Aderunita II - Ela Bellcut - E-Book

Aderunita II E-Book

Ela Bellcut

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Beschreibung

»Die Fridays-for-Future-Streiks, Statistiken zum Artensterben und die Abholzung der Regenwälder kamen Sian in den Sinn und er fragte sich: Wäre ein gemeinschaftliches Leben zwischen Menschen und Elfen wirklich unmöglich?« Seit dem Ausbruch seiner Magie steht Sians Welt Kopf. Schule und sein gewohnter Alltag sind nicht mehr möglich. Stattdessen verschlägt es ihn in das Elfenhaus Hamburgs, wo er lernen muss, seine Kräfte zu kontrollieren. Doch das Zusammensein insbesondere mit der Elfe Jo birgt neue Herausforderungen, sodass er schon bald in einen größeren Konflikt hineingezogen wird. Denn die Lichtelfen Erdélys sind es leid, ihr Leben im Verborgenen zu fristen, während ihre Heimat zerstört wird. Im zweiten Teil der vierbändigen Serie "Aderunita" steht nicht nur das Seelenband im Mittelpunkt, sondern auch der Konflikt zwischen Menschen und Elfen. Muss die magische Welt sich offenbaren? Oder sind drastischere Schritte notwendig, um die Natur zu schützen?

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Seitenzahl: 356

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DIE AUTORIN

Ela Bellcut ist gelernte Fotografin & ein laufendes kreatives Chaos. Mithilfe von To-do-Listen & Notizbüchern versucht sie, ihr Leben zwischen dem Brotjob & dem Schreiben zu händeln. Am liebsten zieht sie sich ins Grüne zurück, verbringt Zeit mit ihrer Katze oder widmet sich ihren ausgefallenen Ideen.

Ihre schriftstellerische Tätigkeit begann sie mit Gedichten, Kurzgeschichten & Texten als Filmkritikerin für eine Onlineplattform. Im Juni 2019 ist beim Twentysix Verlag der 1. Teil ‚Aderunita – das Seelenband’ erschienen & zum Top-Titel & Bestseller gekürt worden. Dies ist der 2. Band der vierteiligen Romantasy/ Urban Fantasy Reihe.

FÜR MEINE INA

DURCH DICH KONNTEN MEINE LIBELLEN WIRKLICHKEIT WERDEN.

Inhaltsverzeichnis

1. DER AUSBRUCH

2. DIE BEGEGNUNG

ZWEI MONATE SPÄTER

3. DER ERSTE SCHULTAG

JO

4. DIE LICHTELFE

JO

5. DIE VERGANGENHEIT

6. DIE MENSA

JO

7. DER ANRUF

JO

8. DAS ELFENHAUS

9. DER GOLDTOPF

10. DIE VERBINDUNG

JO

SIAN

11. HARRYS GENESUNG

12. DIE GEISTREISE

13. JOS PLÄNE

14. DER NEUE

LOGI

INA

15. DER AUSGLEICH

SIAN

16. DIE BEGEGNUNG

SIAN

17. DAS ELFENTREFFEN

INA

18. DAS SCHICKSAL

SIAN

JO

SIAN

19. IN ERDÉLY

LOGI

JO

SIAN

20. DIE ERFÜLLUNG

EINE STUNDE ZUVOR

FÜNF TAGE SPÄTER

NACHWORT & DANKSAGUNG

1. DER AUSBRUCH

(Triggerwarnung aufgrund von körperlicher Gewalt ggf. ab S.3 weiterlesen)

Ein Schrei erklang von nebenan.

Markerschütternd. Panisch.

Er kam aus Lilians Haus.

Sian zögerte keine Sekunde und rannte los. In Windeseile lief er durch den Garten seiner besten Freundin und brach durch die Hintertür in die Küche. Dort kam er schlitternd zum Stehen und traute seinen Augen nicht: Tobias, Lilians Vater, stand mit einer zerbrochenen Bierflasche in der Hand vor seiner am Boden liegenden Tochter. Scherben lagen um sie herum.

Sie umfasste ihre Knie, versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Ihr dunkles, langes Haar verbarg ihr Gesicht. Das zu große Shirt, mit dem Sian Lilian in der Schule gesehen hatte, war zerrissen und bedeckte ihren Körper nur spärlich. Darunter waren unzählige blaue Flecke sichtbar.

Seine beste Freundin hatte sich seit Monaten von ihm zurückgezogen. Jetzt verstand er, warum.

Tobias stand mit dem Rücken zur Tür und hatte den Neuankömmling nicht bemerkt. Als er einen Schritt in die Richtung seiner Tochter machte, packte Sian ihn an seinem Hemdkragen und brachte ihn damit zum Straucheln. Sein Alkoholpegel tat das Übrige. Tobias taumelte rückwärts, ruderte wild mit den Armen, bis er mit seinem Hintern auf dem Fliesenboden landete.

Verblüfft starrte er Sian mit blutunterlaufenen Augen an, begriff anscheinend nicht, was passiert war.

Als er sein Gegenüber endlich erkannte, verzog sich Tobias’ Gesicht vor Wut. „Wasch willsch du, Bengel? Verschwinne!“, lallte er so stark, dass Sian ihn kaum verstand.

„Vergiss es! Erst hole ich Lilian hier raus!“

Tobias begann sich aufzurappeln. „Du wirscht gar nischt! Sie bleibd hier!“

Während sich der Mann hochhievte, stürzte Sian zu seiner besten Freundin hinüber und strich ihr über den Kopf. Er fühlte etwas Nasses. Erschrocken zog er seine Hand zurück. Blut färbte seine Finger.

Lilian keuchte, regte sich leicht.

„Hörscht du nisch? Verschwinne!“

Sian drehte sich zu dem Mann um und eine ungeahnte Kraft brach sich in ihm Bahn. Die Luft, die ihn umgab, verfestigte sich, strömte Tobias’ Gesicht entgegen, wie die Verlängerung von Sians Arm. Unsichtbare Finger, die von ihm gelenkt wurden, legten sich um den Hals seines Gegenübers.

Dieser riss panisch die Augen auf, sodass Sian jede einzelne pulsierende Ader in ihnen erkennen konnte. Dann klappte Tobias’ Mund auf, schien ein überraschtes „Oh“ zu formen, doch statt eines Wortes drang nur ein leises Röcheln über seine Lippen.

„Hör auf. Bitte, Si…“ Lilians Stimme riss ihn aus seinen Beobachtungen.

Plötzlich erkannte Sian, was er tat, und ließ abrupt von ihrem Vater ab, der ohnmächtig zu Boden sackte. Geschockt wandte er sich zu seiner Freundin, die ebenfalls das Bewusstsein verlor.

***

Es regnete. Die Tropfen prasselten schonungslos auf Sian nieder. Er war wie erstarrt und schaute auf die gläserne Fassade der Asklepios-Klinik ihm gegenüber, die sich mahnend in den Himmel streckte. Die merkwürdige Kraft, die ihn vor einer Stunde übermannt hatte, pulsierte weiterhin in ihm. Versuchte, sich einen Weg nach außen zu bahnen. Doch der Schock über seine vermeintliche Tat hielt diese im Zaum.

Was in aller Welt geschieht mit mir?

Hätte Lilian ihn nicht gebeten, aufzuhören, wäre ihr Vater vielleicht nicht nur bewusstlos zusammengebrochen. Was habe ich bloß getan?

Nachdem der Krankenwagen die beiden Ohnmächtigen abgeholt hatte, war Sian mit seinem Adoptivvater Harry zur Klinik nach Altona gefahren.

Dort angekommen, war ein fremdes Mädchen aufgetaucht, das Sian zum Warten verdonnert hatte. Harry hatte ihn ebenfalls gebeten, im Auto zu bleiben, bevor er mit der Unbekannten durch die Glastür des Krankenhauses verschwunden war.

Statt zu rebellieren, hatte Sian sich gefügt, um die letzte Stunde zu begreifen und zur Ruhe zu kommen. Doch das Innere des Autos hatte ihn eingezwängt, als wollten die Wände ihn erdrücken. Im Regen zu stehen war besser. Das Geräusch der fallenden Tropfen hatte eine entspannende Monotonie. Zwar war seine Kleidung schon völlig durchnässt, aber je mehr Zeit verrann, umso eher hatte Sian das Gefühl, sich unter Kontrolle zu bekommen und sich mit seinen Gedanken befassen zu können.

Erst jetzt erkannte er, dass er Tobias nicht berührt, sondern ihn mit der Kraft seiner Gedanken und der umgebenen Luft verletzt hatte. Doch wie kann das sein?

Harrys Hand legte sich plötzlich auf seine Schulter und Sian sah überrascht auf. Er hatte ihn nicht einmal gehört. Ebenso wenig das Mädchen, welches sich vor die beiden stellte und ihn mit aufgeweckten braunen Augen ansah. Schwarzes Haar lugte unter der Kapuze ihres Hoodie-Kleides hervor und Sian musterte ihre gebräunte Haut, die sich mit jeder Sekunde der Farbe des Haares anzugleichen schien. Trotz des dunkler werdenden Hauttons leuchtete ihr Körper, als würde er von innen heraus strahlen. Zudem bildete sich eine Form auf ihrer Stirn, die wie ein weißer Stern aussah.

Während Sian sie sprachlos bestaunte und nun vollständig an seinem Verstand zweifelte, fragte sie: „Du wirst Lilian nicht wiedersehen, das ist dir klar, oder?“

„Was? Wieso? Nein! Ich will zu ihr!“, stammelte er um Fassung bemüht.

„Du kannst nicht zu ihr. Du wärst eine Gefahr für sie und die Menschen im Krankenhaus.“

„Wie bitte?“ Sian wollte sich trotz ihrer Worte an ihr vorbeischieben, um zum Eingang der Klinik zu eilen, doch der Druck an seiner Schulter verstärkte sich.

Er sah Harry an, der ihm eindringlich in die Augen blickte. „Du musst dich beruhigen, Junge.“

„Aber wieso? Ich versteh’s nicht.“ Sian wandte sich wieder dem Mädchen zu, in der Hoffnung, sie hätte eine Antwort für ihn. Doch vor ihm befand sich jetzt eine auf den Hinterbeinen stehende Katze mit schwarzem Fell und einem weißen Stern auf der Stirn, die ihm wie das Mädchen bis zum Bauch reichte. Das Maul war zur Seite gezogen, als würde das Tier lächeln. Eine Reihe kleiner, spitzer Zähne war zu sehen.

Sian taumelte vor ihr zurück, hätte am liebsten die Flucht ergriffen, aber Harrys Hand hielt ihn eisern an Ort und Stelle. So wie seine erneute Mahnung: „Ruhig, Junge. Hör sie an, sie wird dir alles erklären!“

„Ich bin Aurora“, sagte die Katze in dem Moment. „Du erinnerst dich bestimmt nicht an mich, doch ich kenne dich, seit du ein Kleinkind warst.“

Sian schüttelte den Kopf. Einerseits weil er sich tatsächlich nicht daran erinnern konnte, solch einem Wesen je begegnet zu sein, andererseits weil er das alles nicht fassen konnte. Passiert das wirklich? Oder hat Tobias mir einen Schlag verpasst? Träume ich?

„Nein, du träumst nicht. Mit dir ist weitgehend alles in Ordnung. Nur deine Magie ist unerwartet früh ausgebrochen. Aber kurzum: Ich bin eine Elfe, so wie du ein Elf bist. Meine Magie liegt vor allem im Gestaltwandeln, aber ich kann auch das Licht beherrschen, so wie du die Luft beherrschst. Lilian geht’s gut. Sie ist außer Gefahr und ihre Erinnerungen sind verändert, sodass sie nicht weiß, was du getan hast. Morgen wird sie von ihrer Tante aus London abgeholt, bei der sie in Zukunft leben wird. Den Rest wird dir Harry erklären müssen. Ihr solltet nach Hause fahren und reden. Bis zum Ende der Schulferien habt ihr Zeit, mir Rückmeldung zu geben, wie es nun weitergehen soll.“

„Wo willst du denn hin?“, fragte Harry irritiert.

Als gäbe es nach dieser Ansprache nicht wichtigere Fragen, dachte Sian entgeistert. Zum Beispiel: Was passiert hier? Was ist vorhin vorgefallen? Wieso kann sie so über unser Leben bestimmen? Und: What the fuck – Elfen? Gestaltwandeln?

„Zwei aus meinem Volk sind vor ein paar Stunden zu uns gestoßen und haben besorgniserregende Informationen mitgebracht. Wenn sich die Lage in unserer Heimat entwickelt, wie sie befürchten, werden wir Unterstützung von anderen Elfen benötigen. Daher muss ich umgehend einige Kontakte auffrischen. Aber wenn ihr Hilfe braucht, Harry, weißt du ja, wo du sie findest. Bis dahin.“ Ihre Tatze bewegte sich schwungvoll durch die Luft, bevor sich Aurora abwandte und auf allen vieren niederließ, um davon zu sprinten.

Sian sah ihr nach und kam sich vor, als wäre er in einem verrückten Tim-Burton-Film gelandet.

„Komm, Junge, wir haben einen langen Abend vor uns“, sagte Harry und zog ihn mit sich zum Auto.

Die Fahrt nach Hause verlief schweigend. Es war paradox. Sian hätte seinem Adoptivvater am liebsten mit Fragen gelöchert, doch er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Nichts von alledem ergab einen Sinn!

Kaum waren sie zu Hause angekommen, ging Harry in sein Arbeitszimmer und überreichte Sian nach wenigen Sekunden ein kleines, in Leder gebundenes Buch mit einer verschnörkelten Muschel, die mit dem Einband verwachsen schien. Dazu einen Umschlag.

„Ich möchte, dass du beides liest, bevor ich dir alles Weitere erkläre. Es ist ein Brief deiner Eltern und das Tagebuch deiner Mutter. Du wirst den Verschluss des Buches mit deiner Magie öffnen können und dann den heutigen Tag hoffentlich besser verstehen.“

***

Sian schloss Naturas Tagebuch und sammelte die herausgefallenen Bilder zusammen. Es hatte zwei Tage gedauert, bis er den Verschluss mithilfe eines Luftstromes hatte öffnen können. Weitere drei, bis er das Buch zweimal gelesen hatte. Und nun? Ich bin Luftelf. Unglaublich. Aber wieso hat Harry es nie erzählt? Wieso habe ich nicht früher was davon erfahren? Wieso erst nach dieser Tat?

Wenn er vorher Naturas Geschichte und ihr darin niedergeschriebenes Wissen über die Elfen gelesen hätte, wäre es vielleicht nie passiert. Vermutlich würde sein Leben dann noch ein Funken Normalität aufweisen! Doch es war zu spät. Sein heutiger Schultag war der beste Beweis dafür.

Wie sie mich angeguckt haben und das Getuschel …

Irgendwie hatten seine Mitschüler von Lilian und ihrem Vater erfahren. Sian als ihr bester Freund war dadurch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geraten. Zum Glück beginnen bald die Ferien. Dann brauche ich diese sensationsgeilen Aasgeier nicht mehr ertragen!

Auch wenn sie in Hamburg wohnten, kam es ihm oft vor, als lebten sie in einem Dorf. Jeder in Othmarschen schien alles über jeden zu wissen. Na ja, fast … Dass ich ein Elf bin, weiß zum Glück niemand und so soll, so muss es unbedingt bleiben!

Sian schaute wieder auf das Tagebuch hinunter. Es beschrieb das Kennenlernen zweier Elfen: Natura und Charlie. Meine Eltern – sie leben! Sie waren nicht bei einer Fotoexpedition umgekommen, wie er bisher geglaubt hatte. Stattdessen hatten sie ihn in die Obhut von Harry gegeben.

Er verstand ihr Handeln nicht, wollte es auch nicht verstehen. So oft hatte er sich gewünscht, seine Eltern würden noch leben. Sie hätten seine Einschulung miterlebt, seinen ersten Tai-Chi-Wettkampf, seinen Erfolg bei einem Fotowettbewerb. Wiederholt hatte er sich gefragt, ob seine Mutter stolz auf ihn wäre, weil er in ihre fotografischen Fußstapfen trat und Kommunikationsdesign studieren wollte. Doch gegenwärtig verwandelte sich seine sonstige Sehnsucht in unbändige Wut.

Schlagartig verdichtete sich die Luft um ihn herum, vollzog unkontrolliert kreisende Bewegungen. Wirbel entstanden, die die losen Zettel auf seinem Schreibtisch und Naturas Bilder von seinem Schoß umherfliegen ließen. Actionfiguren, die von seiner Comicphase herrührten, fielen vom Regal. Sein Schreibtischstuhl kippte um. Die Bücher von der Arbeitsplatte erhoben sich, folgten den Luftströmen und drehten sich wie Propeller. Die Bilder über seinem Bett lösten sich von den Haken, bewegten sich mit den anderen Dingen in der Luft zu einem wilden Tanz. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde Opfer seiner Magie und flog durch sein Zimmer.

Mist, Mist, Mist. Hör auf!

Sian zog seine Füße auf das Bett, auf dem er saß, schlang seine Arme um seine Knie, versuchte, sich zu beruhigen. Doch die fliegenden Gegenstände klatschten gegen die Wände, hinterließen vereinzelt Dellen. Putz blätterte herunter. Ein feiner Staubnebel verteilte sich durch den Wind im ganzen Raum.

Es klopfte an der Zimmertür.

„Alles in Ordnung, Junge?“, ertönte Harrys bärige Stimme von der anderen Seite. Die Herzlichkeit und Sorge, die aus den wenigen Worten sprach, berührte etwas in Sian, das ihn besänftigte. Eine innere Wärme durchzog ihn und seine Angst verflog. Sofort erlosch die Magie und mit einem Schlag krachten alle Gegenstände zu Boden. Das Glas der Bilderrahmen splitterte, die Buchseiten verknickten und seine Batmanfigur verlor einen Arm.

„Sian, alles okay?“ Gleichzeitig wurde die Türklinke heruntergedrückt und Harry stand mit besorgtem Gesichtsausdruck im Türrahmen, schaute auf das Chaos, das sich vor ihm ausbreitete. Seine buschigen Brauen waren fragend zueinander gezogen, darunter wanderte sein Blick zu Sian, der zögerlich seine Füße wieder auf den Boden stellte.

Er sah seinem Adoptivvater in die Augen, in denen sich seine Hilflosigkeit abzeichnete, und schaute rasch wieder auf das Tagebuch in seinen Händen.

„Und? Konntest du es endlich öffnen?“ Die Sorge wich dabei nicht aus Harrys Stimme.

„Ich hab’s auch gelesen.“ Sian schaute wieder auf.

Sein Gegenüber schien auf mehr Informationen zu warten, aber diesen Gefallen tat er ihm nicht, daher hakte sein Adoptivvater nach: „Und was sagst du zu dem Gelesenen?“

„Das ist alles scheiße!“ Genervt pfefferte Sian das Buch gegen seinen Kleiderschrank, wo es polternd zu Boden fiel – zu all seinen anderen Habseligkeiten.

Harry verzog missbilligend den Mund, sodass sein buschiger Vollbart wackelte. Er stakste zum Tagebuch hinüber und hob es ehrfürchtig wieder auf. Das Buch und die Muschel waren unversehrt.

„Dies und deine Kamera sind die einzigen Dinge, die dir deine Mutter hinterlassen hat. Ist es zu viel verlangt, besser damit umzugehen? Du solltest …“

„Nichts sollte ich!“, unterbrach ihn Sian. „Ich bin ihr überhaupt nichts schuldig. Keinem von beiden. Sie haben mich einfach bei dir abgeliefert und interessieren sich kein Stück für mich. Die Kamera und dieses scheiß Buch können sie sich sonst wohin schieben!“

Der Wind frischte erneut auf und schlug die Tür zu.

Harry erschrak und seufzte dann resigniert. Er stapfte vorsichtig durch die Trümmer von Sians Besitz, um sich erschöpft neben ihn auf die Bettkante niederzulassen. „Junge, ich kann verstehen, dass du wütend bist und ihr Handeln nicht nachvollziehen kannst.“

„Pah.“ Die wegwischende Handbewegung, die dem Wort folgte, ließ Harry überrascht aufschauen.

Der Wind der Bewegung muss sich wie eine Ohrfeige angefühlt haben, mutmaßte Sian.

Hastig kniff er den Mund zusammen, drängte die Entschuldigung zurück, die sich über seine Lippen schleichen wollte. Stattdessen presste er hervor: „Ich hab’s begriffen, keine Sorge. Aber genau den gleichen Mist hat Natura selbst erlebt. Sie hat sehr detailreich beschrieben, wie angepisst sie war und dass sie von der Insel wegwollte. Auch im Nachhinein fand sie es ätzend, nicht vorher die Wahrheit erfahren zu haben. Also was denkst du, wie es mir geht? Mit ihrem Sohn das Gleiche abzuziehen, war echt eine riesen Idee.“

„Du kannst es trotz des Briefes nicht verstehen?“

Sian entfuhr ein genervtes Schnauben.

Harry ließ sich nicht beirren. Er legte tröstend eine Hand auf Sians Schulter, wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Es war nur eine kleine Geste, dennoch vermittelte es Sian ein Gefühl von Zuhause und Zuversicht. „Komm, lass uns in die Küche gehen. Dann reden wir weiter, ja? Ich brauche einen Drink und das Chaos hier lässt meinen inneren Monk aufschreien.“

Mit diesen Worten stand sein Adoptivvater vom Bett auf und stakste zurück zur Tür.

Sian folgte ihm lustlos, aber seine Neugierde siegte.

Als er in die Küche trat, hatte Harry sich bereits an den sperrigen Holztisch gesetzt. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee, die verdächtig nach Whisky roch.

Sian goss sich auch einen Kaffee ein. Ohne Whisky.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll … setze dich erst mal.“ Sein Adoptivvater wies mit seiner freien Hand auf den Stuhl neben sich.

Sian hielt die Spannung kaum aus, dennoch folgte er der Anweisung und nahm Platz.

Harry nippte an seinem Kaffee, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und starrte Löcher auf das Holz vor sich. Sein Gesicht wirkte gequält, irgendwie um Jahre gealtert. Dann legte er abermals seine Hand auf Sians Schulter. Ihre Blicke begegneten sich.

„Deine Eltern lieben dich.“ Die vier Worte sprach er so schnell aus, als wäre es wie bei einem Pflaster: Je schneller man es hinter sich brachte, umso weniger tat es weh.

Der Satz schwebte wie ein Echo in der Luft, drang dabei jedoch nicht in Sians Kopf.

„Sie wollten nur, dass du ein normales Leben führst. Außerhalb des Meeres und des Palastes. Mit einer Zukunft. Du solltest den beiden eine Chance geben!“

„Vergiss es! Sie haben mich verlassen – ohne Nachricht, dass sie noch leben!“ Sians Stimme klang trotzig. Es war ihm egal. „Ein normales Leben, sagst du? Wieso hätte ich das nicht bei ihnen haben können? Okay, vielleicht bin ich ein Luftelf, aber das konnten die damals gar nicht wissen. Stattdessen lassen sie mich die gleiche Scheiße durchleben, die beide selbst durchgemacht haben.“

„Mag sein, dass Natura nicht immer glücklich auf der Insel war. Dennoch schätzte sie es im Nachhinein, dass sie ein normales Leben führen konnte und was Phil ihr bis zu ihrer Verwandlung ermöglicht hatte. Außerdem wusste sie, was für ein Elf du wirst, dass es für dich keine Möglichkeit geben wird, auf Dauer im Meer glücklich zu werden.“

„Ach Blödsinn“, stempelte Sian die Erklärung ab. Die Pfannen in der Küche begannen im Takt gegeneinander zu schlagen, als seine Magie auch hier ausbrach. „Woher sollten sie das denn gewusst haben?“

„Durch eine Vision. Natura hatte oft welche, was du sicher im Tagebuch lesen konntest. So auch eine, die deine Zukunft betrifft. Sie wusste, wie dein Leben verlaufen muss.“

„Wie mein Leben verlaufen muss? Ist ja wunderbar, dass ihr denkt, ihr könntet über mich und mein Leben bestimmen. Schau doch mal, wie wunderbar normal mein Leben ist. Hat Natura das vorausgesehen? Wegen mir liegt ein Kerl im Krankenhaus. Lilian kann ich nicht sehen, da sie längst in London ist. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, wer ich bin, wenn ich ihr nachreisen würde, nachdem die Katze ihren Kopf manipuliert hat. Meine Mitschüler unterstellen mir, dass ich das von Tobias gewusst und nichts getan habe. Sie nennen mich Feigling. Und sobald ich wütend werde, lasse ich Zeug umherfliegen. Also ja, alles spitze!“

„Das tut mir leid, Sian. Vermutlich war es ein Fehler dich zur Schule gehen zu lassen. Wir könnten dich erst mal krankmelden, bis du deine Magie unter Kontrolle gebracht hast, und nach den Ferien über einen Schulwechsel nachdenken.“

„Willst du mir alles kaputt machen?“, stieß Sian fassungslos aus.

Eine der Pfannen flog klappernd zu Boden und ein Topf mit Basilikum kippte vom Fensterbrett, verteilte Erde über die weißen Fliesen.

„Junge, du musst lernen deine Wut und Kräfte zu kontrollieren. Du weißt, wozu du fähig bist.“

Viel zu gut sogar!

„Wieso in aller Welt hast du es mir nie erzählt?“, warf er Harry vor. „Du wusstest, was passieren kann. Dennoch kam nichts von dir. Nichts von wegen: Hör mal, du bist anders, du musst aufpassen und lernen, dich zu kontrollieren.“

„Ach nein, habe ich nicht?“, erwiderte sein Adoptivvater nur.

Sian schaute ihn verdutzt an, begriff nicht, auf was er hinauswollte.

„Was war mit dem jahrelangen Tai-Chi-Training, in dem du lernen solltest, deine Wut und Emotionen zu kontrollieren, deine Grenzen auszutesten, Selbstkontrolle zu lernen? Das war nichts, oder was?“

Harry hatte ihn immer wieder ermahnt, sein Training ernst zu nehmen, da es wichtig für sein Leben wäre, das stimmte. Aber nichts dergleichen hatte ihm geholfen. Seine Tai-Chi-Übungen waren ein Witz im Vergleich zu seiner Magie, die sich wie ein Sturm in ihm Bahn brach, ihn in Angst versetzte.

„Und wieso ist das mit Tobias passiert, wenn ich so viel gelernt habe?“ Sian konnte den Sarkasmus nicht unterdrücken.

„Es war ein Unfall. Du wusstest nicht, was du tust“, wandte Harry kleinlaut ein. Die letzten Tage hatte er diesen Satz so oft wiederholt, dass er scheinbar zu seinem Mantra geworden war.

Sian vermutete, dass er langsam selbst an diesen Worten zweifelte.

„Ein Unfall, Harry? Es hätte nicht passieren dürfen! Wahrscheinlich nicht mal passieren müssen, wenn du mir davon erzählt hättest. Vielleicht wäre die Magie nie so ausgebrochen und hätte mich nie zu so etwas Schrecklichem verleitet!“

„Es konnte ja keiner ahnen, dass sich deine Magie auf diese Weise bemerkbar macht.“

Mit offenem Mund starrte Sian ihn an. „Es konnte keiner ahnen? Willst du mich verarschen? Hast du nichts über Dunkelelfen gelernt?“

„Du bist doch kein Dunkelelf!“ Nun war Harry an der Reihe, sein Gegenüber verblüfft anzustarren.

„Ach nein? Sie sind böse, verletzen andere – wie ich! Auch dazu hat Natura einiges geschrieben.“

Sein Adoptivvater schüttelte stumpf den Kopf und griff nach Sians Hand. „Hör mir mal gut zu, Junge! Du bist NICHT böse. Du wusstest nichts von deiner Magie und glaube mir, es schmerzt mich, dass du es so erfahren musstest. Hätte ich das geahnt, hätte ich die Versprechen an deine Eltern in den Wind geschossen und die Gesetze des Elfenvolkes missachtet. Aber du solltest normal aufwachsen und …“

„Normal? Wann war mein Leben jemals normal? Glaubst du, es ist normal, mit Lügen aufzuwachsen? Mit einem Adoptivvater, der einem nichts von seiner Vergangenheit oder wahren Identität erzählt? Einer Familie, die über mein Leben bestimmt, ohne mich zu fragen? Hältst du das alles für normal? Hast du es nie für nötig gehalten, mit der Wahrheit rauszurücken?“

„Ich durfte nicht“, sagte er matt und starrte auf die Hand, die sich seiner entzog.

„Du konntest so einiges nicht erzählen, oder?“ Sians schneidender Tonfall ließ Harry aufschauen.

„Wieso? Was meinst du?“

„Du hattest Frau und Kind! Hieltest du es nie für nötig, mir wenigstens davon zu erzählen?“

Sein Adoptivvater seufzte. Seine Schultern hingen herab und für einen Moment sah dieser starke Mann aus wie ein Häufchen Elend. „Das ist lange her. Es war ein anderes Leben, in einer anderen Zeit.“

„In einer Zeit, in der du noch normal gealtert bist?“

„Ich altere noch normal. Thalia hat mich vor Jahren verjüngt, das stimmt, aber sonst …“

„Sonst was, hm? Wie alt bist du eigentlich?“

„Was spielt das für eine Rolle, Sian? Du bist wütend, ich kann das verstehen, aber …“

„Nichts aber! Ihr habt mich belogen! Nur wegen euch ist Tobias … und Lilian ...“ Ihm versagte die Stimme. Sian presste die Lippen aufeinander, kniff die Augen zusammen und kämpfte mit den Tränen.

Harry wartete einen Augenblick, ehe er vorsichtig begann: „Junge, die Sache mit Lilian lief furchtbar. Doch sie hat gesehen, was du getan hast – WIE du es getan hast. Aurora musste ihre Erinnerung verändern, um die Existenz der Elfen zu wahren. Dass sie nun bei ihrer Tante in London lebt, ist nur zu ihrem Besten. Sie konnte nicht bei ihrem Vater bleiben.“

Sian hörte die Worte. Sie ergaben für ihn auch Sinn. Nichtsdestotrotz wollte er sie nicht akzeptieren, genauso wenig wie die Entwicklung der letzten Tage.

Als er nichts erwiderte, sprach Harry weiter: „Ich wollte dich nicht belügen. Dir Dinge vorzuenthalten, erschien mir jedoch als das Klügste. Wie hättest du mit dem Wissen unbeschwert leben können?“

Sian hatte keine Antwort.

„Nun bist du so weit. Du kannst deine Eltern kennenlernen, wenn du willst. Natura sagte damals, in dem Tagebuch wäre ein Zauber eingespeist, mit dem man die Wasserelfen finden und ihre Isolationszauber überwinden kann.“

„Ich will sie nicht kennenlernen. Die Elfen und die ganze Magie können mir gestohlen bleiben!“

„Du kannst nicht einfach dichtmachen, Junge. Die Dinge werden dadurch nicht ungeschehen, deine Magie wird nicht verschwinden. Wir müssen was unternehmen!“

„WIR müssen gar nichts. Es ist mein Problem und ich werde allein damit fertig!“ Sian schob ruckartig seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Junge, warte! Du brauchst Hilfe!“

„Lass mich in Ruhe! Meine Entscheidung steht fest. Ich brauche keine Hilfe!“, schrie er.

Prompt flogen alle Pfannen lautstark zu Boden und Harry keuchte erschrocken auf. Sian schaute auf das angerichtete Unglück, wandte sich jedoch frustriert ab. Wieso bekomme ich das nicht in den Griff?

2. DIE BEGEGNUNG

ZWEI MONATE SPÄTER

Was tue ich hier?, war Sians erster Gedanke, als er in der Nacht am Rande eines Waldes auftauchte. Ratlos starrte er auf die hell erleuchteten Fenster des imposanten weißen Gebäudes vor ihm, hinter denen reges Treiben herrschte, und hoffte, eine Erklärung für diese Situation zu finden.

Seine Umgebung kam ihm bekannt vor. Allerdings fiel ihm beim besten Willen nicht ein, woher. Vage erkannte er ein Holzgebäude zu seiner Linken, welches einer Scheune glich. Dahinter waren kleine knorrige Bäume. Rechts befand sich eine steinerne Terrasse mit Tischen und Stühlen, die verlassen waren.

Sians Aufmerksamkeit wurde wieder zum Haus gezogen, als aus der Hintertür eine Frau trat. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, der bei jedem Schritt von einer Seite zur anderen wippte und wie eine Sternschnuppe einen leuchtenden Schweif hinter sich herzog. Gebannt verfolgte Sian, wie sie die wenigen Stufen zum Rasen hinunterstieg und dann die Scheune ansteuerte. Sie bemerkte ihn nicht, obwohl er nicht zu übersehen war. Oh nein, nicht schon wieder …

Jetzt wusste Sian, was er hier tat. Er war zum Lesen ins Bett gegangen und musste eingeschlafen sein. Dies war eine Vision, wie sie ihn in den letzten Wochen mehrfach heimgesucht hatte. Eine Vision einer Elfe, ähnlich wie sie Natura gehabt hatte, wenn man ihrem Tagebuch Glauben schenkte. Nur dass seine immer in der Gegenwart spielten.

Während ihm diese Erkenntnis kam, sah er, wie die Elfe ins hölzerne Gebäude ging.

Dann erklang von drinnen eine Frauenstimme, die so melodisch war, dass ein Kribbeln durch Sians Körper zog: „Wohlan, ihr Lieben, es ist mir eine Freude, dass ihr euch alle wieder hier eingefunden habt.“

Vielstimmige Tiergeräusche wurden laut.

Sian konnte seine Neugierde nicht mehr zügeln und wollte herausfinden, was es mit dieser Begegnung auf sich hatte. Er spürte die Magie der Fremden stärker, als es sonst der Fall war. Meist war es nur ein leichtes Kribbeln, das ihm sagte, dass der- oder diejenige Energie besaß. Jetzt jedoch war es wie ein Sog, dem er folgen musste.

Also huschte er über die Wiese und schlüpfte wie ein Geist durch die Tür.

Dort blieb er an der hölzernen Wand der Scheune stehen. Es war fast vollständig dunkel im Inneren. Nur die Elfe verbreitete ein fluoreszierendes Leuchten. Nicht nur ihr Haar, sondern auch ihre Haut überzog das ansonsten in Dunkelheit gehüllte Gebäude mit einem matten Schein.

Die strahlende Gestalt bewegte sich an der Stallseite entlang und schaltete am hinteren Ende das Licht ein. Erschrocken kniff Sian die Augen zusammen, als die grellen Deckenneonröhren den Raum beleuchteten.

Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte und zu der Frau sah, hatte er das Gefühl, er würde den Halt unter seinen Füßen verlieren. Wie aus einem Affekt heraus, setzte Sian seine Luftmagie ein und schwebte kurz über der Erde, um nicht zu fallen.

Fasziniert scannte er jedes Detail von der Elfe, das er entdeckten konnte. Die blassgrauen Iriden, ihr Haar, das wie ein Stern am Firmament leuchtete, ihre Haut, die silbern schimmerte. Ihre Ohren, die spitz zuliefen, was ihn an Fantasy-Darstellungen von Elben erinnerte. Dazu schmiegte sich ein dunkelgraues Kleid an ihren Körper, das flüssigem Silber glich.

Sie war die Erste, die ihm so exotisch erschien. Bislang hatte jeder Elf wie ein Mensch ausgesehen. Allein die magische Präsenz hatte jeden einzelnen verraten. Trotzdem wusste Sian nicht, was es mit diesen Visionen auf sich hatte. Normalerweise war er stets wie ein Geist: Er kam, beobachtete und verschwand.

Anfangs war er erleichtert darüber gewesen, dass es andere gab. Aber in der vierten oder fünften Nacht hatte Sian bemerkt, dass die Begegnungen ihn eher vor neue Fragen stellten, als irgendwelche zu beantworten. Er wusste weder, wer sie waren, noch wo sie lebten, oder wie er Kontakt mit ihnen aufnehmen konnte. Sie konnten überall sein!

„Habt ihr Hunger, meine Lieben?“, fragte die Elfe vor ihm und riss Sian aus seinen Überlegungen.

Erst jetzt bemerkte er, dass der ganze Raum voller Tiere war, die sich der Frau näherten, wodurch sie alsbald von einer Meute hungriger Katzen und Hunde umzingelt wurde. Sie schien ganz in ihrem Element zu sein.

Dann fingen die Tiere an zu mauzen oder zu bellen, als würden sie der Elfe antworten. Tatsächlich schienen sie das zu tun. Ein Chor diverser Stimmen brauste durch Sians Kopf. Es waren freudige Rufe wie: „Ja!“, „Endlich!“, „Super!“ Und weitere Worte, die in dem dissonanten Chaos untergingen.

Sie spricht mit Tieren?

Bei ihm hatte das Gedankenlesen vor einem Monat begonnen. Seitdem hatte er immer wieder etwas von Menschen aufgeschnappt. Aber Tiere?

Kann es noch verrückter werden?

Sian konzentrierte sich wieder auf die Elfe. Vielleicht kann ich ja so mehr über sie in Erfahrung bringen, als ihrer Wahrnehmung nur wie ein Echo zu lauschen.

Doch da war nichts. Ihr Kopf wirkte umwölkt, wodurch er zwar oberflächlich Worte wahrnahm, aber nichts Weiteres. Irritiert beendete er den Versuch und richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Umgebung.

Der Stall beherbergte nicht nur Katzen und Hunde, sondern auch Pferde, Kaninchen und Hühner. Überall gab es Boxen und Pferche, in denen Tiere ihren Platz fanden. An der hintersten Wand waren zwei von drei Pferdeboxen mit Ponys belegt. Davor befanden sich links und rechts hüfthohe Holzzäune, die kleine Abteile umschlossen, über deren Ränder Hundeköpfe lugten. Einige von ihnen trugen Schutzkragen um den Kopf oder Verbände, wodurch Sian vermutete, dass es sich bei dem Areal um eine Krankenstation für die Vierbeiner handelte.

Links über den Pferchen waren in Kopfhöhe eine Reihe von kleineren Boxen aneinandergereiht und erstreckten sich über die ganze Wand. Sie waren etwas größer als Katzentransportboxen und jeweils ausgeschmückt mit einer Decke und einem Napf.

Auf jeder Seite der Wand führte eine Rampe zu dieser Etage. Rechts gab es eine ähnliche Konstruktion, doch waren hier die Hasen untergebracht, die ebenfalls frei umherliefen.

Es schien ein eingespieltes Ritual zu sein, dass die Tiere sich in ihren jeweiligen Arealen zum Füttern einfanden. Denn Sian sah bereits fünf Katzen, die in den Boxen einen Platz eingenommen hatten. Nur die Hühner waren am Rand des Gebäudes munter im strohbedeckten Boden unterwegs und schienen sich um Fütterungszeiten keine Gedanken zu machen.

Während die Elfe sich an den Tieren vorbeischob, sprach sie weiter mit ihnen, als wäre sie unter Freunden: „Verzeiht mir, dass ich erst jetzt komme. Ich wäre lieber mit euch draußen gewesen, aber es gab viel zu tun. Die Kontaktaufnahme mit den anderen gestaltet sich als schwierig und dieses Haus, die Regeln, die Wände … Ich weiß nicht, wie ihr damit leben könnt.“

Hunde bellten, Katzen mauzten und wieder brausten diverse Stimmen durch Sians Kopf. Alle so laut und klar, als könnte er selbst mit den Tieren kommunizieren. Er war fasziniert von den Eindrücken, die sich ihm boten, dem Beistand, den die Tiere ihr gaben und wie sie versuchten, ihr Leben in Worte zu fassen: „Es ist gar nicht so schlimm.“; „Tierheime sind ätzender.“; „Wir können frei entscheiden.“; „Wir haben hier, was wir brauchen.“; „Man gewöhnt sich an die Annehmlichkeiten.“

Fassungslos schaute Sian zwischen den Vierbeinern und der Elfe umher. Es sind richtige Gedanken!

Er wusste selbst nicht, was er sich in Bezug auf Tiere vorgestellt hatte, doch das hier übertraf alles Erdachte und Erlebte.

Nie hatte einer der anderen Visionselfen solche Fähigkeiten offenbart. Wer ist sie bloß?

Die Faszination, die diese Frau auf ihn ausübte, war so enorm, dass er gegen seinen Willen einige Schritte nach vorn trat. In ihm braute sich etwas zusammen, was ihn schwindlig werden ließ. Es wallten Gefühle in ihm auf, die er nie zuvor gespürt hatte. Sehnsucht, eine unbekannte Wärme, die jede Faser seines Körpers erfasste und gleichzeitig wurde ihm schlecht vor Nervosität. Sian hatte das Gefühl, er verlor die Kontrolle über sich, als würde die fremde Elfe ihn magisch anziehen.

Trotz seiner lautlosen Schritte, drehte sie sich zu ihm um. Im ersten Augenblick war er davon überzeugt, sie würde ihn weiterhin nicht sehen. Sie blickte irritiert in seine ungefähre Richtung. Doch nach einigen Sekunden klärte sich ihr Blick und Erkennen spiegelte sich in ihren Augen wider.

„Wie kommst du hierher?“, fragte sie unvermittelt. Die Wärme in ihrer Stimme war verschwunden, automatisch drückte sie ihren Rücken durch.

„Du siehst mich?“, war das Einzige, was ihm einfiel.

„Natürlich sehe ich dich!“ Ihre Stimme war schneidender geworden, als wäre sie wütend auf ihn, da er sie für dumm verkaufen wollte.

Er überlegte, ihr die Situation so ehrlich wie möglich zu erklären. Nur was sage ich? Ähm, ich bin auch ein Elf und träume von dir?! Sian schüttelte den Kopf, beschloss, den Punkt erst einmal zu umgehen.

„Du bist eine Elfe, oder?“ Er wollte lieber auf Nummer sicher gehen, immerhin war dies der erste Kontakt zu eine seiner Visionspartnerinnen.

Aber ohne auf seine Frage einzugehen, erwiderte sie forsch: „Was willst du hier?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete er wahrheitsgemäß und hob verwirrt die Schultern.

Sie schaute ihn abschätzig an. Doch die Anziehung zu ihr wurde mit jeder Sekunde stärker.

Ohne, dass er ein weiteres Wort sagte, machten sich seine Beine erneut selbstständig.

Die Elfe schien selbst zu verwirrt zu sein, um etwas zu entgegnen. Als er näher trat, wich sie automatisch nach hinten, bis ihr Rücken gegen die Holzwand des Schuppens stieß. Ein Retriever fing an zu knurren und Sian kam der Gedanke, die Tiere könnten sich gleich alle auf ihn stürzen. Nichtsdestotrotz konnte er seine Beine nicht daran hindern, weiterzugehen, bis er direkt vor ihr stand.

Da war ein Sog zwischen ihnen, der ihm wider besseres Wissen zwang, ihr nahe zu sein. Diese vermaledeite Anziehung war sogar bei jedem Schritt intensiver geworden. Jetzt, wo er sich Angesicht zu Angesicht vor ihr befand, nahm sie immer noch nicht ab.

Schnell stützte Sian sich mit den Händen an der Wand ab, um wenigstens einen Funken Abstand zu der Elfe zu wahren. Ihr Kopf war dadurch zwischen seinen Händen, sodass sie sich nicht von ihm wegdrehen konnte. Er drängte sie förmlich in die Enge.

Hilflos mahnte er seinen Körper zu mehr Distanz, kämpfte gegen den Sog an, der ihn übermannte. Doch seine Finger waren wie festgeklebt.

Verdammt, was geht hier vor??? Da trainiere ich zwei Monaten, um meine Magie in den Griff zu bekommen, und benehme mich nun wie der größte Arsch, der eine Frau förmlich belästigt.

Panisch überlegte er, was er tun könnte. Er wünschte sich, er möge aufwachen. Das ist es! Wach auf!

Sian wollte sich gern selbst ohrfeigen oder kneifen, aber er schaffte es nicht, die Hand von der Wand zu lösen. Stattdessen flüsterte er gepresst: „Wer bist du?“

Irritiert sah er die Elfe an. Verrückterweise schien sie sich nicht bedroht zu fühlen. Ihr Blick hatte eher etwas Forschendes an sich, als würde sie ebenfalls die Anziehung spüren und versuchte zu verstehen, was das hier zwischen ihnen bedeutete.

Abermals ging sie nicht auf seine Worte ein, sondern fragte abgehakt: „Was – willst – du?“ Ihr Atem strich dabei sachte über sein Gesicht, was ihm vollends die Sprache verschlug.

Der Sog stieg weiter an, verwandelte sich in etwas, das die Luft um sie herum flimmern ließ. Lichtfunken knisterten neben ihnen, als sich ihre Energien auszutauschen schienen. Die Elfe blickte sich erschrocken um, als wollte auch sie verstehen, was diese Energieintervalle zwischen ihnen ausgelöst hatte.

Für einen Moment verharrten beide im Stillstand. Die Zeit schien eingefroren zu sein. Es gab nur das Knistern um sie herum und das Licht, welches sich verformte, als würde es die beiden umweben wollen.

Sian sah, was da Unvermeidliches auf ihn zukam. Die Magie wollte sie verbinden, ob er wollte oder nicht.

Das Ganze ist einfach surreal. Du musst aufwachen!

Ein Zittern erfasste ihn, während er gegen die unerträgliche Anziehung zu der Elfe kämpfte.

Lange konnte er das nicht mehr aushalten. Wahrscheinlich würde er gegen sie prallen, wenn seine Arme unter dem Druck nachgaben. Das Licht würde sie dann gänzlich umschlingen.

Mit einem Mal hoben sich die Hände der Elfe gegen seine Brust. Unerträgliche Hitze erfasste seinen Körper bei der Berührung.

Sian schaute hinab, sah ein Licht, welches zwischen ihm und ihren Fingern entstand.

Plötzlich explodierte die erzeugte Lichtkugel, wodurch er nach hinten geschleudert wurde.

Er schrie auf und sah sich verwirrt um.

Sian lag wieder in seinem Bett, war zu Hause, umgeben von seinen vier Wänden, dem aufgeschlagenen Buch neben sich und der kleinen Nachttischlampe auf dem Sideboard, die sein Zimmer beschien.

Erschöpft setzte er sich auf, vergrub sein Gesicht in den Händen und rieb anschließend über seinen stacheligen Undercut. Verdammt. Was war das denn?

3. DER ERSTE SCHULTAG

„Aufwachen, du Schlafmütze, es ist bereits sieben.“ Harrys tiefe Stimme drang vom Flur zu Sian hinüber.

Schlaftrunken sah er zur Tür, die offen stand. Genervt zog er wieder die Decke über den Kopf. Doch da stapfte sein Adoptivvater ins Zimmer, zog im hohen Bogen seine Decke vom Bett und brummelte: „Na, los! Du wolltest weiter zur Schule gehen, also tust du das jetzt auch! Und keine faulen Ausreden, Junge.“

„Oh Mann, ich schlafe noch!“, murrte Sian.

„Das ist ja das Problem. Du sollst aufstehen!“ Mit diesen Worten drehte sich Harry wieder um und verließ das Zimmer.

Schwerfällig bewegte Sian seinen Hintern in die Höhe und schlurfte ins Badezimmer, um sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu spritzen. Dann nahm er etwas Gel zwischen die Finger und wuschelte durch sein Haar, wodurch eine gepflegte Unordnung entstand. Danach putzte er sich die Zähne, streifte in Slow Motion zurück zu seinem Kleiderschrank, um sich anzuziehen.

Gemächlich ging er hinunter in die Küche und hörte von dort Harry ein Lied summen.

Hm, kein Schlagergesang heute? Ungewöhnlich.

Trotzdem entgegnete Sian, als er den Raum betrat: „Du bist eindeutig zu wach für meine Verhältnisse.“

„Na, das ist ja mal was ganz Neues, Mr. Früher-Vogel-fängt-den-Wurm“, antwortete Harry sarkastisch und fügte dann milder hinzu: „Komm, der Kaffee wartet schon auf dich.“

Sian schüttelte nur den Kopf über ihn. Trotz all der Geheimnisse, die in den letzten Wochen immer wieder für Reibereien gesorgt hatten, hatte sich nichts an seinem gluckenhaften Verhalten geändert. So war auch jetzt das Frühstück fertig, zwei mit Nutella beschmierte Toasts warteten darauf, gegessen zu werden und sogar Sians Schulrucksack stand gepackt auf einem der Küchenstühle.

„Ich glaube, fürs Frühstück ist keine Zeit mehr. Das musst du wohl oder übel im Auto essen.“

„In deinem geliebten Auto? Wieso hast du es überhaupt so eilig?“

„Hast du mal auf die Uhr geguckt, Junge?“, kam es prompt zurück. 7:30 Uhr. In fünfzehn Minuten startete die erste Schulstunde und zehn Minuten Fahrzeit stand ihnen bevor.

„Mist, konntest du mich nicht früher wecken?“

„Als hätte ich es nicht versucht!“

Harry goss den Kaffee in einen Thermobecher, während Sian seinen Rucksack schnappte und sich die Toasts in den Mund stopfte. Dann eilten sie hinaus zum Auto, das direkt vor dem Haus stand. Nachdem sie eingestiegen waren, startete sein Adoptivvater den Wagen und fuhr los.

In der Stille des Autos schrien die Sorgen seines Nebenmanns Sian förmlich an. Er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Doch was würde das nützen?

Harrys Gedanken kreisten um Sians Wandlung, seine Distanziertheit, ob nach den Ferien endlich Gras über die Sache mit Lilian gewachsen war. Wäre eine andere Schule besser gewesen? Hätte ich mich mehr durchsetzen müssen? Wie seine Mitschüler wohl auf ihn reagieren? Was ist, wenn sie ihn wieder aufziehen? Hat er seine Magie gut genug unter Kontrolle? Seit Wochen waren es die gleichen Gedanken, die er nicht hören wollte.

Sein Adoptivvater hatte ihm nie Vorwürfe gemacht. Für ihn war er nur umso mehr sein Junge, den er beschützen musste. Schützen vor allem, was ihn die Kontrolle über seine Kräfte verlieren lassen könnte.

Nicht zum ersten Mal fragte Sian sich, ob es nicht besser wäre abzuhauen. Irgendwohin, wo er niemanden verletzen, wo er keine Gedanken mehr hören konnte. Immerhin hielt ihn nichts in Hamburg. Lilian war nicht mehr da, Harrys Gegenwart ertrug er kaum noch, und sonst? Vielleicht sollte ich es wie Natura handhaben und auch auf einer kleinen schottischen Insel leben, zumindest das klang im Tagebuch wundervoll.

Sian durchbrach nach einigen Minuten die Stille, um Harrys Überlegungen zum Verstummen zu bringen: „Was weißt du über Naturas Visionen?“

„Ähm, sie kamen recht unkontrolliert, haben sich allerdings immer bewahrheitet. Wieso?“

„Meinst du, diese Fähigkeit ist vererbbar?“

Harry schaute kurz zu Sian hinüber, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Einige Fähigkeiten sind bestimmt vererbbar. Deine Mutter konnte sich beispielsweise wie Thalia selbst heilen, auch wenn sie das anfangs nicht wusste oder bewusst eingesetzt hat. Hattest du etwa eine Vision?“ Harrys Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umfasste er das Lenkrad, während er auf die Antwort wartete. Dabei lenkte er in die Auffahrt des Schulgebäudes ein.

Sian lachte bitter auf und antwortete: „Wer weiß das schon“, ehe er aus dem Auto sprang, bevor es richtig zum Stehen kam.

Er wusste, er verhielt sich Harry gegenüber nicht fair. Aber das Leben ist nun mal nicht fair, dachte er genervt, als er zwischen den Schülern verschwand, die sich zum Eingangstor schoben.

Geistesabwesend schlüpfte er an den Leuten vorbei.

Es war merkwürdig, all die bekannten Gesichter zu sehen, als wäre nichts passiert. Als hätte Lilians Abwesenheit keine Leere hinterlassen oder als wäre Sian immer noch derselbe wie im letzten Schuljahr. Aber nichts ist noch dasselbe.

Während Sian durch die Flure des Schulgebäudes ging, fing er immer wieder Gesprächsfetzen auf. Alle hatten super Ferien verbracht, wohingegen er mithilfe von Naturas Tagebuch seine Magie trainiert hatte. Sechs Wochen Selbstkontrolle und komische Träume. Und was habe ich gelernt? Nur einen Trick.

Aber wie er an den anderen erkannte, funktionierte dieser. Sie konnten ihn nicht sehen und er musste nicht mehr ihre Gedanken hören. Die Illusion ihrer Umgebung, ohne seine Person, die er ihnen allen suggerierte, fasste Fuß. So gelangte er ohne Störung zum Klassenraum für den Deutschunterricht.

Bereits im Gang hörte er Herrn Königs freundliche Stimme. Doch als er in den Raum einbog, blieb er abrupt stehen. SIE stand am Lehrertisch. Die Elfe würde er überall wiedererkennen. Ihr Aussehen hatte sich zwar geringfügig verändert: Keine spitzen Ohren, kein Leuchten mehr. Nun hatte sie hellblondes Haar, das sie offen trug und ein blaues statt ein silbernes Kleid an. Dennoch bestand für ihn kein Zweifel daran, dass sie die Elfe seiner gestrigen Vision war.

Er spürte ihre magische Präsenz, die sie wie ein Fingerabdruck auszeichnete. Sie sprach mit Herrn König und reichte ihm gerade einen Zettel.