung zwischen Hebbel und Stifter ist letztlich ein Streit zwischen zwei verwandten Geschichtsauffassungen. Stifter besaß durchaus eine Weltanschauung, sogar eine recht fest gefügte, ordnungsverliebte und zur Erstarrung neigende Ideologie, die sein Schaffen konditionierte, ohne es ersticken zu können, weil sich in seiner Mitte eine Dynamik entzündete, die das vom Autor selbst errichtete System der Gewißheiten unterwanderte. Dieser Gegenbewegung soll, mehr noch als dem Stifterschen System, dessen Kenntnis zum Verständnis allerdings notwendig bleibt, unser Augenmerk gelten.
Eine Richtung der Stifter-Rettungsbemühungen der letzten Jahrzehnte verfolgt die Absicht, den Autor von der Vereinnahmung durch affirmative, unkritische, zumeist christlich motivierte Kritiker, die den Typus des „bigotten Lesers“ repräsentieren, zu befreien. Diese wohlmeinenden Versuche machen überall in dem weitläufigen Erzählwerk dunkle Kräfte, bedeutungsschwangere Gewitter, diverse Krisenerscheinungen und sich abzeichnende Katastrophen dingfest. Um zu diesem Befund zu gelangen, wird der Mechanismus des Symbolischen in Anspruch genommen: ein Unwetter, ein Eisregen, eine Feuersbrunst ist nicht einfach ein Unwetter, ein Eisregen, eine Feuersbrunst, sondern steht als Zeichen für soziale oder politische Konflikte, denen der Autor auf indirekte Weise Ausdruck verleihen wollte. Dies mag in manchen Fällen zutreffen. Dennoch halte ich dafür, daß Stifters Werk von Symbolen nicht gerade gesättigt ist, sondern zunächst einer realistischen Haltung zur Welt entspringt, einem Darstellungsvertrauen, in dessen Rahmen von Fall zu Fall Symbole Verwendung finden. Besonders aber halte ich dafür (oder dagegen), daß das Katastrophische nur ein Aspekt ist, dem man nicht gerecht werden kann, ohne ihn in jedem Augenblick – das meine ich wörtlich – mit der Harmoniesehnsucht des Autors in Beziehung zu setzen. Diese Harmoniesehnsucht wirkt an manchen Stellen von Stifters Lebenslauf übertrieben und sogar krankhaft. Im Grunde aber ist sie „normal“ im Sinn einer damals wie heute das gesellschaftliche Leben beherrschenden Bigotterie, und oft trägt sie dazu bei, Werkstücke einer affirmativen Ästhetik zu liefern, die vor dem Hintergrund der Krisen, die auch geschildert werden, dem Leser einen weltfreudigen, weichen, Lebensverhärtungen mildernden ästhetischen Genuß ermöglichen. Das beste Beispiel für diese Wirkungsstrategie ist die mittlere Fassung der Mappe meines Urgroßvaters, die mit einer Schockbeschreibung einsetzt, um nach und nach jenes friedvolle Wirken und Streben zurückzugewinnen, welches das menschliche Zusammensein idealiter und „ursprünglich“ auszeichnet.
Auch wenn sich die Stifter-Hagiographie heute erschöpft hat, gibt es immer noch Vorbehalte gegen eine illusionslose Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk des Autors. Diesen Stimmen zufolge ist es nicht opportun, den Leser „vor allem mit den dunklen und negativen Seiten Stifters zu konfrontieren“. Warum sollte man das nicht tun? Wohl deshalb, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: daß ein durchschnittlicher, wankelmütiger, unentschlossener, vor den Anforderungen des Lebens oft versagender Mann zu einem der bedeutendsten Künstler Österreichs wurde. Demgegenüber halte ich es für möglich, daß kleine Geister Großes schaffen – die Frage ist nur, wie ihnen das gelingt. Damit aber stellt sich die noch grundsätzlichere Frage, wie man „das Bedeutende“ bestimmt. Darin nämlich besteht unsere Sisyphosarbeit, die es immer wieder von neuem zu beginnen gilt. Für die Wertung des Bedeutenden gibt es keine ein für alle Mal gültigen Regeln; auch keinen Kanon, in dem alle Zimmer vergeben und fein säuberlich geordnet wären. Wolfgang Matz, der bisher letzte Biograph Stifters, hat bereits versucht, einen Weg zwischen blinder Verehrung und rettender Eschatologie zu finden, indem er die Spannungen herausarbeitete, die dieses Leben charakterisieren und oft schwierig machen oder sogar blockieren, gleichzeitig aber schöpferische Impulse freisetzen.
Ein kleines Beispiel mag die Problematik von Interpretationen zeigen, die sich von der fraglosen Voraussetzung eines „bedeutenden“ Werks leiten lassen. In der Fiktion der Mappe meines Urgroßvaters räumt der Autor die gesamte Familie des Helden, die seine Erzählpläne offenbar stört, innerhalb kürzester Zeit beiseite: er läßt sie sterben. Der Held zeigt sich von diesem Schicksalsschlag unbeeindruckt, er geht seinen Weg, der ihn mit anderen Menschen zusammenbringt und schließlich zur Gründung einer neuen Familie führt, ohne Anzeichen besonderer Trauer weiter. Der wohlmeinende Interpret erkennt im knappen Erzählbericht über das einschneidende Ereignis das Stilmittel des „Lakonismus“: je weniger Worte der Autor verwende, desto eindringlicher wirke die Beschreibung des Unglücks. „Stifter ist selbstverständlich nicht gefühllos, sondern er gibt sich nur so.“ Dabei vergißt der Interpret aber, daß Stifter im selben Werk bei Gelegenheit anderer Schicksalsschläge in der Regel sehr ausführlich wird. Die vom „Positiven“, also vom Wahren, Guten und Schönen, auf das sich Stifter ja tatsächlich berief, geleitete Lektüre kann nicht hinnehmen, daß dem Autor eine Nachlässigkeit unterlaufen ist. „Das ist hohe Stilkunst!“ ruft der Kommentator aus, überzeugt, daß es anders nicht sein kann. Demgegenüber scheint mir die Möglichkeit eines Lochs im Erzählgewebe nicht auszuschließen zu sein, und diese Schwäche könnte weiters auf eine Gefühlskälte des Autors verweisen, die vielleicht nicht sein vorherrschender Charakterzug war, sondern eher die Kehrseite einer gesteigerten, manchmal übersteigerten, vom spätromantisch-biedermeierlichen Zeitgeist genährten Empfindsamkeit.
Fern von kunstmetaphysischen Entscheidungszwängen kann man sagen, daß sich Stifter in seiner frühen Schaffensphase mehr oder weniger bewußt den Gegebenheiten des Literaturbetriebs anpaßte, was zur Folge hatte, daß ein träger, ewig unfertiger Künstler plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit gestoßen wurde, was wiederum seine Entwicklung beschleunigte. Der Betrieb wirkte durch seine Anforderungen und prägenden Strukturmerkmale auf den Autor zurück. Vieles, was uns heute als originell oder auch befremdlich erscheint, ist diesen Konditionierungen geschuldet. Andererseits kann man beobachten, wie sich Stifter nach der Wende von 1848 auf den errungenen Positionen gleichsam verbarrikadiert und vom eingeschlagenen Weg nicht mehr abzuweichen gewillt ist. Die auf diese Weise entstandenen Befremdlichkeiten verführen manche Kommentatoren, die die Literaturgeschichte vom historischen Standort der Moderne aus durchforsten, dazu, im Spätwerk Stifters ein literarisches Vorläufertum zu erkennen, wo es sich auch um Sackgassen handeln könnte. Sicher scheint mir bei alldem zu sein, daß Stifter kein Wahrheitsfanatiker wie Friedrich Hebbel, Franz Kafka oder auch Grillparzer war, daß er also der Medusa nicht ins Gesicht blicken wollte und eine gute Wegstrecke vor den äußersten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Erkenntnis und Selbsterkenntnis halt machte. Die Wahrheit Stifters läßt sich nicht ohne seine Schweigestrategien und nicht ohne seine Lügen fassen. Radikale Wahrheitssuche setzt voraus, daß der Suchende sich wenigstens augenblicksweise von allen Ideologien frei macht. Das konnte und wollte Stifter nicht. Was er konnte (und manchmal wollte), war, jene Konstellationen, die eine Gewißheit bildeten, so abzuändern, daß innerhalb des Werks Gegenbewegungen ausgelöst wurden.
In einer seiner Repliken auf die Vorwürfe, die Friedrich Hebbel gegen ihn äußerte, schreibt Stifter, daß das wahrhaft Große nicht groß daherkomme und die „höchsten Künstler die lieblichste, kindlichste Naivität haben und dem Ideale gegenüber, das sie immer leuchten sehen, stets demütig seien“. Jemand, der im Stande der Naivität lebt, sei er Künstler oder nicht, kann von seiner Naivität kein Bewußtsein haben. Naivität muß allerdings nicht eine Persönlichkeit in allen ihren Facetten betreffen. Sollte es bei Stifter eine Stelle oder Quelle der Naivität geben, müßte man sie dort suchen, wo er selbst sie am allerwenigsten vermutete. Diese Stelle wäre das in der Vorrede zu den Bunten Steinen mit allen Insignien der Gewißheit formulierte Sittengesetz, das besagt, daß das Gute über das Böse letzten Endes triumphieren wird, weil es nach göttlichem Ratschluß triumphieren muß. Mit den sich im Lauf seines Lebens häufenden, privaten und öffentlichen Tatsachen, die das Gesetz zu widerlegen schienen, kam Stifter nicht zurande. Das Nichtzurandekommen aber schlug sich in seinem Werk in Form von Bruchlinien nieder, die dessen Spannung und folglich jene Energie erzeugen, die die weltfreudigen Sätze Stifters erst wirken läßt.
3. Was ist Bigotterie?
Die Auskünfte der Etymologen betreffend das Wort „bigott“ sind alles andere als kohärent. Die ehrlichsten unter ihnen geben zu, daß sie nicht wissen, woher das Wort stammt. Im Spanischen bedeutet „bigote“ soviel wie Schnurrbart; das spanische Wort wiederum soll auf untergründige Weise mit dem englischen „by god“ zu tun haben. Den etymologischen Unsicherheiten zum Trotz weiß ein Sprecher im Alltagsleben meist recht genau, was er meint, wenn er eine Person als „bigott“ bezeichnet. Auf eine bestimmte Art von Frömmigkeit spielt das Wort an, auf übertriebene Zurschaustellung und Heuchelei. So wie Goethe es einmal (am 9. April 1787) in der Italienischen Reise gebraucht, bedeutet es nichts anderes als religiösen Wahnsinn. Aus dem religiösen Bereich kann man es ohne metaphorische Bocksprünge in andere Glaubensbereiche wie Moral und Politik übertragen. Montesquieu nennt als einen der Gründe für den Untergang des römischen Reichs die Bigotterie im byzantinischen Raum, und er umschreibt sie mit Schwäche, Weichlichkeit, Feigheit. Der Bigotte stellt strenge Forderungen in Hinblick auf die Treue zu den Gesetzen und Regeln seiner Ideologie; die Forderungen fallen umso strenger aus, je weniger der Bigotte seiner persönlichen Glaubenskraft vertraut. Der fanatische Pornojäger setzt sich dem Verdacht aus, daß er für das von ihm verfolgte Laster anfällig ist. Würde er dies eingestehen, wäre er gegenüber den Sündern nachsichtiger. Die USA mit ihrem offiziellen Moralismus und den Vorkehrungen zur Vermeidung dessen, was als „Sexismus“ stigmatisiert wird, sind bei weitem der größte Produzent von Pornographie. Man kann sich einen Stifter vorstellen, der in seinem gepflegten, altargleichen Schreibtisch einen Bildschirm eingebaut hat, auf dem Pornofilme laufen. Jesus hat sich mit allerlei Gesindel, mit Huren, selbst mit Verbrechern eingelassen. In den Evangelien findet man keine Anzeichen von Bigotterie.
Einer der Charakterzüge Stifters, die in seinen Werken Niederschlag finden, ist eine gewisse Weichheit. Beharrlich, über die Jahre hinweg, beschwört und gestaltet er das, was er in der Formel vom „sanften Gesetz“ auf den Punkt bringen sollte. Im Gegensatz zu den Sanftheitspostulaten war der Gesamteindruck seiner körperlichen Erscheinung für viele, die ihm begegneten, grobschlächtig, und dies nicht erst, seit er an Körperfülle zunahm. In der besseren Gesellschaft der Großstadt Wien fühlte sich der aus den tiefen böhmischen Wäldern Zugereiste zeitlebens unbehaglich. Einer der Schüler des Hauslehrers Stifter erinnert sich nach dessen Tod, daß sein pockennarbiges Gesicht ein Übermaß an „Gemütstiefe“ ausstrahlte. Gemütstiefe, Empfindsamkeit – solche ungreifbaren Gegebenheiten des Innenlebens versuchte Stifter, in dieser Hinsicht ganz Romantiker, den positiven Helden seiner Studien-Novellen beizulegen. Daß die Gemütsäußerungen verlogen klingen konnten, weil sich hinter den schönen Formeln oft ganz andere Gefühle verbargen als die zur Sprache kommenden, dürfte Stifter zumindest geahnt haben. Als „Leidenschaften“ bezeichnet er diese Affekte, allerdings nicht in der Selbstanalyse, sondern erst, nachdem er sie außerhalb seiner selbst gestellt hat, um sie als abschreckende Beispiele darzustellen. Die Ambivalenz seiner wie aller Bigotterie ist verräterisch, nicht kalkuliert. Am deutlichsten verrät sie sich in Stifters letztem Brief (August 1835) an Fanny Greipl, die Geliebte aus der böhmischen Heimat. Der tatschwache, sich windende Liebhaber hebt das Mädchen in religiöse Höhen: „du warst doch immer die Heilige zu der mein besseres Innere betete…“ – um ihr gleichzeitig einen Handel vorzuschlagen: Wenn sie nur ja sagt, also in die Ehe einwilligt, will er in Zukunft „sanft und stille sein“, und nie soll „ein unsanftes Wort dein Herz betrüben, oder eine Handlung dein Gemüt verletzen…“
Ein mehr als fünf Jahre zuvor geschriebener Brief zeigt, daß Stifter sehr wohl zu unbeherrschten Ausbrüchen, gezielten Verletzungen und versteckten Drohungen fähig war. Und seine Rechtfertigung betreffend die Verlobung mit Amalie Mohaupt, die er später heiraten sollte, klingt durchaus nicht überzeugend. „Ich achte Sie, daß Sie Ihrer ersten Liebe treu blieben etc.“, soll Amalie gesagt haben, als Adalbert ihr von der unauslöschlichen Liebe zu Fanny berichtete. All das ist ungereimt und verlogen, der hohe Ton desto höher gestimmt, je niedriger die realen Absichten waren. Fanny hat auf Stifters letzten Brief, der ihr keine Antwortmöglichkeiten ließ, nicht mehr reagiert. Vielleicht hatte er ihn nur geschrieben, um die Trennung auf eine Weise zu bewirken, die ihn vor sich selbst der Schuld enthob. Jedenfalls trug er seinem Charakter entsprechend zur Verwirklichung seiner Ahnungen bei: Er rechnete damit, daß sich das kleinere Übel anstelle des großen Glücks einstellen würde. Er wolle „nur allein dich zur Braut meiner Ideen machen“, schwor er Fanny, „und dich fort lieben, bis an meinem Tod“. In der Wirklichkeit ehelichte er Amalie, während er in seinen literarischen Werken ein ums andere Mal seiner ewigen Liebe zur idealen Braut Ausdruck verlieh. Dem Schüler und Freund Sigmund von Handel schrieb er 1836 auf humorige Weise im Jean-Paulschen Geist, der in jenem Kreis herrschte: „Meine himmlischen Ideale der Frauenliebe sind elend hin“, das Herz mit seinen „schönen Raketen mußte lächerlich verpuffen…“ Hier kann man, vielleicht nur bedingt durch die stilistische Pose, einen Hauch jener Selbstironie ahnen, der Stifter alles in allem recht selten anwehte. Man kann diese Zeilen aber auch so lesen, daß der im Leben ungeschickte, zögerliche Autor sich mit angemaßter Verschrobenheit einer echten Auseinandersetzung mit den Aporien der Liebe, wie sie der nicht weniger zögerliche, aber radikal wahrheitsliebende Franz Kafka in seinen Briefen an Felice Bauer führte, zu entziehen vorzog.
Wenn ich heute zurückdenke an meine Kindheit, will mir Österreich, oder genauer: Westösterreich, dieser erzkatholische Raum, in dessen Mitte das von Stifter gepriesene Salzkammergut liegt, als Reich der Bigotterie erscheinen. Die Verhältnisse mögen sich seit damals geändert, die alten Glaubensdogmen an Bedeutung verloren haben – und doch ist es merkwürdig, mit welchem Eifer immer noch die Konflikte in der katholischen Kirche einerseits vertuscht, andererseits von einer nicht nur kirchlichen Öffentlichkeit diskutiert werden. Unlängst die Affäre um den Konsum von Pornographie am Computerbildschirm eines Priesterseminars und die ausgetauschten Küsse von Seminaristen. Entrüstung allenthalben, als gäbe es heute, wo das Internet von pornographischen Bildern überschwemmt ist, tatsächlich Männer, die sich dieser Flut gänzlich entziehen können. Hämische Empörung, Scheinheiligkeit auch bei den Agnostikern – aber ist es denn überhaupt denkbar, daß ein Mensch, sei er auch Priester, seine Sexualität abtötet? Daß er sie restlos in eine religiöse oder soziale Aufgabe hineinsublimiert? Abgesehen von der Frage, ob das wünschenswert ist. Jesus hätte gesagt: „Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“ Die Steine sind wieder einmal zu Tausenden geflogen. Die Schauplätze und Formen der Heuchelei mögen andere sein, die Sache selbst ist nicht verschwunden.
Stifters Romane und Novellen führen uns nicht an die Wurzel der Bigotterie, sondern zeigen ohne Absicht, wie die Bigotterie als heimischer Humus über Jahrhunderte hinweg die Charaktere geprägt hat. Darin liegt der Nutzen der Lektüre von biedermeierlicher Literatur. Der Nutzen und auch das Spannende, weil in bigotten Charakteren immer eine unaufgelöste Spannung wirkt, so daß sie Gefahr laufen, von der Ebene ihrer hehren Ideale auf den harten Boden der Wirklichkeit herabzustürzen. Damit solches geschieht, muß weder das Dämonische noch eine Naturkatastrophe in die friedliche Welt des Alltags einbrechen. Die Spannung ist als innere, psychische Spannung gegeben, sobald die Erzählung ein Geschehen ins Auge faßt. Sie wird schwächer, wenn Stifter seine Figuren mythisiert, indem er sie als Agenten einer historischen oder religiösen Vorsehung auftreten läßt. Aber nie erlischt sie ganz, nicht einmal im Witiko, wo jegliche individuelle Willkür in einem übergeordneten Volksgeist verschwinden soll. An Stifter selbst wie an vielen seiner Figuren können wir sehen, wie die wesentliche Widersprüchlichkeit des bigotten Charakters zur Selbstaufhebung drängt, aber nur, um am Ende desto härter durchzuschlagen. Daß wir das Schicksal (oder die Vorsehung) geliebt haben, ist am Ende eines unbefriedigenden Lebens ein schwacher Trost.
Meine vier Tanten mütterlicherseits – sie stammen aus einer Gegend, die Stifter kannte und die vermutlich den geographischen Hintergrund seiner Erzählung Die Narrenburg bildet – sind alle unverheiratet geblieben, sie haben ihre Libido dem Herrn Jesus Christus und den Werken der Barmherzigkeit geschenkt. Eine wurde Nonne, sie lebt seit Jahrzehnten in Südafrika, wo sie sich den armen Negerkindern widmet. Eine andere wurde Religionslehrerin. Eine dritte arbeitete fast ohne Entlohnung bei einer reichen Familie als Haushälterin. Eine vierte wurde Krankenschwester und übte diesen Beruf hingebungsvoll aus, bis sie selbst sich eine chronische Allergie, hervorgerufen durch die in Krankenhäusern unvermeidlichen Desinfektionsmittel, zuzog. Diese Tanten führten und führen ihr Leben in bedingungsloser Unterordnung unter die Anforderungen des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche; eine Unterordnung, die in früheren Jahrhunderten und noch bis über die Mitte des zwanzigsten hinaus selbstverständlich war. Aus meinem inneren Gehör werden niemals ihre Stimmen verschwinden, die mich zum selbstverständlichen Guten bereden. Bis zu meinem Tod werde ich den weinerlichen Ton vernehmen, der aufkam, wenn etwas Unerklärliches geschehen war, die schneidende Härte gegenüber Meinungen und Tatsachen, die dem Glauben zuwiderliefen, den Singsang der Toleranz (über deren Stränge man nicht schlagen durfte), das Schluchzen, wenn sie, die Tanten, einmal eine leise Ahnung der Vergeblichkeit ihres und allen Tuns zuließen.
Um das Jahr 1970 wählte der neue Abt des Stiftes Kremsmünster als Maxime seines künftigen Tuns: „Hart gegen mich selbst, weich gegen die anderen.“ Diesen Satz kolportierte seinerzeit voll Bewunderung eine der vier alten Jungfern, Tante Fanny (von Franziska, wie bei Fanny Greipel, der Idealgeliebten Stifters). Jener Spruch ist die genaue Umkehrung des bigotten Prinzips, und es mag sein, daß in Kremsmünster noch 1970 etwas vom aufklärerischen Geist lebendig war, der das Stift zu Stifters Zeiten auszeichnete. Allerdings gehört die fallweise Umkehrung der Prinzipien, die durchaus beibehalten werden, mit zu den Methoden der Bigotterie. Der politische Populismus, von einem aus dem Salzkammergut stammenden Politiker gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu hoher Blüte getrieben, kann als eine der Varianten der Bigotterie betrachtet werden. Das tatsächliche Verhalten seiner Vertreter ist rücksichtslose Härte gegen die anderen verbunden mit Empfindlichkeit, wenn die eigene Person angegriffen wird. Selbst im Bereich der österreichischen Gegenwartsliteratur gibt es Leute, die diesem Mechanismus folgen, während sie sich mit hübschen Maximen schmücken.
Meine Mutter arbeitete als junge, unverheiratete Frau in der Stiftsküche zu Kremsmünster. Daß ihr erstgeborener Sohn später als Zögling den täglichen Weg auf den großen Steinplatten zwischen Internat und Gymnasium gehen würde, vorbei an dem Halbrelief, das ein schweres und fremdes Gesicht aus einer Zeit zeigte, als es noch keine Fotos gab, vorbei am faulig riechenden Algenbecken, mußte für sie die Erfüllung ihres höchsten Wunsches sein. (Womöglich war an der Stelle des Stifter-Porträts nur eine Inschrift im Marmor, das Bildnis verspätete Einbildung?) Natürlich hätte er Priester werden sollen, wie der kleine Adalbert Stifter aus dem Böhmischen Priester hätte werden sollen: das wünschen sich die Mütter von ihren Knaben, und so bekreuzigen sie ihnen die Stirn besonders bedächtig mit Weihwasser, ehe sie das Haus verlassen, mit benetzten Fingern schlagen sie das eine Zeichen, das alle anderen Zeichen rechtfertigt. Aber aus Stifter wurde auch nichts anderes als ein ewiger Student, ein „Wissenschafter im allgemeinen“, den die Dynamiken des vormärzlichen Buchmarkts plötzlich zu einem berühmten Dichter machten, so daß man ihm schließlich sogar eine Gedenktafel in den Bogengang des Kremsmünsterer Wirtschaftstraktes hängen mußte. Meine Mutter erzählte mir, wie sie und eine Kollegin durch den Spalt der großen und schweren Tür des Kaisersaals lugten, wenn am Ende des Schuljahrs die Feier mit der Preisverteilung an die besten Schüler, die einen sogenannten „Vorzug“ bekommen hatten, stattfand. Nur einmal hatte sie das Glück, auf der Bank der Eltern zu sitzen und aus der Nähe zu verfolgen, wie ihr Sohn das dicke Buch entgegennahm. Stifter gehörte regelmäßig zu den Ausgezeichneten, er war ein sehr guter Schüler. Die Herkunft Stifters und seine Ausbildung sind zutiefst katholisch – aber kann man ihn deshalb als katholischen Autor bezeichnen? Als christlichen Autor zweifellos. Denn ohne die Verwurzelung seines Denkens und seiner Vorstellungen vom „Schönen“ als dem Göttlichen im Kleid der sinnlichen Reize, wie sie ihm von der christlichen Weltanschauung vermittelt wurden, läßt sich sein Werk samt all den Brüchen und Widersprüchen nicht erklären. Worin aber bestünde das eigentlich Katholische? Ein viel späterer österreichischer Autor, Josef Winkler, ist mit seinem Leidenspathos, seinem Schwanken zwischen Gebet und Verfluchung und seinen überladenen Satzmustern viel katholischer. Aber vielleicht hat man bisher zu wenig beachtet, daß es auch und seit langem einen helleren, aufgeklärten, leibnizianischen, menschenfreundlichen Katholizismus gibt. Stifter wollte sich zu dessen literarischem Botschafter machen. Goethe ins Österreichische übertragen – eine Quadratur des Kreises, die immer wieder die Zwanghaftigkeit des Unterfangens durchscheinen läßt.
Dabei sind die Freuden nicht zu unterschätzen, welche die Bigotterie gewährt. Sie sind ebenso nennenswert wie die poetischen Leistungen jener Quadratur, wie das Gebäude der Utopie mitsamt dem zugehörigen Landschaftsgarten. Hier läßt sich sorglos lustwandeln und schaffen, die Rosenfassade und der Springbrunnen verdrängen den Gestank des Misthaufens und den Schweiß im Angesicht der Arbeitenden. Alles ist vollkommen harmonisch eingerichtet; auf Gott vertrauend, schafft sich der Wirtschaftende die beste aller Welten mit eigenen Händen. Ich erinnere mich an den Schmelz in der Stimme der Tante, wenn sie ihrer Zufriedenheit über das auf dem Erziehungsweg Erreichte Ausdruck gab. Ein wohlerzogener Knabe, ja, da kann gar nichts schiefgehen, der Lebensweg ist festgelegt, er mündet ins Paradies. Ich erinnere mich an die schmalzigen Bilder Murillos, die ich an der Hand meiner Tante im Prado sah, die großen glasigen Kinderaugen, die warmen, lebendigen, leuchtenden Farben. Oder an das Gemälde Guido Renis auf dem Totenzettel, jene katholische, keineswegs klassische, dafür aber gemütvolle Bildkunst des 17. Jahrhunderts, die in der Biedermeierzeit wiederentdeckt und geschätzt wurde. Es sind diese Maler, die Stifter anführt, wenn er sein Kunstideal veranschaulichen möchte; es sind diese Bilder mit dem katholischen Schmelz, die neben den „realistischen“ Niederländern, den zahllosen Genre- und Landschaftsbildern in den kleinen Gemäldesammlungen der Herren der Stifterschen Utopie hängen. Diese Sammlungen gleichen der Bildergalerie im Stift Kremsmünster, die Stifter als Internatszögling kennengelernt haben wird. Verräterisch an der bigotten Idylle ist das Beschwörende, die Notwendigkeit, das Idyllische der Idylle immer wieder zu unterstreichen, als mißtraute ihr ihr eigener Schöpfer. Wie lange kann das gutgehen, wann wird das Gewitter ausbrechen? Wird einer kommen, um den Schwindel aufzudecken?
Im Nachsommer bricht das sich ankündigende Gewitter überhaupt nicht aus, und im Hagestolz geht das Gewitter vorüber, „es zog mit sanfteren Blitzen und schwächeren Rollen jenseits der östlichen Gebirgszacken hinunter, die Sonne kämpfte sich wieder hervor, und füllte das Gemach allmählich mit lieblichem Feuer“. Die Zerstörungen werden anderswo angerichtet, nicht dort, wo sich ein menschenfeindlicher Greis und ein unbedarfter Jüngling versöhnen. Aber es gibt auch Beispiele, wo das geduldig gesponnene Gewebe der Utopie reißt – nur sollte man Stifter nicht durchwegs vor der Folie eines Scheiterns sehen, das er mit aller Macht, die ihm zur Verfügung stand, hinauszuschieben trachtete.
4. Das zerschlagene Fenster
Ich muß drei oder vier Jahre alt gewesen sein, höchstens fünf. Es war später Nachmittag, die anderen Kinder waren von ihren Eltern oder von einem Verwandten längst abgeholt worden. Ich saß eine Weile auf der Bank in dem würfelartigen Vorraum, der nur durch eine Oberlichte erhellt wurde. Dann zog ich meine Schuhe an, das letzte Paar auf dem gesprenkelten Steinboden, und schob die Patschen in das Fach unter der Sitzbank. Ich ging hinaus in den Garten, umkreiste den Sandkasten, ging zum Zaun, wo die Regenwürmer aus der Erde krochen. Irgendwann bekam ich Angst, denn der Himmel war auf einmal dunkel, es dämmerte schon, und die Mutter kam nicht, auch sonst kam niemand, die Großmutter nicht und kein Abgesandter, sie hatten mich alle vergessen.
Ich wollte zurück in den Vorraum, aber die Tür war verschlossen. Ich klopfte und rüttelte, aber die Schwester hörte mich nicht. Langsam ging ich die Pfarrhofmauer entlang bis zu den Fenstern, die ich erreichen konnte, wenn ich auf den Mauervorsprung stieg und mich an ein Sims klammerte. Mein Kopf ragte ein wenig über den unteren Fensterrand, die Nase berührte beinahe das Glas, und ich sah die Leere, die Tische und Stühle, die bereits aufgereiht waren, die Spielsachen in der Kiste. Auch die Schwester sah ich, sie war im Schlafraum, dessen Flügeltür offenstand, mit dem Zusammenfalten der Decken beschäftigt. Ich klopfte an das Fenster, aber sie hörte mich nicht. Ich klopfte noch einmal, und sie richtete sich auf, hielt kurz inne, ehe sie in ihrer Arbeit fortfuhr. Sie wußte, daß ich draußen war, allein im Garten, allein auf der Welt, auch wenn ich ganz nahe war, nur durch das Fensterglas getrennt.
Ich ballte die Faust und schlug gegen das Glas. Die Schwester tat, als hörte sie nicht. Sie ging in das Spielzimmer, verstaute etwas in einem Schrank, kam dann nach vorne, streifte das Fenster mit einem Blick und verschwand in der Tür, unter der der Herr Pfarrer seinen Glatzkopf einzog, wenn er die Kinder besuchen kam. Verzweifelt schlug ich fester und fester gegen die Scheibe, und da geschah, womit ich nicht gerechnet hatte oder was ich doch erwartet hatte, ich bin nicht ganz sicher, ich war nicht sicher, jedenfalls erschrak ich, schrie aber nicht, brachte kein Wort heraus, wollte nicht sprechen, schwieg wie ein Stein. Ich erschrak über den Lärm, mit dem die Scheibe zerbrach, nicht über den Schmerz, denn ich spürte nichts, ich sah nur das Blut und wunderte mich, woher dieses Blut kam, soviel Blut, es hörte nicht auf zu rinnen. Endlich kam die Schwester, schaute mich blaß und böse an, was hast du getan, das Blut tropfte auf den gesprenkelten Stein und floß in die weiße Waschmuschel und vermischte sich mit dem Wasser, das aus dem Hahn lief. Splitter, sagte die Schwester, die Splitter müssen heraus.
Ich erinnere mich nicht, wie wir zum Arzt kamen, erst an den Geruch von Jod erinnere ich mich und an das Wort „nähen“, das ich nicht gleich verstand: Die Hand mußte genäht werden. Irgendwann erschien die Mutter in der Ordination, wieder einmal viel zu viel Arbeit, und niemand, den sie schicken konnte, die Großmutter war in Viechtwang… Die Kindergartenschwester sagte: Das hat er absichtlich getan. Und die Strafe – oder nein, es gab keine Strafe, denn die Fortsetzung der Einsamkeit war viel schlimmer. Ich konnte kein Wort sagen, weil mir niemand die Wahrheit glauben würde: Die Schwester hat mich durch das Fenster gesehen, sie hat die Tür zugesperrt, sie hat absichtlich nicht aufgemacht. Später war ich stolz auf die Narbe, ich zeigte sie den Kindern im Kindergarten: Wieviele Stiche? Sieben? Nein acht… So lang! Ja, ich hatte das Fenster zerschmettert. Ich war stolz wie auf eine Heldentat.
Die Narbe ist wirklich lang, sie läuft die ganze Handkante entlang. Überwachsen vom Gras des Alters, von den Männerhaaren, die mich einst an den Händen des Onkels aus Viechtwang schaudern ließen. Sogar auf den vorderen Fingerkuppen wuchsen welche! Und die Geschichte aus dem Kindergarten in Sattledt, sie fällt mir ein, als ich Stifters autobiographisches Fragment wiederlese. Damals, in Stifters Heimatdorf Oberplan, gab es keinen Kindergarten, aber es gab eine Großmutter, einen Pfarrer, eine Dorfgemeinschaft. Und es gab ein zerschlagenes Fenster, es gab die Strafe der Einsamkeit, der Nicht-Kommunikation. In dem berühmten Fragment, geschrieben im Oktober 1867, also wenige Monate vor seinem Tod, bei einem Besuch im Heimatort, erwähnt Stifter auch die Strafe für sein Verhalten: „Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht“, so die Worte der Großmutter. Mit dem Gesetz und seinen Wirkungen wird der kleine Adalbert durch die Frauen in der Familie bekanntgemacht. Merkwürdig ist an dieser Stelle der Hinweis des Knaben auf den Kornhalm: entweder er will bewußt von seiner Tat ablenken, oder er ist sich ihrer gar nicht bewußt. Im ersten Absatz des Fragments hatte Stifter bereits das Wort „Halm“ verwendet, und zwar im Rahmen eines Vergleichs: „Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten.“ Der Halm, auf den der Knabe zeigt, könnte das nicht er, Adalbert, selbst sein? Will er die Mutter vielleicht auf seine – vernachlässigte? – Anwesenheit aufmerksam machen? Gibt es etwa schon in seiner frühen Kindheit, die Stifter in autobiographischen Erzählungen wie dem Haidedorf stets als Idylle beschrieben hat, dabei besonders die Mutter auf das Podest der Reinheit hebend (der Vater, früh verstorben, kommt in den Erzählungen kaum vor) – gibt es in dieser Idylle vielleicht schon einen Bruch? Einen Bruch, der Stifter bewußt war?
Andererseits haben wir die Behauptung der Kindheitsidylle als solche ernst zu nehmen. Ohne die tatsächlich empfundene Erinnerung an ein goldenes Zeitalter läßt sich das spätere Bauen an einem utopischen Raum nicht verstehen. Das autobiographische Fragment ist gerade in seiner Abstraktheit kühn. Nur durch diese Abstraktheit gelingt es Stifter, eine Ahnung von dem zu erzeugen, was in eine vorsprachliche, indistinkte Welt zurückreicht: Zustände, die keine genauen Umrisse aufweisen und daher keine Definitionen, keine Abgrenzungen erlauben. Stifter vergleicht das Geschilderte mit den „Urerinnerungen eines Volkes“. Damit ist gesagt, daß sie weit, sehr weit zurückliegen, in einer durch Zahlen nicht benennbaren Entfernung, und daß sie kaum in der Sprache eines individuellen Bewußtseins aufgezeichnet werden können. Das Kleinkind hat gewissermaßen an der Stammesgeschichte noch unmittelbaren Anteil, es ist von seinem „Stamm“ nicht in der Weise getrennt, wie es der Erwachsene empfindet. Im Fragment versucht Stifter, jenes Phänomen zu versprachlichen, das Nietzsche in der Geburt der Tragödie formelhaft „das Leiden an der Individuation“ genannt hat. Im dionysischen Anfang, wo der Gott – das Kleinkind – noch nicht in das „Netz des Einzelwillens verstrickt“ ist, herrscht ein schier grenzenloses, strömendes Lustempfinden vor, und diesem will Stifter in erster Linie Ausdruck verleihen. Dennoch ist schon der Anfang ambivalent, der Ursprung nicht ganz einheitlich, die Trennung und der damit verbundene Schmerz bereits angelegt. In diesem radikalen Stück Literatur, das einen winzigen Widerpart gegen die lebenslangen Selbsttäuschungen des Autors bietet, gibt es keinen „reinen“, mythischen Ursprung. Auf dem goldenen Zeitalter liegt bereits ein Schatten.
Die frühen Empfindungen sind ausschließlich durch die Sinne bestimmt und nur undeutlich voneinander getrennt. Sie funktionieren „synästhetisch“ – die Wiederherstellung der Synästhesie ist, wie Julia Kristeva gezeigt hat, eines der nachhaltigen Ziele moderner Dichtung. Für die allererste Kindheitsphase verwendet Stifter die Wörter „Glanz“, „Gewühl“ und „unten“. Das als angenehm empfundene Gewühl wird durch den Tastsinn vermittelt, der Glanz durch den Gesichtssinn; die räumliche Angabe ist vage, nahezu unbestimmt und kaum geeignet, jenes Koordinatensystem aufzuziehen, in dem sich die Erwachsenen bewegen. Das „Unten“ gelangt „meist schwierig und erst spät“ in das Vorstellungsvermögen. Vielleicht ist eher ein Körperteil gemeint, der Bauch oder der Unterleib, oder auch der Leib des anderen, der Körper der ersten Bezugsperson, von dem das Kind sich noch nicht getrennt fühlt. Stifters Beschreibung wäre so etwas wie der Versuch, eine Ahnung vom Entstehen des Raumgefühls zu vermitteln, das einen wesentlichen Beitrag zur Trennung des Individuums aus dem „Ursprungszustand“ leistet.
In der nächsten Phase ist die Rede von etwas „Sanftem“, das der Autor vor allem mit dem Gehörsinn in Verbindung bringt (wiewohl ein Eindruck des Tastens miterzeugt wird). „Sanft“ und verwandte Wörter gebraucht Stifter in seinen Werken häufig, nicht nur dort, wo er ein historisches Gesetz zu formulieren versucht, sondern in erster Linie zur Benennung von Charaktereigenschaften, von Empfindungen, aber auch von Landschaften und Naturphänomenen. Man könnte sein gesamtes Schaffen als Versuch interpretieren, zu jenem anfänglichen, später verlorenen oder aufgerauhten „Sanften“ zurückzufinden, und das späte autobiographische Fragment wäre in diesem Sinn tatsächlich so etwas wie ein Schlußstein.
In der dritten von Stifter beschriebenen Kindheitsphase wird ein Eindruck des Schwimmens und zugleich des Schwebens suggeriert: auch dies ein „ursprünglicher“, undifferenzierter und lustvoller Zustand. Das noch nicht individuierte Individuum ist ganz von einem Element umgeben, sei es Wasser oder Luft, und es erfährt in dieser Umgebung keinen Widerstand, den es in irgendeiner Weise bekämpfen müßte, sondern eine selbstverständliche Behausung. Das mit diesem Zustand verbundene rhythmische, gleichsam musikalische Wiegen wird neuerlich als lustvoll empfunden, es birgt aber auch schon eine Gefahr – die Gefahr der Trunkenheit, des „Zuviel“. Das Kleinkind ahnt, daß es nicht immer sofort alles haben kann. Es ahnt die Grenzen, die sein Menschenleben bestimmen werden, den Wechsel von Erfüllung und Mangel, die raumzeitliche Transformation des ursprünglichen rhythmischen Schwebens.
In den ersten drei Phasen ist das Individuum gleichbedeutend mit dem „Ganzen“, der Gott ist noch nicht zerstückelt, die Welt nicht in ein Innen und ein Außen getrennt. Erst in der vierten Phase zeigen sich „Spitzen“, die zunächst nur wie die Fortsetzungen jener Klänge erscheinen, sich dann aber als etwas von außen Kommendes erweisen: „Glocken“, das könnten tatsächlich die Kirchturmglocken von Oberplan sein, und dazu „eine Stimme, die zu mir sprach“, die also nicht die eigene ist. In weiterer Folge gewahrt das Kind die Arme, die Augen, nach denen es „schreit“, weil es zu ahnen beginnt, daß es nicht seine eigenen sind und sie im nächsten Augenblick schon nicht mehr da sein könnten.
Dann wird in Stifters Bericht erstmals der Mangel und das dadurch hervorgerufene Unlustgefühl benannt. „Strebungen, die nichts erreichten“ – in diesem Feld des Negativen, des Haben-Wollens, der erfahrenen Abwesenheit ist das vielzitierte „Entsetzliche und Zugrunderichtende“ angesiedelt. Und dann die Rückkehr, die nun wieder als „mildernd“, also besänftigend, empfunden wird, und die gewachsene Klarheit der Wahrnehmung der Außenwelt, der unterschiedenen Gestalten, der Mutter, die nun auch schon einen Namen erhält. Die sukzessive Aneignung der Sprache wird die frühkindliche Entwicklung, das heißt die schmerzvolle, aber auch neue Lust erzeugende Individuation beschleunigen.
Und die Entfaltung der Sprechfähigkeit geht einher mit der Installierung eines Gesetzes; mit Strafe und Lob; mit der Möglichkeit des Nicht-Sprechens, dem Abbrechen der Kommunikation. In dieser Welt kann das Kind sehr einsam sein. Manchmal glaubt es, die Erwachsenen mit all ihren Mitteln und Mächten hätten es seinem Schicksal überlassen. Und dieser Wechsel, diese schrittweise, allmähliche Entwicklung von etwas im Anfang Keimenden, die einhergeht mit der schrittweisen Aneignung der äußeren Welt, die ihrerseits gleichbedeutend ist mit der Konstituierung und Erweiterung eines Raums als Umraum des Selbst (die Stube mit den Tragebalken, dem Tisch, dem Fenster, und schließlich die Straße, das Draußen), bildet mit ihrem kontinuierlich wiederholten „dann“, mit ihren idyllischen „Inseln“ und den sich regenden Ängsten die Urerzählung nicht nur von Stifters Leben, sondern auch das Grundmuster seines epischen Schreibens. In der ruhigen Sukzession des Erzählens, sei es auch des Erzählens vom „Entsetzlichen und Zugrunderichtenden“, findet sich die verlorene Einheit, die zeit- und raumlose Existenz des Kleinkinds restauriert. Die vorsätzlichen Überspanntheiten der frühen, im romantischen Geiste verfaßten Erzählungen sind so etwas wie die Geburtswehen einer zur klassischen Ausgewogenheit neigenden, insgeheim unglücklichen, im Schillerschen Sinn „sentimentalischen“ Schöpferexistenz. Schon das sprachmächtige Kind erzählt vom Fensterbrett aus in die Stube hinein der Großmutter, „was draußen vorgeht“, und mit Kienspänen versucht es, das Nachbardorf Schwarzbach zu „machen“. Im kleinen, aufgeweckten Adalbert regt sich jene „Schaffungslust“, die Gustav Risach im Nachsommer als hervorstechendes Merkmal seiner frühen Kindheit erwähnt: „Ich machte aus feuchtem Lehm Paläste aus Holzrinde Altäre und Kirchen.“
5. Das Mädchen mit dem Wasserkopf
Der Wunsch nach Kindern, die das eigene Leben fortsetzen, hat in Stifters Biographie zentrale Bedeutung. Daran ist nichts Besonderes, die meisten Menschen verspüren diesen Wunsch mehr oder weniger stark, und er regt sich zumeist in der biologischen Mitte eines Lebens, ehe der unvermeidliche Niedergang einsetzt. Ungewöhnlicher ist schon die Hartnäckigkeit, mit der sich der Wunsch in Stifters Werk geltend macht, bemerkenswert die Vielzahl der Varianten, die er in den Erzählungen annimmt. Peter Handke hat Franz Kafka einmal als „ewigen Sohn“ bezeichnet – eine Formel, die auch auf Stifter passen könnte, obwohl ihn von Kafka fast alles unterscheidet. Ziemlich lange für damalige Verhältnisse blieb Stifter Junggeselle, und zu einer rechten Familie, die dem in seinen Werken geschilderten Ideal nahegekommen wäre, brachte er es nie. Auch Kafka hing in obsessiver Weise einer Familiengründung nach, obwohl er die Institution als solche keineswegs idealisierte – man denke an das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, an die erstickende Atmosphäre der Familienwohnung, in der Die Verwandlung spielt. Sah Kafka in seiner analytischen Wahrheitsliebe dem repressiven Wesen bürgerlicher Lebensformen ins Auge, so vertrat Stifter jene Ideologie, die noch heute in der öffentlichen Meinung vorherrscht, obwohl sie die gesellschaftlichen Entwicklungen längst in Frage stellen, um nicht zu sagen: lächerlich machen. „Die Familie ist es, die unsern Zeiten not tut, sie tut mehr not als Kunst und Wissenschaft als Verkehr Handel Aufschwung Fortschritt“, spricht Risach, der ideale Erzieher, der allerdings keine eigenen, keine leiblichen Kinder in die Welt zu setzen vermochte. Und in der frühen Erzählung Feldblumen, deren erste Fassung Stifter 1837/38 unmittelbar nach seiner Eheschließung niederschrieb, beteuert der junge, schwärmerische Albrecht: „Es muß eine große Freude sein, Kinder zu haben, und ich würde ein Narr mit ihnen, ritte vergnügt auf einem Steckenpferde und hinge mir allen Ernstes eine Kindertrommel um.“ In dieser Rolle kann man sich Stifter nicht vorstellen – ein Vater, der mit seinem Kind auf dem Boden herumkrabbelt, und diese konkreten und fröhlichen Bilder verschwinden in der Folge auch aus seiner Literatur, zugunsten von solchen, wo junge Menschen eifrig ihren Bildungsweg verfolgen.