Adele hat den schönsten Mund - Anna Clare - E-Book

Adele hat den schönsten Mund E-Book

Anna Clare

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Beschreibung

Adele ist vom Leben abgehärtet. In der Schule wurde sie wegen ihrer großen Lippen gehänselt. Ihr bester Freund war der homosexuelle Kim, der von einer Schauspielkarriere träumte und sich mit Make-up besser auskannte als sie selbst. Als Erwachsene ist Adele eine talentierte Köchin, die mitten im Leben steht und keiner Chance auf Sex aus dem Weg geht. Sie tritt eine Stelle im neu eröffneten Restaurant des bisexuellen Paul an, der mit dem Piercer Ian liiert ist. Noch vor dem Vorstellungsgespräch lässt sich Adele vom heißen Tischler Tom, der dem Dekor den letzten Schliff gibt, unter den Rock greifen, doch auch Paul zieht sie in seinen Bann. Und dann taucht auch noch die mysteriöse Karina im Restaurant auf und stiftet Verwirrung. Wer kann hier mit wem, und wie lange halten die fragilen Allianzen? Ein erotischer Roman über sexuelle Abenteuer und Zweideutigkeiten - stilvoll, frech, witzig.

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Anna Clare

ADELE HAT DEN SCHÖNSTEN MUND

Erotischer Roman

Übersetzt von Nikola Lamberti

1. Kapitel

Adele war fast siebzehn, als sie wieder einmal eine der üblichen Gehässigkeiten an der Tür ihres Schulspinds fand. Diesmal war es eine unbeholfene Zeichnung des Eiffelturms neben einem riesigen Lippenstift. Um sicherzugehen, dass sie den Witz auch kapierte, war »Fischlippe« unter das Bild gekritzelt. Sehr witzig, dachte Adele, biss auf ihre vollen, blassen Lippen und blickte finster vor sich hin. Aus der Mädchentoilette auf der anderen Seite des Gangs drang gedämpftes Kichern. Kim, der neben ihr stand, drehte sich ruckartig um und brüllte: »Ihr glaubt wohl, ihr seid die Coolsten, was?«

»Na, wenn du so fragst – ja!«

Adele brauchte sich nicht umzudrehen, um Sharon Bircher zu erkennen. Sharon entwickelte sich allmählich zu einer richtigen kleinen Künstlerin, aber Adele langweilte das Bild. Waren sie nicht langsam zu alt für solchen Blödsinn?

»Warum verpisst du dich nicht einfach und lässt dir von deinem Waschlappen-Freund an deiner verseuchten Muschi rumfingern, du blöde Kuh?!«, wütete Kim.

Sharon antwortete mit einem Zischen: »Das werde ich ihm erzählen, du Schwuchtel.«

»Viel Spaß!«

»Kim, lass es!«, sagte Adele. Sie wollte keinen Ärger. Sharons Freund Neville war ein 1,80 Meter großes Überbleibsel aus der Steinzeit und es würde ihn kaum mehr als ein Lächeln kosten, Kim die Seele aus dem Leib zu prügeln. Kim schien das nicht zu kümmern. Er war jemand, der für eine gepfefferte Beleidigung gerne Risiken auf sich nahm.

»Ich frage mich, wie er das bloß macht«, setzte Kim noch einen drauf. »Trägt er eine Augenbinde, wenn er dich von hinten fickt, damit er nicht kotzen muss, wenn er deinen pickligen Arsch sieht?«

»Lass es«, sagte Adele energisch. »Sie ist es nicht wert!«

»Du bist tot!«, drohte Sharon. Hinter ihr verzogen die anderen Mädchen angestrengt ihre Gesichter, um nicht über Kims Lästereien lachen zu müssen.

»Lieber tot als eine Schlampe mit Pickelarsch.«

»Kim!« Adele riss die Zeichnung vom Spind und schmiss sie Sharon ins Gesicht. »Werd endlich erwachsen«, sagte sie, drehte sich um und zog Kim am Handgelenk hinter sich her.

»Schönes Leben noch, Fischlippe!«, rief Sharon ihr nach.

»Danke«, entgegnete Adele über ihre Schulter hinweg. »Soll ich dir vielleicht auch gleich ein neues organisieren?«

»Breitmaulfrosch!«

Adele biss sich wieder auf ihre Lippen, was sie sich im Laufe der Jahre voller Hänseleien irgendwann angewöhnt hatte. Manchmal kamen sie ihr selbst wie riesige, aufgeblasene Luftkissen vor. Bei all dem Spott, den sie schon ihre gesamte Kindheit hatte ertragen müssen, war ihr bisher noch nicht aufgefallen, dass es Frauen gab, die sich ihre Lippen für einen Haufen Geld mit Kollagen aufspritzen ließen.

»Du hättest sie ignorieren sollen«, sagte Adele, als sie aus dem Haupttor kamen und den kargen Schulhof überquerten. In Wirklichkeit glaubte sie selbst nicht daran, dass es etwas bringen würde, Sharon keine Beachtung zu schenken. Bis jetzt hatte es jedenfalls noch nicht funktioniert, aber sie gab die Hoffnung nicht auf.

»Das bringt nichts«, sagte Kim und blickte über ihre Schulter, um nachzusehen, ob Sharon ihnen folgte. »Solange du sie ignorierst, werden sie einfach weitermachen.«

»Du solltest sie aber auch nicht provozieren. Sie sind es nicht wert – die sind einfach nur unreif.«

»Unreif?«, stöhnte Kim verächtlich. »Von wegen! Wenn Sharon Bircher zwanzig ist, wird sie aussehen wie eine abgehalfterte, vierzigjährige Nutte.«

Adele lachte. »Ja, aber so wie du dich aufführst, dürftest du das wohl kaum miterleben.«

»Leb gefährlich – stirb jung und schön, Schätzchen«, sagte Kim und hakte sich bei ihr ein, als sie auf dem schmalen Pfad waren, der ins Stadtzentrum führte. Im wuchernden Gras lagen unzählige Zigarettenkippen und zerknüllte Marlboro-Packungen – stumme Zeugen der heimlichen Nikotinsucht vieler Schüler.

Kim öffnete den obersten Reißverschluss seines Rucksacks und nahm die gut versteckte Packung und ein pinkfarbenes Feuerzeug heraus. Er gab Adele eine Zigarette und zündete sich seine routiniert an.

»Mein Gott, ich muss endlich aufhören. Das ist schon die fünfte heute«, stellte Kim fest.

»Bei mir ist es die zweite. Paps hat wieder mal aufgehört und mein Bruder, dieser Fiesling, sagt, ich soll mir meine eigenen kaufen.«

»Wie nett von ihm. Dabei hat er einen Job, während wir in diesem Drecknest als bettelarme Schüler über die Runden kommen müssen.«

»Und als bettelarme Schauspieler!«

Kim schob seine Unterlippe beleidigt hervor. »Nie im Leben werde ich ein armer Schauspieler, Süße. Ich werde ein verdammter Star sein!«

Das glaubte Adele allerdings auch. Schließlich spielte er die kiffenden Schwachköpfe des Schultheaters schon jetzt mühelos an die Wand. Seine Tenorstimme sorgte beim Publikum immer für Begeisterungsstürme. Kim sang leidenschaftlich gerne schmalzige Songs auf der Bühne, wobei nicht einmal die grelle Sporthallenbeleuchtung sein zartes Porzellangesicht entstellen konnte. Seine Eltern waren allerdings alles andere als begeistert von seinen Ambitionen.

Sie versuchten immer noch, einen Koch aus ihm zu machen, weil er einmal das Familienunternehmen leiten sollte. »So weit kommt’s noch – ich, ein beschissener Küchensklave«, beschwerte er sich regelmäßig bei Adele. Dass Kim kaum mehr konnte, als Wasser kochen, hinderte seine Eltern nicht daran, ihn trotzdem in die Küche zu schicken. Wenn es deswegen mal wieder Streit gab, wartete Adele auf dem Flur, bis Kim und sein Vater damit aufhörten, sich gegenseitig anzubrüllen.

»Ich glaube auch, dass du es schaffst.«

Kim blies den Rauch aus. »Natürlich schaffe ich es. Ich werde einfach mit den richtigen Leuten vögeln. Couch-Casting, Schätzchen – so läuft das.«

»Du bist furchtbar, Kim.«

»Nee, bin ich nicht. Ich bin großartig, Süße.«

Sie gingen kurz schweigend nebeneinander her. »Hast du Sharons Gesicht gesehen?«, fragte Adele.

»Ja, immer das Gleiche. Dieser fette, hässliche Zwerg.«

»Findest du sie nicht hübsch?«, fragte Adele zögerlich. Sie wollte eine ehrliche Meinung. Sie kannte Sharon Bircher schon seit der Grundschule. Damals war Sharon die Beliebteste gewesen. Von allen bewundert wegen ihrer blonden Löckchen. Noch immer hatte sie den Ruf »der Schönen«.

Kim stöhnte angewidert. »Nein. Früher war sie vielleicht mal hübsch, so in der neunten Klasse. Eigentlich lag es aber nur daran, dass sie schon mit zwölf riesige Titten hatte, die jeder anfassen durfte. Außerdem hat sie wirklich schlechte Haut.«

Adele nickte. »Ihr Make-up trägt sie bestimmt mit einem Handtuch auf.«

»Und außerdem ist es immer der falsche Farbton. Manchmal leuchtet sie wie eine Apfelsine.«

Jetzt mussten beide lachen.

»Leuchtend und voller Krater – genau wie die Marsoberfläche«, giftete Kim und begann zu singen: »It’s a godawful small affair, to the girl with the mousy hair …«

Seine Version des Bowie-Songs gefiel Adele. Sie schüttelten sich vor Lachen und gingen weiter bis zur Unterführung. Obwohl eigentlich noch Frühling war, war es schon so staubig wie im Hochsommer. Auch das Gras sah bereits ziemlich mitgenommen aus, besonders am Straßenrand, wo sich die Autoabgase sammelten. In dem kleinen Tunnel war es kühl und stank nach Alkohol. Die Mauern waren mit den üblichen einfallslosen Graffiti beschmiert: Anarchie-Zeichen und allerlei Liebes- und Hassbotschaften, in denen es meistens darum ging, dass diese oder jene Person eine Nutte war.

Adele konnte die Kleinstadt nicht ausstehen. Für eine richtige Stadt war sie viel zu klein. Andererseits war sie groß genug, um die Bewohner oberflächlich und in der Regel sogar feindselig miteinander umgehen zu lassen.

Gemeinsam schwärmten Kim und Adele oft von ihrer glorreichen Zukunft in London. Ihre Kindheitserinnerungen an die Küstenstadt, in der sie aufgewachsen war, behielt Adele hingegen für sich. Gefangen in der trostlosen, zubetonierten Provinz in geschmacklosen quadratischen Häusern aus den Fünfzigern, sehnte sie sich oft nach ihrer alten Heimat am Meer. Sie vermisste den Charme der in die Jahre gekommenen viktorianischen Gebäude, den Geruch der See und die heißen wolkenfreien Tage, an denen Himmel und Ozean am Horizont ineinander übergingen, so dass man beim besten Willen nicht sagen konnte, wo der eine aufhörte oder der andere begann. Für Adele waren diese Erinnerungen aber nicht nur Heimweh nach einer allmählich verblassenden Vergangenheit, sondern auch eine Art Symbol für die unbegrenzten Möglichkeiten, die die Zukunft ihr bot.

Die Stadt, in der sie jetzt lebte, war jedenfalls nicht ihre wirkliche Heimat, sondern nur das Dreckloch, in das sie das Schicksal verschlagen hatte. Einfach alles hier war eng, hässlich und langweilig: die verdreckten Bushaltestellen, die widerlichen Taubenschwärme vor dem McDonald’s und die eintönige Innenstadt. Wenn man Spaß haben wollte, konnte man höchstens Kondome mit Wasser füllen und vom Parkhausdach auf die Fußgänger schmeißen.

Adele und Kim saßen auf den Treppenstufen des Kriegerdenkmals und beobachteten die Passanten: Eine paar Zehnjährige bewarfen sich gegenseitig mit Kartoffelchips, auf die sich die Tauben sofort wie Aasgeier stürzten. Auf der anderen Straßenseite stolzierten zwei alte Damen Arm in Arm den Bürgersteig entlang, als würden sie von Prinz Charles höchstpersönlich ausgeführt.

»Dieses Kaff ist der letzte Dreck«, stellte Kim wieder einmal fest.

»Was für eine Überraschung …« Adele drückte angewidert ihre Zigarette auf der Stufe aus.

»Wenn wir hier nicht bald rauskommen, verrecken wir«, behauptete Kim theatralisch.

»Nur noch ein oder zwei Jahre«, sagte sie. Da sich die Wochen hier sowieso wie ein Ei dem anderen glichen, würde die Zeit schnell vergehen: Töpferkurs, Nachhilfestunden, Zigaretten und durchzechte Wochenenden.

»Das dauert mir zu lange«, beschwerte sich Kim. »Hier gibt es einfach nichts zu tun.«

Sie seufzte. »Im Notfall können wir immer noch Wasserbomben vom Parkhaus werfen.«

Kim rollte mit den Augen. »Mir bleibt gleich das Herz stehen vor lauter Aufregung.«

»Na gut, dann eben nicht.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Also was jetzt?«

Kim starrte auf seine Füße. »Wenn ich das nur wüsste.« Er gähnte und packte die Zigarettenschachtel wieder in den Rucksack. »Weißt du, was cool wäre?«, fragte er sie nach einer Weile.

»Was denn?«

»Wenn man in die Wasserbomben angetaute Eiscreme füllen würde. Die Leute würden sich vor Schreck in die Hosen machen.«

Adele musste grinsen, als sie sich vorstellte, wie eiskalte knallrote oder blaubeerfarbene Wasserbomben vor den Leuten auf der Straße zerplatzen würden. Die Idee hatte Potential. »Am besten blaues Eis«, schlug sie vor.

»Ich dachte eigentlich an Grün«, entgegnete Kim.

»Oder Schoko-Eis.«

Kim sprang auf. »Das ist es! Die glauben, es wäre Scheiße. Perfekt!«

Die Aussicht auf das kleine, wenn auch kindische Abenteuer hatte sie aus ihrer Lethargie geweckt. Sie schlenderten zur Drogerie. Es duftete nach Parfüm, und alles war sauber, hell und ruhig, was die geplante Aktion noch verführerischer machte. Adele blieb vor den Regalen mit den Lidschatten stehen. Sie schimmerten in Farben, die zum Anbeißen aussahen – von Bonbonrosa bis Schokoladenbraun.

Sie ignorierte die farbintensiveren Lippenstifte, deren kirschrote Spitzen wie kleine Penisse aus den Plastikröhrchen lugten. Sie erinnerten Adele zu sehr daran, dass ihre Mitschülerinnen behaupteten, dass sie einen Lippenstift in der Größe des Eiffelturms benötigte. Obwohl sie genau wusste, dass es albern und blöd war, errötete sie, als sie daran dachte, und ihr lief ein leichter, unangenehmer Schauer über den Rücken. Adele wusste, dass sie nicht den Rest ihres Lebens mit gesenktem Kopf auf ihren Lippen herumbeißen konnte, aber bisher hatte sie es einfach noch nicht geschafft, sich richtig zu wehren.

Hinzu kam, dass Adele ein grundsätzliches Problem mit Make-up hatte, was unter anderem daran lag, dass sie in der Schule schon genügend Beispiele für erbärmliche Schminkunfälle gesehen hatte. Natürlich wusste jeder, dass Tara Raymond wegen ihrer überzupften Augenbrauen und dem fransigen Pony immer irgendwie verblüfft und erschrocken wirkte und Sharon Bircher manchmal aussah wie die Kreuzung aus einem Brandopfer und einer Kabukimaske. Weil die beiden aber die unangefochtenen Alphaweibchen der Schule waren, traute sich niemand, etwas zu sagen. Adele war klar, dass sie endlosem Spott ausgesetzt wäre, wenn sie geschminkt in die Schule käme. So war es nun mal und es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als sich einfach damit abzufinden.

Natürlich war es unfair. Kim und auch ihr Vater versicherten Adele immer wieder, wie hübsch sie sei. Sie blieb stehen und betrachtete sich in einem der Kosmetikspiegel, tat aber so, als interessiere sie sich lediglich für die verschiedenen Puderdosen im Regal.

»Komm schon«, sagte Kim und zupfte sie am Ärmel.

»Eine Sekunde noch«, antwortete sie.

In solchen Momenten spürte Adele den Unterschied zwischen sich und Kim. Für ihn waren Regeln eigentlich nur dazu da, um sie zu brechen. Einige Lehrer behaupteten mittlerweile, sie habe einen guten Einfluss auf ihn. Adele wusste, dass sie langsamer und vorsichtiger war als Kim. Ihm stand auf die Stirn geschrieben, dass er später entweder extrem erfolgreich sein oder elendig zu Grunde gehen würde. Dazwischen gab es nichts. Entweder der Star oder das Enfant terrible – ein unberechenbarer Wirbelwind voller Pläne und Ambitionen. Adele hatte hingegen schon früh in ihrem Leben gelernt, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als beliebte Zielscheibe für Mobbing-Attacken durfte man nicht auffallen und erst recht nicht anecken. Je grauer und unscheinbarer, desto besser. Bisher war sie mit dieser Einstellung jedenfalls relativ unbeschadet davongekommen, fand sie. Aber in diesem Moment ahnte sie, dass die Zeit des Versteckens vorbei war. Sie fühlte sich zu alt für diese Spielchen und wollte endlich als Mädchen und nicht mehr als Freak wahrgenommen werden. Sie wollte, dass sich die Jungs nach ihr umdrehten.

»Fertig?«

»Gleich.«

Kim zuckte mit den Schultern und lief an dem Regal mit dem Nagellack vorbei, wobei er zu jedem Farbton seinen Kommentar abgab: »Langweilig, … langweilig, … langweilig, … Katzenpisse, … Geschmacksverirrung. Warum haben die hier eigentlich kein Grün?«

»Weiß nicht«, antwortete sie abwesend.

Adele vertiefte sich in den Anblick kleiner Döschen, Stifte, Pinsel und Schachteln, die silber und golden in den Regalen schimmerten. Da sie die einzige weibliche Person in ihrer Familie war, hatte sie diese Frauenutensilien schon als kleines Mädchen nur heimlich bewundern können. Sie konnte das Gefühl nicht mit Worten beschreiben, das jener Anblick in der Drogerie bei ihr auslöste – auch zehn Jahre später nicht, an jenem Sonntagnachmittag, den sie mit ihrem Freund Paul im Bett verbrachte.

Wenn man erkennt, dass man kein Kind mehr ist, sondern zur Frau wird, fühlt sich das an, als beträte man ein Hochseil über einem Abgrund unermesslichen Ausmaßes. Am anderen Ende wartet das Wunderland der Erkenntnis, aber um dorthin zu gelangen, muss man erst einmal über die tiefen Schluchten der Jugend balancieren, in denen überall gefräßige Krokodile und messerscharfe Felsen lauern.

Als sie Paul davon erzählte, bemerkte er dazu lapidar, dass es wohl nur einen Menschen auf der ganzen Welt gäbe, der vor einem Kosmetikregal an Krokodile und Felsschluchten dächte. Dann fragte er, ob sich der Weg auf dem Hochseil denn gelohnt habe, was selbstverständlich heißen sollte: »Liebst du mich?«

Sie bejahte natürlich, aber sie bezweifelte, dass sie schon am Ende des Hochseils angekommen war.

»Vielleicht bleiben wir für immer Seiltänzer und werden nur irgendwann so gut darin, dass wir nicht mehr merken, wie wir balancieren – so wie dieser Blondin damals über den Niagarafällen.«

Die Schwierigkeiten waren zwar bereits vorprogrammiert, aber davon ahnte Adele nichts an jenem Tag in der Drogerie. Die Reinheit dieser gerade gewonnenen Erkenntnis war makelloser als die glänzenden Döschen oder die verführerische Form der Lippenstifte in ihren betörenden Bonbonfarben. Das jahrelange Versteckspiel, bei dem ihr oberstes Ziel war, bloß nicht aufzufallen, war nun vorbei – und das war ungemein aufregend und beängstigend zugleich.

Kim wollte jetzt endlich die Kondome kaufen und zupfte immer ungeduldiger an ihrem Ärmel. Sie schüttelte ihn ab und bat ihn, noch kurz zu warten.

»Was machst du denn da eigentlich?«, fragte er.

»Ich sehe mich nur um«, sagte Adele in Gedanken und wies mit einer Kopfbewegung auf das Regal.

»Aha«, sagte er knapp.

»Sag das nicht so komisch.«

»Wie, komisch?«, antwortete er mit gespielter Unschuldsmiene. »Na ja, egal. Es wird auch Zeit, dass du endlich anfängst, Make-up zu tragen.«

»Ich trage Make-up!«

»Nein, tust du nicht.«

»Na gut, ich schmiere es mir nicht mit einem Handtuch ins Gesicht, aber ich schminke mich!«

Kim schaute sich die Auswahl an. »Bei deiner Haut wären rosa Farben und Brauntöne das Beste. Oder Blau, wenn du dich mal richtig nuttig fühlen willst.«

»Ich will mich aber gar nicht nuttig fühlen.«

»Warum zur Hölle nicht?«

Sie mochte seine Einstellung. Dieses »Warum zur Hölle nicht?« schien so etwas wie Kims Religion zu sein. Jedenfalls schien Rot die perfekte Farbe zu sein, wenn man sexy aussehen wollte. Die Verführerinnen und Superheldinnen im Film trugen auch immer Rot, süße Mädchen hingegen eher unauffälligere Korallen- oder Mokkatöne. Die bösen Mädchen erkannte man an ihren roten Lippen genauso zweifelsfrei wie die Bösewichter in den Stummfilmen an ihren schwarz umrandeten, rollenden Augen und gezwirbelten Schnurrbärten. Der Lippenstift erinnerte Adele an die Zuckerstangen aus ihrer Kindheit, mit denen sie sich die Lippen angemalt hatte, und auch an den leuchtend roten Lippenstift ihrer Mutter, mit dem sie manchmal gespielt hatte.

»Na gut«, sagte sie und malte eine scharlachrote Linie auf ihren Handrücken.

Kims Augen weiteten sich: »Wow, der ist aber grell.«

»Zu grell?«

»Auf gar keinen Fall«, rief er. »Rot ist eine Glücksfarbe – vertreibt das Böse.«

»Tatsächlich?«, lachte Adele. Sie wusste, dass Sharon Bircher ihr das Leben zur Hölle machen würde, wenn sie mit knallroten Lippen in die Schule käme.

»Ja, wie ein Talisman«, beteuerte Kim. »Außerdem sind Lippen sowieso der ultimative Scharfmacher.«

»Der was?«, fragte sie lachend.

»Der ultimative Scharfmacher. Habe ich in einem Buch gelesen: Rote Lippen sind deshalb sexy, weil Männer dabei unbewusst an das erregte weibliche Geschlecht denken.«

»Blödsinn«, erwiderte Adele kopfschüttelnd.

»Nein, es stimmt!«, beharrte Kim. »Es gab da mal diese Geschichte über eine Pariser Tänzerin. Ich glaube, sie war eine Cancan-Tänzerin. Traditionell wird Cancan ohne Slip getanzt, also blitzt bei jedem Beinschwung die Muschi auf. Ich habe sogar von einer Tänzerin gelesen, die sich vor jedem Auftritt ihre Lippen schminkte – und zwar nicht die im Gesicht …«

Ungläubig starrte Adele ihn an: »Dir ist schon klar, dass du wirklich seltsame Bücher liest?!«

»Nicht seltsam … anders vielleicht«, antwortete er schulterzuckend. »Außerdem ist es doch logisch, wenn man mal drüber nachdenkt. Sie hat sich im Umkleideraum vor den Männern rot angemalt. Und die sind fast durchgedreht bei dem Anblick.«

»Also ich bleibe bei ›seltsam‹, Kim«, sagte sie, obwohl sie insgeheim zugeben musste, dass der Gedanke auch bei ihr ein Kribbeln ausgelöst hatte. Sie blickte auf den roten Strich auf ihrem Handrücken und bekam eine Gänsehaut. »Rot, meinst du?«

»Auf jeden Fall! Du wirst aussehen wie Joan Crawford.«

»Wie wer?«

»Vergiss es, du ignorante Landpomeranze«, sagte er mit gespielter Hochnäsigkeit. »So – und jetzt brauchst du noch ein paar Stifte und Mascara.«

»Und was ist mit den Kondomen?«

Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Das hier macht mehr Spaß. Wie viel Geld hast du dabei?«

Sie hatten genügend Geld für einen Lippenstift, einen roten und einen schwarzen Kajal und Wimperntusche. Anschließend gingen sie zu Kim, wo sie die Einkäufe und die Sachen aus Kims eigenen Schminkvorräten ausprobieren wollten. Im Haus seiner Eltern befand sich auch deren Restaurant, in dem es immer nach Gewürzen und Räucherstäbchen duftete. Kim beschwerte sich wieder einmal über den Essensgeruch, während sie möglichst leise an der Tür zur Küche vorbeischlichen. Sie hatten es fast geschafft, da steckte seine Mutter ihren Kopf durch den Türspalt. Ohne Adele wahrzunehmen, begann sie sofort, Kim eine Standpauke auf Kantonesisch zu halten. Er wehrte sich und Adele blieb einen Moment unschlüssig auf dem Korridor stehen, bevor sie ihnen diesmal in die Küche folgte. Kim war schon mitten in einer heftigen Diskussion mit seinem Vater, der nebenbei mit einem furchterregenden Messer eine Ente bearbeitete.

Kims Mutter warf einen Blick auf Adeles Haar und zog ihr eine Duschhaube über. »Hygiene!«, sagte sie schroff.

»Verzeihung«, antwortete Adele.

Während Kims Mutter die restlichen Locken unter die Kappe zwängte, sagte sie: »Haar sehr schön, aber nicht in Küche.«

»Nein, natürlich nicht.«

Adele blickte auf die kunstvoll gefertigten Frühlingsrollen, an denen Frau Qing gerade arbeitete.

»Willst du helfen?«, fragte Frau Qing die überraschte Adele. Kims Mutter machte zwar meist einen mürrischen Eindruck, schien aber mittlerweile davon auszugehen, dass Kim und Adele eine sexuelle Beziehung hatten.

»Darf ich?«, fragte Adele. »Danke.«

Für einen winzigen Augenblick schien ein Lächeln über Frau Qings Gesicht zu huschen. »Hände waschen«, sagte sie mit einer knappen Bewegung ihres Kopfes zum Waschbecken. Adele wusch sich gründlich die Hände mit der flüssigen, grünen Desinfektionsseife.

Da der Streit zwischen Kim und seinem Vater offensichtlich länger dauern würde und Adele sowieso kein Wort verstand, war sie Frau Qing dankbar, dass sie ihr etwas zu tun gab. Sie zeigte Adele, wie man eine Zwiebel halbierte und dann so schnitt, dass sie am Ende in perfekte kleine Würfel zerfiel. Adeles Handbewegungen waren ziemlich unbeholfen und sie wünschte sich, dass sie eine größere Begabung dafür gehabt hätte. Ihr gefiel der Gedanke, irgendwann einmal Geld mit der Zubereitung köstlicher Speisen zu verdienen.

Allem Anschein nach hatten Kims Eltern sich jetzt dazu durchgerungen, Adele als das geringste Übel für ihren Sohn zu akzeptieren, denn er sagte ihnen immer wieder, dass er sich unter gar keinen Umständen mit irgendeinem chinesischen Mädchen verheiraten lassen würde. Sie hatten keinen Schimmer, dass eine Heirat in Kims Fall sowieso absurd war. Ganz davon abgesehen, dass er immer noch Jungfrau war, wünschte er sich nichts sehnlicher als einen Mann mit großen Händen und sinnlichem Mund, der ihn um den Verstand vögelte.

Adele hatte gerade ihren Rhythmus beim Zwiebelschneiden gefunden, als Kim ihr die Haube vom Kopf zerrte. Es fühlte sich an, als würde er ihr dabei büschelweise Haare ausreißen. »Zeit zu verschwinden«, knurrte er wütend. Seine Eltern brüllten ihm noch hinterher, als er und Adele bereits auf dem Gehweg waren.

»Nun komm schon!«, sagte er und zog an ihrem Ärmel.

An der Tankstelle stoppte er. »So eine Scheiße!«

»Was denn?«

»Dieses Arschloch will mich auf eine beschissene Kochschule schicken.« Kim kratzte sich nervös am Kopf. Es folgte ein ohrenbetäubender Schrei, den er wahrscheinlich im Theaterkurs geübt hatte. »Verdammt! Wo sind meine Zigaretten?«, fragte er und wühlte in seinem Rucksack.

»Da gibt’s ein Problem«, sagte Adele. »Du kannst gar nicht kochen!«

»Genau! Und ich weiß das auch. Und er müsste es mittlerweile eigentlich auch begriffen haben.« Kims Hände zitterten vor Aufregung, während er sich eine Zigarette anzündete. »Aber dieser Idiot würde sogar versuchen, aus Schweinsleder ein Seidentäschchen zu machen.«

Adele nickte zustimmend, wusste aber nicht, was sie dazu sagen sollte. Auf jeden Fall schien es ihr nicht der richtige Moment zu sein, Kim zu sagen, dass sie selbst sehr gerne eine Kochschule besuchen würde. »Na los«, sagte sie. »Lass uns zu mir gehen.«

Obwohl sie am anderen Ende der Stadt wohnte, stimmte Kim dem Vorschlag zu. Verglichen mit seinem Zuhause schien das von Adele eine Oase der Freiheit und des Friedens zu sein.

*

Das Haus war klein, aus hellem Sandstein gebaut und machte einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Im Garten wuchsen keine Blumen. Und wenn man das quietschende Tor öffnete, wurde man von einem freudig bellenden Collie begrüßt. Er hieß Tips und war total überfüttert, außerdem leckte er für Kims Geschmack eindeutig zu viel.

Adele bückte sich, streichelte ihm die Ohren und bot ihm ihr Gesicht zum Abschlecken an. »Na Tipsy-Tips«, säuselte sie. »Gib mir einen Kuss zur Begrüßung, Baby.«

»Ich verstehe nicht, wie du das aushältst«, sagte Kim.

»Ach wo, er ist ein lieber Hund.« Sie ließ die Schlappohren durch ihre Finger gleiten und blickte in seine traurigen Hundeaugen. Er hatte zwar die spitze Nase eines Collies, aber den treuherzigen Blick eines Labradors. »Nein, jetzt gibt’s nichts zu fressen. Platz! … Platz habe ich gesagt!«

Sie rief ein lautes Hallo durch das Haus und sie gingen die Treppe nach oben. »Bei jedem, der das Haus betritt, holt er sich etwas zu fressen. Ich füttere ihn, mein Vater füttert ihn, Chris füttert ihn und Tony auch. Vier Mahlzeiten pro Tag! Kein Wunder, dass der Hund immer fetter wird.«

Sie mochte ihr kleines Zimmer mit den vertrauten Sachen, vor allem die indische Decke über dem Bett und das riesige Poster von Kurt Cobain, auf dem seine Augen schwarz geschminkt sind. Den Hundegeruch versuchte sie mit Räucherstäbchen zu bekämpfen, was bei ihrem Vater allerdings regelmäßig Wutanfälle auslöste. Zum einen würden sie stinken, behauptete er, und außerdem seien sie gefährlich. Sein Job als Feuerwehrmann hatte ihn über die Jahre etwas übervorsichtig werden lassen. Adele und ihre Brüder mussten sich ständig anhören, dass sie immer und unter allen Umständen zu überprüfen hatten, ob der Herd ausgeschaltet war und alle Zigaretten sorgfältig ausgedrückt seien. Es hatte jedoch nichts genützt, Adele seit dem Säuglingsalter immer wieder zu erklären, dass man nicht mit Feuer spiele. Sie versteckte ihre Aschenbecher meist unvorsichtigerweise unterm Bett und hatte mit ihren Zigaretten und Räucherstäbchen schon mehr als einmal den Feuermelder ausgelöst.

Kim hatte dafür seine eigene Erklärung. Zum einen sei ihr Element das Feuer, weil sie im Sternzeichen Löwe geboren war und weil ihr chinesisches Tierkreiszeichen der Drache sei. Er selbst war Fisch, ein Wasserzeichen und im chinesischen Jahr der Schlange geboren. Kim ließ sich seinen Aberglauben von niemandem ausreden, weil er glaubte, dass so etwas zu einer Schauspielerpersönlichkeit gehöre. Er drückte kleine Kleckse Make-up aus einer Tube und verteilte sie mit dem Zeigefinger auf Adeles Wangen, Nase, Kinn und Stirn. Sie starrte verträumt an die Decke, während Kim die Schminke vorsichtig mit seiner Fingerkuppe um die Augen verteilte und auf Wangenknochen und Stirn auftrug. Sie war noch nie zuvor geschminkt worden – ein merkwürdiges Gefühl. Und besonders geübt war Adele selbst auch nicht. Ihre Brüder standen auf Make-up und kurze Röcke, aber sie waren Scheißkerle und ihre Freundinnen hirnlose Hühner, von denen sie sich so deutlich wie möglich unterscheiden wollte. Überhaupt hasste sie die Vorstellung, Schwägerinnen zu haben. Wenn sie es sich recht überlegte, konnte sie Frauen eigentlich grundsätzlich nicht besonders gut leiden, weil sie ihrer Erfahrung nach gehässige, hinterhältige und bemitleidenswerte Kreaturen waren.

Kim wedelte mit einem Augenbrauenstift herum. »Del, du musst dringend was für deine Augenbrauen tun!«

»Was ist mit meinen Augenbrauen?«, fragte sie, wobei sie versuchte, ihre Lippen nicht zu bewegen, um die trocknende Grundierung in ihrem Gesicht nicht zu zerstören. Als sie in den Spiegel blickte, verstand Adele, warum sie Pfannkuchengesicht genannt wurde. Die klebrige Masse in ihrem Gesicht sah aus wie Sirup. Noch ein Schuss Zitrone und eine Prise Zucker und schon wäre sie servierbereit.

»Sie sind zu buschig«, sagte Kim. »Hast du eine Pinzette?«

»Vergiss es, du zupfst mir nicht die Augenbrauen!«

»Ach komm schon, es würde viel besser aussehen!«

»Irrtum: wehtun würde es!«

»Il faut souffrir pour être belle«, sagte Kim. Es war eine der wenigen französischen Phrasen, die er kannte. Im Unterricht langweilte Kim das je vais, tu vas, il va, elle va. Er sah keinen Sinn in dem Französischunterricht. Schließlich war er bereits zweisprachig, und mit Vorliebe wies er seinen Lehrer darauf hin, dass Kantonesisch von sehr viel mehr Menschen gesprochen werde als Französisch.

»Ich will nicht leiden.«

»Leben bedeutet Leiden«, sagte Kim theatralisch. »Besser, du gewöhnst dich zeitig daran!«

»Ich habe sowieso keine Pinzette.«

»Ich aber.«

»So eine Überraschung …«

Kim lachte laut auf. »Bei uns beiden ist einfach alles verdreht. Ich wäre lieber ein Mädchen, du lieber ein Junge. Wenn wir die Körper tauschen könnten, sollten wir es auf der Stelle tun. Okay – gleich sind wir fertig.«

Als Adele das Ergebnis sah, hätte sie sich am liebsten sofort wieder abgeschminkt, weil sie genau wusste, dass ihr Vater und ihre Brüder sich über sie lustig machen würden.

»Und, gefällt es dir?«, fragte Kim.

»Na ja …«, sagte sie und betrachtete ihr Gesicht, das durch das Make-up so sauber und glatt aussah wie die Gesichter der Models in den Zeitschriften. Sie traute sich aber nicht, zuzugeben, dass es ihr tatsächlich auch gefiel.

Sie wartete bis zum späten Abend, bevor sie es selbst noch einmal probierte. Adele musste an die französische Tänzerin denken, die sich ihr Make-up vor ihren potentiellen Liebhabern in der Umkleidekabine aufgetragen hatte. Sie entdeckte, dass ihre geschminkten Lippen eine eindeutige Einladung zum Knutschen waren und hatte das Gefühl, endlich zu verstehen, worum es letztlich beim Schminken ging.

Aufgewühlt schaltete sie das Leselicht ein und setzte sich an den Schminktisch. Beim Anblick ihres Spiegelbildes begann sie wieder, auf ihre Lippen zu beißen. Adeles Brüste wurden von dem langen, lockigen Haar bedeckt, das Frau Qing als schön bezeichnet hatte. Wahrscheinlich hatte sie sogar recht. Als Adele ihre dunkle Mähne bürstete, fiel ihr plötzlich auf, dass ihr Mund zu einer hässlichen Grimasse verzogen war. Irritiert zwang sie sich, ihre Gesichtsmuskeln zu entspannen und die Lippen ganz leicht zu öffnen. Wenn man sie so locker und weich ließ, als würde man gleich einen angebeteten Liebhaber küssen, sahen sie nicht nur besser aus, sondern fühlten sich auch viel sinnlicher an!

Als sie die Lippen noch ein bisschen mehr schürzte, fand sie Adele sogar sexy. Sie waren weich und verführerisch. Ihre Haut schimmerte blass und makellos im schummrigen Licht der Lampe. Ermutigt legte sie ihr Haar mit beiden Händen auf ihren Rücken und betrachtete ihre Brüste im Spiegel. Ihre Brustwarzen waren heller als ihre Lippen. Unbewusst hatte sie schon wieder begonnen, auf ihre Lippen zu beißen. Sie zwang sich, damit aufzuhören. Ihr Mund war jetzt noch voller und röter als vorher. Adele hatte irgendwo gelesen, dass es für viktorianische Edelfrauen die einzig akzeptierte Methode des Lippenfärbens gewesen war. Von Frauen, die Lippenstift und Rouge benutzten, behauptete man, dass sie nicht die Größe besäßen, um sich aufopfernd die Lippen zu beißen und in die Wangen zu kneifen. Es musste eine seltsame Zeit gewesen sein, in der alles Gute zwangsläufig mit Schmerzen verbunden war.

So ein Blödsinn, dachte Adele. Das Leben war schon schwer genug, wenn man sich keine zusätzlichen Schmerzen bereitete. Sie hätte wohl damals auch zu den verruchten Weibsbildern gezählt, die ein bisschen Farbe und Puder den Schmerzen vorzogen – und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Farbe ihrer Lippen die Grenzen des Anstandes verletzte. Adele stellte sich vor, die französische Tänzerin zu sein, die sich scham- und hüllenlos in der Umkleide vor einer Horde geifernder Männer präsentiert, die ihre Blicke nicht von ihr abwenden können und ihr mit Erektionen salutieren. Es war eine faszinierende Vorstellung. Ohne darüber nachzudenken, nahm sie den roten Lippenstift und schminkte sich. Ihre Hände zitterten etwas, als sie sich vorstellte, wie es wäre, wenn sie sich auch da schminkte, wo es die Tänzerin getan hatte. Die angemalten Lippen machten ihre Augen dunkler und die Haut heller. Ihr Gesicht war bleich und faltenlos wie geglätteter Ton – es war eine durchaus erotische Blässe. Adeles Haut war wie eine Leinwand, die sie nach ihrer eigenen Fantasie bemalen konnte.

Sie stand auf und zog sich ihre dünne schwarze Baumwollhose aus. Als sie sich nackt an den Schminktisch setzte, sah sie die dunklen Schamhaare zwischen ihren Beinen. Wie von selbst gingen ihre Schenkel auseinander, und plötzlich saß sie mit weit gespreizten Beinen vor dem Tisch. Allein das Schminken war schon ungewohnt, es jedoch nackt zu tun, war noch aufregender. Wahrscheinlich war die Tänzerin auch nackt gewesen, als sie sich schminkte. Vielleicht hatte sie nichts außer feinen Strumpfbändern getragen, die ihre blassen Schenkel genauso schamlos betonten wie die Nacktheit ihre Brüste.

Sie gab sich dem Gedanken vollkommen hin. Sie trug Lippenstift auf ihre Brustwarzen auf, die sofort hart und zur perfekten Verführung für hungrige Männermünder wurden. Zufrieden stellte Adele fest, dass ihre Brüste aussahen, als wären sie nur dafür da, angestarrt zu werden.

Adele kaute wieder auf ihrer Lippe. Der fettige Geschmack des Lippenstifts erinnerte sie daran, dass sie wirklich damit aufhören musste. Das war ihr altes Ich und hatte nichts mit dieser umwerfenden Schöpfung im Spiegel zu tun. Ihre Schenkel waren gelöst und unruhig zugleich. Überrascht bemerkte Adele die angenehme Schwellung zwischen ihren Beinen. Es schien ihr das erste Mal zu sein, dass sie ihre Weiblichkeit als Geschenk und nicht als Fluch empfand. Zumindest verstand sie jetzt, warum Kim sie darum beneidete.

2. Kapitel

Psychologische Kriegsführung war das Mittel der Wahl. Man musste da erhobenen Hauptes hineingehen, weil es diesen frustrierten, einsamen Schwachköpfen in ihren billigen Anzügen nur darum ging, dass man sich so klein wie möglich fühlte. Sie genossen es sogar noch, wenn man sie hasste. Während sie in der Warteschlange stand, las Adele desinteressiert die Angebote, die man an die Wand geheftet hatte. Es waren alles lausige Jobs, in denen man nicht einmal im Ansatz genug verdiente. Jedenfalls nicht genug, um sich eine halbwegs vernünftige Wohnung leisten zu können. Selbst die besser bezahlten Anstellungen reichten höchstens für ein Mäuseloch.

Bei den Stellen als Küchenchef wurden absurde berufliche Qualifikationen vorausgesetzt, die sie nicht besaß, weil ihr Vater darauf bestanden hatte, dass sie sich mit viel nutzloseren Dingen beschäftigte. Dafür besaß sie jetzt Zeugnisse, denen zufolge sie lesen und schreiben konnte, wusste, was Xylems und Phloems waren und wie es zum Zweiten Weltkrieg gekommen war. Es war alles so unglaublich langweilig gewesen, dass sie am liebsten ständig mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen hätte. Als Köchin brauchte man doch kein Abi – zum Zubereiten von Mahlzeiten genügte ein Hygienezertifikat.

Showtime! Vor ihr in der Schlange stand ein schlaksiger Mann mittleren Alters mit Raucherfingern und spärlichem, dafür umso fettigerem Haar, das zu einem dünnen Zöpfchen gebunden war. Seine Fingerkuppen, die unablässig an die Wand trommelten, waren mahagonifarben und Adele hätte ihm am liebsten gesagt, dass er eine Menge Zigarettengeld sparen könnte, wenn er sich einfach seine Finger in den Mund steckte und daran saugte. Man sollte die Menschen hier ganz genau beobachten, um zu verhindern, dass man irgendwann genauso wird. Das war nämlich, was sie wollten – gleichgültige, hirnlose Schafe, die sich widerstandslos knechten ließen.

»Was für eine Arbeit hatten Sie sich denn vorgestellt?«, wurde man grundsätzlich gefragt. Als ob sie das überhaupt begreifen könnten, dachte Adele. Warum sollte man sich in eine Schublade stecken lassen, bloß weil einen alle Welt nach der Berufswahl klassifizierte? Koch, Bürohengst, Tomatenpflücker, Friseur. Für die meisten Menschen schien das Leben so eine Art Kinderbuch zu sein: der fröhliche Bäcker Herr Brot, die immer freundliche Postbotin Frau Marke und so weiter. Die Realität auf dem Arbeitsamt sah anders aus. Hier begegnete man höchstens Herrn Leberschaden, Alkoholiker; Herrn Gras, Kiffer; Herrn Intellekt, geschwätziger Kneipenphilosoph und Frau Du-gehst-mir-am-Arsch-vorbei, der abgehalfterten Stripperin.

Herr Finger-in-den-Mund war fertig. Er unterschrieb ein Dokument, das ihm das Arbeitslosengeld für die nächsten Wochen sicherte und machte sich auf den Weg in die Kneipe. Adele setzte sich.

Diesmal war ihr Sachbearbeiter nicht die Hobbypädagogin mit den hennaroten Haaren, sondern ein junger Mann. Steven, wie er seinem albernen Namensschild zufolge hieß, hatte ein schwammiges, kindliches Gesicht voller verkrusteter Pickelchen und den Oberlippenflaum eines Pubertierenden.

»Guten Morgen«, sagte er ohne aufzublicken und hackte auf seiner Tastatur herum.

»Hallo«, sagte sie und merkte, dass sie sich dabei herablassend und gelangweilt anhörte. Irgendetwas deprimierte sie an dem Anblick eines Neunzehnjährigen in einem schlecht sitzenden Polyesteranzug, der einen sterbenslangweiligen Job hatte. So jung und schon ein hoffnungsloser Fall. Armer Kerl.

Er klickte mit seiner Maus und starrte auf den Bildschirm.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie, um herauszufinden, wie er reagieren würde, wenn man ihn wie einen normalen Menschen und nicht wie einen Sachbearbeiter des Arbeitsamtes behandelte.

»Äh, gut … danke«, antwortete Steven verwirrt. »So … also wegen des Vorstellungsgesprächs, Frau Western …«

»Ja?«

»Wir müssen als Erstes wissen, nach welcher Art Arbeit Sie suchen.«

»Genau«, sagte sie und versuchte, euphorisch zu wirken. Sie fragte sich, was er wohl täte, wenn sie ihn einfach ankläffen und loslachen würde.

»Haben Sie denn schon an eine Umschulung gedacht?«, fragte er.

»Ja, ich hatte da an einen Job als Lebenskünstler gedacht, aber man munkelt, die Nachfrage sei heutzutage nicht besonders groß.«

Er blinzelte hektisch. Zu spät, der Sinn für Humor war ihm auch schon abhanden gekommen, wenn er jemals einen gehabt haben sollte. »Wie wär’s mit Barkeeperin?«

»Super Idee. Asoziale Arbeitszeiten und nachts auf dem Heimweg wimmelt es nur so vor potentiellen Vergewaltigern und prügelnden Weibergangs. Würden Sie so einen Job nehmen?«

»Na ja, ich arbeite ja schon hier«, antwortete Steven mit der schlecht gespielten Geduld einer genervten Kindergärtnerin und trommelte auf dem Tisch.

»Das war eine rhetorische Frage«, sagte Adele, der nun klar war, dass sie es tatsächlich mit einem Idioten zu tun hatte, der sein Schicksal eindeutig verdient hatte. Im Gegensatz zu jedem halbwegs normalen Neunzehnjährigen betrank er sich vermutlich nie, kiffte nicht und hatte keinen Sex. »Na gut, haben Sie irgendwelche Catering-Jobs?«

Jetzt, da er etwas vernahm, das er kannte, kam etwas Leben in sein Gesicht. »Ja.« Er klickte die Maus und sagte: »Es gibt eine freie Stelle bei der Bowlingbahn.«

Pommes in bescheuerte Pappbehälter schaufeln und sich für geschmacklose Kindergeburtstage als Pirat verkleiden? Auf gar keinen Fall! »Geht nicht, ich bin leider gegen das Zeug allergisch, das in die Schuhe gesprüht wird«, log sie.

»Sie wären weit weg von den Schuhen«, sagte er ungeduldig. »Okay, wie wäre es denn mit Restaurant-Assistentin?«

»Kartoffeln schälen?« Ein typischer Arbeitsamt-Trick – sie verpassten einem beschissenen Job einen klangvollen Namen und hofften, dass sich die Leute überrumpeln ließen.

»Hier steht ›allgemeine Vorbereitung‹.«

»Sag ich doch – Kartoffeln schälen!«

»Diese Information liegt mir leider nicht vor.«

»Natürlich nicht. Die geben Ihnen diese Information nicht, weil kein Arsch diesen Job annehmen würde, wenn er wüsste, was er eigentlich bedeutete.« Sie stöhnte, weil ihr klar war, dass sie gegen Windmühlen kämpfte. »Okay. Was noch?«

»Assistenzkoch in einem Familienrestaurant.«

»Halt!«, sagte Adele. »Denken Sie nach. Gebrauchen Sie Ihre Fantasie: ›Familienrestaurant‹ – was bedeutet das wohl?! Ich sag’s Ihnen: Kinder, Pommes und tonnenweise Fischstäbchen. Wäre das eine Lebensaufgabe für Sie? Fischstäbchen-Kellner für Kinder?«

»Es ist immerhin ein Job.«

Sie atmete tief ein, so tief, dass sie das Gefühl hatte, den gesamten Sauerstoff aus dem Raum zu saugen. »Mögen Sie Ihre Arbeit?«

»Ich befürchte, dass wir Ihnen die Arbeitslosenunterstützung kürzen müssen, wenn Sie sich der Arbeitssuche verweigern.«

»Na super, jetzt hat er auf Anrufbeantworter umgeschaltet.«

»Man kann ja auch nicht gerade behaupten, dass Sie sich sehr kooperativ zeigen.«

»Ich wäre kooperativ«, antwortete Adele, »und zwar so kooperativ, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann, wenn mir jemand etwas anderes anbieten würde als einen Mindestlohn-Job mit Fischstäbchen und Pommes!«

»Das ist nun mal die Gehaltsgruppe für diese Arbeiten«, entgegnete er.

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. Er begriff es einfach nicht. Hier ging es nicht um Gehälter, sondern um die Stumpfsinnigkeit der Tätigkeit. Offensichtlich war es aber sinnlos, dies jemandem erklären zu wollen, der sich selbst als kleines Zahnrad in einem großen Getriebe wohlfühlte und keinerlei Anzeichen von Kreativität oder Einfühlungsvermögen an den Tag legte. »Okay. Weiter?«

Er klickte wieder mit der Maus und sagte, ohne Adele anzusehen: »Ich bezweifle, dass Ihnen Ihre Einstellung weiterhelfen wird.«

»Ihre Ihnen aber auch nicht.« Zumindest verkniff sie sich hinzuzufügen: Es sei denn, du willst dein Leben lang ein gefrusteter Niemand bleiben, dessen Garderobe ausschließlich aus Polyesteranzügen mit Schweißflecken unter den Armen besteht. Aber das ging sie nichts an. Ihn interessierten ihre Probleme offensichtlich auch nicht, selbst wenn das eigentlich sein Job war.

Er starrte auf seinen Bildschirm. »Chefkoch. Vollzeit. Dienstwohnung vorhanden«, tönte er.

»Dankeschön«, sagte sie mit der Stimmlage, die sie für Idioten, Besoffene und kaputte Toaster reserviert hatte. »Das hört sich tatsächlich nach etwas an, wovon man tatsächlich leben könnte. Details, bitte.«

»Ich drucke sie gerade aus«, sagte Steven. Er klang, als wäre er heilfroh, Adele endlich loszuwerden.

Er reichte ihr einen Computerausdruck mit der Kontaktadresse und ließ Adele auf einem Formular unterschreiben, dass sie, wie vorgeschrieben, die vergangenen zwei Wochen nicht gearbeitet hatte. Sie las die Angaben erst, als sie auf die sonnenüberflutete Straße trat: Paul Eades, Shipworths stand da. Sie erinnerte sich daran, dass Shipworths früher ein Juwelier gewesen war – ein schönes viktorianisches Gebäude mit aufwendigen Stuckverzierungen an einer weißen Fassade. Als Kind war das edle Juweliergeschäft ein magischer Ort für sie gewesen. Ihre Schritte hallten auf dem permanent frisch gebohnerten Dielenfußboden wie in einer Kirche. Die meisten Schmuckstücke befanden sich in einem langen gläsernen Tresen, aber auch an den Wänden hingen überall funkelnde Juwelen. Es gab Diamanten, Perlen, Saphire und Smaragde. In der Mitte des Raumes aber, daran erinnerte sie sich am besten, stand der Smaragd.

In einem Glaskasten, der ihr als Kind gigantisch vorkam, befand sich ein großer Stein, der an einen Kegel erinnerte. Es war einer der schönsten Gegenstände, die sie jemals gesehen hatte – bis heute. Von der einen Seite betrachtet schien es ein ganz normaler Stein, aber wenn man um den Glaskasten herumging, sah man in seinem Inneren unzählige kleine, grünlich glitzernde Steine. Heute wusste Adele, dass der Smaragd mehrere hunderttausend Pfund wert gewesen sein musste. Jeden Abend wurden Metallgitter hinter den Fenstern des Juweliers heruntergelassen. Irgendwann waren dann aber sowohl Metallgitter als auch Smaragd verschwunden. Nach einer Sanierung hatte das Gebäude eine ganze Zeit lang leer gestanden, aber jetzt sollte dort anscheinend ein Restaurant eröffnet werden. Ein Versuch war es auf jeden Fall wert. Schlimmer als der alle paar Wochen wiederkehrende Kampf mit einem Sachbearbeiter des Arbeitsamtes konnte es auch nicht sein. Außerdem wurde der Job als Arbeitslose wirklich beschissen bezahlt.

Brasilianische Smaragde suchte man jetzt vergeblich in Shipworths, stellte Adele fest, als sie das Märchenparadies ihrer Kindheit betrat. Es roch nach Sägespänen, Mörtel und beißendem Männerschweiß. Die Handwerker arbeiteten zu ohrenbetäubender Musik aus einem kleinen Radio, das auf einen der lokalen Sender eingestellt war, die vor allem Oldies und mindestens drei Jahre alte Hits spielten. Aktuellere Musik war den Betreibern des Senders entweder zu teuer oder zu gefragt. Die Moderatoren klangen alle gleich – zuckersüß, chronisch humorlos und vollkommen unfähig, an der richtigen Stelle einfach mal die Klappe zu halten.

In dem Raum waren vier Männer: ein Typ mit Lederweste, unter der ein riesiger Bierbauch hervorquoll, ein mürrischer augenbrauengepiercter Jüngling mit Locken, und einer von der Sorte, die Adele auf den ersten Blick gefressen hatte. Er trug ein Basecap und ein abgeschnittenes T-Shirt und nahm gerade einen großen Schluck aus einer Bierflasche. Die vielen kleinen Fältchen an seinen Augenwinkeln stammten, so vermutete Adele, wohl von seiner gespielten Art des Zuhörens, die er bestimmt für besonders aufmerksam und sympathisch hielt. In Wirklichkeit wartete er nur darauf, sich selbst reden zu hören. Seine gesamte Körpersprache war ihr unsympathisch. Als er sie hemmungslos von oben bis unten beglotzte, konnte sie sich nur mit Mühe ein angewidertes Kopfschütteln verkneifen. Adele kannte solche Männer – große Kinder, die in der Kneipe die dreckigsten Witze erzählten, aber im Bett zu Babys wurden, die nicht mehr konnten, als zwischen zwei großen Titten rumzujammern.

Und dann war da noch Tom. Wenn Adele sich später an ihre erste Begegnung erinnerte, sah sie sich selbst als Comicfigur: Stielaugen, in denen statt der Pupillen rosa Herzen blinkten, eine auf dem Boden schleifende Zunge und im Hintergrund das Heulen von Sirenen. Es war Lust auf den ersten Blick. Er beugte sich gerade über eine Werkbank und hobelte ein Brett. Toms Hintern war eine göttliche Schöpfung in weiten, ausgewaschenen Jeans. Am Ende des Brettes angelangt, drehte er seinen nackten Oberkörper geschmeidig auf die andere Seite und schaute Adele tief in die Augen.

Er war atemberaubend, staubig und halbnackt. Seine Achselhaare waren schweißnass, und das Wasser perlte auf seiner glatten, weißen Haut hinunter bis zu seinen verführerischen Hüftknochen, die über dem Hosenbund hervorlugten. Als er sich aufrichtete, sah sie seine Bauchmuskeln und wie die herunterrutschende Jeans die obersten Locken seiner Schamhaare freilegte.

»Tag«, sagte er.

»Ich suche nach Paul Eades«, brachte sie mühsam hervor.

»Verstehe«, antwortete er, nickte und warf dem Gepiercten einen Blick zu, der daraufhin verschwand und kurze Zeit später mit Eades zurückkehrte.

Paul Eades trug Lederhosen und ein geschmackloses, giftgrünes Hemd. Sein mittellanges, dunkles Haar wellte sich im Nacken. In der einen Hand hielt er ein Handy, in der anderen eine Zigarette. Als er ihr die Hand schüttelte, steckte er sich die Zigarette in den Mund, als wollte er um jeden Preis vermeiden, das winzige, unzweifelhaft wertvolle Telefon aus der Hand zu legen.

»Hi, Sie müssen Adele sein«, sagte er mit leicht verkniffenen Augen wegen der qualmenden Zigarette, die in coolster Cowboy-Manier zwischen seinen Lippen steckte. »Schön, dass Sie gekommen sind.«

»Kein Problem«, antwortete sie und atmete die testosterongeschwängerte Luft tief ein. Adele versuchte, den Tischler nicht allzu offensichtlich anzustarren. Als er mit einer gemurmelten Entschuldigung an ihnen vorbeilief, berührte sein nackter Oberkörper Adeles nackten Arm. Seine Haut war heiß und feucht.

»Was zu trinken?«, fragte Paul und ging hinter die Bar, an der noch gebaut wurde. »Ich befürchte, wir haben nur Bier. Irgendwo war doch eine Kühlbox …«

Augenbraue deutete auf die Kühltasche und Tom beugte sich über die Bar, sein Oberkörper wenige Zentimeter entfernt von ihrer linken Hand. Dabei rutschte seine Hose so weit hinunter, dass ihr Blick auf den Ansatz seines Hinterns fiel, einer knackigen Version des klassischen, haarigen Bauarbeiter-Dekolletés.

»Ja, gerne«, sagte sie. Ihr Mund war trocken, was wohl nicht nur an dem Holzstaub in der Luft lag. Es lief jetzt schon nicht besonders gut und »kein Problem« war auch nicht gerade die intelligenteste Begrüßung, die ihr hatte einfallen können.

»Sehr gut«, sagte er und öffnete die Flasche. Augenbraue flüsterte Paul etwas zu, woraufhin der lächelnd »Halt die Klappe!« antwortete, womit er Adele noch nervöser machte.

»Okay, ich will ehrlich sein«, sagte Paul. »Wir liegen ein wenig hinter dem Zeitplan.«

»Ach, und ich dachte schon, das sorgenvolle Gesicht gehört zu Ihrem Stil«, sagte Adele. Sie hoffte, die Situation mit einem Witz vielleicht etwas auflockern zu können.

»Sorgenvoll?!«, erwiderte er verwundert. »Panisch trifft es wohl besser.«

Sie lächelte und nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Flasche. Das Bier schmeckte grauenhaft, aber immerhin war es gekühlt.

»Aber ich kann Ihnen trotzdem zeigen, wie weit wir mit der Küche sind«, fuhr Paul fort. »Ach ja, haben Sie Ihren Lebenslauf dabei?«

»Ja, habe ich«, sagte Adele und fühlte sich gleich wohler. Er nahm die Situation also ernst. Sie nahm das Schriftstück aus ihrer Tasche und war erleichtert, dass es nicht allzu zerknittert war. Als Paul sich über die Bar lehnte, bewegte sich auch der hinter ihm stehende Augenbraue mit, so als wären sie an der Hüfte zusammengewachsen.

»Kommen Sie doch hierher«, sagte Paul und deutete auf seine Seite der Bar. Er nahm eine Brille mit Metallgestell aus der Hemdtasche, setzte sie auf, stützte seine Ellenbogen auf die Bar und begann den Lebenslauf zu lesen. Augenbraue las mit, sein Kinn auf Pauls Schulter.

»Beeindruckend«, murmelte Paul. Die Brille ließ ihn seltsamerweise jünger aussehen. Adele konnte sich den fleißigen Schuljungen vergangener Tage bildlich vorstellen.

»Danke«, sagte sie. Jetzt, wo sie sich auf der Business-Seite der Bar befand, hatte sie einen perfekten Blick auf Toms halb entblößten Hintern. Sie wurde augenblicklich von der Vorstellung übermannt, wie sie ihm von hinten an seinem Hosenbund greifen, ihn herumwirbeln und ihren Mund auf seinen pressen würde. Eine leichte Berührung an ihrer Hüfte holte sie in die Realität zurück. Als sie hinunterblickte, sah sie Augenbraues Hand über Pauls Hintern streichen. Paul schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er las. »Großartig«, sagte er und versuchte mit einem Arm die tastende Hand an seinem Steiß zu entfernen. Es schien Adele, als würde Augenbraue mit seinen Streicheleinheiten demonstrieren, was auch er am liebsten mit den nackten Körperteilen des Tischlers anstellen würde.

Pauls Rücken, der unter dem hochgeschobenen Hemd zum Vorschein kam, sah weich und sonnengebräunt aus. Dazu kamen zwei verführerische Grübchen auf beiden Seiten des Rückgrats. Na toll, dachte Adele. Wenn sie den Kopf hob, sah sie den sexy Tischler und unmittelbar neben ihr rangen zwei Hände zärtlich um die Herrschaft über Pauls Rücken. Sie wünschte sich einen Eulenkopf, den man um 180 Grad drehen könnte. Für ein vernünftiges Vorstellungsgespräch gab es hier eindeutig zu viele männliche Hintern zu sehen.