Hiroshima Capriccios - Leopold Federmair - E-Book

Hiroshima Capriccios E-Book

Leopold Federmair

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Beschreibung

"Das neue Jahr tagt und die Spatzen erzählen alte Geschichtchen." Das Neue und das Alte, das Zentrum und die Peripherie; das schrille, laute, das voll Urbane und die einsamen, weitläufigen Landschaften rund um Hiroshima: Leopold Federmair begibt sich als autobiografischer Erzähler seiner "Capriccios" gehend, mit dem Fahrrad oder dem Boot auf "Regionalreisen". Das meist unbestimmte Ziel ist seine Stadt mit ihren Bezirken, Rändern, ihrem Außerhalb. Als "Erforscher des Unscheinbaren" interessiert ihn das Normale und Kuriose im Alltäglichen. Das Frühere und Vergangene zu bewahren, gelingt ihm in vielfältigen Er-Gehungen, Er-Fahrungen: "In Wort und Bild rette ich dies und jenes vor dem Verschwinden." Der Blick des Europäers, der seit über 15 Jahren in Japan lebt, ist noch immer neu und neugierig. Er verzichtet auf Auto und Shinkansen, seine Welt ist langsam. Er lässt sich treiben, lässt den Zufall entscheiden, nimmt Abzweigungen und unbekannte Wege. Sein Schreiben tut es ihm gleich, es ufert aus, mäandert, kehrt zurück. Der literarische Ertrag dieser kleinen Unternehmungen sind die nunmehr vorliegenden "Capriccios" – meist leichte, auch launische Stücke in Prosa und Lyrik.

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Seitenzahl: 342

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Leopold Federmair

HiroshimaCapriccios

OTTO MÜLLER VERLAG

Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von den Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg sowie vom Land Oberösterreich.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1310-5

eISBN 978-3-7013-6310-0

© 2023 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Christine Rechberger

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Illustration Umschlag: Carina Leikermoser

Gestaltung: wir sind artisten

Druck und Bindung: FINIDR, s.r.o. (Český Tĕšin)

Inhalt

Vorwort

Hiroshima 2019

Die Kunst des Aufgebens

Anmerkung

Verzeichnis japanischer Ausdrücke

Lebensmüde, was?Gedicht im Auge des Sturms,laß dich zerzausen!

Vorwort

Viele Gedichte, auch Kurzprosa und kleine Erzählungen, entstehen im Gehen. Sie schreiben sich im Dichter, der geht. Meine Lebensumstände in Japan, die weltweite Bedrohung durch ein neues Virus, aber auch dichterische Überlegungen beschränkten mein Gehen während der vergangenen Monate, aus denen Jahre wurden, auf eine Region, einen Landstrich, eine Gegend. Die Gegend meiner Gegenwart. Die Gegend, der ich Gegengaben erweisen wollte, sehr bescheidene zwar – ein jeder tut, was er kann. Es war mir nicht möglich, sehr weit ins Landesinnere zu wandern, hinauf in den Norden, oder Pilgerreisen zu unternehmen, etwa im benachbarten Shikoku. Nein, ich bewegte mich im Kreis, auf der Landkreisfläche, mal nach Norden, mal nach Süden, seltener nach Westen und Osten, und erkundete die Gegend, in die es mich schon vor Jahren verschlagen hatte und die ich mit der Zeit lieben gelernt hatte. Hiroshima, nicht nur die Stadt, auch ihre Umgebung: die Provinz, die denselben Namen trägt.

Der Dichter Matsuo Basho wollte ins Landesinnere, oku, nicht an den Rand. Jedenfalls behauptet er das im Titel seines Buchs Okuno hosomichi. Sieht man sich seine Reiseroute an, wird klar, daß auch ihn die Ränder verlockten. Er wollte nach Matsushima, das hieß damals: sehr weit weg. Von Matsushima aus durchquerte er Honshu, von einer Küste ging er zur anderen. So weit will ich nicht und kann ich nicht, aber die Ränder verlocken mich immer noch. Sei es auch nur, um ein Gefühl für den Ort zu gewinnen, wo ich herkomme: für die Mitte.

Betrachtet man die Erde als Kugel, die sie annähernd ist, gibt es auf ihr keine Ränder, nur Mitten. Ränder nach innen entdeckt, wer konzentrische Kreise beschreibt. Mein Weg in diesen drei, vier Jahren war eher ein solcher. Wohin bin ich da gelangt? In Abwandlung eines Satzes von Mallarmé möchte ich sagen: Le monde aboutit à un beau livre. Ob das Buch schön ist, weiß ich nicht, aber das letzte und wiederholte Ziel des Wegs sind die Wörter. Der Rhythmus des Gehens und Schauens wird zum Rhythmus der Sprache. Der Ort läßt sich in den Gedanken, den Wörtern, dem Geschriebenen nieder.

So soll es sein!

Hachihonmatsu, Provinz Hiroshima, anno 2023

Hiroshima 2019

1

Erst wenn du etwas zu verlieren beginnst, entsteht eine Geschichte. Je mehr Verluste, desto mehr Erinnerung, desto mehr Erzählung. Was natürlich bedrückend, lebenshemmend wirken kann.

2

An keinem Ort habe ich so lange gelebt wie in Hiroshima. Dreizehn Jahre, kein Jubiläum, keine „runde“ Zahl – ich hätte mit dieser Erzählung hier warten können, bis es fünfzehn oder zwanzig Jahre sind. Aber ob ich dann noch hier sein werde? Ob ich dann noch lebe? Der Lauf der Geschichte oder des Zufalls will es, daß dieses Datum, das „Gegebene“, mit einem anderen Datum zusammenfällt, einem Ende und Neubeginn. Nach dreißig Jahren geht die Amtszeit des alten Tenno zu Ende, ein neuer tritt an. Es war die versprochene Friedenszeit („Heisei“), aber auch eine deprimierende Zeit, eine verewigte Krise ohne große Hoffnung auf eine Lösung; die jungen Leute haben mehr Angst vor der Zukunft als Vertrauen in sie. Vor kurzem wurde Shoko Asahara gehängt, der Guru einer religiösen Sekte, verantwortlich für das Giftgasattentat 1995 in der U-Bahn von Tokyo, bei dem zwölf Menschen starben und hunderte verletzt wurden. Nach dem Erdbeben und Tsunami in Tohoku, mit der drohenden Atomkatastrophe, hatten wir Angst, das Land könnte zerbrechen. Letztes Jahr ging in unserer Gegend ein schwerer, schier endloser Regen nieder, neben unserem Haus rutschte, vom Gipfel weg, ein ganzer Berghang herunter, die Spuren sind unübersehbar, ich muß mich nur umwenden: Blick durch das Balkonfenster, wie damals, als ich, schlaflos im Morgengrauen, das große Grollen gehört hatte und sofort aufgesprungen war.

Heisei. Reiwa. 平成。 令和。 Geht mich das etwas an? Schwer zu sagen, was die neue Maxime – wenn es eine ist und sein soll – eigentlich bedeutet. Zwei Schriftzeichen aus einem alten japanischen Gedicht, dem Lied von der Pflaumenblüte, die man in Kyoto oder Hiroshima schon kurz nach Neujahr sehen kann, die erste Baumblüte und deshalb besonders herzerfreuend, hoffnungsvoll. Früher stammten die kaiserlichen Maximen aus alten chinesischen Texten, die die Frühzeit der japanischen Kultur prägten. Gut so; eine nationalistische Geste, wie sie das mißtrauische Kommentatorenvolk zu erkennen glaubte („Japan snubs China at dawn of new imperial era“, lautete die Schlagzeile in der Japan Times), kann ich darin nicht sehen. Auch die japanische Hymne ist ja ein recht friedliches Gedicht aus dem zehnten Jahrhundert, ohne Kriegsgetrommel (aux armes citoyens, the bombs bursting in the air…), ohne Prahlerei (das begnadete Volk großer Söhne und, neuerdings, Töchter).

Wir wohnen fern von der Stadt, mehr oder weniger auf dem Land, in einer administrativen Zone, die sich Higashi-Hiroshima nennt, früher eine Handvoll verstreuter Ansiedlungen von Reisbauern, Sakeproduzenten und Fischern, heute von Universitäten, Forschungszentren und Zulieferfirmen für den Autohersteller Matsuda durchsetzt. Immer noch viele Reisfelder, auch Sakebrauereien, bewaldete Berge, weiter unten, in westlicher Richtung, dann Kure mit seiner Werft und den Kriegsschiffen, die die US-Streitkräfte damals nicht mit der Atombombe belegten, sie zogen es vor, ihren „Little Boy“ über dichtbesiedeltem Gebiet abzuwerfen. Dorthin, in die Stadtmitte von Hiroshima, komme ich selten, gebildet wird sie vom Friedenspark, über dem am Morgen des 6. August 1945 der große Wolkenpilz aufstieg und der schwarze Regen fiel, und der vom Park abgehenden Einkaufsstraße, die am Parco-Gebäude endet, einem ewig-jugendlichen Einkaufspalast für mehr oder minder schicke Kleider – dahinter beginnt das eher schmuddelige Vergnügungsviertel.

Ich komme selten hin, aber das hat Vorteile, zumindest den, daß ich die Stadt immer wieder wie zum ersten Mal sehe, mit dem aufmerksamen, staunenden Blick. Neulich, am ersten Tag des ersten Jahres der Reiwa-Ära, zu Beginn des Wonnemonats Mai, das Staunen über die Bäume, die Leuchtkraft des hellgrünen Blattwerks der kusunoki, der Kampferbäume (häßlicher Name, der so gar nicht der Sache gleicht), und den Kontrast der dunklen, fast schwarzen Äste, die es tragen. Ein Gespräch über Bäume ist fast ein Verbrechen – an diese Gedichtzeile Bertolt Brechts mußte ich denken, als ich das erste Mal hierherkam, und später immer wieder der Gedanke: Aber es ist kein Verbrechen und schließt auch kein Schweigen ein. Diese Bäume wurden kurz nach der Katastrophe gepflanzt, damit neues Leben entstehe trotz all des Grauens, und die Leute, die sie gepflanzt haben, sind mit ihnen älter geworden, einige von ihnen, schon gebückt, pflegen sie noch heute, und wenn ich diese alten Männlein und Weiblein sehe, sechzehn Jahre nach meinem ersten Spaziergang hier, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob in zehn, zwanzig Jahren noch jemand kommen wird, um den Boden um die Stämme herum zu harken. Die Frau, die ich einmal hier in der Nähe, in einem St-Marc-Café, getroffen und befragt habe, 1945 war sie eine sechzehnjährige Schülerin, die zwischen Trümmern nach ihren Eltern und Geschwistern suchte und verstrahlt wurde, diese Frau wird bald neunzig sein. Nein, ein Gespräch über Bäume ist kein Verbrechen, wie nach Auschwitz ja auch weiterhin Gedichte geschrieben wurden, und zwar keineswegs von Barbaren, und es immer noch ein richtiges Leben im falschen gibt. Gedichte, Gespräche: keine Un-, sondern Wohltat.

Auf der Terrasse des Cafés am Rand des Parks, auf der anderen Seite des Flusses Motoyasugawa, bin ich manchmal gesessen, aber jetzt ist es mir zu überlaufen, und außerdem verwenden sie für den Orangensaft Früchte aus Kalifornien, obwohl die ganze Gegend der Setonaikai voll ist von Zitrusfrüchten, die gar nicht alle geerntet werden können. Pedantisch erheben sich die Orangenpyramiden mit den winzigen Aufklebern vor dem Lokal; als ich den Geschäftsführer einmal zur Rede stellte, gab er vor, nicht zu begreifen, wovon die Rede war, und entschuldigte sich fünfmal, sumimasen. Zuerst die Bombe, dann die Orangen. Und großspurige Touristen, aber diesen Sarkasmus ersparte ich ihm.

Ja, die Flüsse, sieben an der Zahl. Von Zeit zu Zeit nehme ich eines der Boote, die hier ablegen, fahre durch das Flußsystem hinaus auf das offene Meer und weiter nach Miyajima, wo ich unseren heiligen Berg besteige, den Misen, nicht ohne zuvor den finsteren Tunnel unter dem Daisho-in durchquert und meine Sicht der Dinge gereinigt zu haben, um für die Helle empfänglich zu sein – eine wahre Wiedergeburt. Die vielen Flüsse, Kanäle und Rinnsale, die die Stadt durchziehen, hatten am 6. August 1945 die Lage der Bewohner zusätzlich verschärft, weil das Wasser heiß und verseucht war (was sie nicht wußten) und die Brücken zerstört, so daß viele eingeschlossen waren, Fluchtwege versperrt. Heute gehören die Spaziergänge an den Ufern, wo sich winzige Krebse tummeln, zum Schönsten, auch der Geruch nach Schlamm und Salzwasser in den Stunden der Ebbe, wenn sich das Meer zurückgezogen hat, und ebenso die zitternden Lichter auf der Wasseroberfläche, nachts, wenn das Meerwasser wiedergekehrt ist und sacht an die Wandungen schlägt.

Und die Stadtberge, der Hijiyama, für mich das, was in meiner Salzburger Zeit der Mönchsberg war. Diese kräftige, aber nicht gar zu arg wuchernde Natur, gewiß auch vermenschlichte Natur. Ich erinnere mich an einen Tag Ende August, zwei Wochen vor der Geburt meiner Tochter, als ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit der hiesigen Feuchthitze machte, umherziehende Hitzeschwaden, denen man körperlich begegnet und denen man nicht ausweichen kann, weil sie unsichtbar sind und außerdem schon die nächste folgt. Tapfer bin ich trotzdem weitergegangen, wie immer die Weite und mögliche Grenzen ausloten wollend, und stieß an der Südspitze des, ja, schiffsförmigen Berges auf einen buddhistischen Friedhof, an dessen Ende sich der Blick weitete und die Stadt unter mir lag und der Hafen in der Ferne und die Setonaikai und die Inseln, rechts hinten auch Miyajima. Ein kleiner Obelisk erinnerte an sieben französische Marinesoldaten, die im Jahr 1900 hier oder auch in China, wo sie mit einem Expeditionscorps während des Boxeraufstands im Einsatz waren, ihr Leben ausgehaucht hatten. Die Inschrift dankt den Japanern, die ihre „Landsleute“ (compatriotes), die schwerverletzten Franzosen, so aufopfernd gepflegt hätten. Etwas abseits noch ein fremdes Grabmal, darauf nur ein Name und die Eckdaten: „O. Pape, geb. 5. Feb. 1885, gest. 18. März 1918“. So steht es da in deutschen Kürzeln, Gott sei der unbekannten Seele gnädig.*

Damals, und heute wieder, nahm ich den Weg an der Vorderseite des Berges, der Stadtmitte entgegen, vorbei an den hübschen tonnenförmigen, weiß und hellrosa gestrichenen Gebäuden des Zentrums zur Erforschung der Auswirkungen atomarer Bestrahlung, das die Amerikaner in der Besatzungszeit hier gegründet hatten, nachdem sie ihre neue Waffe erprobt hatten. Heraufgekommen war ich von hinten, vom Bahnhof her, über die steile, transparent überdachte Rolltreppenanlage, die von einem Einkaufszentrum am Fuß des Hijiyama durch das dralle Grün aufsteigt und von kaum jemandem außer mir benutzt, aber instand gehalten wird, als sei sie eigens für mich errichtet worden. Es war das erste Mal, daß mir die Ähnlichkeit der architektonischen Form von Strahlenforschungszentrum und Rolltreppen mit ihren Tonnengewölben auffiel. Ich ließ das Museum für moderne Kunst rechts liegen, doch ein wenig angegriffen, wie es war, von der Zudringlichkeit der Natur (vor dreizehn Jahren leuchtete das Silberweiß der Wände noch stärker), und stieg hinab in Richtung Friedensboulevard, den ich dann aber mied, zu laut bei dem gerade dort stattfindenden „Blumenfest“, das auf Blumen vergessen zu haben scheint, wie ich von früheren Besuchen weiß.

Statt dessen in den kleinen Park, wo meine Tochter früher oft spielte, und in das garagenartige, aber gar nicht grungige, sondern form- und sittenstrenge Café, das sich aus reinem Widerspruchsgeist Ladurée nennt, wo ich in Ruhe Zeitung lesen und zu den Jugendlichen hinüberschauen kann, die dort mit den weltüblichen Großmaulgesten, in Wahrheit aber recht kleinlaut dahinrappen. Und zu der wie eine Hochzeitstorte aufgedonnerten Hochzeitskapelle, von deren Balkon am späten Nachmittag herzförmige Ballons losgelassen wurden, von denen immer einer oder zwei zu uns herabsanken; meine Tochter und ich, wir warteten schon darauf. SACER ANGEL PARTE LAETITIA steht über dem Eingang, klingt schön lateinisch, unwiderruflich und elegant, ist aber auch nur ein Wörtersenf, heiliger Engel, der Anteil der Freude entschwindet wie ein Luftballon. Die frohe Botschaft als klammheimliche Warnung, entziffert von Ladurée.

Und das Verschwundene… Manches davon habe ich festgehalten, in Büchern, Essays, Artikeln, in erfundenen und wahren Geschichten bewahrt. Hier in Hiroshima wie auch sonstwo, in Osaka, Kyoto, Tokyo, aber auch in Österreich, daheim. Mehr und mehr halte ich fest, als könnte ich es vor dem Verlorengehen schützen – früher war mir das kaum bewußt, habe es wohl auch weniger getan. Zum Beispiel das Baseballstadion mit seinen Flutlichtmasten, auf das ich über das Flachdach des Friedensmuseums hinweg schaute, im 4. Stock am Fenster der Klinik stehend, in der meine Tochter ihre ersten Lebenstage verbrachte. Damals war ein Taifun über unsere Gegend gezogen, und danach herrschte wie üblich ein merkwürdig klares Licht, ein bißchen wie bei Föhn im Salzburgischen, mit orangen und dunkelblauen Wolken, vom gelben Flutlicht der hohen Masten flankiert. An der Stelle ist heute ein leeres flaches Oval, wer weiß, was dort noch entstehen wird, hoffentlich kein himmelschreiendes Ungetüm wie vor dem Bahnhof (was in der Nachkriegszeit aus Respekt vor dem ground zero verboten wurde). Beim Bahnhof ist ein ganzes Stadtviertel verschwunden, der Fisch- und Gemüsemarkt mit den alten Steinbecken, den verwinkelten Gäßchen und steilen Treppen, den ungewissen Raumformen in einer noch fast greifbaren Höhe, den alten Frauen, die ihr Tsukemono hüteten, Eingelegtes, das in Kübeln langsam seinen Geschmack entfaltete, den winzigen Nudelläden, in denen das kleine Mädchen an meiner Seite die Komplimente von Köchen und Gästen entgegennahm. Diese Dinge habe ich in einem Romankapitel geschildert, das mit seiner Überschrift „Hiroshima 1958“ auf eine Fotoserie anspielt, welche die Schauspielerin Emmanuelle Riva am Rand der Dreharbeiten zum Film Hiroshima, mon amour aufnahm. Vor einigen Jahren ist das alte Bahnhofsviertel fast von einem Tag auf den anderen geschliffen worden. Jetzt steht an seiner Stelle ein riesiger, schwarz glänzender Glaskasten mit der Aufschrift „Ekicity“, Bahnhofsstadt, der im zweiten Stock immerhin das schönste und weitläufigste Starbucks beherbergt, das ich kenne – das Leben geht weiter. Und hinter der Ekicity, fünf Minuten Fußweg entfernt, das neue Matsuda-Baseballstadion, dessen steiles rotes Oval man vom einfahrenden Zug aus sieht, kein Wund- und kein Mahnmal, sondern der Stolz einer ganzen Region, die zeitweise nichts anderes im Kopf zu haben scheint als Carp, das hiesige Baseballteam.

Eine lange Geschichte… Viele Geschichten, sehr viele, ich kann sie hier nicht alle erzählen. Wie die langen Tunnels unter den buddhistischen Tempeln kann der Alltag der Reinigung dienen, der Vorbereitung auf das Außergewöhnliche, das sich an den seltenen Tagen, unter besonderen Blickwinkeln zeigt und das man hervorbringt, das aber doch im Alltag zu Hause ist, das Naheliegende. Man tritt über die Schwelle, und plötzlich ist alles anders.

3

Auf dem Rückweg vom neuen Bahnhof in Jike, wo sie wieder einmal ohne Rücksicht auf Verluste eine schöne Landschaft plattgewalzt haben, um das Leben der Bewohner in identischen Türmen und Kuben komfortabler („benri“) zu gestalten, ist es schon tiefe, mondlose, mit zaghaften Sternen bestückte Nacht. Ich fahre mit dem Fahrrad auf unbeleuchteten Schleichwegen, die ich allesamt wie meine Westentasche kenne, den hier noch schmalen Fluß und den Bambushain entlang, zwischen Reisfeldern, die jetzt nach und nach bewässert und bepflanzt werden, aber nicht über unseren Hausberg, den Kagamiyama, nicht über die Paßhöhe, das ist mir jetzt doch zu – ein Japaner würde vielleicht sagen: „sabishii“ („einsam“ trifft es nur ungefähr). Am Morgen, als es weniger einsam war, hatte ich den Anstieg auf mich genommen (was ich im Alltag vermeide) und eine kurze Pause eingelegt, um die Rückseite des Berges zu betrachten, oder die Vorderseite, wie man’s nimmt, jedenfalls abseits von unserem Wohnhaus, wo eine Mure die im April so wunderschön blühenden Kirschbäume bedroht und eine zweite den Kinderspielplatz verschüttet, ja, zum Verschwinden gebracht hat, mitsamt dem Hüttchen, unter dessen Dach ich so viele Stunden mit dem Betrachten der Kinderspiele im Sandkasten zugebracht hatte. Die Wunden werden lange bleiben. Zwar beginnt es auch auf den gelblichen Erdzungen zu grünen, aber nur Grasbüschel, noch nicht einmal Büsche, geschweige denn Bäume. Es wird Jahrzehnte dauern, bis das verheilt ist.

Bin ich in diesen dreizehn Jahren in Hiroshima, siebzehn in Japan, zum Japaner geworden? Nein, sicher nicht. Oder zu einem, der zu Hiroshima gehört, ein Hiroshima-jin? Das schon eher. Aber die dreizehn Jahre haben mich nicht so geprägt wie die ersten zehn oder elf, die ich im österreichischen Dorf verbracht habe. Meine Sprache, mein Verhalten, meinen Umgang mit anderen. Meine Sicht der Natur, der Wälder, der Bäume. Die Art, wie ich Dinge (auch Menschen) berühre und mich berühren lasse. Die Art, wie ich Abstand nehme. Die Wanderungen an der Hand der Großmutter auf der noch unbefahrenen Autobahn. Heute wird die Gegend dort von einem Netz von Autobahnen zerrissen. Planierungen hier wie dort. Als sollte das Leben mit der Zeit unweigerlich flach werden. Aber wir finden immer noch Schleichwege und Paßhöhen, zur Not schaffen wir sie uns, wir wandern auf Bahngeleisen in Richtung Vincennes und quer durch die erstarrte Schlammlawine, saugen den Duft des Faulschlamms der Reisfelder wie auch der Flüsse ein und sehen den Blättern der Kusu-Bäume neben dem kaputten Haus beim Wachsen zu. Es ist das erste Mal, daß mir das Wort „Dom“ als Bezeichnung für ein von der Atombombe fast, nicht ganz, zerstörtes Gebäude zu passen scheint. Wie die Bäume wachsen wir im Angesicht der Leere.

Regionalreise Nr. 2

Mit dem Fahrrad in Richtung der Berge im Norden, dort ein Park mit Spielplatz, den ich mit meiner Tochter manchmal besucht habe, als sie klein war. Immer schon wollte ich diesen Berg hinauf, die anderen Abhänge sehen, diesmal habe ich mich dazu entschlossen. Es war auch ein Test, weil ich Steigungen nicht mehr so leicht bewältigen kann. Ich habe es bis auf den Gipfel geschafft, mehr als 300 Meter Höhenunterschied, von zirka 250 bis 575.

Gestaunt habe ich, wie weich sich die frischen Nadeln mancher Bäume anfühlen. Wie bei den Menschen, die Jungen sind weich, die Alten verhärten. Knapp unter dem Gipfel, in westlicher Richtung, eine Pflanzung von Kirschbäumen mit grünen Blättern, die Blüten längst verweht. Eine Straße führt hinauf, nur in der Kirschblütenzeit für Motorfahrzeuge geöffnet, damit die Autos auch mal was Schönes sehen. Den Rest des Jahres interessiert sich niemand mehr für die Bäume. Außer mir.

Endlich erreiche ich den Gipfel, mehr eine Kuppe, auf der anderen, östlichen Seite wird es aber gleich felsig und abschüssig, ähnlich wie auf der St. Victoire in der Provence. Bei diesen Ausflügen kommt mir unweigerlich die Katastrophenserie, die mich so lange beschäftigt hat, in die Quere. Am Fuß dieses Berges ist vor zwei Jahren eine Mure knapp am Spielplatz vorbeigerumpelt und -gerauscht. Der Spielplatz blieb intakt, aber in Japan gilt sofort alles gefährlich, abunai!!, die Kinder dürfen seit zwei Jahren hier nicht spielen. Wahrscheinlich wird irgendwann alles blitzblank rundumerneuert.

Auf dem Rückweg durch die mir längst vertraute Eisenbahnunterführung, wo mein nach der rasenden Abfahrt steil aufgerichtetes Haupthaar die Balken berührt.

Regionalreise Nr. 4

Hier eine Gegend, wie man sie zu tausenden sieht, wenn man mit dem Shinkansen durch das Land braust; aber immer nur für eine Sekunde, dann kommt der nächste Tunnel, die nächste Schutzwand. Die kleine Figur dort in der Landschaft bin ich, aber ihr könnt sie nicht sehen. Was ich hier sehe, in der langsameren Welt, sind schmucke Bauernhäuser, niedliche Reissetztraktoren oder steinalte buckelige Frauen wie diese hier. Beim Betrachten, wie langsam ihre Hand, der Körper fast bis zur Erde gebeugt, nach der Harke greift, kann ich nicht anders als zu denken, daß das meine Zukunft ist. Noch ist mein Griff zum Gartenwerkzeug zehnmal schneller als ihrer; aber lange nicht mehr so schnell wie vor ein paar Jahren. Wir sinken, langsam, aber sicher.

(Geschrieben in diesem menschenleeren Café in einem Einkaufszentrum, am Ende der Reise. A. D. 2020)

(P. S. Am Ende sind doch noch zwei Gäste gekommen, schön brav sitzen sie nebeneinander.)

Gefahren auf Regionalreisen

Umtriebige, erst kürzlich ausgeschlüpfte Schlangen. Bei dem kleinen Pavillon eines Tempels hat mich eine Frau, die da im Feld arbeitete, gewarnt, heute Vormittag habe sie dort hinten eine Schlange gesichtet. Da konnte ich stolz von meiner Schlange berichten. „Eh keine giftigen“, sagte sie. „Manchmal werden bei uns aber auch giftige gesichtet.“

Eine bedeutend größere Gefahr war auf meiner dritten Regionalreise ein gelber Golfball, der aus dem Nichts in Kopfhöhe und im Corona-Mindestabstand an mir vorbeigesaust war. Am Ende des eingeebneten Felds, das ich durchquerte, sah ich ganz winzig den Golfer. Zu seiner Entschuldigung darf ich vorbringen, daß diese Gegend wirklich von niemandem außer mir besucht wird. Ich habe hier die Resultate von seltsamen Planierungsarbeiten, die Flächen durchquert von nicht dechiffrierbaren Tierspuren, angestaunt und keine Erklärung dafür gefunden. Die US-Army besitzt zehn Kilometer weiter entfernt ein Gebiet, aber das ist von Stacheldraht umgeben und an den Toren sitzen finster dreinblickende Wärter (obwohl sich auch da kein Mensch hintraut).

Dritte und letzte Anmerkung: Konbini-Jausen stellen eine geringere Gefahr dar.

Regionalreise Nr. 5

Diesmal habe ich das neulich verfehlte Ziel erreichen können, einen Tempel namens Fukujouji. Unterwegs allerlei Kuriositäten, die zu einem im Busch versteckten Café oder Restaurant gehören, wo auf dem Parkplatz ein brandneuer roter Sportwagen stand. Im Gebüsch des Gartens vor dem dunklen Blockhaus, der ein Parodie japanischer Gärten sein mochte oder eine Miniaturkopie des Bomarzo-Parks mit seinen grotesk-dantesken Figuren, eine helle Statue, männlich, mit übergroßem Geschlecht, und eine giacomettiartige Gestalt in rostigen Ketten. Im Blockhaus einzukehren, habe ich nicht gewagt, statt dessen war ich am Ende der kleinen Reise im vertrauten Q, wo es einen alten Straßenkreuzer, eine Jukebox und Rock’n’Roll und manchmal sogar Country Music (nicht aus der Box) gibt. Und Okonomiyaki, der Chef ist seit Jahrzehnten mit unermüdlichem Fleiß hinter der großen Teppan-Platte am Werk.

Regionalreise Nr. 10

Jede Reise, auch im Regionalen, sollte mit einem Selbstporträt beginnen und enden, damit man sieht, wie die Reise den Reisenden verändert hat.

Mein Ziel war diesmal der weithin sichtbare Riesenkubus, den man uns in die Berg- und Waldlandschaft gesetzt hatte. Wer oder was hatte sich dort eingenistet? Bin dann unwillkürlich vom Kubus abgeschweift, habe einen Teich umrundet, was mich bei kleinen und mittleren Gewässern immer lockt, seit ich vor über vierzig Jahren den Lago di Albano umrundet habe. Diesmal ähnlich, aber in verkleinertem Maßstab, auch die sumpfigen Wegabschnitte der Ortschaft am Gegenufer. Habe mich dann des Waldcafés hier in der Nähe erinnert, das ich gern besuche. Habe den Ausblick von der Terrasse auf das ehemalige Lagerhäuschen, jetzt ein blitzsauberes Kulturzentrum, genossen. Dann aber, gestärkt durch den besten und schönsten Cappuccino außerhalb Italiens, hinauf zu jenem Betonblock. Ergebnis der Nachforschung: Es handelt sich um den neuen Sitz des internationalen, ursprünglich aber aus der hiesigen Gegend stammenden Konzerns (Plastik, Autoteile, Versicherungen) Daikyo-Nishikawa. So müßte Kafkas Schloß heute aussehen. Als ich das Nordtor erreichte, kam ein Wächter aus seinem klimatisierten Wachzimmer herausgeschossen, um mich freundlich aber bestimmt darauf hinzuweisen, daß ich gern die Landschaft mit dem Konzernkubus aus angemessener Entfernung photographieren dürfe, nicht aber das Innenleben des Konzerns, in dem auch am Sonntag viele Büroleute tätig sind, wie der Parkplatz und die selbstverständlich auch bei gleißender Sonne künstlich erhellten Fenster zeigen.

Das war’s dann auch schon. Das Schloß bleibt uneinnehmbar. Ein kurzes Fragment genügt. Zu meinem Trost habe ich beim Kindergarten haltgemacht und den wunderbaren und jedermann zugänglichen Gingkobaum am Rand von dessen Parkplatz besucht. Es ist derselbe Kindergarten, in den vor zehn Jahren meine Tochter ging. Derzeit wird er erweitert, der Form annehmende Neubau als hölzernes Gegenstück zu dem Betonblock weiter oben.

Und, wie habe ich mich verändert?

Feld am Waldrand

Ungepflegt wie der

Dreitagebärtige hier:

gelbe Zwiebelnachbarn.

(Zwiebeln, die Schwerter gezückt,

friedfertig in Reih und Glied.)

Vielleicht ist es Horn

und Haar, das ihm aus dem Wald

der Toten zuwächst.

Die Überquerung des Kannomine auf meinem Fahrrad

So gut ausgestattet, wie es japanische Zyklisten gewöhnlich sind, bin ich nicht. Trotzdem habe ich die ärgsten Steilstücke geschafft, nicht zuletzt dank der Stärkung, die mir die Ende Juni dort noch wachsenden Zitrusfrüchte gewährten. Die kleinen Inseln ziehen mich an wie Tiere zum Streicheln, wenigstens möchte ich meinen Fuß auf sie setzen, wenn ich sie schon nicht umrunden kann. Ziemlich hoch oben, nach dem Tunnel, durch den man auf die andere Seite gelangt (wie in Chihiros Reise ins Zauberland), eine seltsame Verdichtung literarischer Bezüge, ein Friedhof der bitteren Orangen und daneben ein Cimetière marin. Die Gespenster schauen auf die erdblau gewellten Dächer und die lichtblauen Wölbungen von Himmel und Meer, während ich die Kurve nehme und ungestraft über den Angler lächele und mich vorbei am Rust Belt – darüber nächstes Mal – auf den Weg zu den unbeirrten Gestalten von Masataka und Rita mache und zu den schattenwerfenden Schildkröten, um zu sehen, ob sie den Tag überlebt haben wie ich.

Die Geschichte von Masataka und Rita

Die Gegend hier tut sich durch gar nichts hervor außer durch ihre Reisfelder, das gute Wasser und die Sake-Herstellung, die eine jahrhundertelange Tradition hat. Masataka Taketsuru stammte aus einer Familie von Sakebrauern. Als junger Mann ging er nach Schottland, um dort zu studieren, und freundete sich mit dem Whisky an. Er schaute nicht nur ins Glas, sondern lernte in verschiedenen Destillerien, wie man dieses edle Getränk herstellt. Außerdem lernte er eine passende Frau kennen, nämlich Jessie Roberta Cowan, genannt Rita. Das war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, von dessen Folgen Masataka nicht viel mitbekommen haben wird. Rita und er setzten sich gegen ihre engstirnigen Familien durch, wurden ein Paar und heirateten. Zurück in Japan, arbeitete Masataka einige Jahre bei der Firma Kotobukiya (heute Suntory), die die erste Whisky-Destillerie in Japan betrieb (im schönen Yamazaki in Kansai), bevor er seine eigene Destillerie errichtete. Nicht in Takehara, sondern im fernen Hokkaido, weil er meinte, diese Gegend Japans sei Schottland am ähnlichsten. In Takehara kann man heute das Wohnhaus der Familie Taketsuru besuchen, weil es ein kleines historisches Museum geworden ist. Im Garten sitzen unverdrossen Rita und Masataka, überraschend lebensgroß, das heißt klein, ernsthaft, bescheiden und brilletragend – wie ich.

Kuriositäten allhier

Vor der Sintflut, da bin ich einmal zum Ursprung unseres in den vergangenen Jahrzehnten recht weitmaschig gewordenen Städtchens gefahren, an den Ort seiner Anfänge, um die Kuriositäten dort einzusammeln, die eigentlich keine Kuriositäten sind, weil sie zum Alltag gehören und niemandem auffallen.

Lotus I

Kurze Wanderung zwischen zwei Regenphasen, in altvertrautem Gelände, mit Pilzen und Lotus, Bambuschaos und Waldesordnung (welcher die Anrainer immer ein bißchen nachhelfen). Auf den Lotusblättern, die sich in der Windmusik wiegen, tanzen Regenpfützen, ein perfektes Paar.

Kuriositäten II

Es ist schon eine Weile her, da habe ich, weil ich keine ausgedehntere Reise machen wollte, die Seltsamkeiten unseres Städtchens (oder Dorfes, 田舎) abgeklappert, beginnend in der wirklich ländlichen Zone, wo es immer noch Bauernhäuser mit Reisstrohdächern gibt, zu den zuckerlrosa Kästen, von denen es auch einige gibt, zum schönsten Haus, das kein Mensch hier wertschätzt, wie überhaupt alles, was ich in diesem Buch zeigen werde, zumeist und von den meisten übersehen wird, sogar die aufdringliche michelangelomäßige Protzstatue – ein bißchen schlanker, femininer als beim alten Meister vielleicht – vor dem Kulturzentrum namens Sunsquare, die ungerührt zum verfallenden Holzhaus und der Front der Getränkeflaschenkisten hinüberschaut.

Und sonst? Angeblich gibt es hier und hier, und auch hier, das beste Wasser der ganzen Gegend. Entsprechend vorzüglichen Reiswein, hört man.

Ach ja, und dann steht da neben einem stinknormalen Einfamilienhaus, eine Armlänge vor dem Schlafzimmer, ein blitzblanker weißer Chevrolet Ipala, entsprungen aus dem Roman von Roberto Bolaño, wo ihn die wilden Detektive fahren, von Mexiko D. F. hinauf in die Wüste von Sonora, um endlich die geheimnisvolle Dichterin Cesárea Tinajera aufzuspüren (wer will, kann hier den seit Kindheitstagen in mir schlummernden Autonarren erkennen).

*

Diese Regionalreise war eine Tagesreise. Ich wollte wieder einmal meinen Lieblingsort Takehara aufsuchen, wo ich gern meine alten Tage verbringen würde, aber alle raten mir davon ab, oder besser gesagt, sie verbieten es mir. Ich wollte eine Route nehmen, die ich noch nie gegangen oder gefahren bin, durch wenig besiedeltes, gebirgiges, waldiges Gebiet. Diese Straße wird wahrscheinlich nur deshalb instand gehalten, weil dort ein großer Stausee ist und ein gewaltiger Damm, der gewartet werden muß. Die Straße verlassend, bin ich dem Flüßchen gefolgt, das mir längst vertraut ist (und vor zwei Jahren verrückt gespielt hat, so daß die Straße an seinen Ufern vielfach beschädigt wurde). Ich fuhr einfach weiter, bis zum bitteren, das heißt schönen Ende und dachte, ich hätte wieder einmal mein Ziel verfehlt. Nein, ich war zumindest in seiner Nähe, konnte also zu der Mole hinüberfahren, auf der ich gelegentlich ganze Nachmittage verbringe, nicht angelnd, sondern eifrig lesend und schreibend beziehungsweise, in letzter Zeit vermehrt, nichtstuend. Mittagessen natürlich bei Horikawa, in einer ehemaligen Sake-Fabrik. Und Mittagsschläfchen an einem anderen Lese-Schreib-Platz, im alten Morikawa-Haus. Und so weiter, die Rückfahrt anstrengend, das Herz aber kräftiger als noch vor einer Woche; ich glaube jetzt zu verstehen, warum.

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Osakikamishima einmal von anderen Seiten, vom Meer her, umkurvt und zurückgelassen. Inselhäupter, die sich wie Kinder von Neptun und Venus aus dem Wasser heben; altes Hafenstädtchen mit Bordell, beschaulich und so ziemlich außer Betrieb; Fabriksinseln, Metallurgie, früher auch Giftgasproduktion (schon lange nicht mehr, heute touristisch-idyllisch: sich vermehrende Hasen); springende Fische, während das Boot treibt; Sonnenuntergang, Lichtspiel der reglosen Wolken.

Lotus II

Die Lotuspflanzen sind in einem Vierteljahr höher gewachsen als ich in bald 63 Jahren. Im Feld beeindrucken sie durch ihre Höhe und Dichte, ihre stille Kraft (dabei lauert hinter diesem Bild das bräunliche Schlachtfeld im Herbst). Mit Blüten sind sie sparsam, man muß sie nicht eigens suchen, aber Aufmerksamkeit braucht es schon. Es gilt, soweit möglich, sich ihnen zu nähern; die weiter draußen im Wasser, im Schlamm, bleiben für sich, verborgen, allenfalls blinken sie durch das Grün. Diese Blüten blühen nur kurz, ihre Zeit ist bald um, ähnlich wie die der Zikaden, nur daß sie nicht schreiend protestieren, sondern in Stille und Schönheit sterben, hohe Stängel mit genoppten Viertelkugeln zurücklassend, die an gar nichts erinnern.

Verstörtes Haiku

Zikade im Baum

flattert surrend an mein Ohr.

Dornstrauch verschont mich

noch einmal.

Noch einmal?

Zikade im Baum

flattert surrend an mein Ohr.

Dornstrauch verschont mich

auch.

Feige und Krähe

Vorgekostet, die Feigenfrucht auf dem Feldweg, von einem meiner Freunde unter den Killerkrähen. Ich bringe das Fahrrad zum Stehen, bücke mich neben der Lenkstange herab, greife zur Feige, in deren Körper eine tiefe Kerbe geschlagen ist, lasse sie eine Weile auf meiner zum Morgenlicht gehobenen Handfläche ruhen und führe sie vor meine Augen, an meinen Mund. Frisch gepflückt, grün mit Übergängen ins Violette, reif, nicht zu reif, süß, nicht zu süß: das ist mein Morgenmahl, hinterlegt von meinem schwarzen Freund, dem Mörder, den ich ins himmlische Paradies mitnähme, wäre es mein Ziel.

Aber mein Ziel ist hier, und die Krähe auf und davon.

Rest des Lebens

Hier möchte ich den Rest meines Lebens verbringen, zwischen Lotuspflanzen und Reisfeldern, umgeben vom fauligen Duft, wie die Reiher oder die Kraniche oder die Blumen, die weiterleben, wenn ihre kurze Pracht abgefallen ist. Oder die Radfahrer, die halb in Felder eingesunkenen, sich bewegenden und doch bleibenden Figürchen auf ihren Gefährten.

Hitzewanderungen am Morgen

Womit beginnen? Ja, mit den Reispflanzen natürlich. Auf den schmalen Grasnarben zwischen bewässerten Feldern hüpfen und fliegen bei jedem Schritt zahllose Heuschrecken um meine – so sehe ich es – Silhouette herum, und kleine Frösche flüchten mit einem einzigen Satz vor dem Ungeheuer, das ich bin, links und rechts ins Nasse. Kröten nicht, Unken nicht, die haben sich nachts mit ihrem Getröte und Geflöte verausgabt, und die Reiher sind klug, sie bleiben auf Abstand. Bachstelzen und Spatzen, auch friedliche Enten, immer in Gruppen, plötzlich aufgeschreckt. Einige wenige Felder, gelb geworden, sind schon abgeerntet. Manchmal sieht man einen Bauern in einer der Reisschälanlagen hantieren, die wie Telephonzellen aussehen, aber Verwandte der kleinen Waschsalons an der Ausfallstraße sind: Beide, Zellen und Salons, warten geduldig auf die Spätlinge, die sich irgendwann doch noch einstellen mit ihrem Gepäck, in der Mittagshitze oder im Morgengrauen, das kann man nie wissen. Unscheinbare Orte wie dieser, eigentlich kann man sie gar nicht zeigen. Sie glänzen nicht und erscheinen nicht, bleiben verborgen, obwohl sie jedermann offenstehen, sind weder dunkel noch unheimlich, machen nichts von sich her. Manchmal ein bißchen rätselhaft, das ja. Irgendetwas ist hier anders, aber was? Lange habe ich mir, wenn ich vorbeikam, nicht einmal die Frage gestellt, aber gespürt habe ich es doch. Die Antwort ist einfach, hier war einmal ein Heiligtum, ein heiliger Bezirk, zu dem man durch eine Allee von Laternen hingeleitet wurde, und dort die zwei Löwen mit schläfrig-feurigem Blick, die früher die bösen Geister fernhielten, haben einmal Feuer gespien. Das Heiligtum, das sie verteidigten, ist verschwunden, die Wächter und Zeichen sind geblieben, der Weg ist geblieben, das Gras gemäht, wird aber nicht begangen, weil daneben ein glatt asphaltierter, aber auch schon ziemlich rissiger Weg angelegt wurde. Autofahrer, Fußgeher und Radfahrer kommen sich kaum in die Quere, die Löwen wachen müde über den spärlichen Verkehr. Wo der Schrein stand, eine hölzerne Hütte mit ein wenig Schnitzwerk unter dem Dach, ist jetzt ein freier Platz, den selten jemand quert, wahrscheinlich nur ich, der Erforscher des Unscheinbaren. Die symbolische Leere, die der Schrein einst behauste, hat es sich in der Wirklichkeit bequem gemacht. Nicht weit von den Löwen, am Eingang des Platzes, steht ein Zweifamilienhaus – jedenfalls hat es zwei Teile, getrennt von einem senkrechten Luftkorridor –, die Jungen, längst weggezogen, haben es den Alten überlassen, neben der letzten Laterne hängt eine Frau, der man den Kampf gegen die Last der Zeit anspürt, Wäsche zum Trocknen auf. Dieses Haus mit halb gepflegtem, halb verwildertem Garten, alte und neuere Fahrräder im hohen Gras, der Übergang vom Privaten zum Öffentlichen fließend, muß auch schon fünfzig oder sechzig Jahre alt sein: die Zeitspanne, die ein Baum braucht, um ins Torii zu wachsen und es auszufüllen. Hat der (inzwischen verstorbene) Mann der Frau mit dem Wäschekorb das Haus errichten lassen? Hat er selbst Hand angelegt? Was ist damals geschehen? Wer hat wen verdrängt? Ist die Geschichte friedlich abgelaufen? Nach all den Jahren, einem Menschenleben, muß die Frage nicht mehr entschieden werden. Niemand außer mir, und auch ich nur ein kleinwenig, wie es sich für den unscheinbaren Ort gehört, interessiert sich dafür.

Lektion

Zirpende Grille

unter dem Helm: so verkappt

man sein Heldenlob!

Der Traktor im Feld

Während ich vor dem Feigenbaum stand, um wieder einmal den ungewöhnlich hohen Wuchs und die dichte Belaubung dieses Exemplars zu bestaunen, und meine Sinne der Reihe nach bei jeder einzelnen Frucht verweilten, den grünen und den reiferen, den violetten, den prallen, den aufgesprungenen, das kräftige Rot ihres Inneren zeigenden, den allein und den paarweise oder in Grüppchen wachsenden, sich im Laubwerk verbergenden, nach und nach aber hervorleuchtenden Feigen, kam die Bäuerin mit Strohhut und Gummistiefeln des Weges, einen dieser elektrischen Mähstäbe in der Hand, mit denen die Wege zwischen den Feldern gesäubert werden.

Ob ich mir eine pflücken wolle, sagte sie freundlich und bot mir sogar an, ein anderes Gerät zu holen, an dessen Ende sich eine Schere und ein Körbchen befinden: ein Pflückstab.

Ich antwortete zögernd, wie das hier der Brauch ist, kein direktes Ja, aber bestimmt auch kein Nein; hätte ich ihr sagen sollen, daß ich von den Krähen mit den besten, weil himmelslichtnahen Früchten versorgt werde? Unterdessen griff die Bäuerin in den Baum, zu einem der unteren Äste, packte sogleich eine reife Frucht und reichte sie mir. Während ich sie langsam und unter mehrfacher Versicherung dessen, woran sie ohnehin nicht zweifelte, daß nämlich die Frucht köstlich schmecke, verspeiste, redete sie von der bevorstehenden Ernte, aber die Einzelheiten, die Körner und Früchte ihrer Rede, waren mir fremd.

Statt einer Antwort ließ ich den Blick zu einem Feld streifen, das an das schon gelbe Reisfeld grenzte. Mitten auf der von Gras und Sträuchern bewachsenen Fläche stand ein kleiner roter Traktor von der Art, wie man sie hier, die Räder halb in Wasser oder Schlamm versunken, oft sieht.

Ja, sagte die Frau, der Nachbar sei vor einem Jahr während der Feldarbeit gestorben, eine plötzliche Herzattacke, trotz seines hohen Alters habe er gesund gewirkt. Und seine Frau sei schon zu gebrechlich, sie könne den Traktor nicht fahren, und die Kinder… Die Frau schaute in die Ferne, zu den Bergrücken hin, als seien sie buchstäblich über alle Berge, und das waren sie auch.

Ob nicht sie oder ihr Mann das Fahrzeug aus der Wiese holen könnten?

Nein, das fragte ich nicht, aber die Frau sah mir die Frage an. Das erkannte ich nicht an ihrer Antwort, sondern an der Art, wie sie eine Vierteldrehung machte, den Mähstab hochnahm und sich mit einem taihen desune… verabschiedete, was ich mit „harte Zeiten“, übersetzen möchte, obwohl die deutschen Wörter dem gar nicht entsprechen.

„Laß sie doch ins Leere gehen!“, hörte ich über mir.

Wer hatte das gerufen? Richtig, die Krähe, die den blauen Himmel kreuzte.

Lotus III

Es regnet. Lotus führt Wassertänze auf. Er wiegt und schaukelt das Wasserwesen, dieses biegsame, neugierige, gerade erst entstandene Ding. Ein bißchen übermütig auch, das läßt sich schaukeln und wiegen, nach vorne, oben, hinten, bis an den Rand, darüber hinaus. Jetzt gleitet, hüpft es ins große dunkle Wasser, das es, Teil werdend, wiedererkennt. Und schon hat oben auf der Etage ein neues Wesen sich gebildet, bereit zum nächsten Tanz.

Regenwanderung

Hinein in den Regen, verlier dich zwischen den Schleiern! Der Schirm hält dich trocken in deinem beweglichen Dom. Die Nässe kommt nicht von oben, sondern von unten, und zwischen den Schleiern spiegeln sich die Dinge, die Augen, die Gläser. Auf einmal werden sie verschlungen. Dann hellt es auf, und sie sind nicht mehr da. Das eine Feld ist abgeerntet, die Halmstümpfe wie gebleckte Zähne, die schon verfaulen. Das andere Feld immer noch hoch und stolz, aber nicht mehr lange. Ich sehe mich straucheln, aber strauchele nicht (noch nicht, denke ich, aber das ist existenzialistische Koketterie). Fauché, denke ich, l’homme fauché. Dabei steigt mein Fuß in die Pfütze, voilà tout. Weiter oben in den Bergen macht man aus dem Stroh Winterkleider für die Baumstämme. Man sieht es nicht, aber heute ist Mittag, ich bekomme zwei Feigen zum Mahl. Danach bin ich weiter und weiter gegangen. Der Regen verstärkt dieses Gefühl des Weiter-und-Weiter. Jeder Schritt ist ein Tropfen auf dem Asphalt. Auf hundert kommt einer in die Pfütze. Wie die Wasserwesen, die sich nach ihrem Zwischenleben auf der grünen Lotusetage nicht ohne Vergnügen ins Dunkel stürzen. Stürze ich denn ins Dunkel? Mich rettet, plangemäß, das Komeda-Café, ein Märchenhäuschen mit Menschen, die aussehen wie Puppen, und dressierten Kellnerinnen. Im Spiegel auf der Toilette: Puppengesicht! Dabei ist das hier einfach nur mein vertrauter Arbeitsplatz, einer von vielen, die ganze Welt mein Home-Office, Heimatbüro, bei jedem Wetter. Heute aber die klamme Sorge, ob ich mit pitschnassen Füßen etwas Gescheites schreiben kann? Leider nicht, wie man hier sieht.

Unterwegs wurde mir dieses trotzig-fatalistische Gedicht zugekrächzt:

Sie säen nicht,

sie ernten nicht,

sie klauen.

Sie essen wenig

und überlassen den Rest.

Und sie ernähren mich

doch.

Blaubart und Dornröschen. Ein Zukunftsmärchen

Das Haus ist zugewachsen, es wird an allen Seiten von Büschen und Bambussträuchern, Gräsern und Kletterpflanzen verdeckt. Nur auf dem Schleichweg der bewohnten Welt sieht man durch den Spalt einer Scheune aus dünnem, holzartigem Material eine Waschmaschine und einen Stapel Autoreifen. An einer Seite kann man von einem erhöhten Ort aus ein Fenster sehen, dessen Vorhänge halb auf-, halb zugezogen sind: das Wohnzimmer, kein Zweifel. Ist das Haus also doch bewohnt? Nie sieht man einen Menschen aus- oder eingehen, es gibt ja keine freie Tür.

Charles Perrault hat vor über dreihundert Jahren behauptet, daß es keine schrecklichen Ehemänner mehr gibt. Der Gatte ist weder unzufrieden noch eifersüchtig. Er versucht, der Frau zu schmeicheln, und man weiß nicht, wer von beiden der Herr im Hause ist. Aber eigentlich weiß man es doch.

Also: Hier wohnt Dornröschen mit ihrem Gatten Blaubart, der sie seinerzeit, als die beiden frisch vermählt waren, im Hause zurückließ: Sie möge sich mit den Gegebenheiten anfreunden und ein wenig aufräumen, und wenn sie einsam sei, dürfe sie gern Freunde zu sich einladen. Er gab ihr einen Schlüsselbund, sie solle sie alle ausprobieren, nur den zum Keller nicht, sonst würde er schrecklich erzürnen. Dornröschen tat, wie ihr geheißen, lud drei Freundinnen ein, unterdrückte – wie es Charles Perrault den Frauen empfiehlt – ihre Neugier und warf den Schlüssel in den kleinen Teich im Gemüsegarten.

Als Blaubart nach Hause kam, verlangte er den Schlüsselbund, merkte sogleich, daß der eine Schlüssel fehlte, machte ein ernstes Gesicht, als würde er gleich erzürnen, beherrschte sich aber, sagte kein Wort und ging in sein Arbeitszimmer.

Dornröschen und Blaubart lebten glücklich, sie bekamen sechs schöne, brave Jungen, die früh in die Welt hinausgingen, um zu lernen und zu schaffen, sich eine Frau zu nehmen und ein eigenes Haus zu bauen. Zuletzt kam eine Nachzüglerin, das siebte Kind, ein Mädchen. An ihrem siebten Geburtstag spielte klein Röschen (so wurde sie genannt) mit drei Freundinnen, die zur Party geladen waren, verstecken. Sie schnappte sich einen einzigen Schlüssel vom Brett im Arbeitszimmer des Vaters, sprang die Treppe hinab, drehte den Schlüssel im Türschloß und schlüpfte in den Keller.