ADHS gilt als eine der häufigsten psychiatrischen Störungen des Kindes- und Jugendalters. Im folgenden Kapitel werden die Symptome und Kennzeichen der ADHS verdeutlicht sowie Störungen, unter denen viele ADHS-Patienten zusätzlich leiden und von denen ADHS abzugrenzen ist, beschrieben. Darüber hinaus wird auf die Häufigkeit von ADHS in der Bevölkerung eingegangen.
Symptome und Kennzeichen der ADHS
Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Unaufmerksamkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kind:
• häufig Einzelheiten nicht beachtet oder Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit (z. B. Hausarbeit, Bastelarbeiten) oder anderen Tätigkeiten macht,
• oft Schwierigkeiten hat, bei Aufgaben oder beim Spiel längere Zeit die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten,
• häufig nicht zuzuhören scheint, wenn andere es ansprechen,
• häufig Anweisungen nicht vollständig durchführt und Schularbeiten oder andere Aufgaben nicht zu Ende bringen kann,
• häufig Schwierigkeiten hat, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren,
• sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben beschäftigt, die länger andauernde geistige Anstrengung erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben),
• häufig Gegenstände verliert, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z.B. Stifte, Turnbeutel, Hausaufgabenheft),
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• sich oft durch äußere Reize ablenken lässt,
• hinsichtlich Alltagstätigkeiten häufig vergesslich ist.
Von diesen genannten Symptomen der Unaufmerksamkeit müssen mindestens sechs Symptome aufgetreten sein, um Unaufmerksamkeit im Zusammenhang mit einer ADHS zu diagnostizieren (nach → DSM-IV-TR, APA 2008). Hyperaktivität zeigt sich dadurch, dass ein Kind:
• häufig mit Händen oder Füssen zappelt oder auf dem Stuhl herumrutscht,
• in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig aufsteht,
• häufig herumläuft oder exzessiv klettert in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen mit ADHS besteht dann oft lediglich ein subjektives Unruhegefühl),
• häufig Schwierigkeiten hat, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen,
• häufig „auf Achse“ ist oder oftmals handelt, als wäre es „getrieben“,
• häufig übermäßig viel redet.
Impulsivität liegt vor, wenn das Kind:
• häufig mit den Antworten herausplatzt, bevor die Frage zu Ende gestellt ist,
• nur schwer abwarten kann, bis es an der Reihe ist,
• unterbricht und andere häufig stört.
Von diesen genannten Symptomen der Hyperaktivität und Impulsivität müssen insgesamt mindestens sechs Symptome aufgetreten sein um Hyperaktivität/Impulsivität im Zusammenhang mit einer ADHS zu diagnostizieren (nach → DSM-IV-TR). Für die Diagnose einer ADHS müssen darüber hinaus folgende weitere Kriterien erfüllt sein:
• Die Kernsymptome müssen seit sechs Monaten und in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. zu Hause, in der Schule, im Umgang mit Gleichaltrigen) bestehen,
• sie müssen vor dem Alter von sieben (nach → DSM-IV-TR) bzw. sechs Jahren (nach → ICD-10-GM) das erste Mal aufgetreten sein,
• sie müssen inadäquat bezüglich der Entwicklungsstufe des Kindes sein und
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Abb. 1: ADHS-Diagnosen nach DSM-IV-TR (APA 2008)
• signifikante Beeinträchtigungen im sozialen und schulischen Bereich nach sich ziehen.
Das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (→ DSM-IV-TR) beschreibt drei Subtypen der ADHS:
• den ADHS-Mischtypus, der vorliegt wenn die Kriterien der Unaufmerksamkeit und der Hyperaktivität-Impulsivität während der letzten sechs Monate erfüllt sind,
• den ADHS vorwiegend unaufmerksamen Typus, wenn die Kriterien der Unaufmerksamkeit, aber nicht die der Hyperaktivität-Impulsivität während der letzten sechs Monate erfüllt sind,
• den ADHS vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typus, der vorliegt, wenn die Kriterien der Hyperaktivität-Impulsivität, aber nicht die Kriterien der Unaufmerksamkeit während der letzten sechs Monate erfüllt sind.
Für diese Unterteilung in drei ADHS-Subtypen konnten empirische Belege gefunden werden. Das Internationale Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (→ ICD-10-GM, WHO 2009) unterscheidet bezüglich des Hyperkinetischen Syndroms:
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• die einfache Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung und
• die hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens.
Beide Störungen beinhalten sowohl Aufmerksamkeitsstörungen, als auch Auffälligkeiten bezüglich der Hyperaktivität-Impulsivität. Kinder, die nur an einer Aufmerksamkeitsstörung leiden, können nach dem → ICD-10-GM als unter einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität leidend diagnostiziert werden. Ein Überblick über die unterschiedlichen Herangehensweisen an eine ADHS-Diagnose des → DSM-IV-TR und → ICD-10-GM findet sich in Abbildung 1 bzw. Abbildung 2.
Zu den weiteren, häufigsten Kennzeichen der ADHS gehören akademisches Underachievement, Non-Compliance und Aggressionen sowie Schwierigkeiten im Umgang mit → Peers.
Definition
Als akademisches Underachievement wird Minderleistung (z.B. in den Hauptfächern) trotz durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz bezeichnet. Das heißt, die betroffenen Kinder zeigen Leistungen unter dem Niveau, welches man bei ihrer gegebenen Intelligenz erwarten würde.
Definition
Der Begriff Non-Compliance bezeichnet das Nicht-Befolgen von Anweisungen von Eltern und / oder Lehrern.
Lehrer und Eltern berichten oft, dass Kinder mit ADHS im Vergleich zu ihren Klassenkameraden ohne ADHS schlechtere Schulleistungen zeigen (Frazier et al. 2007). Das rührt daher, dass Kinder mit ADHS sich dem Unterricht weniger konzentriert zuwenden und dies sowohl in Phasen der Instruktion durch den Lehrer als auch in Phasen der Stillarbeit. Kinder mit ADHS beschäftigen sich also weniger mit den schulischen Aufgaben und dem schulischen Material als ihre Mitschüler ohne ADHS. Schließlich zeigen Kinder mit ADHS häufiger chronischen akademischen Misserfolg (z. B. schlechte Noten, Schulabbruch) als Kinder ohne ADHS (Barry et al. 2002).
Der Zusammenhang von ADHS und Aggressionen ist in der Literatur gut belegt. Die Schwierigkeiten, die diesbezüglich am häufigsten mit der ADHS verbunden sind, sind Nichtbefolgen von Regeln (Non-Compliance), welche durch Autoritäten (z. B. Lehrer) aufgestellt wurden, eine
13problematische Stimmungskontrolle (z. B. sichtbar durch häufigen Stimmungswechsel und Launenhaftigkeit), Streitsüchtigkeit und verbale Feindseligkeit. Demzufolge überrascht es nicht, dass eine der häufigsten → komorbiden Störungen der ADHS die → oppositionelle Verhaltensstörung ist. Ernsthaftere antisoziale Verhaltensweisen zeigen ca.25 % der Kinder mit ADHS: Dazu gehören Diebstahl, körperliche Aggressionen und Schulschwänzen. Kinder, die ADHS und Aggressionen zeigen, weisen ein größeres Risiko auf, interpersonelle Konflikte mit den Eltern, Geschwistern, Lehrern und Mitschülern hervorzurufen als Kinder, die nur unter ADHS leiden. Beispielsweise berichten Lehrer über erhöhten eigenen, d.h. selbst wahrgenommenen, Stress im Umgang mit ADHS-Kindern, die gleichzeitig aggressive Verhaltensweisen zeigen.
Abb. 2: ADHS-Diagnosen nach ICD-10-GM (WHO 2009)
Für viele Kinder mit ADHS gestaltet es sich als äußerst schwierig, Freundschaften mit ihren Klassenkameraden zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Kinder mit ADHS und vor allem die Kinder, die zusätzlich
14aggressive Verhaltensweisen zeigen, werden von den Gleichaltrigen oft abgelehnt. Zudem zeigen ADHS-Kinder häufig soziale Funktionsstörungen, d.h., sie verhalten sich im sozialen Kontext (z.B. im Klassenzimmer) nicht altersentsprechend, sondern wie jüngere Kinder. Weiterhin gibt es Befunde, die dafür sprechen, dass Kinder mit ADHS sich häufig an der Peripherie des sozialen Netzwerks aufhalten und aus diesem Grund gemeinsam mit auffälligen Kindern (z.B. Kindern, die → Störungen des Sozialverhaltens zeigen) „herumhängen“, was das Auftreten von Verhaltensstörungen noch verstärkt. Abbildung 3 verdeutlicht die Affinität von ADHS-Kindern mit auffälligen Personen.
Abb. 3: ADHS-Kinder halten sich oft in der Peripherie des sozialen Netzwerkes auf (Ramsland /Konstantinov 2007; © 2007 Boje Verlag GmbH, Köln)
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