ADHS - Ein wissenschaftliches Fiasko - Elisabeth Dägling - E-Book

ADHS - Ein wissenschaftliches Fiasko E-Book

Elisabeth Dägling

4,6

Beschreibung

Die Wissenschaften befinden sich in einer Krise, wie sie einem Paradigmenwechsel im Kuhn‘ schen Sinn vorausgeht. Das deutlichste Symptom für die Krise ist die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Seit Jahren wird intensiv zur ADHS geforscht, doch die mit ihr beschäftigten Fachdisziplinen treten bei der Suche nach ihrer Ursache seit zwei Jahrzehnten auf der Stelle. Statt den Blickwinkel zu wechseln und zu fragen, ob die Betrachtung der Natur aus der falschen Perspektive der Grund für die erfolglose Suche ist, ist man den umgekehrten Weg gegangen: Man hat versucht, die Natur des Verhaltensphänomens den erzielten Ergebnissen anzupassen. Diese Vorgehensweise widerspricht wissenschaftlichen Grundsätzen, sie wird jedoch durch das experimentelle Paradigma erzwungen. Was es mit dem ADHS genannten Verhalten auf sich hat, wurde mittlerweile in einem ganz anderen Fachgebiet, der Mathematikdidaktik, entdeckt: es ist als funktionale Art logischen Denkens zu interpretieren. Doch das herrschende wissenschaftliche Paradigma, die Art und Weise, in der in den empirischen Wissenschaften geforscht und veröffentlicht wird, hindert daran, die Perspektive zu wechseln und die neue Interpretation zu übernehmen.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Störungsblickwinkel

2.1 Das abweichende Verhalten

2.2 Historie und wissenschaftliche Kontroversen

3. Der Perspektivenwechsel

3.1. Die Ursache suchen, wo sie zu finden ist: Denken und Informationsverarbeitung

3.2 Die Erklärung des abweichenden Verhaltens

3.3 Komplementarität: Der Vorteil des ADHS-Denkens

4. Die aktuelle Krise in der Wissenschaft

4.1. Landschaft mit Hindernissen

4.2. Das experimentelle Paradigma

4.3 Fehler im System

4.4 Fazit und Ausblick

Anhang

DSM IV

Diagnosekriterien nach dem DSM IV

Literatur- und Quellenverzeichnis

At every crossing on the road that leads to the future,each progessive spirit is opposed by a thousand appointed to guard thepastMaurice Maeterlinck

1. Einleitung

Der dreijährige Luca stochert heftig mit einem Stock im Gemüsebeet. Den überraschten Großeltern erklärt er hinterher, er habe die Dinosaurier verjagt, die sich in der Erde versteckt hätten. Das weitere Schicksal der Gartendinosaurier war nicht mehr zu ermitteln; die jungen Möhren jedoch, die im Beet angesät worden waren, hatten die Vertreibungsaktion nicht überlebt.

Die neunjährige Eva freut sich über eine lustige Mathematik-Hausaufgabe. Diese begann mit dem Satz: „Ein Sattelschlepper wiegt 35 Tonnen.“ Eva meint, ein Sattelschlepper sei ein Reitknecht, der auf einem Reiterhof den Pferden den Sattel auflegt und wieder abnimmt. Da es keinen Menschen gibt, der ein Gewicht von 35 t haben kann, schlussfolgert Eva, dass es sich um eine Spaßaufgabe handelt, die nicht ausgerechnet werden muss.

Der sechzehnjährige Mark und seine Mutter sind in Panik, denn Mark steht kurz davor, erneut eine Lehrstelle zu verlieren. Seine Schwierigkeiten beschreibt Mark am Beispiel einer Arbeitsanweisung seines Meisters: Er sollte anhand der Maße, die er erhalten hatte, eine Werkzeichnung anfertigen. Andere Lehrlinge stellt eine solche Anweisung nicht vor Probleme. Mark aber hat keinen Plan, was er tun soll, und er kann seine Schwierigkeiten auch nicht artikulieren. Wegen seiner Verständnisschwierigkeiten schätzt man ihn im Betrieb als schwach begabt ein.

Luca, Eva und Mark verbindet, dass sie von der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen sind, einem Verhaltensphänomen, bei dem seine Diagnose und die medikamentöse Behandlung in der öffentlichen Kritik stehen. Obwohl seit Mitte des letzten Jahrhunderts intensiv nach ihr geforscht wurde, ist eine Ursache dieser Persönlichkeitsvariante bisher nicht bekannt. Nachdem die Suche nach ihr nicht von Erfolg gekrönt ist und sich eine Lösung des Problems mit den derzeitigen Mitteln auch nicht mehr finden lässt, geht man in Fachkreisen seit einiger Zeit davon aus, dass das Verhaltensphänomen multifaktoriell bedingt ist: unterschiedliche Faktoren sollen gemeinsam an seiner Entstehung beteiligt sein. Von ihnen gilt jedoch keiner als Ursache der ADHS.

Diese Umdeutung des Ursachen-Problems kommt einer wissenschaftlichen Bankrotterklärung gleich: Statt die Perspektive zu ändern und zu fragen: „Betrachten wir das Verhalten eigentlich unter dem richtigen Blickwinkel; finden wir die Lösung nicht, weil wir von falschen Annahmen ausgehen?“, wurde das Ursachenproblem mit der Aufspaltung in eine Reihe von Faktoren an die erzielten Ergebnisse und den präferierten Blickwinkel angepasst. Das Problem wurde damit nicht gelöst, man kann aber weitermachen wie bisher.

Unter den Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis, die sich mit dem Verhalten befassen, herrscht mangels der Kenntnis der Ursache deshalb Uneinigkeit darüber, womit man es zu tun hat: Die einen sehen in ihm eine nicht heilbare Krankheit und propagieren die medikamentöse Therapie als Teil eines multimodalen Behandlungskonzepts. Die anderen halten es für eine psychotherapeutisch und / oder pädagogisch behandel- und heilbare Störung. Sie lehnen eine medikamentöse Behandlung ab, stellen die Faktoren in Frage, die auf eine Krankheit hinzudeuten scheinen und sehen die Ursachen in familiären Belastungen und den Überforderungen seitens der gesellschaftlichen Bedingungen.

Das Verhalten ist jedoch weder eine Störung noch eine Krankheit. Es ist vielmehr eine komplementäre Art wahrzunehmen, zu denken und sich zu verhalten, die in ihrer Art genauso normal ist wie die übliche, welche die gesellschaftliche Norm bestimmt. Im Klartext ausgedrückt heißt das: Neben seinem physischen Geschlecht besitzt jeder Mensch auch ein psychisches Geschlecht. Es betrifft die Art und Weise, in der wir Erfahrungen sammeln, in der wir über diese Erfahrungen Wissen erwerben und auf die wir lernen. Es ist die Art, in der unser Gehirn Information verarbeitet, um dieses Wissen aufzubauen und zu speichern, die Art, in der wir denken und wie wir uns verhalten. Dies als etwas Eigenständiges, als unser psychisches Geschlecht zu erkennen, erfordert eine Änderung des Blickwinkels, unter dem das menschliche Verhalten und speziell das ADHS-Verhalten bisher betrachtet wurden. Sie erfordert nicht die Leugnung von einer einzelnen Ursache, die ersetzt wurde mit der Annahme verschiedener Faktoren, weil sie dort, wo man nach ihr sucht, nicht zu finden ist. Die wissenschaftliche Untersuchung zweier psychischer Geschlechter fällt allerdings nicht in das Fachgebiet von Kinder- und Jugendpsychiatrie, auch nicht in das von Neuro- und klinischer Psychologie als den Disziplinen, die sich bislang mit dem Verhaltensphänomen beschäftigen. Sie fällt in das der Allgemeinen Psychologie, die sich jedoch nicht mit Verhaltensstörungen und Krankheiten beschäftigt, sondern mit dem menschlichen Denken und Verhalten.

Der Gedanke, das Verhalten sei normal, ist nicht neu. Er wurde u.a. schon von Thom Hartmann und Jeffrey Freed genannt. Der Journalist und Autor Thom Hartmann vertritt die These, bei ADHS handele es sich um eine genetische Variante, die aus der Frühzeit des Menschen als eines Jägers stamme. Beim betroffenen Personenkreis habe sich dieses Verhalten manifestiert, während die Mehrheit aller Menschen das Verhalten von Farmern generiert habe, nachdem die Menschheit sesshaft geworden sei. Menschen mit ADHS hätten daher Schwierigkeiten, sich in dieser Farmer-Umwelt zurecht zu finden. Mit seinem Vorschlag stieß Hartmann bei von ADHS Betroffenen auf lebhaften Beifall, aber auf harsche Kritik insbesondere bei den Vertretern der Krankheitshypothese. Deren Argumente lauteten: In der heutigen Zeit habe eine an primitive Bedingungen angepasste Verhaltensweise ihren Wert verloren. Zudem seien einige der typischen ADHS-Verhaltensweisen einem erfolgreichen Jägerdasein abträglich. Hartmanns These wurde als "nette Story" abgetan, zumal sie sich auf keinerlei Empirie stützen konnte.

Der Kindertherapeut Jeffrey Freed vermutet, die Ursache für das Verhalten liege im Denken der Betroffenen und in der Präferenz für die Verarbeitung von Information in der rechten Hirnhemisphäre. Freed fiel auf, dass betroffene Kinder besser durch Zuschauen als durch Erklärungen lernen und dass sie über ein Denken verfügen, mit dem sie vom Ganzen zu den Teilen kommen. Er beschränkt sich darauf, einen Lernstil zu empfehlen, der dem ‚rechtshemisphärischen‘ Denken angemessen sei. Doch obwohl insbesondere Hartmanns Vorschlag viel Aufsehen erregte, konnte sich aufgrund eines fehlenden empirischen Fundaments der Gedanke von ADHS als eines normalen, nur eben anderen Denkens und Verhaltens nicht durchsetzen.

Dass eine einzelne Ursache bisher nicht entdeckt werden konnte, bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. Sie wurde nur nicht gefunden, weil in den falschen Fachgebieten nach ihr gesucht wird. Entdeckt wurde sie durch Zufall in einer anderen wissenschaftlichen Disziplin. Solche Zufälle sind in der Geschichte der Wissenschaften nicht ungewöhnlich. Sie haben jedoch einige Nachteile, unter anderem den, dass sie deshalb entweder nicht zur Kenntnis genommen oder auch einfach nicht verstanden werden. Es braucht daher Zeit, bis sich ein solcher Gedanke durchsetzen kann. So kann es passieren, dass ihr Entdecker den Durchbruch seiner Idee nicht mehr erlebt. Beispiele dafür sind Gregor Mendel, ein Ordenspriester und Abt, der die Vererbungsregeln entdeckt hat, und der Meteorologe Alfred Wegener, der als erster vermutete, dass Kontinente und Ozeane auf Kontinentalplatten aufliegen, welche auf dem Erdmantel wandern und dadurch die Kontinentalverschiebung verursachen. Mendels und Wegeners Annahmen bestätigten sich erst fünfzehn bzw. dreißig Jahre nach ihrem Tod.

Im Fall der vermeintlichen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist das falsche Fachgebiet jedoch nicht das einzige Hindernis, das einer Aufklärung des Verhaltens im Weg steht. Die Gesamtheit der Widerstände, die eine Lösung des Problems verhindern, ist in ihrer Art aber wohl einzigartig. Sie alle hängen zusammen mit der Praxis des naturwissenschaftlichen Forschens und Arbeitens, die auf dem Experiment als dem ultimativen Zugang zu wissenschaftlich fundierter Erkenntnis beruht.

Mit ihrer grundsätzlichen Orientierung am experimentellen Paradigma zählt die Psychologie zu den exakten Wissenschaften, zu denen u.a. die Physik und die biologischen Wissenschaften gehören1. Damit ist diese Forschungsmethodik unverzichtbarer Teil des Paradigmas der Neuro- und Kognitionswissenschaften, sowie der Allgemeinen Psychologie. An ihm, nicht an Hypothesen oder Theorien, wird dogmatisch festgehalten. An ihm scheitert deshalb aber auch die Lösung des ADHS-Problems.

In seinem Essay „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ schrieb der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn, ein Paradigma zwinge die Wissenschaftler2 durch seine Einengung auf einen kleinen Teilbereich der Natur, diesen „mit einer Genauigkeit und bis zu einer Tiefe zu untersuchen, die sonst unvorstellbar wäre“. (S.38). Die Bindung an ein Paradigma führt daher zur Lösung von Problemen, die sich die Fachwissenschaften zuvor nicht hätten vorstellen können. Der Preis, den man für die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse zahlt, ist allerdings hoch. Denn mit der immer weiter vordringenden Erforschung in immer kleinere Bereiche, die sich erst mit dieser Reduktion experimentell untersuchen lassen, treten zunehmend Anomalien auf. Diese Anomalien sind Abweichungen von dem, was man eigentlich als Regelmäßigkeit erkannt zu haben meinte. Oder anders ausgedrückt: Die Natur hält sich nicht an die Regeln, von denen man dachte, man habe sie verstanden. Während man anfangs noch davon ausgeht, man könne die Rätsel auflösen, die die Natur den Wissenschaften mit diesen Anomalien stellt, werden sie im Laufe der Zeit zu drängenden anstehenden Problemen, an deren Lösung die Wissenschaftler trotz aller Anstrengungen und einiger Teilerfolge scheitern. Eben diese Situation erleben wir derzeit in den Disziplinen, die mit der Erforschung der ADHS befasst sind. Und wir erleben sie in den Neuro- und Kognitionswissenschaften, die sich mit der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns beschäftigen. Es kann daher nicht überraschen, dass diese beiden ungelösten Rätsel miteinander in einer Weise zusammenhängen, dass die Lösung des einen Rätsels auch die des anderen enthält.

Nicht nur die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, sondern auch das wesentlich größere Rätsel der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns gehören also zu diesen Problemen, die sich mit den Mitteln, denen sie ihr Entstehen verdanken, nicht mehr lösen und erklären lassen. Das experimentelle Paradigma, welches so erfolgreich ist, wenn es um die Lösung medizinischer, technologischer, naturwissenschaftlicher Probleme geht, wird nun zum Hemmschuh, der den ursprünglichen Zweck der Wissenschaften konterkariert: die Suche nach Erkenntnis. Das Verhaltensphänomen ADHS, nach dessen Ursache und Erklärung man seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts intensiv forscht, ist zum Paradebeispiel für das wissenschaftliche Fiasko unserer Zeit geworden. An ihm, und mehr noch an dem unwissenschaftlichen Versuch, die ADHS zum multifaktoriell bedingten Problem zu erklären, weil die Ursache sich unter dem bisherigen Blickwinkel nicht finden lässt, zeigt sich deutlich, dass sich Psychologie, Neuro- und Kognitionswissenschaften in einer Krise befinden, die einen Paradigmenwechsel unumgänglich macht.

Mit diesem Buch verfolge ich zwei Absichten: Zum einen stelle ich die (in einem anderen Zusammenhang entdeckte) Ursache der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung vor und interpretiere das Verhalten, das bisher nur beschrieben, aber nicht erklärt werden konnte, aus der neuen Perspektive. Den betroffenen Personen liefert diese Interpretation zum ersten Mal eine würdige Erklärung ihres Verhaltens. Den Eltern eines solchen Kindes kann sie helfen, ihr Kind zu verstehen und es in seiner Eigenart zu fördern. Zum anderen gehe ich auf die Hindernisse ein, die seitens der Wissenschaften die Erforschung und Bekanntmachung der Ursache blockieren.

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Der erste Abschnitt schildert das Verhalten und seine wissenschaftliche Erforschung aus dem bisherigen Störungsblickwinkel. Im ersten Kapitel gehe ich mit der Beschreibung des Verhaltens auf seine Besonderheiten ein, die dann im zweiten Abschnitt eine andere Deutung erfahren. Das zweite Kapitel des ersten Abschnitts enthält einen Rückblick auf die Geschichte des Verhaltensphänomens. Nachdem dieses zur Störung bzw. zur Krankheit erklärt wurde, ist ein Umdenken nicht so ohne weiteres möglich. Es erscheint mir deshalb wichtig, aufzuzeigen, wie es zu dieser Beurteilung kam. In diesem Kapitel stelle ich auch die beiden unterschiedlichen Positionen von Wissenschaftlern und Fachleuten gegenüber, die derzeit vertreten werden.

Der zweite Abschnitt ist der Ursache der ADHS gewidmet. Er beginnt mit dem Kapitel zu ihrer Entdeckung und Beschreibung und dem Unterschied zweier Arten des Denkens, deren eine sich im Verhalten der von ADHS Betroffenen ausprägt. Das andere Denken der Betroffenen ist bisher kaum beachtet und untersucht worden, weshalb die Ursache auch nicht gefunden werden konnte. Daran schließt ein Kapitel mit der Interpretation des Verhaltens unter diesem neuen Blickwinkel an. Im dritten Kapitel dieses Abschnitts geht es um die Vorteile, die das Denken und Verhalten der betroffenen Personen besitzen.

Im letzten Abschnitt werden die Hindernisse angesprochen, die der Lösung des ADHS-Problems im Wege stehen. Dazu gehe ich zunächst auf das derzeitige wissenschaftliche Paradigma der empirischen Wissenschaften ein, bevor ich im folgenden Kapitel darlege, inwiefern es die Erforschung und Verbreitung der ADHS-Ursache und deren weitere Untersuchungen blockiert. Im letzten Kapitel fasse ich die Fakten und Hindernisse noch einmal zusammen und erörtere die notwendigen Bedingungen, die für einen Perspektiven- und Paradigmenwechsel gegeben sein müssen. Dabei spreche ich auch die Möglichkeiten an, die zum jetzigen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, um zu einer neuen Sicht auf das Verhaltensphänomen ADHS zu gelangen.

 

1 Musahl, H-P.: Experimentelle Psychologie. In: Lexikon der Psychologiehttp://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/experimentelle-psychologie/4555. Download: 14. 03.2014

2 Der Einfachheit halber verwende ich durchgehend die maskuline Bezeichnung, gemeint sind jedoch immer beide Geschlechter.

2. Der Störungsblickwinkel

2.1 Das abweichende Verhalten

Das Verhalten von ADHS-Kindern hat zwei Seiten. Von ihnen findet die störende, auffällige weitaus mehr Beachtung, als die für das betroffene Kind und seine Eltern problematischere: die Verständnisschwierigkeiten. In den Lehrerfortbildungen, die ich durchgeführt habe, wurden deshalb von den Lehrern vor allem Tipps und Hinweise zur Regulierung des Verhaltens im Unterricht gewünscht. Wie diesen Kindern dagegen der Unterrichtsstoff vermittelt werden muss, welche Hilfen und Hinweise sie brauchen, damit von ihnen die Materie gelernt und angewendet werden kann, war nicht relevant. Die gängige Auffassung ist, dass die erforderliche Praxis des Lehrens und Lernens schließlich Teil der Lehrerausbildung ist. Lern- und Verständnisschwierigkeiten der betroffenen Kinder werden deshalb nicht auf die Art und Weise zurückgeführt, in der der Unterrichtsstoff angeboten wird, sondern sie werden als Störungen und Defizite gesehen, die zu beheben nicht von den Lehrern geleistet werden kann. Diese Aufgabe erfüllen Förderangebote wie Frühförderung, Integrationskindergärten oder Förderschulen für Kinder mit eingeschränkten Lernfähigkeiten.

Um die ADHS-Problematik und damit auch die Ursache des Verhaltens zu verstehen, ist es jedoch notwendig, beide Seiten zu sehen, zumal sie sich gegenseitig bedingen. Da das auffallende Verhalten die bekanntere Seite ist, betrachten wir sie zuerst.

An ihm, dem Verhalten, stört weniger, was ein betroffenes Kind tut, als vielmehr, wie es etwas tut. Durch dieses „Wie“ unterscheiden sich betroffene von nicht betroffenen Kindern, nicht durch die Aktionen und Aktivitäten, die auch bei normalen Kindern vorkommen. Es ist die Art und Weise, in der betroffene Kinder ihre Umgebung wahrnehmen, in der sie auf sie reagieren und sich mit ihr auseinandersetzen, die als störend, irritierend und mitunter auch als nervtötend empfunden wird. Beim hyperaktiven Kind fällt die Umtriebigkeit auf, mit der es Unruhe und Hektik in seiner Umgebung verbreitet. Sie äußert sich im Drang, alles anfassen zu müssen, auch ohne dass ein echtes Interesse an den Gegenständen vorhanden sein muss. Es bleibt jedoch nicht beim Anfassen, sondern Gegenstände werden durch die Gegend geschoben, sie werden irreparabel auseinandergenommen oder zweckentfremdet verwendet: Auf einer elektrischen Zitruspresse wird ein Kilo mürber Äpfel ausgepresst. Elektrische und elektronische Spielgeräte, Uhren, Telefone, Fernbedienungen und Spielzeugmotoren werden in ihre Einzelteile zerlegt, voll abgewickelte Toilettenpapierrollen in die Toilette gestopft und die Spülung betätigt, der Inhalt einer Waschmittelpackung in die Badewanne geschüttet, deren Abfluss vorsorglich zugestöpselt wurde, und der Wasserhahn aufgedreht - die Schaumentwicklung ist beeindruckend.

Das „Wie“ zeigt sich insbesondere aber auch im ansatzlosen, nicht vorhersehbaren Umsetzen plötzlicher Einfälle in Handlungen, auf die kaum rechtzeitig reagiert werden kann: Die Familie sitzt am Frühstückstisch, unterhält sich, das Kind isst sein Müsli. Die Mutter führt gerade die Kaffeetasse zum Mund. Im selben Moment fällt das Kind ihr in den Arm, der heiße Kaffee ergießt sich auf ihren Rock. Was war passiert? Das Kind hatte gesehen, dass unter der Tasse ein Kaffeetropfen hing und hatte verhindern wollen, dass er der Mutter auf den Rock fällt - und zugreifen geht halt schneller als zu sagen: Mama, unter deiner Tasse hängt ein Tropfen Kaffee. Bis man den Satz ausgesprochen hat, ist der Tropfen ja bereits auf dem Rock. Im Normalfall benötigen Kinder und Erwachsene eine kurze „Vorbereitungszeit“, um die Situation zu erfassen und auf sie zu reagieren. Diese Vorbereitungszeit scheint bei betroffenen Kindern häufig nicht gegeben zu sein. Sie sind aus dem Stand heraus in der Lage, Einfälle und Absichten blitzschnell in Handlungen umzusetzen, ohne dass für Umstehende auch nur im Ansatz zu erkennen wäre, was jetzt gleich passieren wird.

Diese Kinder sind ständig in Bewegung, sie klettern überall hinauf, auf Tische, Schränke, Regale, bauen sich Kletterhilfen aus unterschiedlichen Gegenständen. Mein zweijähriger Sohn errichtete aus Schubladen und Spielzeugkisten eine Treppe, mit der er auf einen Schrank klettern und an dessen Kante er wieder herunter rutschen konnte… Bei Affen wird die Fähigkeit, mittels einer Kiste an eine an der Zimmerdecke aufgehängte Banane zu gelangen, als Intelligenzleistung betrachtet; beim Kind gilt ein ähnliches Verhalten als Störung der Informationsverarbeitung bzw. als ein Symptom der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.

Typisch ist der sprunghafte, übergangslose Wechsel zwischen verschiedenen Aktivitäten. Die Kinder beginnen Vieles, das häufig nicht zu einem Ende geführt wird, es sei denn, ein Gegenstand weckt ihr nachhaltiges Interesse oder er erfüllt einen Zweck, der über seine Fertigstellung hinausgeht. Ihre Art der Aufmerksamkeit wurde von der Psychologin und Heilpädagogin Cordula Neuhaus (1996) als oberflächlich abtastender, überhüpfender Wahrnehmungsstil bezeichnet. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf verschiedene, scheinbar nicht miteinander zusammenhängende Sachverhalte, die dann auch in dieser (scheinbaren) Zusammenhanglosigkeit berichtet werden. Die Sprunghaftigkeit zeigt sich im raschen, übergangslosen Wechsel von Gedankengängen, der für Andere, die ihm nicht folgen können, als anstrengend und verwirrend empfunden wird - ein Verhalten, das manchen von ihnen auch als Erwachsenen bleibt. Eine selbst betroffene Mutter aus meinem Elterngesprächskreis sagte mir einmal, sie werde von ihrer Familie immer wieder aufgefordert, den Themenwechsel doch bitte anzukündigen, damit man ihr folgen könne.

Dass vor allem die lebhaften Kinder nicht ruhig spielen oder arbeiten können, ist anstrengend für ihre Umgebung. Die Kinder summen oder brabbeln vor sich hin, sie machen Fahrgeräusche, brummen oder quietschen beim Spielen oder sie kommentieren alles, was um sie herum vorgeht, auch das eigene Verhalten. Ihr Interesse an (statischen) Details ist nur gering ausgeprägt, dafür sind Gegenstände, an denen irgendeine Funktion festgestellt oder eine Tätigkeit ausgeübt werden kann, hochinteressant und werden auch ausgiebig ausprobiert: Lichtschalter werden mehrfach an- und ausgeknipst, im Fahrstuhl müssen gleich sämtliche Knöpfe gedrückt werden, die Fernbedienung des Garagentorantriebs wird so oft betätigt, bis dieser seinen Geist aufgibt. Wird dagegen von ihnen Ausdauer und Konzentration zur systematischen Ausführung von Aufgaben verlangt, ermüden sie rasch und empfinden und äußern deutliche Unlustgefühle.

Unverständlich ist für ihr Umfeld die Priorität, die Kinder und Erwachsene scheinbar nebensächlichen oder vermeintlich unwichtigen Einzelheiten einräumen. Dieses Verhalten wird ihnen als mangelnde Fähigkeit ausgelegt, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden zu können. Für alltägliche Situationen trifft die Beurteilung auch häufig zu. Betrachtet man ihr Verhalten jedoch auf längere Sicht, stellt man fest, dass ihnen Dinge aufgefallen sind, auf die außer ihnen keiner geachtet hat, die aber beachtenswert gewesen wären. Diese Eigenschaft führt mitunter zu Problemen, denn man wird als Betroffener schnell als Besserwisser oder Angeber eingestuft. Für Kinder, die aufgrund ihres Verhaltens ohnehin schon zu Außenseitern geworden sind und die nun als Reaktion auf ihre Kenntnisse oder Schlussfolgerungen eigentlich Anerkennung erwarten, wird diese Abwertung zu einer zusätzlichen Negativerfahrung.

Im Unterschied zu den hyperaktiven sind hypoaktive Kinder und Erwachsene eher still, verträumt und geistig häufig abwesend. Sie wirken gedankenverloren oder auch desinteressiert. Selbstvergessen können sie sich stundenlang mit einer Sache beschäftigen, ohne Notiz von ihrer Umwelt zu nehmen. Manche von ihnen zeigen autistische Züge. Sie scheinen nicht nur in ihrer eigenen Welt, sondern auch in einer eigenen Zeit zu leben. Hypoaktive Kinder probieren nicht gern aus, und sie üben wie die hyperaktiven auch nur ungern. Sie beobachten lange, oft scheinbar unbeteiligt, ohne handelnd einzugreifen. Und dann überraschen sie ihr Umfeld damit, dass sie sich Fähigkeiten in erstaunlich kurzer Zeit aneignen. Eine Mutter berichtete von ihrer Tochter: „Wir