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Leopold Federmair nennt sein neues Werk "Essais" nach französischer Schreibart, das auf das Hauptwerk von Michel de Montaigne anspielt. Es handelt sich also um erzählende, mäandernde Annäherungen an einen Komplex von Themen, die sich unter der Vorstellung des Parasitentums zusammenfassen lassen. Das Buch beginnt mit einem "Lob des Parasiten". In dem Text arbeitet der Autor das kreative Potenzial parasitärer Existenzformen heraus. Überflüssig geworden sind heute nicht nur zahllose berufliche Existenzen, sondern möglicherweise die Menschheit selbst, die sich mehr und mehr auf intelligente Maschinen verlässt. Mit dem Ausdruck "beide Welten" ist ebendiese Duplizität des Virtuellen und des Realen gemeint. Hinzu kommt eine zweite Wortbedeutung: Federmair hat gleichzeitig mehrere Weltgegenden im Auge, vor allem Westeuropa und Ostasien. Im zweiten Essai steht die Digitalisierung und der "neue Mensch" im Zentrum. Für den dritten Essai hat Federmair in seiner Heimat sowohl Flüchtlinge als auch ihre österreichischen Helfer befragt, die diese zugewanderten "Parasiten" während der sogenannten Flüchtlingskrise betreuten. Abgerundet wird der Band mit einer Auseinandersetzung zum Konzept eines neoliberalen "Terrors der Ökonomie". Ist diese Interpretation unserer Gegenwart noch haltbar? Sind wirklich alle Utopien überflüssig geworden?
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2021
Leopold Federmair
Essais aus beiden Welten
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert vonden Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg sowie vomLand Oberösterreich.
www.omvs.at
ISBN 978-3-7013-1289-4
eISBN 978-3-7013-6289-9
© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck-Germany
Covermotiv: Collage von Thomas Hartz aus der Serie „Parasit“
Pigmentdruck 90 x 60 cm, 2017
Copyright © Thomas Hartz
www.thomashartz.com
Grafische Gestaltung: Leopold Fellinger
Vorwort
ILob des Parasiten
IIIronie off!
IIIFlüchtlingsgespräche in Oberösterreich
IVGräuel der Gegenwart
Welche zwei Welten? Zunächst einmal die beiden, in denen im 21. Jahrhundert so gut wie jeder lebt, und zwar gleichzeitig und weltweit: die digitale und die „analoge“, die virtuelle und die reale, die sekundäre und die (immer noch) primäre, in der wir essen, trinken, schlafen, lieben, uns als beseelte Körper bewegen.
Zwei Welten, aber in Wahrheit sind es noch mehr, es sind viele Welten. Nur daß sich oft zwei aus dieser Vielheit gegenübertreten, Gegensätze bilden und/oder einander ergänzen. Wir können nicht alles auf einmal überblicken, nicht alles gleichzeitig haben. Das wäre eine schlechte, abstrakte Globalisierung, deren digitaler Nebel die Einzelnen und ihr konkretes Leben umspinnt, so daß sie vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen.
Eine zweite Bedeutung der Formulierung verweist darauf, daß ich meine Lebenserfahrungen in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten gemacht habe und dazu neige, sie miteinander zu konfrontieren, zu vergleichen, in den Texten nebeneinander zu montieren. Ich kann nicht behaupten, daß ich alle Welten kenne, bei weitem nicht. Aber einige kenne ich, soweit man sie eben kennen kann – „Was weiß ein Fremder?“ –, und diese Außenperspektive erlaubt manchmal Erkenntnisse, die allzu große Vertrautheit mit dem „Meinigen“ nicht zuläßt. Diese Erfahrungen wirken dann zurück und verfremden den Blick auf das Meinige, das – für mich – Ursprüngliche: Oberösterreich, Österreich, Mittel- und Westeuropa.
Michel de Montaigne ließ sich von einem Mann, der zwölf Jahre lang in Brasilien gelebt hatte und nach Darstellung des Autors ein naiver Charakter und eben deshalb glaubwürdig war, ausführlich über die Sitten und Gebräuche in jener „neuen Welt“ berichten. Auch Montaigne kannte einiges von der Welt, hatte Reisen in Italien gemacht und davon berichtet, war aber höchst neugierig in Bezug auf neue, fernere, exotische Welten. Trotz aller Naivität scheint sein Gewährsmann die südamerikanischen Gesellschaften, die er kennenlernte, in etwas rosigem Licht dargestellt zu haben. Das spielt für die Qualität der Essais aber keine Rolle, denn erstens ist der Blick, ob naiv oder reflektierend, immer subjektiv, und zweitens kam es im 16. Jahrhundert darauf an, der geläufigen Verachtung der „Wilden“ etwas entgegenzusetzen. Ähnlich wie später Rousseau hegte Montaigne die Vorstellung, im Anfang der Zeiten, vor aller Zivilisierung, hätten die Menschen ein paradiesisches Leben ohne „künstliche Zwangsmittel“ geführt.
Im 21. Jahrhundert bestünde nun dank fortgeschrittener Zivilisierung und Technisierung die Möglichkeit, sich im Alltagsleben von vielen dieser Zwangsmittel zu befreien. Das Gegenteil ist der Fall. Als wollten wir alle das Parkinsonsche Gesetz vom unweigerlichen Wachstum der Bürokratie bestätigen, ziehen wir die sozialen Daumenschrauben immer weiter an. Auch diese Sehnsucht nach einem einfacheren, dabei aber reflektierten Leben teile ich mit Montaigne.
Ob er tatsächlich immer nur „sich selbst gemalt“ hat und sein einziger Gegenstand war, wie Montaigne im Vorwort zu den Essais behauptet, kann man getrost bezweifeln. Hier wird wohl auch das Understatement eine Rolle spielen. Montaigne steigert dieses klassisch-rhetorische Mittel bis zu dem Paradox, daß er dem Leser, an den er sich eingangs wendet, von seinem Buch abrät, weil dessen Gegenstand nicht sonderlich interessant sei. Die Rezeptionsgeschichte sollte erweisen, daß er interessanter war als das meiste, was in jener Epoche geschrieben wurde. Aber nicht nur deshalb, weil er oft Innenschau hielt, sondern wegen seiner Neugier auf die diversen Welten.
Der Essai – heute meist in der englischen Schreibweise – ist ein eminent und essentiell subjektives Genre. Interessant wird er dann, wenn die Persönlichkeit des Autors dies und jenes aus den Welten, den zeitgenössischen wie den historischen, durch Bücher vermittelten, aufgenommen hat und zu bewerten und durch seine Sprache und seinen Geist transformiert wiederzugeben weiß. Indem Montaigne von sich selbst erzählte, schrieb er über beide Welten – mindestens. Der Subjektivismus des Essays kann im 21. Jahrhundert, das sich so gern und so total dem Trug von Objektivierung und Optimierung ausliefert, als Kampfmittel gegen einen Zeitgeist dienen, der der Mehrheitsgesellschaft selbst gefährlich werden könnte, je mehr diese Tendenz kraft Automatisierung zur zweiten Natur wird. In diesem Sinn ist der Essai ein ebenso parasitäres wie notwendiges Genre.
In Ricardo Piglias Tagebüchern und in einem seiner Romane kommt eine „Bar beider Welten“ vor, irgendwo am Rand des Randes der Welt, in Mar del Plata. Frequentiert wird sie vom jugendlichen Autor und von einem „Engländer“, einem virtuellen Schriftsteller, den es absurder Weise in diese argentinische Provinzstadt verschlagen hat. El bar Ambos Mundos, die Konjunktion von alter und neuer Welt, wie sie Spanien einst verfolgte. (Heute gibt es sogar in Tokyo eine Bar, die sich so nennt.) Auf deutsch hat der Ausdruck zwei Bedeutungen: Wer zuviel hin und her schwingt, sich zuviel an mehreren Orten gleichzeitig aufhält, könnte die Orientierung verlieren und am Ende mit leeren Händen dastehen, ohne die eine, ohne die andere Welt, ein im atlantischen oder indischen Ozean versunkener Kolumbus. Verloren im transversalen Liniengewirr, in der gespenstischen Leere des Netzes: Dieser Gefahr zu wehren, hat sich der Verfasser der vorliegenden Essais vorgenommen.
Es ist noch nicht lange her, da erhielt ein südkoreanischer Spielfilm mit dem Titel Parasite den Oscar für den besten Film des Jahres, also die berühmteste Auszeichnung, die es weltweit auf diesem Gebiet gibt. Ich war, als ich den Film sah, fasziniert wie die meisten Zuschauer, doch fiel es mir schwer, bei den gegen Ende immer grausameren Szenen, die das Werk vollends zum Horrorfilm werden lassen, den Blick auf die Leinwand geheftet zu lassen. Diese Parasiten da, für die man zu Beginn des Films Sympathie oder wenigstens Mitleid empfinden konnte, werden Schritt für Schritt zu Schlächtern. Die Underdogs, die sich aus dem Elend erhoben haben, erweisen sich, sobald sie etwas wie Macht und Einfluß bekommen, als noch weit ärger als jene, denen sie einst ihren Wohlstand neideten. Letzten Endes sind alle Beteiligten Parasiten, die Reichen, die sich auf die Dienste der Armen stützen, um ihren Reichtum zu mehren, und die Armen, die die ganze Hand an sich reißen, sobald ihnen ein kleiner Finger gereicht wird. Im Normalfall spielt sich das ganze Geschehen als Austausch ab, die soziale Maschinerie schnurrt dahin, tagein, tagaus, die Dienste werden recht und schlecht bezahlt, so haben alle ihr Auskommen, ihren angestammten, überlieferten, schwer zu verlassenden Platz in der sozialen Hierarchie.
Parasite ist zunächst nichts anderes als ein Sozialdrama, das man als Kritik an der zeitgenössischen Konsumgesellschaft und den immer noch wachsenden Ungleichheiten verstehen kann. Etwas mehr als hundert Jahre vor diesem Film wurde ein ganz anderes Werk über einen Parasiten geschrieben, eine viel seltsamere Erzählung; so seltsam, daß sie in den Kanon der phantastischen Literatur eingegangen ist, wo sie heute einen der Spitzenplätze einnimmt. Die Rede ist von Franz Kafkas Verwandlung. Die Familie, die wir da kennenlernen, ist irgendwo in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt, nicht arm, aber auch nicht sonderlich reich. Das Parasitentum Gregor Samsas ist anderer Natur als das der Familie Kim, die sich nach und nach bei einer anderen, weniger zahlreichen, aber weitaus wohlhabenderen Familie einschleicht. Anders nicht nur deshalb, weil Gregor ja zur Familie gehört, sondern wegen seines zugleich naturhaften und imaginären Charakters, absurd und von einer anderen, nicht-logischen Konsequenz. Gregor findet sich eines Morgens, noch im Bett liegend, „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“. Von jetzt an ist er ein Schmarotzer, die Familie wird ihn aushalten, wird ihn ertragen, seine Schwester kümmert sich um ihn, doch zum Wohl der Familie kann er künftig nichts beitragen, er ist überflüssig, nein, schädlich, ein Familienschädling und damit ein Volksschädling von der Art, wie sie Hitler und seine Kameraden in den Winkeln der deutschen Gesellschaft aufspürten, um sie zusammenzutreiben und... Die Versuchung liegt nahe, Kafkas Erzählung als allegorische Vorwegnahme späterer Ausrottungsstrategien gegenüber den Juden zu lesen; gleichzeitig aber weiß man aus Kafkas Tagebüchern und Briefen, wie sehr er sich selbst am Rand der Gesellschaft sah und darunter litt, auf einem feinen Grat zu balancieren und zugleich in einem unterirdischen Bau zu hausen, dem Bau seiner Sprachkunst nämlich, und wie er sich doch keine andere Existenz vorstellen konnte und wollte als diese. Das, was er tat und tun mußte, gegen alle Ansprüche der Familie, der Gesellschaft, wie auch gegen die inneren Blockaden, von welchen die Dokumente ebenfalls Zeugnis ablegen, war das einzige, was er beizutragen hatte, der „Mehrwert“, den er aus sich zu ziehen verstand. Ein paradoxer, wertloser Mehrwert. „Legs auf den Nachttisch!“ (Der Vater mit verächtlichem Blick auf das erste Buch des Sohnes.) Die Texte als Schmutz, von dem sich die soziale Familie nicht reinigen kann – und heute auch nicht mehr reinigen will, weil sie erkannt hat, daß Kafkas Gesamtwerk etwas über sie sagt, das anders nicht gesagt werden kann, und eben dieses Werk sie in gewisser Weise erst konstituiert. „Wir müssen es“ – das Ding, den Nicht-Menschen, das Unwesen – „loszuwerden suchen“, hieß es damals. Heute wird es in Schulen und Hochschulen gehegt und gehätschelt, von Weltautoren fortgeschrieben: Samsa in love.
Von diesen Figuren, diesen realen, real leidenden, von einer Meute verfolgten oder in sich zurückgezogenen, selbstzerstörerischen Außenseitern, von den Juden, Sinti und Roma, den Homosexuellen, den Hexen, den Henkern, den Minderwertigen, den Arbeitsscheuen, den Überqualifizierten, den Geistesgestörten, den Arbeitslosen des elektronischen Zeitalters, den Aussätzigen und Unberührbaren finde ich in einem umfangreichen Buch, das diesen Titel trägt, Der Parasit, kaum eine Spur. Stattdessen Spaßmacher und Wortedrechsler, die sich bei den Reichen zum Bankett einladen. Die bei deren Gelagen mitnaschen und nichts dafür geben, buchstäblich nichts, sie drehen den Wohlhabenden, die vielleicht darüber lachen, eine lange Nase. Fabeln, Legenden, allerlei Geschichtchen, selbsterfundene und überlieferte, oft aus der Antike, von der Zeit, als die Philosophen noch etwas zu sagen hatten. Michel Serres hat dieses vorsätzlich disparate und verspielte, mehr oder weniger referenzlose, „unrealistische“ Buch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben. Man sollte es als Roman mit all den Flausen lesen, die sich Romane erlauben dürfen, solche wie Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht, wo der Leser ebenfalls vom Hundertsten ins Tausendste geschubst wird. Und trotzdem vermisse ich die Figuren, die Leidenden, vermisse die Ernsthaftigkeit. Das Parasitendasein ist kein Honigschlecken!
Zwanzig Jahre, nachdem er sein Patchwork-Buch fertiggestellt hatte, schrieb Serres für eine Neuausgabe ein Vorwort, das mir in wenigen Sätzen luzider scheint als die Hunderten Seiten, die folgen, so daß es mir als Anstoß und Einführung in mein eigenes Parasitenwerk geeignet scheint: Ich zweige es ab wie damals der halbwüchsige villero, den ich in einer Vorstadt von Buenos Aires beobachtete, als er mit einer unscheinbaren Siphonpumpe Benzin aus dem Tank eines allzu stattlichen Autos absaugte. Die Entwicklung eines Kindes, seine Erziehung, seine Bildung und Ausbildung, schreibt Serres, laufen darauf hinaus, aus uns einen „Akteur des Austauschs zu machen, indem sie uns nach und nach von unserem ursprünglich parasitären Verhalten abbringen“. Auf diese Art entsteht Gesellschaft, werden sozial verträgliche, mehr oder minder gemeinschaftsdienliche Individuen erzeugt. Zunächst aber sind Kleinkinder – und schon die Föten – Parasiten, vollkommen abhängig von ihrer unmittelbaren Umgebung, die sie auf das selbstverständlichste aussaugen. Das Parasitentum ist die Vorform des Sozialen, das im Lauf der Zeit zurückgedrängt wird, und bleibt gewissermaßen dessen Voraussetzung, später auch seine Gegenform. Daran erinnern euch die erwachsenen Parasiten, die ihre Position selbst gewählt haben oder nicht anders können. Die Bettler, die Verrückten, die Alkoholiker, die Hikikomori, die sich wie Gregor Samsa für den Rest ihres Lebens im Zimmer verschanzen, die Ausländer, die Schwulen – nein, die nicht mehr, die haben sich zur angesehenen Untergruppe gemausert, dürfen sogar heiraten und Kinder aufziehen. Aber vielleicht die Pädophilen? Oder müssen wir diese zwanghaften Störenfriede des Gesellschaftskörpers entfernen, wenn wir unsere Kinder vor Bedrohungen schützen wollen (aber schützen wir sie im allgemeinen nicht zuviel)? Und natürlich die Künstler, die Schriftsteller, die Taugenichtse, die nicht heimkehren wollen, und die Philosophen – nein, die auch nicht mehr, denn wenn sie nicht professoral werden und ein entsprechendes, wohlverdientes Gehalt beziehen (denn auch sie geben und nehmen), dann sind sie Medienstars, Kommentatoren, Konsultanten von Entscheidungsträgern, oder zumindest Workshopveranstalter, Betreiber eines Philosophencafés. Alle gehören dazu. Alle!
Alle? Wenn alle dazugehören, geht die Zugehörigkeit flöten, sie verliert den Zusammenhalt, der im Innersten negativ ist, eine Leerstelle, eine Abwesenheit, ein blinder Fleck ohne Sinn. „Ich hab mein’ Sach auf nichts gestellt“: Goethe, der Arrivierte, der Angekommene, wußte davon. Goethe, der alte Säufer. Die Parasiten, die nicht Zugehörigen, sind schon da, bevor menschliche Kollektive gebildet werden, und sie werden diese überleben. „Indem sie ihn negieren, bereiten sie den Austausch vor“, und so helfen sie, „das soziale und kulturelle Gebäude zu errichten“ (noch einmal Michel Serres). Ein parasitärer Künstler ist einer, der unfähig oder unwillens ist, erwachsen zu werden. Ein Erwachsener, der ewig Kind bleibt. Ein Kind, das klarer sieht und unumwundener spricht als die Erwachsenen. Ein Stotterer, der eine neue Sprache hervorbringt. Jemand, der in der Muttersprache eine Fremdsprache erzeugt. Der Mißverständnisse nicht aus-, sondern einräumt. Der kommuniziert, indem er sich einigelt. Der den Sinn aufs Spiel setzt, indem er mit den Zeichen spielt, aus denen, wenn er Glück hat, etwas anderes sprießt, ein vorsintflutlicher Nachsinn vielleicht.
Der gewissenhafte, aber auch ein wenig anarchistische Richard Rorty, einstmals bestallter Professor am Trinity College und an der Stanford University, hat das ähnlich gesehen. Er schrieb und dachte und sprach recht normal, aber Diskurse, die er „nichtnormal“ nannte, hatten es ihm angetan. Diese nichtnormalen Rede- und Schreibformen fußen zwar auf den konventionellen, überlieferten, kurz: normalen Diskursen, doch sie saugen sie aus, verletzen das Copyright, verstoßen gegen Denkschemata und Vorstellbarkeitsgrenzen, zehren davon wie der ungebetene Gast beim Bankett und bezahlen am Ende dann doch, obwohl es die längste Zeit nicht danach aussieht, in einer ganz anderen Währung, mit Späßen, mit guter Laune, mit Unverständlichkeiten, mit heißer Luft und unerträglichen Furzen – nein, im Ernst, sie bezahlen mit Kunstwerken, deren Wert man, wie bei Kafka, van Gogh und Konsorten, erst im nachhinein, Jahrzehnte später, erkennt. „Er kreuzt und diagonalisiert den Austausch“ (noch einmal Serres, den ich hier ein wenig plündere). Der Parasit handelt nicht, sondern ändert flugs die Währung, die Sprache, die Ebene, auf der wir uns befinden. Er knüpft transversale Beziehungen, überrascht mit Anknüpfungspunkten, trennt das Untrennbare auf, macht unsichtbare Knoten, wechselt plötzlich das Thema, schweigt peinlich und – unterbricht.
1972 schrieb oder, genauer gesagt, kopierte der Dichter Rolf Dieter Brinkmann folgende, zunächst in einem Brief nach Deutschland geäußerten Sätze in sein römisches Collagebuch: „Es wird nicht mehr lange dauern, bis hier das 20. Jahrhundert mit allen seinen Schrecken auch voll und ganz eingetreten ist. / Was ist der Schrecken des 20. Jahrhunderts?: Es ist die starke Automatisierung des Lebendigen (…), ich habe es immer bezeichnend empfunden in Köln an der Ecke Ehrenstraße: ‚Der sprechende Automat‘ sobald man das Geld in den Zigarettenkasten geworfen hatte und automatisch kam heraus/: ‚Vielen Dank!‘“1
Was würde der Dichter heute sagen, wo in einem fort aus allen Richtungen lebendige und künstliche, in jedem Fall digital gespeicherte und abgerufene Stimmen an unser Ohr dringen, die uns bitten oder bedanken, warnen oder locken, Floskeln und Zahlen formulieren, uns auf den nicht angelegten Sicherheitsgurt aufmerksam machen, auf einen abbiegenden oder rückwärts fahrenden Lastwagen, einen Artikel im Supermarkt, wo man an der automatischen Kassa auch Tierstimmen hören kann? Würde er sich in Alexa und Siri verlieben? Hätte er sich, wie die meisten Zeitgenossen heute, an all diese Automatiken und Künstlichkeiten längst gewöhnt? An das Wasserrauschen auf den Toiletten? An das künstliche oder lebendige – läßt sich nicht entscheiden – Frauenstimmchen im Aufzug, das uns mitteilt, jetzt gehe es nach oben oder nach unten?
Wollte man im Jahr 1972 in einem Lokal Musik hören, schlenderte man cool zur Jukebox (wie in Brinkmanns Erzählung Wurlitzer), die nach zwei, drei Minuten in Schweigen fiel, wenn man sie nicht weiter fütterte. Die Dauerbeschallung durch seichte Pop- und Kaufhausmusik war noch nicht Realität, Kopfhörer, Ohrstöpsel, Bluetooth noch nicht gebräuchlich. Ist denn das alles so schrecklich? Was sind die wahren Gräuel der Gegenwart? Was würde Brinkmann zu den allgegenwärtigen, immer unauffälligeren Überwachungskameras sagen? Zum Verlust der Privatsphäre, zur sanften Kontrolle bis hinein ins Wohn- und Schlafzimmer? Zur ständigen Mitteilung von visuellen Daten, ermöglicht durch digitale Photographie und Handys, die zur zweiten Natur geworden sind und uns an das sogenannte Netz anschließen, in dem mehr und mehr auch die intelligenten Dinge zusammengeschlossen sind? Wobei die Mitteilungen, die Informationen oft nur von Maschinen gespeichert, aber kaum von Menschen angesehen, noch weniger besprochen oder diskutiert, im Glücksfall oder bei geschickter Eigenwerbung „gelikt“ werden oder sich „viral“, das heißt im Selbstlauf, verbreiten: Kommunikationslosigkeit. Fast jeder liefert sich freiwillig aus, verschenkt seine Daten, regt sich hernach über NSA und Big Data auf, verschleudert weiterhin seine Daten, gebraucht tagein, tagaus die Geräte, die sich jederzeit gegen ihn wenden können wie Panzer eines Landes gegen die eigene Bevölkerung.
Dabei denken wir noch gar nicht an die Probleme der Arbeitswelt, an ihr tendenzielles Verschwinden und das seltsame Phänomen, daß wir trotz der Steigerung der Produktivität immer mehr Arbeit am Hals haben, wenn wir Arbeit haben, und uns immer gestreßter fühlen auf dem Weg zum Burn-out. „Man stelle sich vor, mehr als 90 Prozent aller Jobs würden verschwinden; ersatzlos gestrichen, weil Maschinen sie übernehmen. Ein grauenvoller Gedanke: Was wird dann aus uns Menschen, wovon werden wir leben, womit füllen wir unsere Zeit?“, fragt Christoph Kucklick, derzeit (2021) Leiter der Henri-Nannen-Schule in Hamburg.2 Wenn wir versuchsweise mal ein paar Antworten geben: Vielleicht leben wir von dem, was die Maschinen erwirtschaften? Der Reichtum verschwindet ja nicht mit der Arbeit. Aber verschwindet sie überhaupt? Werden nicht ständig neue Arbeiten erfunden, konstruiert, bereitgestellt, damit wir nicht arbeitslos werden? Unnötige Tätigkeiten, doch immerhin sind wir beschäftigt. Der Mensch als Beiwerk der Maschinen, die er wartet, beaufsichtigt, verbessert. Bis sie sich eines nicht fernen Tages selbst warten, beaufsichtigen, verbessern werden? Diese Zukunft hat ebenfalls schon begonnen, Maschinen können immer besser, immer schneller lernen. Trial and error, alles durchprobieren, dazu sind sie unermüdlich – und rasend schnell. Frustrationstoleranz 100 Prozent. Hundertmal verlieren, einmal gewinnen. Werden die Menschen dann Gedichte schreiben wie Rolf Dieter Brinkmann? Werden sie lernen, studieren, neugierig sein, einfach so, ohne bestimmtes Ziel, Bildung als Selbstzweck? Oder sich tagein, tagaus über Politiker, über „Eliten“ ereifern und empören, die vielleicht auch gar nicht mehr nötig sind? Werden sie die heile Welt schrecklich finden? Oder den halben Tag Sport treiben? Meditieren? Shoppen? Oder sich betrinken, betäuben mit Drogen, Internet, Fußball, Shopping, Surfen, Pornos?
Zögerliche Antworten münden in neue Fragen. Es ist vor allem eine bequeme, praktische Welt, und zwar schon heute, für die meisten Menschen in den entwickelten Ländern. Ich erinnere mich an den Beschwerdespruch meiner Mutter zu einer Zeit, die noch nicht ganz so bequem war, als die Menschen weniger motorisiert und weniger mobil waren, sich aber noch viel mehr bewegten, einen Spruch, den sie ab und zu einem ihrer Kinder an den Kopf warf: „Recht faul und bequem!“ Heute sehe ich die jungen Leute mit dem Handy vor der Nase wie der Esel mit der Karotte und denke, oft gegen meinen Willen: Recht faul und bequem! Das Praktische, Annehmliche, Naheliegende, leicht zu Habende, leicht Erreichbare, leicht zu Verstehende ist in unseren heutigen Gesellschaften zum Inbegriff des Wertvollen geworden, Bequemlichkeit schlägt jeden anderen Wert, soweit noch Werte in Umlauf sind. Und warum auch nicht, was spricht dagegen, worüber regst du dich auf? Das Allzweckgerät Smartphone genügt im Verbund mit dem Hypersupermarkt Amazon, der eines Tages vollautomatisiert sein wird (3-D-Drucker, Drohnen etc.), um uns ein ewiges Leben im Schlaraffenland zu gewähren.
Zu bequem sind wir nicht bloß, um unseren Arsch zu bewegen, sondern zunächst und vor allem, um Entscheidungen zu treffen. Algorithmen treffen sie für uns, dein Personalcomputer3 kennt dich, er berechnet und prognostiziert dich, du bist seine Person, sein Ehepartner, er sagt dir, was du kaufen, welche Musik du hören, welchen Film du sehen wirst. Meistens ist er mit dir per Du, was angemessen ist, weil er dich besser kennt und dir näher ist als fast alle Menschen. Die hundertprozentigen digital natives der jüngeren Generationen wollen gar keine Entscheidungen treffen, sie verzichten gern auf ihre Freiheit, weil dieser Verzicht ihre Bequemlichkeit vermehrt, auch wenn sie verbal-ideologisch womöglich nach wie vor für Freiheit eintreten: Sie wollen sich doch von niemandem etwas sagen lassen! (Außer von Spotify, TikTok, GPS, Partneragentur, Suchmaschine, Rechtschreibkorrektor, alles natürlich im Internet, ihrem eigentlichen Lebensraum.) Auch in vorgeblich freien Gesellschaften, schreibt Yuval Noah Harari („allegedly free societies“), werden wir mehr und mehr den Algorithmen vertrauen und im selben Maß unsere Fähigkeit einbüßen, Entscheidungen auf eigene Faust, im eigenen Namen zu treffen. Auf den Widerspruch zwischen der Haltung des Bedauerns und futuristischer Begeisterung sowie auf die Ironie, die diesen Widerspruch bedient, werde ich noch zurückkommen. Ich fürchte, daß ich ihm (und ihr, der Ironie) selbst nicht entgehen kann. Unter solchen Bedingungen, die ich als automatisiert bezeichnen würde, insofern die technische Automatisierung auf das Verhalten der Personen abfärbt – wir passen uns den allwissenden Geräten an –, optieren wir in der Regel für das Leichtere, Einfachere, schnell zu Habende. Durch Klicks und Pop-ups, durch das ständige und mühelose Aufspringen von Fenstern, ist alles in unserer Reichweite, die Abstände werden viel radikaler reduziert als beim Fernsehen, weil unsere Individualität, das „Persönliche“, das freilich schon durch die Geräte und ihre Algorithmen façonniert ist, und unsere Mobilität einberechnet werden (dennoch sehe ich die Internetpraktiken immer auch als Fortsetzung der Fernsehkultur). Wir brauchen keine Anstrengung und wollen sie auch nicht, wir ziehen das Einfache dem Komplexen vor, das Bild dem Text, den wir allenfalls überfliegen, das Triviale dem Elaborierten, die Verschwörungstheorie der Analyse, den Slogan dem Zweifel, das Poppige der Klassik, das Flüchtige dem Traditionsbeladenen. Roberto Simanowski bezeichnet dieses Prinzip, das Facebook vielleicht am besten verkörpert, als verbrecherisch („Facebooks Verbrechen …“). Daß er sich am Ende – ironisch, versteht sich – zum digitalen Smalltalk und den Banalitäten à la TikTok „bekehrt“, verweist auf den Widerspruch, von dem auch das Schreiben Hararis zehrt.
Ein Problem, das sich aus der Bequemlichkeit ergibt, besteht darin, daß die digitalisierten, bis zu einem gewissen Grad automatisierten Subjekte selbst dann, wenn sie lernen, sich bilden, etwas wissen wollen, die Gegenstände und Themen nicht mehr durchdringen, weil sie ohnehin sämtliche Daten – und anders als in Datenform, als Informationsbits, werden Inhalte von digital natives nicht wahrgenommen – ständig verfügbar haben, auf grenzenlosen Speicherplätzen außerhalb ihrer selbst, in einer virtuellen Wolke, einem Datenhypermarkt. „Was du ererbt hast von den Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ – solche Sprüche findet man gesammelt, kopiert und „gepastet“ auf zahllosen Sites im Internet, aber was sie bedeuten … Wissensbereiche werden unter heutigen Bedingungen nicht erworben, sondern angeklickt (und meistens sofort wieder vergessen), Gegenstände werden nicht durchdrungen, Probleme und Zusammenhänge nicht erkannt, sondern nur gestreift, Bildung eignet man sich nicht an, man braucht sie im Grunde genommen nicht, und wenn doch, dann genügt es, wenn sie in den Speichern des Allzweckgeräts konserviert ist. Dementsprechend sind die beliebtesten, d. h. zeitgemäßesten Genres der Epoche des Kulturüberflusses, auch Postmoderne genannt, die Anthologie, die digitale Enzyklopädie, das Florilegium und die Zitatensammlung.4 Das jederzeit und jedermann zugängliche Internet, wie es sich im 21. Jahrhundert ausgeprägt hat, ist letzten Endes nichts anderes als die Hyperstruktur dieser Auswahlgenres, einschließlich Wikipedia, wo der User neben höchst ernsthaften, mitunter taxfrei wissenschaftlichen Artikeln so viel Information über sämtliche Kleinstädte, Dörfer und Stadtviertel, über viertklassige Fußball- und Schauspieler oder auch Pornosternchen finden kann, daß er als User gar nicht anders kann, als sich in diesem Labyrinth zu verlieren (auch „surfen“ genannt). Das Problem ist weniger, daß uns inmitten solcher Überfülle die Bildung abhandenkommt, als daß wir uns selbst nicht mehr zu Persönlichkeiten bilden, die selbständig auswählen, verwerfen, bewerten und sich das als wertvoll Erachtete aneignen: Die Notwendigkeit und schließlich die Möglichkeit dazu bleibt im digital vernetzten Lebensraum auf der Strecke. An die Stelle des Subjekts des Wissens, des Zweifelns und des Erkennens ist der Wissensmanager getreten. „Möglich ist diese Vorstellung nur“, schreibt Konrad Paul Liessmann, „weil die Wissensgesellschaft die Beziehung des Wissens zur Wahrheit gekappt hat“.5 Da sie sämtliche Daten sofort haben können, verlernen die User der digitalen Welt auch das Warten, die Geduld, das Reifen, die Introspektion. Gleichzeitig unterliegen Erholung und Unterhaltung einer Transformation: Luststeigerung, oft auch noch gratis, ohne vorhergehende Anstrengung führt leicht zur Sucht, zum unkontrollierbaren Konsum (der dem kommerziellen Ideal des Spätkapitalismus entspricht). Das Internet und die Geräte, die uns damit verbinden, machen an sich süchtig, nicht erst durch bestimmte Inhalte (Spiele, Pornographie, Wetten …), die wir darin finden. Der Süchtige ist die Verkörperung des Subjekttypus, der sich endlos gehen läßt. Er will und muß nicht denken, sich zur Verantwortung rufen, Entscheidungen treffen. Sucht ist bequem – kann aber Probleme im wirklichen Leben nach sich ziehen. Reale Nebenwirkungen sozusagen.
Durch die soziotechnischen Systeme werden uns immer mehr Bürden abgenommen, das Leben wird – oder wirkt, auf den ersten Blick – ungeheuer leicht. Unsere Spätmoderne ist, um einen Begriff Zygmunt Baumans zu gebrauchen, eine leichte Moderne, die das schwere Gepäck des Industriezeitalters und seiner Moral abgeworfen zu haben scheint (das relativierende Verb füge ich Baumans Erläuterungen hinzu). Wissen heißt heute nicht mehr, sich etwas angeeignet und in seinem Gehirn aufbewahrt zu haben; es bedeutet, eifrig im Internet herumzuklicken, geleitet von einer Suchmaschine, in den meisten Fällen Google, wobei der Suchende immer wieder auf dieselben Pages, dieselben Sites, also Orte, stößt, die eine Unzahl von Orten und Verbindungen dort- und dahin („Links“) anbieten. Was durch die mehr oder weniger intelligenten Maschinen und Systeme ausgelagert wird, sind nicht mehr nur beschwerliche körperliche Tätigkeiten wie Rasenmähen, Tagebau oder Geschirrspülen (schon seit prädigitalen Zeiten), es betrifft mehr und mehr den intellektuellen, emotionalen und sinnlich-perzeptiven Bereich: das Erinnern, das Denken, das Erstellen(-Lassen) von Korrelationen anstelle des Aufspürens von Zusammenhängen, die Orientierung, die Intuition, ja, sogar das Verlieben, das laut Harari von Algorithmen viel besser besorgt wird als durch fehlbare menschliche Subjekte, die nur auf ihre Gefühle und Eingebungen zurückgreifen können und daher oft unvernünftig agieren. Gleichzeitig verliert sich die Forderung nach Verantwortlichkeit, und spiegelbildlich dazu das Verantwortungsbewußtsein der Subjekte. Letzteres gilt nicht nur für anonyme System-User, oft als „Poster“ unter Pseudonym auftretend, die in irgendeinem „sozialen“ Medium immer wieder mal zu ihrem Vergnügen Haßbotschaften oder Drohungen absetzen, es gilt auch für die Konstrukteure dieser digitalen Systeme und wiegt bei ihnen viel schwerer, bei den Software-Entwicklern und den von ihnen geschaffenen intelligent-maschinellen Entitäten, zumal wenn sie zu raschem Selbstlernen befähigt sind: Wer ist für deren ach so reibungsloses, aber mitunter dystopisches Funktionieren verantwortlich? Wer kontrolliert es? Wer kann es rechtzeitig stoppen? „Es besteht die Gefahr, daß am Ende niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden kann“, faßt Catrin Misselhorn in ihrem Buch über „Grundfragen der Maschinenethik“ zusammen, nachdem sie Beispiele wie den Einsatz von Drohnen in der Terrorbekämpfung, der Kreditvergabe von digitalisierten Banken und die Preisgestaltung von Tickets bei Lufthansa angeführt hat. Die geschilderten Verhältnisse könnten „dazu führen, daß die Menschen sich weniger verantwortlich fühlen und die Bedeutung ihrer Handlungen nicht mehr wirklich verstehen“.6 Algorithmen verstehen sie besser. Aber wirklich den Menschen gemäß?
Ein Aspekt und eine Folge der Bequemlichkeit ist die immer umfassendere Herrschaft von kulturellen Mainstreams. Technisch und ideologisch bestünde die Möglichkeit zunehmender Diversifizierung, tatsächlich ist aber die gegenläufige Tendenz wesentlich stärker. Hinter der sogenannten Personalisierung, auch Singularisierung genannt, verbirgt sich das Gegenteil dessen, was der Begriff aussagt, nämlich Stereotypisierung und Rhetorisierung; das Gegenteil jener Singularitäten, die nach Gilles Deleuze durch menschliche Kreativität hervorgebracht werden.7 Wer hat, dem wird gegeben; was oft angeklickt wird, wird noch öfter angeklickt; nach und nach bleichen die Besonderheiten aus. Dabei klickt man zunächst oft nur, um zu sehen, was da so interessant sein soll: eine Art von ironischem Klicken, augenzwinkerndes Mitmachen, das unmerklich zu distanzlosem Baden im Mainstream werden kann. Technologische Basis des Konventionalismus und Konservativismus der ach so innovationsfreudigen digitalen Welt8 sind ökonomische Quasi-Monopole wie Google und Facebook, es sind die durch Algorithmen erzeugten Spiegelkabinette und Echoräume von sogenannten Feeds, von Empfehlungen des Gleichen oder Ähnlichen, die gedankenlos als Befehle aufgenommen werden. Harari begeistert sich für die Möglichkeit der digitalen Produktion von – vom Konsumenten aus gesehen – „personalisierter Kunst“. Der Kunde ist König, die Produzenten und Vertreiber geben ihm, was er wünscht und braucht, oder zu brauchen glaubt (natürlich beeinflussen sie ihn zugleich durch systematische, im Internet durchaus lückenlose Werbung). Facebook-Algorithmen wissen, wie der Einzelne, d. h. der „User“, der Digitalkonsument, auf Musikstücke reagiert, bzw. andersrum gesagt, sie wissen, in welcher Lage er welche Musik braucht. Um auf solche Weise über Kunst zu sprechen, ist ein etwas beschränkter Begriff davon Voraussetzung: „Oft wird gesagt, daß die Menschen deshalb für Kunst empfänglich sind, weil sie sich selbst darin wiederfinden.“ Das heißt, vor allem ihre Gefühle, und auf diese wirke die Kunst ein, und ein Algorithmus, der genügend neurologisches Datenmaterial über meine psychischen Reaktionen zur Verfügung hat, könne das viel erfolgreicher als ein Komponist, der für ein allgemeines, a priori nicht-personalisiertes Publikum komponiere. „Wenn die Schönheit in den Ohren der Zuhörer liegt, und wenn der Kunde immer recht hat“, dann werden biometrische Algorithmen die „beste Kunst in der Geschichte“ produzieren. Meint Harari.
Natürlich ist das Zukunftsmusik. Es mag Versuche in diese Richtung geben, aber die meisten Leute – Kunden – hören immer noch am liebsten, was gerade en vogue ist, und ein solcher Geschmack ist nicht singulär, sondern stereotyp. Harari konzediert dies, fügt aber sogleich hinzu, daß Algorithmen auch beim Herstellen von „global hits“ besser sein werden. Demnach wären menschliche Komponisten bereits überflüssig … Dabei fällt mir auf, daß der israelische Historiker nicht nur mit einem etwas simplen Kunstbegriff operiert, sondern selbst einen Musik- und überhaupt Kunstgeschmack entwickelt haben dürfte, der über globale Pop-Hits und Klassikschnulzen nicht hinausreicht. Die Künstler, die er an dieser Stelle zitiert, sind Britney Spears und Tschaikowsky (nichts gegen Tschaikowsky!). Die werden von den Kreativrechnern sicher bald übertroffen.
Es scheint ein Zug der gegenwärtigen Epoche zu sein, daß sich auch kluge und besonnene Menschen immer wieder in einen Taumel der Vorwegnahme rasanter technologischer Neuerungen hineinziehen oder -fallen lassen. Unsere Zeit ist paradoxermaßen beides: zukunftsängstlich und zukunftssüchtig. Was als nüchterne Überlegung beginnt, verwandelt sich ziemlich rasch in Science-Fiction. Manch ein Schreiber ist so ein verkappter SF-Autor; erkennen heißt – nicht nur für Algorithmen, sondern auch für menschliche Gehirne – Prognosen anzustellen. Und die Prognosen haben es so an sich, daß sie ihren Agenten immer weiter vorwärtstreiben, ihn beschleunigen und begeistern. Hin und wieder gebieten sich die Klügeren (wie ich) Einhalt – um sich dann von neuem treiben zu lassen. Ich glaube, daß Walter Benjamins geschichtsphilosophische These aus der düstersten Periode der europäischen Geschichte, kurz vor seinem Freitod formuliert, immer noch gilt, bzw. daß sie jetzt erst recht gilt und uns immer stärker beunruhigen sollte. Der Sturm der Geschichte wehe den Engel auf der Zeichnung Paul Klees – oder den Menschen, der (sich) erkennen will – „unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“9 Welche Trümmerhaufen wir in Zukunft auf unsere Vergangenheit zurückblickend sehen werden, kann niemand so genau sagen, aber zu befürchten steht doch, daß nicht alles heil bleiben wird und das, was den Menschen im positiven Sinn auszeichnete, auf dem Spiel steht (oder gestanden haben wird). Der Engel schaut nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, doch er wird in die Zukunft getrieben. Ob im Anfang der Zeiten oder vor diesem wirklich ein Paradies lag, muß uns hier und jetzt nicht kümmern.
Wenn wir uns Klees Bild noch einmal ansehen, werden wir bemerken, daß der Engel schielt, als ginge sein Blick in zwei verschiedene Richtungen – also doch auch in die Zukunft, nicht nur zurück? Er verharrt und bewegt, anders gesagt: er schwebt über der Schwelle, die die Gegenwart darstellt. Außerdem wendet er sich dem Betrachter zu, und gleichzeitig von diesem ab. Sind wir, die Betrachter, die Vergangenheit oder die Zukunft des Engels? Weht der Sturm gar nicht vom Anfang, sondern vom Ende der Zeiten her? Ist es kein Wind, sondern ein Sog, der den Engel – die Menschen – zieht, ein horizontaler Malstrom? Wäre es, zumindest in unserer Zeit, die so oft als eine der beschleunigten Beschleunigung charakterisiert wird, nicht geboten, sich gegen diesen Sturm zu wappnen und öfter in die Vergangenheit zu schauen als in die Zukunft? Vielleicht gibt es aus den Trümmerlandschaften doch mehr zu retten, als die menschlichen und maschinellen Beschleuniger und Science-Fiktionisten uns weismachen wollen.
Anfang der siebziger Jahre, in der Zeit, als Rolf Dieter Brinkmann in Rom weilte, verbreitete Pier Paolo Pasolini seinen Befund einer „anthropologischen Mutation“, welche die italienische – man kann extrapolieren: die europäische Gesellschaft erfaßt habe. Durch täglichen, bis in die hintersten Provinznester verbreiteten Massenkonsum und durch die Kulturindustrie (die er nicht so nannte: der Filmregisseur bezog sich auf das Fernsehen), sei das Wesen des (italienischen) Volks dabei, sich zu ändern, und zwar nicht gerade zum Besseren. Als ich damals, noch in den siebziger Jahren, das erste Mal davon hörte, war ich wie Pasolini bestürzt. Heute scheinen mir solche Wesensveränderungen, wenn wir annehmen wollen, daß es so etwas wie ein Wesen überhaupt gibt, unvermeidlich, normal, mitunter wohl auch begrüßenswert. Nach der Jahrtausendwende schlug in Österreich das von einem rechtsextremen Politiker geschmiedete Wort von der drohenden „Umvolkung“ hohe Wellen. Gemeint waren nicht Konsumismus und Infantilisierung, sondern der Zuzug von Fremden, die die ethnische Substanz der Heimat gefährden würden. Zwanzig Jahre später ist klar, daß die Mutation viel tiefer geht, daß der Wind wiederum aus einer anderen Richtung weht und überall auf der Welt zu spüren, also von globaler Natur ist. Die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche von Arbeitsorganisation und Verwaltung über Bildungs- und Gesundheitswesen bis hin zu Küche, Schule und Verkehr, Freizeit, Unterhaltung und Sport, und die weltweite Vernetzung, zuletzt und besonders die Sozialen Medien, beeinflussen – meist ohne daß es den Subjekten bewußt wird – das tägliche Verhalten, die Denkweisen und Kommunikationsformen, die Erinnerungs- und Projektionsweisen, die Art des Wahrnehmens, des Sich-Konzentrierens und -Zerstreuens, also grundlegende menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die unser Wesen ausmachen oder ausgemacht haben. Nicht von einem oberflächlichen Einfluß ist die Rede, sondern von einer Umkrempelung, nicht von Revolution, sondern von Mutation. In der Zeitspanne seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, schreibt Michel Serres, sei „ein neuer Mensch geboren worden“.11 Wir passen uns der Funktionsweise und den Kriterien der Algorithmen an, die uns via Display gegenübertreten. Wer sich bei einer großen Firma um eine Stelle bewirbt, schreibt seine Bewerbung algorithmenkonform, weil er weiß, daß sie zunächst nicht von einem Firmenmitarbeiter gelesen wird, sondern von einem Bewerberbewertungsalgorithmus. Hat einer die Stelle bekommen, ist er gehalten, sich selbst zu quantifizieren, vergleichbar zu machen, zu optimieren.12 So ticken wir mehr und mehr wie die Maschinen, von denen wir abhängig sind. Der personalisierte und personalisierende Universalratgeber ist längst zum ständigen Begleiter geworden, zum Alter Ego, das uns beherrscht, auch wenn wir glauben, es zu beherrschen; ein neuer Typus von Über-Ich, nachdem die alten Instanzen wie Moral und Gewissen an Bedeutung verloren haben. Diese Entwicklung ist unaufhaltsam, aber wir können sie durch unser Bewußtsein und unseren kollektiven Willen mitgestalten. Wir können … Das heißt nicht, daß es wirklich geschieht. Die Betroffenen und die Zuständigen, soweit sich überhaupt jemand zuständig fühlt, lassen den Dingen ihren Lauf.
Auch Gilles Deleuze hatte, ein Konzept seines zu früh verstorbenen Freundes Michel Foucault aufgreifend, von Mutation gesprochen, diese aber zunächst sozioökonomisch bestimmt. Das nahezu Visionäre seines kurzen Textes über die Kontrollgesellschaften13 liegt darin, daß er erkannte, wie eng diese fundamentale Mutation mit technologischen Entwicklungen zusammenhängt, so daß der neue, postindustrielle und postmoderne Kapitalismus zunehmend kognitiv, virtuell und kulturell ausgerichtet ist und die alte Unterscheidung von Basis und Überbau obsolet wird (was schon Adorno in seinen Schriften zur Kulturindustrie vorausahnte). Was zunächst als Wortspiel erscheint, trifft als Diagnose ins Herz unserer Gegenwart: Die Individuen sind dividuell geworden, die Rechenmaschinen zerlegen mit ihren Funktionsprogrammen den Einzelnen in Daten und immer mehr Daten, zwischen denen Korrelationen gesucht und gefunden werden; er ist kein Kondensat mehr, sondern ein Dezentrat. Die alten Disziplinargesellschaften arbeiteten mit einfachen Maschinen, mit Zahnrädern, Hebeln, Flaschenzügen; die moderneren des 20. Jahrhunderts mit Energiemaschinen (Dampf, Elektrizität); die Kontrollgesellschaften, die Foucault und Deleuze heraufkommen sahen, operieren mit informatischen Maschinen, machines informatiques, mit Datenspeicherung und -verarbeitung, deren Ausmaß und Reichweite erst in den letzten Jahren klar geworden ist. Das Panoptikum des 18. Jahrhunderts, das Foucault ins Zentrum seiner Analyse der Disziplinargesellschaft gestellt hatte, hat sich der veränderten Realität angepaßt und verfeinert, es wirkt nicht mehr bedrohlich, weil es der anonymen Technik überlassen wird und uns die winzig und zahllos gewordenen Überwachungskameras ebensowenig auffallen wie die Tatsache, daß wir ständig Spuren hinterlassen und unsere Daten preisgeben, sobald wir uns im Internet bewegen oder unser Handy eingeschaltet haben, und das tun die meisten von uns ständig. Wir wissen zwar nicht in jedem Augenblick, aber doch im Prinzip, daß alles, was wir tun, denken und wünschen, gewußt, gespeichert und korreliert werden kann und wahrscheinlich wird, und so verinnerlichen wir die Überwachung, sie nistet sich im neuen Über-Ich ein.
Durch diese anthropologische Mutation sind wir in eine Epoche eingetreten, die man als „posthuman“ bezeichnen könnte; Nietzsches Rede vom Übermenschentum zielt in dieselbe Richtung, mit der Einschränkung, daß die Mutation nicht eine Elite, sondern die Masse betrifft, während es eher die Eliten sind, die am Alt-Menschlichen festhalten. Glaubt man Yuval Harari, so haben die Menschenrechte ausgedient. Im Jahrhundert der Totalitarismen seien sie vielleicht nützlich gewesen, um Gewaltherrschaft zu bekämpfen, doch heute gehe die Berufung auf angebliche Menschenrechte an den Realitäten vorbei. Biotechnologie und Künstliche Intelligenz, schreibt Harari, würden den herkömmlichen Sinn des Menschlichen umdeuten („…now seek to change the very meaning of humanity“). Freiheit habe sich durch den Fortschritt der betreffenden Wissenschaften – Mathematik und Statistik – als Chimäre entpuppt: Wozu sie noch verteidigen?
Andere versuchen genau dies, eine „Verteidigung des Menschen“, und bestehen auf den fundamentalen, unauflöslichen Unterschieden zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, wobei trotz allem – machine learning usw. – erstere letzterer zugrundeliege und ihr Sinn und Ziel verleihe.14 Der herkömmlichen Humanität bleibt nichts anderes übrig, als mit der digitalisierten Gesellschaft, den digital humanities, zu koexistieren. Wenn sie abdankt und der exponentiell steigenden Digitalisierung einfach nur freien Lauf läßt, könnte dies fatale Folgen zeitigen. Ein hierzu bloß komplementärer Gedanke: Wäre es nicht sinnvoll, in der Gesellschaft nichtdigitale Zonen und Zeiträume einzurichten und zu verteidigen? Handyfreie Schulen, Cafés, Seminare? Um 1990, als Handys langsam zum Massengerät und Massenkonsumartikel wurden, waren diese in manchen Wiener Kaffeehäusern untersagt. Als einmal trotzdem jemand telephonierte, meinte der Ober empört: „Wir sind doch kein Großraumbüro!“ Wenige Jahre später erschien die Welt als ein einziges Großraumbüro; oder genauer, als globales Gebiet, das sich restlos in Büro- und Privat-Blabla aufteilte. Noch ein paar Jahre später ist das stimmliche Sprechen überflüssig geworden, Büro und Blabla werden „getextet“, die Finger sind flink geworden, die Kunden/User/Gäste starren ins Gesicht ihres Geräts und wischen darin herum. In den Kaffeehäusern, soweit sie musikalische Beschallung ablehnen, herrscht nun eine andere Art von Schweigen.
Eine der wiederkehrenden Obsessionen der älteren abendländischen Philosophie war es festzulegen, welche besonderen Eigenschaften den Menschen vor den Tieren auszeichneten. Der Mensch als zoon politikon, ein ganz spezielles Tier. Die Denker hatten ein starkes Bedürfnis, den Begriff des Menschen abzugrenzen und seine höhere Stellung zu behaupten. Der Mensch war sprachbegabt (obwohl es auch bei vielen Tierarten Kommunikation gab), er konnte denken (obwohl manchen Tieren Intelligenz nicht abzusprechen ist), er formte immer komplexere Gesellschaften, war also ein „soziales Tier“ (obwohl genaugenommen jede Rudel- und Schwarmbildung eine Art von Gesellschaft ist), in seinen ersten Lebensjahren unselbständig (aber auch Tiere haben Lernphasen) … Negative Charakteristika wie zum Beispiel, daß sich die Menschen untereinander bekriegen, während in der Tierwelt weithin eine unproblematische Solidarität innerhalb jeder Spezies zu beobachten ist und die Kämpfe sich nach außen richten, fielen dabei unter den Tisch. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts schwindet dieses Bedürfnis, die eigene Identität durch Abgrenzung von Tieren zu bestätigen, während gleichzeitig das Bedürfnis wächst zu erkennen, was wir den Maschinen voraushaben, worin sie uns überlegen sind und wie wir mit beidem, Über- und Unterlegenheit, zurechtkommen können.
Um die Menschen von intelligenten Maschinen zu unterscheiden, verwendet der bereits mehrfach zitierte Harari gern den Begriff „Bewußtsein“. Dieses allein zeichne den menschlichen Geist aus. Selbstbewußtsein ist dabei ein weiteres Spezifikum, das zur Abgrenzung dienen kann. Allerdings gibt Harari auch zu: „We don’t really understand the mind.“ Jeder von uns gebraucht unentwegt seinen Geist, jeder setzt sein Bewußtsein ein und bildet es aus und verliert es am Lebensende wieder. Ein gewaltiger Denker hat versucht, Geist und Bewußtsein in einem dicken Buch – zweibis dreimal so dick wie das ebenfalls nicht dünne von Harari über den Homo deus, dem Leser jedoch viel schwerer zugänglich – zu ergründen, zu durchleuchten und systematisch zu beschreiben, und dennoch bleibt auch diese Kritik der reinen Vernunft mit ihrem abstrakten Kategoriengerüst, das zu einem erheblichen Teil triviale Vorgänge in vorsichtiger Begriffssprache abtastet und sichert, d. h. formalisiert, unbefriedigend, sobald wir introspektiv überlegen, was eigentlich in uns abläuft, wenn wir denken. Sicher nicht dasselbe wie in einem Computer, oder? Jeder hat Zugang zu seiner inneren Welt (ein Computer nicht?), durch Introspektion, die dem Selbstbewußtsein eine Vielzahl von Bahnen schafft. Wir glauben daher intuitiv zu wissen, was uns auszeichnet, und zwar als Individuen ebenso wie als Exemplare unserer Gattung.15 Und wir ziehen ausgehend von dieser Selbsterfahrung Schlüsse in Bezug auf Maschinenwesen und Tiere, in die wir freilich nicht hineinsehen können und die uns ihr Innenleben, sollten sie eines besitzen, nicht mitteilen. So daß wir zwangsläufig auf Beobachtung und Spekulation angewiesen sind. Tiere und Computer sind Black Boxes. Wenn sie uns etwas mitteilen, dann das, was wir in sie hineingelegt haben: Ihre Botschaften sind anthropomorph.
Harari neigt dazu, nichtmenschlichen Wesen eigene, geistige Fähigkeiten zuzuschreiben, wenn auch oft nur hypothetisch, im Modus der Vermutung. Er tut es zugleich auf ironische Weise, wobei der Grad seiner Ironie schwer bestimmbar bleibt, dem Urteil der Leser überlassen, von denen manche die Ironie gar nicht wahrnehmen werden. Vielleicht ist es gar nicht nötig, (Selbst-)Bewußtsein zu haben, um intelligente Leistungen hervorzubringen, die jene der Menschen immer weiter und bald auch immer schneller übertreffen. Computer, Rechenmaschinen, Algorithmen, körperlose, in gewisser Weise rein „geistige“ Programme, Gespenster sozusagen, könnten in nicht allzu ferner Zukunft die Dinge dieser Welt und auch die Menschen und ihre Angelegenheiten (z. B. wirtschaftlicher, medizinischer, moralischer Natur) besser verwalten, als die Menschen dies im Hinblick auf Tiere, Maschinen und sich selbst zu tun imstande sind. Jene intelligenten Maschinen könnten selbsttätig ein Innenleben entwickeln, das nicht zwangsläufig anthropomorph sein oder bleiben muß, und immer mehr, immer weiter lernen, damit aber eigene, unvorhergesehene Identitäten ausbilden, sich selbst auf eine Weise perfektionierend, wie es Menschen versagt ist. Es klingt nach den features eines Science-Fiction-Romans, aber die Maschinenwesen könnten die Macht ergreifen und eines schönen Tages beschließen, daß die Menschen nicht nur überflüssig sind, sondern stören; daß sie für ihre eigene „Gesellschaft“, ihre vernetzten Strukturen eher schädlich als nützlich sind und man sie deshalb am besten entsorgt, wie man es mit Parasiten eben so macht. Aber vielleicht sind die intelligenten Maschinen ja, im Unterschied zu den Menschen in diversen Epochen ihrer Geschichte, zu einem sanfteren Schluß gekommen: Jene Menschen, die Urväter der ersten Computergenerationen, sind gar nicht so schädlich, wie es einst den Anschein hatte; man kann ihnen problemlos eine Existenz in sorgloser Muße ermöglichen, solange sie sich nicht in die Belange der eigentlichen, der rationalen und rationellen Gesellschaft einmischen. Die Menscheit wird gewissermaßen ornamental, sie dient zur nostalgischen Verschönerung.
Vielleicht ist es also nichts als vergebliche, d. h. nostalgische und folglich überflüssige Liebesmüh, wenn ich versuche, eine kurze, ganz und gar provisorische Liste von Aspekten und Dynamiken, von Freuden und Leiden des Bewußtseins zu erstellen, und zwar mithilfe der methodenlosen Methode – alias Heuristik – des Brainstormings, des ungeregelten, frei assoziierenden Stöberns in meinem Gedächtnis, das sich durch eine inzwischen beträchtliche Erfahrung des Denkens und Beobachtens im Lauf der Jahre ausgebildet hat, ein wenig wie ein Tuchverkäufer in alten Zeiten, der seine Stoffe ausrollt und umlegt, faltet und entfaltet und glattstreift und gegen das Licht hält, und auch wieder einrollt (wie es die aus den Bergdörfern in die Stadt gekommenen indianischen Verkäuferinnen in Mexiko heute noch praktizieren). Fenster auf und durchlüften! Das Abgelagerte anheben, wenden, fliegen lassen! Vieles verwerfen, beiseitelassen, nicht einmal ignorieren.
Diesen Gedanken der menschheitlichen Überflüssigkeit, der Antiquiertheit des Menschen, findet man schon bei Günther Anders in dessen Nachkriegsphilosophie. Er selbst hat ihn nicht nur aus der kollektiven Erfahrung der Verwüstungen durch die Atombomben abgeleitet, sondern als Folge der immer umfassenderen Technisierung der Welt gesehen. Angesichts der für Menschen unerreichbaren Perfektion der Maschinen, wie man sie heute zum Beispiel an Schachcomputern, aber im Grunde genommen an jeder Rechenoperation sieht, muß der Mensch etwas wie „prometheische Scham“ empfinden, also das Gegenteil der klassischen und aufklärerischen Hybris.16 Unter diesen – immer noch neuen – Bedingungen käme es darauf an, nicht etwa „besser“ zu werden als die Maschinen oder mit ihnen gleichzuziehen, indem wir z. B. die Ausbildungsstätten durchdigitalisieren, sondern die besonderen Fähigkeiten des Menschen jenseits der Technik zu sehen, herauszuarbeiten und zu stärken: freie Zielsetzungen, Bewertung von Sachverhalten, Sinngebung, Interpretation, Geschichtsschreibung, einfühlsames Erzählen, ästhetisches Genießen, spielerisches Vergnügen.
Ich weiß nicht, ob eine Rechenmaschine oder eines ihrer Subsysteme Verantwortung übernehmen kann für eine andere: für andere Maschinen oder für das große Ganze, das Hypersystem, das im Unterschied zum großen Ganzen der Menschen, wie wir es in diversen Ausformungen aus der bisherigen Geschichte kennen, genau definiert und bezeichnet werden kann. Warum nicht: eine Verantwortungs- und Koordinationsmaschine, auf das Allgemeine – die Gemeinschaft – gewissermaßen spezialisiert. Diese Frage soll uns hier und jetzt nicht weiter kümmern, denn es geht mir immer noch in erster Linie um den Menschen, die Menschen in ihrer irreduziblen Vielheit. Ich frage mich, wie es um die Verantwortungsfähigkeit der jungen Menschen im Land, in dem ich lebe, bestellt ist, die zwar die Regeln, die man ihnen eingetrichtert hat, befolgen (und niemals auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragen, ganz im Sinn von Wittgensteins Theorie des „Regelfolgens“17), vor allem dann, wenn möglicherweise Kontrollagenten zugegen sind, aus freien Stücken und nach eigenem Ermessen aber so gut wie nichts zu tun imstande sind, die Bedürfnisse anderer Gruppen, z. B. von Behinderten, nicht einmal erkennen, geschweige denn, daß sie diese in ihrem fremdbestimmten Handeln berücksichtigen. Ich spreche von Japan, hier mache ich diese Erfahrung tagtäglich und habe für mich den Schluß gezogen, daß die Einübung in ein äußerst rigides, detailverliebtes Regelsystem persönliche Verantwortung nicht fördert, sondern abtötet. In Europa mag das anders sein. Oder auch nicht. Jedenfalls wird in dieser stillen, nur sehr selten lautwerdenden Opposition, die hier durchwegs auf Unverständnis stößt, meine Sicht auf die menschliche Geistesmöglichkeit der Verantwortung geschärft. So sehr geschärft, daß mir ihre Erhaltung ein vordringliches Anliegen geworden ist, auch wenn ich mir oft genug sage: Du bist doch kein Aufpasser, kein Polizist, kein Moralapostel! Tatsächlich schauen mich die mit den üblichen Formeln um Entschuldigung ersuchenden, zustimmend nickenden Gesichter mit einem Blick an, der diese stumme Botschaft enthält: Du bist doch hier gar nicht zuständig!
Aber wer, wenn nicht ich, ist hier zuständig? Denke ich mir und verschweige diesen so seltsamen Gedanken.
Verantwortung. Antwort geben. Erst einmal sprechen. Nachdenken. Den Mund auftun. Und dann vielleicht handeln: ent-sprechend. Wem oder was antworten, entsprechen, tun? Aufgrund wovon? Von Werten, die man bedacht, abgewogen, gewählt hat; nicht von Regeln, zu denen man angewiesen wurde. Welche Werte? Es gibt deren viele (manchmal widersprechen sie einander, drängen sich vor oder verdrängen andere), und es gibt unterschiedliche Zusammenstellungen, Wertegebäude, Kodizes. Viele alte, selten neue Werte. Erweitere deinen Besitz, dein Vermögen, dein Einkommen. Steigere deine Macht. So steht es geschrieben: „Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazugewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener.“ Die frohe Botschaft in kapitalistischem Geiste. Des Antichristen Nietzsche Zerbrechen an der selbstgestellten Aufgabe, neue Werte zu schaffen: Wen interessieren solche Hasardstücke heute noch?
Mich!
Alte Werte: Macht, Reichtum. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Unterwirf dir deinen Nächsten mit allen Mitteln. Denk stets, in jedem Einzelfall, an die allgemeinen Gesetze, die für jeden gleichermaßen gelten. Memento mori: Denk an den Tod, zieh aus diesem Gedanken den Schluß, daß es gilt, sich auf das Jetzt zu konzentrieren, oder auf das Ganze, auf deine oder die Geschichte, die Mit- und Nachwelt. Das Leben an sich sei der höchste Wert. Nicht immer. Es gibt keinen absoluten Wert. Oder? Aber Junge, Mädchen, überleg dir zumindest das, was du jetzt tust oder unterläßt (besonders letzteres!); fang etwas an, such dir was aus, du selbst bist der Mann, die Frau. Bediene dich deines Verstandes, der anders, unsicherer, tastend, aber auch vielfältiger und vielseitiger funktioniert als das allwissende Gerät, das du stets mit dir führst wie eine Prothese (wie es mittlerweile Pflicht ist), dein Schutzschild vor der Wirklichkeit. Durchdringe die Wirklichkeit und nimm sie auf, spüre sie und errichte sie, konstruiere, bessere aus, ändere! Definiere, was wirklich ist, bestimme die Wirklichkeit neu, werte sie um. Zum Beispiel: „Das Bergblau ist – das Braun der Pistolentasche ist nicht!“ Auch dies ein Wert, und zwar ein fundamentaler: Tu was! Oder tu nix, aber bekenne dich dazu!
Ich habe mich nie mit den Grundlagen der Statistik beschäftigt und verspüre auch jetzt, in Zeiten der Pandemie, da die Infektions- und Sterblichkeitskurven ins Kraut schießen, nicht die geringste Lust dazu, aber wie so viele klappere auch ich seit dreißig Jahren am Computer herum und tummele mich seit fünfzehn oder zwanzig Jahren in virtuellen Welten, und so sagt mir mein digitales Gefühl, daß das Denken meines maschinell-personalen Gegenübers, das in all den Jahren wirklich viel besser und umfassender geworden ist und sich unaufhaltsam perfektioniert, im wesentlichen ein mathematisch-statistisches ist, auch dann, wenn auf der Benutzeroberfläche gar keine Zahlen erscheinen. Daran bin ich gewöhnt, an das Denken meines ewigen Gegenübers – oder muß ich sagen: meiner Geistesprothese? –, an seine immer häufigeren Einflüsterungen und Einmischungen, zum Beispiel wie meine Rechtschreibung in diesem Text hier auszusehen habe oder wie der oder jener fremdsprachige Text zu übersetzen sei; ja, er nimmt mir dieses Denken neuerdings sogar ab und erledigt die Korrekturen, die Umwandlungen selbst, und in Zukunft vielleicht auch die Entwürfe, die ganze Schreibarbeit, ich muß nur noch das Thema entscheiden und ein paar Wünsche hinsichtlich subjektiver Färbungen äußern. Will ich das? Nein, ich will es nicht, aber ich vermute, daß die meisten es bequem finden werden.18 Ich will diese mich und uns selbst betreffende Automatisierung vermeiden, auch im Hinblick auf eine allgemeine Gesetzgebung, denn das mathematisch-statistisch-korrelationale Denken scheint mir für unsere menschlichen Zwecke bei weitem nicht ausreichend, letzten Endes zu primitiv, reduktiv, vereinfachend bei aller scheinbaren Komplexität.
Wo ich mich erinnere, d. h. auswähle im Wechselspiel mit dem nicht immer endgültigen, oft provisorischen Vergessen, speichert die Maschine, ohne auszuwählen: allenfalls kann ich nachträglich etwas löschen – und muß höllisch achtgeben, nicht zuviel oder das Falsche zu löschen – bzw. eine Kopie anzufertigen. Der Computer speichert oder kopiert, es ist dasselbe, er speichert-kopiert einfach ALLES.19 Und in den riesigen Heuhaufen, die er mit der Zeit anhäuft, findet er alles wieder, jede Stecknadel, jede kleinste Kleinigkeit. Der Search-and-find-Professional „erinnert“ sich unverzüglich an ALLES, oder genauer, an die Summe der Details. Und zwar ebenfalls auf Knopfdruck, Mausklick, durch Feld- oder Kreisberührung eines meiner Finger. Super! Und dann, noch besser: Die Maschine kann gleichzeitiges (bzw. zeitloses) Vorkommen von Daten in unterschiedlichen Dateien eruieren, man braucht nur zwei Suchstränge, oft endlos lange, spielt keine Rolle, miteinander zu kombinieren, zu kreuzen. Schnittmengen! Korrelationen! Was korreliert womit? Bildungsniveau mit Geburtenrate. Ach, das haben wir längst gewußt? Einfach durch Erfahrung – intelligente Maschinen bekommen auch „Erfahrungen“ eingespeichert! –, durch Fragenstellen, durch den Gebrauch des Verstandes sind wir zu demselben, vielleicht besseren, weil sinn- und wertvollen Resultat gekommen. Allerdings sind die Rechner schneller. Und genauer. Sie spucken Zahlen aus. Ohne Umschweife stellt ein Programm fest, daß die Zahl der Personen, die in einem Schwimmbecken ertrinken, mit der Zahl der Filme korreliert, in denen Nicolas Cage auftritt. Und daß die Scheidungsrate im US-Bundesstaat Maine vergleichbar ist mit dem Jahreskonsum von Margarine in diesem Staat. Und daß der Verzehr von Hühnerfleisch eine ähnliche Kurve aufweist wie die Einfuhr von Erdöl in die USA. Eine Fülle von Scherzen, erstellt von einem Harvard-Absolventen, der diese und zahllose andere Korrelationen auf seiner Homepage und schließlich in einem (durchaus überflüssigen) Buch kundgetan hat. Ist Nicolas Cage Schuld am Ertrinken im Swimmingpool? Halten Ehen länger, wenn Margarine vermieden wird? Werden die Hühner aussterben, wenn das Erdöl endgültig versiegt? Ach ja, Korrelationen sind noch lange keine Kausal- oder sonstigen Zusammenhänge. Dazu braucht es mehr, zum Beispiel Urteilsvermögen und Umsichtigkeit. Nicht nur Ausdauer, auch Spontaneität. Muße. Intuition.