Aderunita - Ela Bellcut - E-Book

Aderunita E-Book

Ela Bellcut

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Beschreibung

>>So was kann ich nicht träumen - außer ich bin Alice und das ist das Wunderland<< Natura befindet sich nicht im Wunderland, sondern auf einer idyllischen Insel Schottlands, wo sie mit ihrem Vater ein beschauliches Leben führt. Fernschule, die Fotografie und Bücher füllen ihren Alltag aus. Zumindest bis zu dem Tag, an dem Charlie und seine Mutter Damina auf der Insel eintreffen. Die magische Begegnung mit ihm, ein fragwürdiger Unfall, der das junge Mädchen in die Burg der Insel verschlägt, sowie das Verschwinden ihres Vaters stellen Naturas Leben völlig auf den Kopf. Aber schon bald muss sie erkennen, dass ihr Leben nie mehr wie früher sein wird. Der erste Teil der Serie Aderunita ist geprägt von Liebe, dunkler Magie, spannungsgeladenen Geschehnisse, den Kampf um Selbstverwirklichung und dem auferlegten Schicksal zu entkommen.

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Seitenzahl: 336

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DIE AUTORIN

Ela Bellcut ist gelernte Fotografin & ein laufendes kreatives Chaos. Mithilfe von To-do-Listen & Notizbüchern versucht sie, ihr Leben zwischen dem Brotjob & dem Schreiben zu händeln. Am liebsten zieht sie sich ins Grüne zurück, verbringt Zeit mit ihrer Katze oder widmet sich ihren ausgefallenen Ideen.

Ihre schriftstellerische Tätigkeit begann sie mit Gedichten, Kurzgeschichten & Texten als Filmkritikerin für eine Onlineplattform. ‚Aderunita – das Seelenband‘ ist Elas Debütroman & der 1. Band der vierteiligen Romantasy/ Urban Fantasy Reihe.

Inhaltsverzeichnis

1. ATME DIE DUNKELHEIT

CHARLIE

2. VERLOREN IM SOG

CHARLIE

3. IM EINSAMEN PARADIES

CHARLIE

4. NAH & DOCH ENTFERNT

5. RÄTSEL DER ADERUNITA

CHARLIE

6. WAS IST NOCH NORMAL?

7. GEHEIMNISSE DER BURG

8. WILLKOMMEN IM GRUSELKABINETT

9. ALLES VERÄNDERNDE WAHRHEIT

CHARLIE

10. EIN MAGISCHER MORGEN

11. NATURA & DAS MEER

CHARLIE

12. RUHE VOR DEM STURM

CHARLIE

13. WIND DER ERKENNTNIS

CHARLIE

NATURA

CHARLIE

14. FLUCHT VOR DER DUNKELHEIT

CHARLIE

15. KAMPF MIT DEM ELEMENT

CHARLIE

NATURA

16. DIE LETZTE ZUFLUCHT

CHARLIE

NATURA

17. GEFANGEN IM GEISTERWALD

CHARLIE

18. MACHT DES WASSERS

CHARLIE

NATURA

CHARLIE

NATURA

CHARLIE

19. GEHEIMNISSE DES MEERES

CHARLIE

20. PALAST AUS EIS

FÜNF JAHRE SPÄTER

1. ATME DIE DUNKELHEIT

Undurchdringliche Schwärze hüllte Natura ein, als sie durch die Schleuse in die Dunkelkammer des Hauses trat. Der übliche beißende Geruch der Chemikalien hieß sie willkommen und sofort fühlte sie sich geborgen in ihrer eigenen kleinen Welt, wo sie dem Alltag entfliehen konnte.

Sie schaltete das Rotlicht ein und das Fotolabor bekam einen blutigen Anstrich. Vor ihr befanden sich die Bäder zum Entwickeln, Fixieren und Wässern der Abzüge, die bereits auf ihren Einsatz warteten.

Nur die Musik fehlte.

Natura drehte die Musikanlage voll auf. Während Billy Talents ‚Devil in a Midnight Mass‘ lautstark den Raum erfüllte, holte sie den entwickelten Film vom frühen Morgen aus dem Trockenschrank und machte den Vergrößerer startklar.

Sie stellte den passenden Belichtungsrahmen ein, spannte das erste Negativ in die obere Halterung und nahm dann ein Blatt des lichtempfindlichen Schwarz-Weiß-Papieres aus dem lichtdichten Karton, um es auf die Unterlage des Vergrößerers zu legen. Für einige Sekunden ließ sie Licht auf das Papier fallen. Dann nahm sie das Blatt und tauchte es in das erste Becken. Wie von Geisterhand wurde das Motiv in der Flüssigkeit sichtbar.

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Egal, wie oft sie dies sah, es faszinierte sie jedes Mal aufs Neue: Ein bloßes Lichterzeugnis, das im Entwicklungsbad Realität annahm und im Fixierbad klare Konturen bekam.

Natura griff mit einer Holzzange den Abzug und tauchte ihn in das nächste Becken. Sie fühlte sich augenblicklich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie zum ersten Mal mit ihrem Vater hier unten gewesen war und dieses Erlebnis mit ihm geteilt hatte.

Es war wie Zauberei. Reine Poesie.

Ein Foto zu erzeugen, hatte etwas Anmutiges an sich. Besonders durch die Sorgfalt ihres Vaters, die er bei seiner Arbeit an den Tag gelegt, und die schöne Musik, die im Hintergrund gespielt hatte: Ludovico Einaudi, Chopin oder Tschaikowsky.

Nun schrie sich der Sänger von Billy Talent seinen Frust von der Seele.

Ein Geräusch ließ Natura aufschrecken.

Hat es geklopft?

Sie war sich nicht sicher, daher stellte sie die Musik leiser und lauschte. Es klopfte tatsächlich.

Wobei das Klopfen eher einem Hämmern glich.

Da ist wohl einer mit dem falschen Fuß aufgestanden?!

„Jaja, Moment, ich komme“, rief sie und tauchte das Bild in das letzte Becken. Sie ging zur Schleuse und schloss die Tür zu den Entwicklungsbädern, sodass sie wieder im Dunkeln stand. „Okay, kannst aufmachen.“

Das Licht, das ihr durch die sich öffnende Tür entgegenstrahlte, ließ sie die Augen zusammenkneifen.

Nach einigem Blinzeln sah sie ihren Vater Phil vor sich stehen. Er trug seine ausgelatschten Pantoffeln, eine blau-weiß gestreifte Pyjamahose und einen flauschigen grauen Bademantel. Seine dunkelbraunen Haare waren zerzaust. Er hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, die er so fest umklammert hielt, als enthielte sie das pure Lebenselixier. Doch trotz seines Kaffees sah er aus, als könnte er nur mit Mühe seine Lider offen halten.

„Wie kannst du bei solch einem Krach arbeiten?“ Seine Stimme klang genauso müde und erschöpft, wie er aussah.

„Das frage ich mich bei deinem klassischen Gedudel auch ständig“, gab Natura kopfschüttelnd zurück.

„Meine Musik weckt dich wenigstens nicht auf!“

Ah, daher weht der Wind. Sie hatte sich schon gewundert, warum ihr Vater überhaupt wach war.

„Dafür, dass du gerade aus dem Bett gefallen bist, siehst du recht frisch aus“, sagte sie sarkastisch und fügte mit einem Blick auf die Tasse hinzu: „Immerhin hast du einen Kaffee.“

Phil brummelte etwas Unverständliches als Antwort und fragte dann klarer: „Was machst du eigentlich so früh hier unten?“

„Dad, es ist kurz vor neun. Das ist nicht früh. Die meisten Menschen arbeiten um diese Zeit.“

„Ja, klar.“ Er wirkte hilflos bei der Suche nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. „Machst du wieder eine Serie mit Selbstportraits?“

„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, oder? Ist ja nicht so, als wären wir hier nicht am Arsch der Welt.“ Ihr Ton war kälter geworden.

„Na gut. Du kannst ja gern weitermachen, aber bitte mit leiser Musik. Einaudi wäre genau das Richtige.“

„Natürlich.“ Natura verdrehte die Augen.

Ihr Vater blickte sie eindringlich an und schien zu überlegen, ob er sie zurechtweisen sollte. Mit einem erschöpften Seufzen ließ er die Sache auf sich beruhen, aber ein „Früher hast du die Musik gemocht“ konnte er sich nicht verkneifen. Es klang, als sagte er es zu sich selbst.

Dennoch schnaubte sie: „Ja. Früher!“

Enttäuscht ließ ihr Vater den Kopf hängen.

Eigentlich wollte Natura nicht so gemein zu ihm sein. Es war eher ein innerer Drang, den sie nicht unterdrücken konnte. Eine gemeine Ader in ihr wollte ihn nerven, damit er verstand, dass seine Anwesenheit und sein Gerede von früheren schönen Tagen sie nervten.

Als sie gerade die Tür schließen wollte, kam ihr ein neuer Gedanke: „Kommt die Fähre nicht heute an?“

Phil schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf, brummelte ein jammerndes „Ach, Mist, verdammter!“ und eilte in Richtung Treppe.

Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Es war jede Woche das Gleiche. Jeden Montag fuhr eine Fähre den kleinen Hafen von Maraa an, lieferte Lebensmittel und bestellte Waren. Dennoch vergaß ihr Vater es jedes Mal aufs Neue.

Wie kann man nur so vergesslich sein?

Kopfschüttelnd wandte Natura ihm den Rücken zu und tauchte wieder in ihre Welt ein.

***

Fünfzehn Minuten später verließ Natura die Dunkelkammer, ging an der Versorgungsanlage des Hauses vorbei und hinauf in die Küche. Im oberen Stockwerk verklang gerade das Rauschen der Dusche und es folgten trampelnde Schritte in das Schlafzimmer ihres Vaters. Dad ist noch nicht los?!

Genervt wandte sich Natura ihrem Laptop zu, der an seinem gewohnten Platz auf dem Tisch stand, und öffnete die Website der Schule. Ihr Blick glitt zu Uhr. Noch zehn Minuten bis Unterrichtstart. Also Zeit für einen Kaffee!

Sie drehte sich zur Kaffeemaschine, nur um festzustellen, dass die Kanne bereits leer war. Mit einem lauten Seufzen, ergriff sie diese, wandte sich zur Spüle und drehte den Wasserhahn auf.

„Natura?“

Erschrocken fuhr sie zu ihrem Vater herum, der direkt hinter ihr stand. Sie hatte nicht einmal gehört, wie Phil die Küche betreten hatte.

Natura blinzelte irritiert und versuchte, sich zu erinnern, was sie gerade gemacht hatte. Sie stand vor der Spüle und das Wasser lief über den Rand der längst vollen Kaffeekanne. Hab ich geträumt? Wie viel Zeit ist vergangen?

Schnell drehte sie den Wasserhahn zu und füllte den Inhalt der Kanne um, während sie irritiert den Kopf schüttelte. Anschließend wechselte sie den Filter und das Pulver.

Phil trat näher zu ihr heran und berührte sie leicht an der Schulter. Natura begegnete seinem besorgten Blick. Doch bevor er etwas sagen konnte, fragte sie ihn: „Ist was?“

Er schüttelte den Kopf.

Natura drückte den Startknopf der Kaffeemaschine und setzte sich vor ihrem Laptop an den Tisch. Als ihr Vater keine Anstalten machte, sich zu bewegen, sah sie zu ihm auf. Seine dunklen Haare waren noch feucht von der Dusche und standen wirr von seinem Kopf ab. Sie wirkten schwarz durch die Nässe und Natura fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie außer der Fotografie etwas mit ihm gemeinsam hatte.

„Dad, die Fähre!“

Nun war er derjenige, der aus seiner Benommenheit hochschrak. Er blickte hektisch auf die Küchenuhr, als seine flache Hand erneut Bekanntschaft mit seiner Stirn machte. Die übliche Schimpftirade folgte, ehe er brummelte: „Und was mache ich mit den Tieren? Sie müssen noch gefüttert werden.“

Sie guckte ihn abschätzig an. Er hatte seinen üblichen bittenden Blick aufgesetzt, der ihn aussehen ließ wie einen Welpen. Sie überlegte, ob sie ihn weiter schmoren lassen sollte, winkte dann jedoch ab. „Ist erledigt.“

„Oh, du bist ein Schatz.“ Er überwand den Abstand zwischen ihnen und drückte ihr einen Kuss auf ihr blondes Haar.

„Jaja, alles klar“, war ihre Antwort, als sie sich unter dem Kuss wegbog.

Phil schien das egal zu sein. Er strich liebevoll über ihr Haar und sah dann auf den Bildschirm vor ihr. Sie hatte gerade eine Seite mit den neusten Buchveröffentlichungen offen. Es waren nur noch zwei Minuten bis Unterrichtsbeginn und Natura fragte sich erneut, wo die Zeit abgeblieben war.

„Fängt nicht gleich der Matheunterricht an?“

„Warum sitze ich wohl hier?!“, konterte sie.

„Du hast den Livestream nicht mal geöffnet“, sagte er in einem für ihn unüblich strengen Ton. „Wenn ich wieder einen Anruf von Mr. Lewis bekomme …“

„Hier, das Fenster ist längst offen!“, unterbrach sie ihn. „Kümmere dich lieber darum ENDLICH unsere Lieferung abzuholen!“

Mit einem resignierten Gesichtsausdruck schickte er sich an zu gehen, als Natura nochmals hinzufügte: „Ich weiß ja, Harry ist nachsichtig mit dir, aber das muss doch nicht sein. Auch wenn er dein bester Freund ist. Er ist bestimmt schon mit dem Ausladen fertig und wartet nur auf dich. Wenn du mal was auf die Reihe bekommen würdest, wäre das Leben für uns drei erträglicher.“

Phil drehte sich zu ihr zurück und die Enttäuschung lag wie ein Schatten auf seinem Gesicht.

Okay, das war gemein.

Ein Funken Reue befiel ihr Gewissen.

Phil hingegen sagte ernst: „Natura, langsam reicht es – dein Ton, ständig das gleiche Genörgel. Du weißt, für mich ist es auch nicht leicht und …“

„Glaubst du, für mich ist es leicht?“ Die Reue war bei seiner gespielten Mitleidsnummer verflogen.

Sie wollte gerade etwas Trotziges hinzufügen, da erklang aus dem Laptop: „Guten Morgen, Klasse. Bitte schreibt kurz ins Chatfenster, damit ich die Anwesenheit überprüfen kann.“ Mr. Lewis’ Stimme hörte sich genauso gelangweilt an wie eh und je.

„Wir reden später“, sagte Phil abschließend.

Natura schaute ihm nach und erwiderte nichts mehr, als er ging. Sie war wütend auf ihn. Darauf, dass sie ihr Leben auf dieser verfluchten Insel führen musste und hier wie eine Gefangene mit ihm lebte, fern von jeder Zivilisation.

Sie hörte, wie Phil in Richtung des Stalls ging, um dort ihr Pferd Aurora für den Transport fertig zu machen. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ihrem Vater zu folgen, um sich zu entschuldigen, doch da plärrte es wieder aus ihrem Laptop: „Natura, bist du nicht da oder schläfst du bereits?“

Sie schreckte auf und tätigte rasch ihre Eingabe.

„Gut, dann können wir ja anfangen. Bis zwölf Uhr erwarte ich noch einige Mails mit den Hausaufgaben. Bis dahin machen wir dort weiter, wo wir Freitag aufgehört haben. Also schlagt bitte das Buch auf Seite …“ Weiter hörte sie nicht zu.

Während Mr. Lewis seinen monotonen Matheunterricht führte, schnappte sich Natura ihr Tagebuch aus der Ledertasche, die neben ihr auf einen der Stühle stand und begann zu schreiben: »Dad lässt mir keine Ruhe. Er tut so, als würden wir hier in einem wahr gewordenen Märchen leben. Er versteht nicht, was mein Problem ist. Vielleicht kann er es nicht. Vielleicht kann nicht mal ich es verstehen. Wieso bin ich unzufrieden? Und warum muss ich meinen Frust an ihm auslassen? Weil er auf dieser lächerlichen Insel leben will, die außer einer verlassenen Burg nichts zu bieten hat?

Ich will nur von hier weg. Hätte ich nicht meine Fotografie, wäre ich total verloren! Aber zumindest hat es sich gelohnt, so früh aufzustehen. Dass die Bewegungsunschärfe geklappt hat, ist der Hammer.

Wieder denke ich an Dad. Er könnte mir sagen, ob das Bild gelungen ist. Er ist schließlich der professionelle Fotograf. Der, der um die Welt reist und seine Aufträge erledigt, während ich hier versauere. Es …«

„Natura! Wir warten auf dich!“, erklang es vorwurfsvoll aus den Lautsprechern vor ihr.

Sie zuckte erschrocken zusammen und blickte zum Bildschirm. Zum Glück konnte Mr. Lewis nicht sehen, was oder worin sie gerade schrieb. Doch sie wusste, dass er notfalls auf die Kameras der Schüler zugreifen konnte. Ihr Blick huschte eilig zum Chatfenster, um sich die Antworten der anderen Schüler anzusehen.

Es ging anscheinend um die letzte Rechenaufgabe.

Sie schrieb hastig: »Sorry, dass ich nicht so fix im Rechnen bin. Ich habe das gleiche wie Charlotte.«

Charlotte war das Mathe-Ass der Klasse – auf ihr Ergebnis war Verlass.

Natura beobachtete, wie Mr. Lewis ihre Antwort las, die Miene verzog und versuchte, professionell aufzublicken. Allerdings konnte er sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen: „Sei dankbar, dass wir nicht in einem Klassenraum sitzen.“ Dann verzog sich sein Mund zu einem siegessicheren Lächeln. „Es freut mich zu lesen, dass du bei der Aufgabe auf die richtige Lösung gekommen bist. Wir befinden uns nämlich in der höheren Mathematik und alle mit der richtigen Antwort haben sich für Extraaufgaben qualifiziert.“

„Verdammt!“, fluchte Natura und war froh, dass er sie nicht hören konnte.

Jetzt musste sie wirklich aufpassen und sich auf den Unterricht konzentrieren! Sie stand kurz vor dem Schulabschluss, aber wenn das so weiterging, würde sie gnadenlos in Mathe durchfallen.

***

Natura erwachte ruckartig und wäre beinahe mit ihrem Stuhl nach hinten gekippt. In letzter Sekunde schaffte sie es, die Tischkante zu umfassen und sich zurückzuziehen.

Wie lange habe ich geschlafen?

Sie schaute auf den Monitor vor sich, der schwarz geworden war. Mist. Das wird wieder Ärger mit Lewis geben, dachte sie resigniert, als sie sich zur Küchenuhr umdrehte. Zwölf Uhr. Ach, verdammt.

Sie drehte sich nochmals um und horchte in die Stille hinein. Fast erwartete sie, ein Geräusch zu hören, das ihr spontanes Erwachen erklärte. Ist Dad zurück?

Natura rief nach ihm. Es kam keine Antwort. Alles im Haus war ruhig. Nur der Wind pfiff melancholisch durch die Bäume, die sich um das Haus herum befanden, begleitet von dem sanften Meeresrauschen, das die Insel wie ein Dauerorchester umspielte.

Sie starrte vor sich hin, versuchte, an den verblassenden Erinnerungen ihrer Traumwelt festzuhalten. Obwohl es kein Albtraum gewesen war, zitterte sie.

Vor Aufregung?, überlegte sie irritiert, als ihr der junge Mann aus dem Traum in den Sinn kam.

Frustriert konzentrierte sie sich darauf, wie er ausgesehen hatte. Doch sein Gesicht entglitt ihr. Nur seine blauen Augen und sein Lächeln hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Der Rest verschwamm stetig vor ihrem geistigen Auge, sodass ihre Erinnerung eher dem Gesicht der Grinsekatze aus ‚Alice im Wunderland‘ glich: ein umherfliegender Mund, der zwar lächelte, aber kein Gesicht mit dem dazugehörigen Augenpaar bilden wollte. Es waren zwei für sich genommene Polaroid-Abzüge, die sich in ihrem Kopf manifestiert hatten. Allerdings wollten ihr weder der Rest seines Gesichtes noch seine Haarfarbe oder seine Statur einfallen.

Im Traum war alles so wunderbar real gewesen. Sie hatte auf einem Klippenvorsprung nahe des Waldes gestanden, von dem aus man die Burg der Insel sehen konnte. Sie spürte förmlich die frische Meeresbrise, die kühl ihre Haut gekitzelt hatte. Hörte das Kreischen der Möwen, die über ihr durch die Lüfte geglitten waren. Schmeckte das Salz des Meeres auf ihrer Zunge, das ihr durch die hochspritzende Gischt wie feiner Nebel entgegengesprüht war. Spürte seine Nähe, als er mit einem Mal hinter ihr aufgetaucht war. Und jetzt?

Jetzt war er nur noch eine verschwommene Figur, wie eine Fata Morgana, die in der Hitze der Sonne flimmerte. Doch dieses Gefühl, das seine Gegenwart in ihr ausgelöst hatte, war noch präsent. Es war eine Mischung aus Vertrautheit, als wäre sie endlich zu Hause angekommen, und einer phänomenalen Anziehungskraft.

Für diesen einen Moment waren ihre Unruhe und Unzufriedenheit der letzten Zeit wie weggeblasen gewesen. Sie hatte nicht mehr das dringende Bedürfnis gehabt, von der Insel abzuhauen. Nicht den Wunsch verspürt, sich in die Welt oder in ein Abenteuer zu stürzen und ihrem Vater den Rücken zu kehren. Sie war glücklich gewesen. Glücklich mit ihm, bei ihm zu sein und von ihm gesehen zu werden. Denn diese blauen Augen in ihrem Traum hatten sie auf eine Weise angesehen, die sie niemals für möglich gehalten hätte: voller Intensität – verständnisvoll und wissend.

Leider war es nur ein Traum gewesen.

Was tue ich eigentlich hier?, fragte sie sich, als sie auch schon aufsprang. Es war zwar ein dummer Einfall, aber: Was, wenn es nicht nur ein Traum war?

Sie schnappte sich ihre Kamera vom Kleiderhaken neben der Tür, legte sich deren Gurt über die Schulter und eilte hinaus auf die Lichtung, in deren Mitte ihr Haus lag. Natura wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, die Phil vor wenigen Stunden eingeschlagen hatte, und strebte den Weg zu den Steilklippen an.

Schon bei strahlendem Sonnenschein herrschte zwischen den Bäumen vor ihr ein schummriges Zwielicht. Da der Himmel heute jedoch wolkenverhangen war, ragte der Weg jetzt wie ein schwarzes Loch vor ihr auf.

Nichtsdestotrotz liebte sie den Wald, den ihr Vater spaßeshalber Geisterwald getauft hatte, da die Bäume wehklagende und gespenstische Laute von sich gaben, sobald der Wind durch die hohen Baumwipfel strich. Für Natura hatte er jedoch nie bedrohlich gewirkt. Auch wenn ihr Vater behauptete, er hätte etwas Magisches an sich. Doch das einzig Magische war ihres Erachtens, dass er mit seinem dichten Mischwald in Sachen Vegetation ein Wunder auf den Äußeren Hebriden darstellte.

Nun ging Natura den geschlängelten Weg entlang und genoss die Frische des Meeres, die sich mit dem holzigen Geruch des Waldes verband. Eine einmalige Kombination untermalt von der traurig-schönen Symphonie der Bäume, deren Klang mit dem der Wellen verschmolz, die sich am Ende des Weges rauschend an den harten Felsen brachen und mit jedem ihrer Schritte lauter wurden.

Nach wenigen Minuten lichtete sich der Wald vor Natura und sie ließ die Bäume hinter sich. Sie trat an den Abgrund der Klippen und betrachtete ihre Umgebung. Zu beiden Seiten zog sich ein sattes Grün am Waldrand bis zum Küstenausläufer rechts von ihr entlang, aber niemand war zu sehen. Die aufkommende Enttäuschung konnte sie nicht unterdrücken.

Aber was hast du erwartet, Natura?

Sie wusste, dass es eine dumme Idee gewesen war, zu denken, der junge Mann aus ihrem Traum würde wie aus dem Nichts auftauchen. Aber dieser Drang, der sie hierher geführt hatte, hatte sie hoffen lassen.

Gegenwärtig spürte sie allerdings nur die kühle Luft, die vom Meer herangetragen wurde. Es schien allmählich Herbst zu werden, obwohl das Wetter bis heute noch den Sommer versprochen hatte. Doch hier so ungeschützt an den Klippen schien der Wind sie wegen ihres dünnen Sommerkleidchens, das sie noch wegen ihrer Fotoidee trug, verspotten zu wollen. Die Nässe des Grases an ihren nackten Füßen machte es nicht besser.

Als sie schon überlegte, wieder umzukehren, kam die Sonne hinter den Wolken hervor und tauchte ihre Umgebung in goldenes Licht.

Ach, was soll’s. Immerhin hast du deine Kamera dabei!

Sie beschloss, das Beste aus der dummen Situation zu machen. Natura stellte die Blende möglichst hoch ein, um eine gute Tiefenschärfe zu erzielen, und spannte den Hahn, ehe sie den Abzug betätigte.

Sie fotografierte die Burg, die tieffliegenden Vögel, das Meer und die Klippen. Dann legte sie die Kamera etwas entfernt auf einen erhöhten Felsen, stellte den Selbstauslöser ein und begab sich an den Rand des steilen Abhanges.

Dort lauschte sie auf das leise Klicken hinter sich, aber durch die Brandung konnte sie es nicht hören. Daher blieb sie einige Sekunden länger stehen und genoss die Eindrücke, die sie umgaben: die Sonne, die Luft, der Salzgeruch, das tosende Wasser am Fuß der Klippen.

Sie atmete tief ein und aus. Wie so oft hatte sie das Gefühl, die Wellen würden sich ihrer Atmung anpassen und mit ihrem Rhythmus in Einklang kommen.

In Momenten wie diesem liebte sie Maraa. Die Insel war auf ihre Art bezaubernd. Wieso ist das Leben so grenzenlos und gleichzeitig so voller Grenzen?

Denn trotz des schönen Anblickes, machte sich bereits nach wenigen Sekunden die unstillbare Ruhelosigkeit in ihr breit, die sie in den letzten Tagen so oft ergriffen hatte. Es war wie ein Prickeln, das ihren Körper erfasste. Als würden tausende Ameisen über ihre Haut krabbeln, um sie in den Wahnsinn zu treiben.

Zudem stieg das Gefühl beobachtet zu werden in ihr auf. Aber der Hafen und somit auch ihr Vater befanden sich in der entgegengesetzten Richtung.

CHARLIE

Zuerst hielt er die junge Frau für einen Geist. Sie stand mit dem Rücken zu ihm gewandt und schaute hinaus aufs Meer. Der Wind umspielte ihre langen blonden Haare. Das weiße Kleid umschmeichelte ihren Körper und tanzte bei jeder Böe.

Wie sie dort mitten in der Landschaft stand, hatte ihr Anblick etwas Surreales. Aber die Anziehungskraft, die ihn hierher geführt hatte, war durchaus real.

Schon, als er vorhin auf der Insel angekommen war, hatte er sie gespürt. Zuerst hatte er es zu ignorieren versucht, doch sie war wie eine verbotene Frucht, gegen deren Versuchung er sich nicht wehren konnte. Seine Neugierde hatte gesiegt und dieses – was auch immer es war.

Charlie trat langsam an die Frau heran, ohne dass sie sich umdrehte. Er sah die Gänsehaut, die ihren Körper überzog. Sie nahm ihn genauso wahr wie er sie, da war er sich sicher. Doch sie war wie benommen und bemerkte nicht einmal, dass er bereits direkt hinter ihr stand.

Ihm schossen die kuriosesten Gedanken durch den Kopf. Er sehnte sich nach mehr Nähe und hatte zeitgleich schreckliche Angst davor.

Charlie wusste, was mit ihr passieren könnte, wenn er sie in sein Leben ließe. Der Beschützerinstinkt, der sie vor möglichen Gefahren bewahren wollte, erwachte in ihm. Aber ihr Duft war sinnesbetäubend, gedankenraubend und wie eine Welle, die all seine guten Vorsätze fortspülte.

Es war, als hätte er eine Idee und würde sie sogleich vergessen. Wodurch Charlie sich nicht entscheiden konnte, wie er handeln sollte. Er kam sich vor wie eine Marionette und diese Frau vor ihm hielt die Fäden in der Hand.

Er nahm deutlich ihre Unruhe wahr. Ihre Gefühle übertrugen sich auf ihn. Sein Körper begann vor lauter Anspannung zu beben.

Nur zwei Schritte trennten sie von der Tiefe.

Unvermittelt kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Will sie etwa springen?

Panik durchfuhr ihn.

Er hatte sie gerade erst gefunden und durfte sie nicht gleich wieder verlieren. Einem Reflex folgend griff er nach ihrem Arm, riss sie an sich und vom Abgrund fort.

2. VERLOREN IM SOG

Natura schrie auf, als sie schwungvoll herumgedreht und von der Klippe weggerissen wurde. Doch der Laut, der über ihre Lippen drang, wurde jäh unterbrochen, als sie von zwei Armen fest umschlungen wurde.

Sie blickte in blaue Augen, die von braunen Locken umrahmt wurden. Schlagartig befand sie sich in einem schwindelerregenden Déjà-vu-Erlebnis und wurde zurück in ihren Traum katapultiert.

Sie hatte insgeheim gehofft, ihn hier zu treffen, dennoch übertraf die Realität das Erträumte.

Alle Empfindungen stürmten gleichzeitig auf sie ein: Verwirrung, Schock, dass ihr Traum nicht bloß nur ein Traum war, und seine Nähe.

Natura fühlte, wie seine rechte Hand sanft gegen ihren Rücken drückte, wohingegen die andere fest ihren Arm umfasste. Sie spürte die Wärme seines Körpers durch ihr dünnes Kleid hindurch und nahm deutlich die Muskeln seines Oberkörpers wahr, der sich gegen ihre Brust presste. Er war real.

Ihr Gegenüber war gut einen Kopf größer als Natura, wodurch sie zu ihm aufsehen musste. Als sie nun jeden Zug seines Gesichtes studierte, erkannte sie erst, wie verblüfft er wirkte. Die Begegnung hatte ihm anscheinend die Sprache geraubt. Er war erstarrt wie eine Statue, nur warm und mit pochendem Herzen.

Er lockerte seinen Griff nicht, hielt sie nur fest, als wäre sie ein seltener Vogel, den er schützen musste.

Als ihr Verstand nach einer gefühlten Ewigkeit versuchte, die vorliegende Situation zu erfassen, kam sie sich albern vor. Ihr Herz raste wie das eines Kaninchens, das im Angesicht einer Schlange vor Angst erstarrt war.

Hinter der Verblüffung ihres Gegenübers erkannte sie eine Anspannung, die sie nicht zuordnen konnte, und ihr drängte sich der Gedanke auf, ob sie Angst vor ihm haben sollte.

Nur dass sie keine Angst empfand. Obwohl sie an einen wildfremden Mann gepresst stand, fühlte sie sich geborgen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Natura nicht an Visionen geglaubt. Trotzdem konnte sie nur an ihren Traum denken. Sie fühlte sich bei ihm wohl und hätte ewig dort mit ihm stehen können, wäre da nicht die Stimme der Skepsis in ihr gewesen.

„Ähm, was wird das? Kidnapping?“ Sie wusste selbst nicht, woher ihr Sarkasmus kam.

Er erwachte aus seiner Erstarrung und antwortete dann zögerlich: „Ich dachte, du wolltest springen.“

Seine Stimme war tiefer, als sie es aufgrund seines Alters erwartet hätte. Er sah aus, als wäre er nicht einmal zwanzig, klang jedoch, als hätten Jahre des Whiskys und der Zigaretten ihn heiser werden lassen.

Sie wartete einen Moment, damit er noch etwas sagen oder erklären konnte, aber er guckte sie nur weiterhin an, als müsste er seine Gedanken sortieren, und hielt sie stumm in seinen Armen.

Dieses Ausharren kostete Natura ihre gesamte Geduld, aber sie wollte ihn nicht gleich überfahren, wie sie es sonst bei ihrem Vater tat.

Die Lippen vor ihr verzogen sich mit einem Mal zu einem Lächeln und in seinem Blick erschien eine Wärme, die Naturas Herz in einen unregelmäßigen Takt stolpern ließ. Sie schaute auf seinen Mund und wollte ihn am liebsten küssen.

Das ist doch absurd!

Natura verzog irritiert das Gesicht und schüttelte kurz ihren Kopf, um ihre merkwürdigen Gedanken loszuwerden.

„Würdest du mich loslassen?“, fragte sie, bevor sie noch etwas Dummes tat.

Er zuckte zurück. Das Lächeln verschwand wieder. Dafür huschte ein verwirrter, nahezu gequälter Ausdruck über sein Gesicht.

Spürt er das etwa auch?

Er machte ein paar zaghafte Schritte rückwärts und ließ Natura zu ihrem eigenen Bedauern vorsichtig los. Ihr Körper wollte rebellieren und ihn erneut an sich ziehen. Doch sie riss sich zusammen und versuchte mühsam, Herrin über ihre Gefühle zu werden.

Sie wollte sich nicht anmerken lassen, welch ein Gefühlstornado durch ihren Körper fegte. So etwas hatte sie bis dato nie erlebt. Es verunsicherte sie nicht nur, sie kam sich in seiner Gegenwart völlig überfordert vor.

Betreten guckte sie zu Boden.

Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich, straffte die Schultern und blickte wieder zu ihm auf.

Er wirkte plötzlich verschlossen, seine Miene eine undurchdringliche Maske, ohne sichtbare Regung.

Als wären die letzten Minuten nicht schon verwirrend genug für sie gewesen, machte sein jetziger Gesichtsausdruck es nun noch schlimmer.

„Wenn du keinen Selbstmord planst, was tust du dann hier?“

Ihr war nicht klar, ob es ein Witz oder seine Art war, ein Gespräch anzufangen.

„Ich … ähm …“ Wow. Wenn du so weitermachst, überschlägst du dich noch vor Intelligenz.

Sie räusperte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich mache Fotos. Kann ja keiner ahnen, dass es strahlende Ritter auf dieser Insel gibt.“

Spott ist immer eine gute Lösung.

„Strahlende Ritter?“

War das ein Lächeln oder hab ich mir das eingebildet?

„Fotos – ohne Kamera?“, hakte er skeptisch nach.

Tja, wohl doch nur Einbildung.

„Wie du siehst“, sagte sie knapp und wies dabei auf den Fels hinter sich. Beweisstück: Kamera.

„Ah“, war das Einzige, was er dazu sagte.

Minutenlanges Schweigen folgte.

Natura fragte sich, ob ihr Traum gerade zu einem Albtraum wurde bei der beklemmenden Stille, die sich entwickelte. Nichtsdestotrotz war sie neugierig: „Und was machst du hier?“

Sie hoffte, dass er aus dem gleichen Grund hier war wie sie. Immerhin schien er geradewegs aus ihren Träume gefallen zu sein, auch wenn er nur wie ein starres Abbild derer aussah.

Vielleicht träumst du ja noch und sitzt in der Küche?!

Diese Theorie schien ihr viel wahrscheinlicher, als dass dies hier der Realität entsprach. Trotzdem wollte ein Teil von ihr lieber nicht aufwachen.

Natura sah ihn abwartend an.

Er sah nicht so aus, als ob er reden wollte. Sie erwartete fast, dass er gleich wortlos ging. Doch zu ihrer Überraschung fing er an zu erklären: „Wir sind vorhin mit der Fähre angekommen. Meine Mutter hatte die grandiose Idee, in die Burg dort hinten zu ziehen. Vielleicht war es auch eine naheliegende Lösung, da wir sie von meinem Vater geerbt hatten.“ Er zuckte mit den Schultern, als wüsste er auch nicht, was er hier zu suchen hatte.

„Geerbt?“, hakte Natura besorgt nach.

„Ach, keine Sorge. Er ist lange tot.“ Er verzog das Gesicht, als ihm klar wurde, was er da gesagt hatte. Seine Maske bröckelte. Er lächelte kurz entschuldigend und sprach dann weiter: „Ich kannte meinen Vater nicht. Er ist kurz nach meiner Geburt gestorben. Diese Burg hier ist das Einzige, was mich mit ihm verbindet. Ist also nicht tragisch. Also, ich meine, mir ist dieser Mann fremd. Ich hatte nie eine Vaterfigur. Ich weiß auch nicht viel über ihn, von daher – er bedeutet mir nichts.“ Er hielt inne und schien erneut über das Gesagte nachzudenken. Genervt verzog er abermals das Gesicht.

Natura vermutete, dass ihm die richtigen Worte für seine Gefühlswelt fehlten. Außerdem schien er hin- und hergerissen zu sein, ob er dieses Gespräch mit ihr führen oder gehen sollte. In seinem Kopf schien ein Kampf zu toben. Sie fühlte es. Er versuchte, sich zwar nichts anmerken zu lassen. Aber sie hätte darauf gewettet, dass die Begegnung ihn keineswegs so kaltließ, wie er tat.

„Also ich will nicht unbarmherzig klingen. Vaters Tod war tragisch und meine Mutter litt – beziehungsweise leidet noch darunter –, doch …“

Unter Naturas forschendem Blick schien er mit jedem Wort nervöser zu werden.

„Ist okay. Ich weiß, was du meinst“, sagte sie mitfühlend, um seinem Gestammel ein Ende zu setzen. Sie hob ihre Hand in Richtung seines Oberarmes, um ihn tröstend zu berühren, bis ihr klar wurde, was sie da tat. Schnell ließ sie ihre Hand wieder sinken. Noch eine Berührung hätte sie nur von Neuem aus dem Konzept gebracht. Außerdem schien er nicht der Typ zu sein, den man trösten musste.

Obwohl – irgendetwas an ihm gab ihr das Gefühl, dass das vielleicht nicht stimmte. Während sich seine Kiefermuskeln anspannten, trat etwas in seinen Blick. Etwas Unbestimmtes. Suchendes. Hoffnungsvolles.

Er beobachtete währenddessen ihre sinkende Hand und trat von einem Bein auf das andere.

Um das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken, sagte Natura, was ihr gerade einfiel: „Die Burg steht seit vielen Jahren leer. Ein- bis zweimal im Jahr wartet Harry sie und kontrolliert die Wasserleitungen. Hast du dich schon umsehen können?“

„Ähm, ja, sieht okay aus. Ich denke nur, es wird gewöhnungsbedürftig, so fernab von allem zu leben.“

„Ich glaube, daran kann man sich nie gewöhnen“, kommentierte sie knapp.

Auch nach all den Jahren konnte sie nicht verstehen, warum ihre Eltern hier sesshaft geworden waren. Eine verlassene Insel à la Robinson Crusoe war der wahre Albtraum jedes Jugendlichen.

Ihr Gegenüber schaute sie amüsiert an.

„Und jetzt siehst du dir deine neue Umgebung an?“, fragte sie, bemüht, ein normales Gespräch mit ihm zu Stande zu bringen.

„So ungefähr. Meine Mutter richtet gerade die Burg ein. Sie hatte eben eine ihrer … ähm … künstlerischen Phasen, als ich ging. Da störe ich sie nur. Deswegen bin ich spazieren gegangen und die Klippen hatten was Anziehendes an sich …“ Er zwinkerte Natura zu und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss.

Irritiert murmelte sie: „Und was hast du jetzt vor?“

„Hm, ich glaube, ich werde dann weiter.“

Natura wäre beinahe ein schrilles „Was?“ entfahren, doch da hatte er sich bereits von ihr abgewandt und war hinter der nächsten Baumreihe verschwunden.

CHARLIE

Er spürte ihren Blick auf sich, ebenso die Verwirrung, die diesen begleitete. Shit. Soll ich umdrehen?

Die Sehnsucht nach ihr übermannte ihn bereits.

Vor ein paar Minuten war noch alles wunderbar gewesen und sie hatte in seinen Armen gelegen. Dann war ihm bewusst geworden, was sich da zwischen ihnen entwickelte. Dadurch war es höchste Zeit gewesen, sich von ihr zu distanzieren. Auch wenn ihre letzte Frage die perfekte Einladung gewesen wäre, um mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Stattdessen benahm er sich wie ein Trottel und ging von ihr weg, obwohl er sich so sehr nach ihr sehnte.

Eigentlich hatte er sich in ihrer Gegenwart die ganze Zeit wie ein Trottel benommen. Erst diese vermeintliche Rettungsaktion, dann hatte er sie nicht loslassen können und nur Unsinn gebrabbelt. Fast hätte er sich sogar wegen seiner Mutter verplappert!

Als er auf dieser Insel angekommen war und diese fremde Magie gespürt hatte, hatte er es geahnt. Jetzt wusste er mit Sicherheit, was das zwischen ihnen war. Diese Verbindung, die er wahrnahm, ließ nur einen Schluss zu: Sie ist meine Aderuni!

Allein wie sie ihn angesehen hatte, als könnte sie direkt in seine Seele blicken und wüsste, was er dachte.

Er hatte es jahrzehntelang nicht für möglich gehalten und hier – auf dieser Insel im Nirgendwo – hatte er sie endlich gefunden!

Trotzdem musste er sich von ihr fernhalten!

Es war besser für sie beide. Denn die Verbindung der Aderunita würde mit jeder Sekunde des Zusammenseins stärker werden.

Aktuell konnte er aber auch nicht in die Burg zurückkehren. Nicht mit diesem Gefühlsansturm, der in ihm tobte. Seine Mutter würde ihn sofort durchschauen. Wenn sie nicht längst die fremde Magie entdeckt hatte!

Er malte sich aus, wie sie reagieren würde und die Angst vor ihrem Wutausbruch ließ ihn innehalten. Seine Mutter wäre gegen diese Verbindung, da war er sich sicher. Nicht umsonst waren sie hierher gezogen.

Doch wie weit würde sie gehen?

Charlies Blick streifte durch den Wald. Er war noch nicht weit gekommen. Das Meeresrauschen hatte kaum abgenommen.

Unschlüssig drehte er sich um.

Das Band schrie nach ihm, zerrte seinen Körper zurück in die Richtung der jungen Frau.

Wie soll ich dem widerstehen?

3. IM EINSAMEN PARADIES

Frustriert stapfte Natura zwischen den Baumstämmen entlang. Sie war – ja, stinksauer! Vor Fassungslosigkeit hätte sie am liebsten geschrien und ihn lautstark verflucht. Was bildet sich der Typ ein? Erst taucht er hier auf, presst mich an sich und lässt mich dann stehen! Wie kann er so mir nichts, dir nichts verschwinden?

Aber was hast du erwartet? Es war nur ein verdammter Traum. Total lächerlich, Natura.

Im Nu hatte sie den Wald wieder hinter sich gelassen und blieb atemlos auf der Lichtung stehen.

„Hey, warte!“

Verwundert drehte Natura sich um und sah den Typen aus der Dunkelheit treten.

Ihr schossen diverse Fragen durch den Kopf. Aber keine von ihnen schien wichtig zu sein. Nur dass er hier war, zählte. Sie spürte es. Als wäre etwas zwischen ihnen, gegen das auch er sich nicht wehren konnte. Etwas, das ihn zu ihr zog.

Die Worte purzelten aus ihrem Mund, bevor sie darüber nachdenken konnte: „Was willst du?“ Es klang schärfer als beabsichtigt.

„Sorry, dass ich gerade gegangen bin. Mich hat die Situation komplett überfordert. Erst sah ich dich, so nah an den Klippen stehen, dann warst du in meinen Armen und keine Ahnung …“ Sein Blick glitt suchend über die Lichtung, ehe er erleichtert aufatmete.

Sie beobachtete ihn dabei und fragte sich, was sie jetzt machen sollte. Ihr Ärger war bei seinen Worten direkt verraucht.

„Wie heißt du eigentlich?“ Röte schoss in Naturas Wangen, als sie den viel zu neugierigen Klang ihrer Stimme bemerkte.

Belustigt lächelte er sie an. „Charlie. Und du?“

„Natura.“

„Hm, ungewöhnlicher Name. Wieso haben dich deine Eltern so genannt?“

Sie stutzte. Die Frage kam unerwartet. Bis jetzt hatte sie nur banale Floskeln wie „Was für ein schöner Name“ gehört.

Sein offenes Interesse und seine plötzliche zutrauliche Art wirkten so entwaffnend auf sie, dass sie, ohne darüber nachzudenken, antwortete: „Vielleicht weil sie so verliebt in die Natur waren.“

Sie wusste selbst nicht, ob sie diese Erklärung ernst meinte, daher fügte sie an: „Ich frage meinen Dad bei Gelegenheit mal.“

Charlie schmunzelte und wirkte dabei wie ein völlig normaler junger Mann. Natura fragte sich, ob sie sich sein zwiespältiges Verhalten an der Klippe nur eingebildet hatte.

Wobei ihr einfiel: „Seid ihr ihm bei der Fähre begegnet? Mein Dad war auf dem Weg zum Hafen.“

„Ähm, wir sind kurz vor sechs hier angekommen und da war außer uns niemand. Kapitän Harry war so nett, uns überhaupt erst die Burg zu zeigen, da meine Mutter noch nie hier gewesen ist. Aber auch während unseres Weges haben wir niemanden gesehen.“

„Hm, okay …“

„Wollte er denn zum Festland übersetzen?“

„Nein, nur unsere Lieferung abholen. Meist braucht er dafür nicht lange. Er hätte schon zurück sein müssen“, erklärte sie und fuhr dann fort: „Na ja, aber wahrscheinlich hat er sich mit Harry verquatscht oder sie angeln irgendwo.“

Es wäre so typisch für ihn!

„Und hier lebst du?“, fragte Charlie und ließ seinen erstaunten Blick über die Lichtung und zum Landhaus gleiten.

„Ja, wieso?“ Sie folgte seinem Blick.

Er lachte kurz und schüttelte den Kopf. „Weil es aussieht, als würden hier die sieben Zwerge mit Schneewittchen leben.“

„Na, schönen Dank auch!“, murmelte sie und versuchte gleichzeitig, das Haus unvoreingenommen zu betrachten.

Vor ihnen erstreckte sich die scheinbar vollkommene Idylle ihres Lebens. Wenn man ihr Zuhause so sah, konnte man tatsächlich denken, dass es einem Märchenbuch entsprungen war. Efeu rankte sich an den Mauern entlang und unzählige Bäume umrahmten es. Rechts hinter dem Hügel erstreckte sich ein kleiner See, der zu beiden Seiten von Weiden umkränzt wurde. Er wirkte wie eine Oase, in deren Wasser die Bäume ihre übermüdeten Zweige badeten.

Natura hatte diese Idylle allerdings zu oft gesehen und war ihr längst überdrüssig.

„Es sieht aus wie ein kleines Paradies“, fügte Charlie hinzu.

Es entlockte Natura ein verächtliches Schnauben. „Auch ein Paradies kann ohne andere Menschen leer und trostlos sein.“

Entweder lag es an ihrem Gesichtsausdruck oder ihrer Tonlage – prompt zog er fragend eine Augenbraue in die Höhe.

„Was ist mit deiner Mutter?“ Er schien die Frage aus reinem Interesse zu stellen, ohne Hintergedanken. Doch Natura wandte den Blick ab, unfähig, sofort zu antworten. Sie spürte Charlies Blick auf sich, während sie zögerte.

„Oh, ich wollte nicht …“, sagte er eilig.

Sie schüttelte den Kopf und unterbrach ihn: „Nein, schon okay. Meine Mum starb bei meiner Geburt. Das ist alles. Es ist wahrscheinlich ähnlich wie bei deinem Vater. Ich habe sie nie richtig kennengelernt.“

„Ach so.“

Natura konnte förmlich sehen, wie sich die Fragen in seinem Kopf bildeten. Daher fügte sie an: „Es sollte eigentlich nichts dabei sein, über den Tod zu reden. Dennoch sprechen Dad und ich nie darüber.“ Sie pausierte kurz und dachte an all die Bilder ihres Vaters. „Thalia war wunderschön. Dad hat sie oft fotografiert und wenn ich die Bilder sehe, kommt es mir vor, als wäre ich nur eine schlechte Kopie.“

Ups. Was rede ich denn da?

„Das … das habe ich noch nie jemandem erzählt“, fügte sie irritiert hinzu. „Nicht einmal Harry und der gehört praktisch zur Familie.“

Sie war von sich selbst überrascht, aber der Drang, Charlie alles zu erzählen, war genauso groß wie die Anziehungskraft zu ihm. Darum redete sie weiter, obwohl sie sich lieber stoppen wollte: „Mein Dad zieht sich von mir zurück. Früher war es nicht so schlimm. Aber seit ein, zwei Jahren bemerke ich es öfters – mein Anblick und meine Gegenwart tun ihm weh. Ich glaube, ich erinnere ihn an das, was er verloren hat. Er kümmert sich zwar auf seine schusselige Art um mich und ich weiß, dass er mich liebt …“

Charlies Augen weiteten sich verblüfft, als könnte er nicht fassen, dass sie dies mit einer solchen Sicherheit sagte. Doch sein Blick konnte sie auch nicht aufhalten.