ADHS - na und? - Helmut Bonney - E-Book

ADHS - na und? E-Book

Helmut Bonney

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Beschreibung

"Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung" lautet eine Diagnose, die immer häufiger gestellt wird. Nicht nur, dass Medikamente oft die einzige Art der Behandlung darstellen, oft stimmt nicht einmal die Diagnose. Trifft sie zu, können Medikamente zwar für einen bestimmten Zeitraum akute Symptome mildern; die Grundlagen der Störung beheben sie nicht. Von Nebenwirkungen ist nur wenig die Rede. Aber was soll man tun, wenn die Umwelt auf Behandlung drängt und der Arzt sofort zum Rezeptblock greift? Dieses Buch ist für alle Eltern und Pädagogen geschrieben, die ihr Kind und seine "Störung" verstehen wollen und nach Lösungswegen aus der belastenden Situation suchen. Der Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Bonney betrachtet ADHS aus einem anderen Blickwinkel als allgemein üblich: Er sieht "handlungsbereite und wahrnehmungsstarke Kinder" einer Welt ausgesetzt, in der sie immer mehr Informationen in immer kürzerer Zeit verarbeiten sollen. An zahlreichen Fallbeispielen demonstriert er, welche therapeutische Vielfalt unter diesem Aspekt zur Verfügung steht: in der Einzelarbeit mit dem Kind, beim Einbeziehen der ganzen Familie oder für die Zusammenarbeit mit der Schule. Das Buch vermittelt Eltern und Pädagogen nicht nur Wissen, sondern gibt auch Orientierung und Sicherheit im Umgang mit dem Kind wie mit professionellen Helfern.

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Für Yannick

Helmut Bonney

ADHS – na und?

Vom heilsamen Umgang mit handlungsbereiten und wahrnehmungsstarken Kindern

Zweite Auflage, 2015

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite Auflage, 2015

ISBN 978-3-89670-834-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8468-3 (ePub)

© 2012, 2015 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Vorbemerkung: Wie es dazu kam …

1 Die Diagnose überdenken

1.1 Die »Entdeckung« der störbaren Aufmerksamkeit

1.2 Wie die Diagnose gestellt wird

1.3 Wo »sitzt« die Störung?

1.4 Wahrnehmung und Wissen

2 Ein klares Licht auf die Entwicklung werfen

2.1 Anpassungsprobleme nach der Geburt

Kinder mit besonderen Ansprüchen

2.2 Das Kind kennenlernen: Neue Aufgaben für die Eltern

2.3 Das Kind begegnet der Lernkultur

Mädchen sind anders

3 Die körperliche Verfassung prüfen

3.1 Körper und Nerven: Aufgaben für den Kinderarzt

3.2 Die Wirkung des Stimulations-Teufelskreises auf das Nervensystem

Folgerungen für Erziehung und Führung

4 Die Stärken erkennen

4.1 Wahrnehmungsintensive Kinder brauchen Schutz

4.2 »Allzeit bereit«: Vom Risiko einer Tugend

5 In verlässlichen Kontakt kommen

5.1 Handeln braucht Fühlen und Fühlen braucht Handeln

5.2 Sicherheit schafft Ruhe

6 Eltern sind die »Nr. 1« für ihre Kinder

6.1 Das Miteinander der Eltern

Elterliche Solidarität trotz Trennung

Väter

Mütter

6.2 Die Rolle der Großeltern

6.3 Die Einflüsse der Lehrer

Ungünstige Einflüsse

Günstige Einflüsse

7 Zeit lassen

8 Anerkennung geben und Vertrauen aufbauen

8.1 Der »Störenfried« und seine Eltern brauchen viel Anerkennung

8.2 Mit Vertrauen geht alles besser

9 Zusammenwirken von Kind, Eltern und Schule

9.1 Vom gegenseitigen Respekt

9.2 Hilfreiche Strategien

Gegenseitige Information von Eltern und Lehrern

Beobachtung erwünschter Verhaltensweisen

Das Kind übernimmt Verantwortung in der Schule

Lehrer »hypnotisieren«

Präsenz der Eltern während der Schulzeit

Wiederaufbau des Schulbesuchs

10 Hilfreiches und Nützliches – Anregungen für zu Hause

10.1 Systemische Therapie begünstigt die Heilung der AD(H)S

10.2 Nützliche Übungen

Spiele im Haus

Beispiele für Übungen draußen

Ausblick: Die Rückkehr der Achtsamkeit

Anhang

A) Entwicklung von AD(H)S-Konstellationen und Vorbeugung bei jungen Kindern

B) Nach der Grundschulzeit: Jugendliche und Erwachsene

C) Häufig gestellte Fragen

D) Eine hilfreiche Therapie finden, wenn es in der Familie um AD(H)S geht

Literatur

Über den Autor

Vorbemerkung: Wie es dazu kam …

Es war um die Zeit, als Struwwelpeter ein Kind war, da begannen die Menschen, sich zu verändern. Anfangs bemerkte das niemand. Momo, die kleine Heldin aus Michael Endes gleichnamigem Buch, war eine der Ersten. Als feinsinniges Kind wusste sie, dass ein gutes Leben auch in ausreichendem Maße Zeit benötigt, und nahm den Kampf gegen die zeitfressenden grauen Herren auf. Von den Erwachsenen wussten nur noch wenige, wie die zeiträuberische Not entstanden war. Die meisten verstanden es nicht mehr, die Zeit zu nutzen und das mögliche Glück zu suchen. Sie lebten mit zunehmender Geschwindigkeit ganz und gar in der Gegenwart. Und weil der Fortschritt der Medizin ihnen eine immer längere Lebenszeit in Aussicht stellte, konnten sie die tief in ihren Seelen rumorende Zukunftsangst vor sich und ihren Mitmenschen verbergen.

Schlimm war jetzt auch, dass die Kinder den Erwachsenen nicht mehr gefielen, während sie selbst bemerkten, wie ihnen Stück für Stück Hoffnung und Glück abhandenkamen. Und weil sie von der eigenen Zukunft lieber nichts wissen wollten, blickten sie auf ihre Kinder wie auf ihre eigene unglückliche Vergangenheit: Alles, was heute schwierig ist, musste doch in der Kindheit seinen Anfang genommen haben! Ihre Hoffnung auf das spätere Glück war enttäuscht worden, und in den Tiefen ihrer Seele hatte sich eine bedrohliche Zukunftsangst breitgemacht. Daher begegneten die Erwachsenen ihren Kindern, kaum dass sie geboren waren, ängstlich und zugleich fordernd. Die Kinder erschienen ihnen einfach nicht mehr gut genug: Was auch immer sie taten, geschah angeblich ohne sorgfältige Aufmerksamkeit, zu eilig, ziellos und vermeintlich nur auf Annehmlichkeiten ausgerichtet.

Manche Jungen schienen sich nun zu pausenlosem Tun verpflichtet zu fühlen und jedes Gefühl der Langeweile unbedingt vermeiden zu wollen. Ihr großes und tiefes Fühlen und ihr neugieriger und freudiger Tatendrang führten nicht mehr zur Anerkennung durch die Welt der Erwachsenen. Andere Kinder, besonders die Mädchen, schienen nur noch ihren Träumen nachzuhängen, wirkten uninteressiert an den Erwachsenen, da sie nicht mehr auf diese hörten – gerade so, als ob sie keine Ohren mehr hätten.

Die Kluft zwischen der Welt der Erwachsenen und der Kinderwelt wurde breiter und tiefer. Es war den Kindern zuwider, wenn die Eltern und die Lehrer nur noch wissen wollten, ob sie gut funktionieren, wenn sie fast nur noch ihre Schulleistungen bemerkten und beurteilten. Stolz waren die Erwachsenen nur noch auf solche Kinder, die sich schon in frühen Jahren als junge Künstler und Sportskanonen erwiesen oder tüchtige Wissenschaftler zu werden versprachen. So versuchten manche Kinder, schnell erwachsen zu werden, weil sie die Kluft nicht mehr ertragen konnten. Andere beharrten dagegen darauf, wie Kleinkinder mit Macht ihre Kinderwünsche gegen die Welt der Erwachsenen durchzusetzen.

Zugleich verloren die Erwachsenen allmählich ihre Achtsamkeit gegenüber sich selbst. Sie fragten nicht mehr nach ihrer eigenen Verfassung und gönnten sich kaum noch Pausen. Sie vergaßen jede besinnliche oder träumerische Zerstreuung, weil nur ihre Leistung zählte. So kam es, dass ihnen ihre Arbeit – abgesehen vom Geld, das sie dafür bekamen – zunehmend sinnlos erschien. Sie wurden verbissen und vermochten vor lauter Angst nicht mehr, die ihnen bleibende Zeit zum Spielen zu verwenden. Und weil ihnen das Spiel abhandenkam, wussten sie auch nichts mehr vom Ernst der Dinge.

Ärzte und Psychologen wussten zunächst nicht, warum die große Anstrengung der Eltern und Lehrer die Kinder eher durcheinanderbrachte, statt ihnen zu helfen. Die Gehirne der Menschen waren wie früher gesund und arbeiteten störungsfrei, fassbare neue Krankheiten oder Vergiftungen konnten nicht nachgewiesen werden. Die neuen Arzneien schienen erst hilfreich zu sein, zeigten aber nur kurze Wirkung. So kam es, dass warnende Stimmen forderten: Die Aufmerksamkeit und pausenlose Leistungsfähigkeit der Kinder müsste von Anfang an trainiert werden. Nur so könnte ihnen der unverstandene Leidensweg der Erwachsenen erspart werden.

So entdeckte die westliche Welt das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS), und für die sehr unruhigen, aktiven Kinder fügte sie noch ein H (für hyperaktiv) dazu (ADHS).

1 Die Diagnose überdenken

»Immer, wenn ein Kind mit den Buchstaben A-D-H-S in Verbindung gebracht wird, sollte das Denken anfangen, nicht aufhören.«

Arthur Cohen, amerikanischer Sozialpsychiater

In Deutschland und anderen Ländern der westlichen Kultur erhalten 3–5 % der Grundschulkinder mit auffälligem Verhalten die Diagnose AD(H)S. Im Laufe der letzten 20 Jahre haben sich ausgedehnte Netzwerke aus Laien und Fachleuten gebildet, die es sich zur Aufgabe machen, Kindern, die als Fälle von AD(H) S gelten, Hilfen anzubieten. Ausgangspunkt dieser Initiativen ist ein bestimmtes Störungsverständnis, das sich zum einen auf ein definiertes Verhaltensmuster bezieht und zum anderen auf der Annahme gründet, dass bei diesen Kindern veränderte Hirnstrukturen und Stoffwechselwege anzunehmen sind. AD(H)S gilt als die am besten erforschte kinderpsychiatrische Störung. Es ist deshalb unüblich geworden, genauer hinzusehen und mit weiter gestelltem Blick zu prüfen, wie sich diese Verhaltensauffälligkeiten entwickelt haben und welche Lösungswege sich eröffnen, wenn man die Stärken der Kinder erkennt und die hilfreichen Wirkungsmöglichkeiten ihres sozialen Umfelds berücksichtigt, das heißt: wenn man sich um Lösungswissen bemüht.

1.1 Die »Entdeckung« der störbaren Aufmerksamkeit

Der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann beschrieb als einer der Ersten das Störungsmuster, das heute AD(H)S genannt wird. In seinem Struwwelpeter (1846) berichtet er vom Zappelphilipp und seinen Eltern, die sich gegenüber ihrem unruhigen Sohn ohnmächtig zeigen. Philipp hört nicht auf die Anweisungen seiner Eltern, es entwickelt sich ein ziemliches Chaos am Mittagstisch.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnen die psychologischen und medizinischen Wissenschaften intensiv mit der Erforschung des Gehirns und seiner Leistungsmöglichkeiten. Dabei rücken die Aufmerksamkeit und ihre Störungen in das Zentrum des Interesses. »Aufmerksamkeit hat Auswirkungen auf jede Grundform geistiger Aktivität, ist unentbehrlich für den systematischen Erwerb von Wissen, Kontrolle der Leidenschaften und Gefühle und für die Steuerung des Verhaltens«, formuliert der amerikanische Psychologe William Carpenter schon 1874. Um 1900 sind sich Soziologen, Psychologen und Mediziner darin einig, dass ihre Fachgebiete für optimale Aufmerksamkeitsleistungen der Mitglieder unserer Gesellschaft Sorge zu tragen hätten. Schwächen der Aufmerksamkeit würden die geistig-seelische Entwicklung nachhaltig stören und somit auch dem gesellschaftlichen Miteinander schaden. Die angenommene Bedeutung von Aufmerksamkeitsleistungen und ihren Störungen rückte damit vom rein wissenschaftlichen ins allgemeine öffentliche Interesse: Die Gesellschaft fühlt sich von Menschen bedroht, die der versuchten Normierung der Aufmerksamkeit nicht entsprechen. Der Wert eines Mitglieds der Gesellschaft wird nun an seinem Vermögen zur Aufmerksamkeit gemessen. Theodule Ribot, ein um 1900 bekannter psychologischer Forscher, bringt diese Sichtweise auf den Punkt: »Südamerikaner, Vagabunden, Prostituierte und Kinder haben Störungen der Aufmerksamkeit.«

Neue Krankheitsformen der Aufmerksamkeit werden beschrieben, und in der Folge wachsen die Anstrengungen, diesen zu begegnen. Die Gesellschaft entwickelt ein tiefes Misstrauen gegenüber kreativen Menschen, weil sich diese den verlangten Forderungen an Aufmerksamkeitsleistungen zu entziehen scheinen. Die Hirnforschung macht große Fortschritte und leistet mit Erkenntnissen über die Struktur des zentralen Nervensystems und Analysen zu dessen Stoffwechsel einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung der Aufmerksamkeitsstörungen. Im Jahre 1937 wird zufällig entdeckt, dass eine hirnwirksame Substanz (Benzedrin) sich günstig auf bestimmte Störungen der Aufmerksamkeit auswirkt. Damit schien bewiesen, dass Menschen mit unzureichenden Aufmerksamkeitsleistungen an einer Gehirnkrankheit leiden. In der Folgezeit wurde mit enormen Forschungsanstrengungen versucht, die beteiligten Hirnprozesse zu verstehen. Mittlerweile herrscht die Meinung vor, dass bei Kindern und Erwachsenen, die ein AD(H)S-Verhaltensmuster zeigen, ein wahrscheinlich vererbtes Hirnstoffwechselproblem besteht, das eine Behandlung mit einer dem Benzedrin ähnlichen Arznei notwendig macht.

1.2 Wie die Diagnose gestellt wird

Bis heute wurden keine Untersuchungsverfahren entwickelt, mit denen die Abnormität eines »AD(H)S-Gehirns« unzweifelhaft feststellbar wäre (etwa standardisierte Tests, Blutanalysen oder im EEG auszumachende Besonderheiten). Die AD(H)S-Diagnose ist das Ergebnis einer Verhaltensbeobachtung: Die Kinder werden in verschiedenen Situationen beobachtet, und ihr Verhalten wird von Dritten nach festgelegten Gesichtspunkten eingeschätzt und klassifiziert. Entsprechend verfährt man auch bei anderen kinderpsychiatrischen Störungen, die nicht als Folge einer vermuteten Gehirnstörung aufgefasst werden. Eine AD(H)S-Diagnose wird dann gestellt, wenn eine festgelegte Zahl von 18 definierten Verhaltensauffälligkeiten in mindestens zwei verschiedenen sozialen Situationen erreicht wird. Die Entwicklungslinie des Kindes, seine seelische Verfassung und seine Lebensumstände bleiben dabei unberücksichtigt. Es zählt nur, wie sich das Kind verhält.

Martin

Martin besucht die dritte Grundschulklasse. Er hält sich dort nicht an die Regeln, spielt mit unterrichtsfremden Gegenständen, läuft in der Klasse herum und ist durch die Aufforderungen der neuen Lehrerin nicht zu beeinflussen. Er scheint sich nicht anstrengen zu wollen und wehrt sich im Unterrichtsverlauf gegen jede länger dauernde Leistungsanforderung. Die über AD(H)S informierte Lehrerin bestellt die Eltern zum Gespräch ein. Überzeugt davon, dass Martin ein AD(H)S-Kind ist, kann sie kaum glauben, dass die von ihr beobachteten Verhaltensauffälligkeiten erst mit Beginn des dritten Schuljahres begonnen haben sollen und die Eltern mit ihm zu Hause keinerlei Schwierigkeiten haben. Angeregt durch die Lehrerin stellen die Eltern ihren Sohn bei einem Kinderpsychiater vor, der bestätigt, dass die Verhaltensauffälligkeiten nur in der Schule vorkommen. Die psychologische Diagnostik klärt auf, wie schwer Martin es hat, den Verlust seiner früheren Lehrerin zu verschmerzen, und dass psychotherapeutische Hilfe nötig ist.

Alle »wissen« es: Wenn sich ein Kind wie der oben beschriebene Martin verhält, ist nicht lange zu rätseln: Das ist AD(H)S. Jeder fühlt sich als Fachmann dafür. Diese Diagnose kann man ohne fundierte Ausbildung stellen. Das scheint auch eine unlängst veröffentliche amerikanische Studie über mehr als 9000 ADHS-diagnostizierte Kinder zu belegen (»Who receives a Diagnosis of ADHD in the US Elementary School Population?«): 70 % der Diagnosen waren von Laien gestellt und gründeten nicht auf den gültigen wissenschaftlichen Kriterien. Diese Kriterien stellen im Übrigen auch die Fachleute nicht zufrieden. Deshalb haben sich manche psychologischen Experten für sich eigene diagnostische Instrumente zurechtgelegt oder verzichten einfach auf diagnostische Abklärungen, weil sie ohnehin wissen, worum es sich handelt.

Anna

Anna hat ihr Verhalten seit der Einschulung in die erste Klasse verändert: Sie ist zu Hause verträumt und trödelig, scheint sich von den Eltern zurückgezogen zu haben, erzählt nichts und spielt ausgedehnt und versunken mit Sachen, die sie seit ihrem 4. Lebensjahr kaum mehr beachtet hat. Sie wird bei den Mahlzeiten mit dem Essen nicht fertig und benötigt für alle Alltagsdinge schrecklich viel Zeit. Die besorgten Eltern informieren sich und sind sicher: »Sie hat ADS ohne H!« Von der Lehrerin erfahren sie über Anna nur Gutes: Sie ist im Unterricht ganz bei der Sache, lernt tüchtig mit besten Ergebnissen und hat in der Schule Anschluss an Freundinnen gefunden. Die psychologische Untersuchung ergibt, wie schwer es das Mädchen mit der Umstellung auf den Schulalltag hat. Sie wäre eigentlich lieber noch ein kleineres Mädchen, das sich umfassend von beiden Eltern betreuen und versorgen lassen möchte. So träumt sie einerseits von früheren Zeiten, ist aber andererseits auch neugierig auf alles, was sie in der Schule lernen kann.

Eine ADHS- oder ADS-Diagnose (sog. einfache Aufmerksamkeitsstörung) darf in Übereinstimmung mit den geltenden Richtlinien nur dann gestellt werden, wenn das beobachtete problematische Verhalten unabhängig von der Umgebung auftritt. Alle definierten diagnostischen Kriterien entsprechen situationsabhängigen kindertypischen Verhaltenselementen. Was ein Lehrer in der Schule wahrnimmt oder Eltern zu Hause beobachten, kann zwar mit den gelisteten Auffälligkeiten übereinstimmen, erlaubt aber keine entsprechende Diagnose, wenn die Problematik in nur einer sozialen Situation auftaucht, also z. B. nur in der Schule oder nur zu Hause.

Luigi

Der 11-jährige Luigi lebt in einer vielfach durch Geldsorgen und ernste seelische Krankheiten beider Eltern belasteten Familie. Er fällt seit der vierten Grundschulklasse u. a. durch sein aggressives Verhalten gegenüber Mitschülern auf. Sehr gut begabt schafft er den Übergang in das Gymnasium, scheitert aber in der 5. Klasse, weil er angesichts seiner schweren seelischen Irritation den dortigen Leistungsanforderungen nicht entsprechen kann. Zudem erfährt er massive Abwertungen durch Mitschüler und Lehrer, weil er andere Kinder immer wieder gefährlich verletzt. Nachdem vielfältige ambulante Hilfen wirkungslos bleiben, wird er in eine kinderpsychiatrische Klinik eingewiesen. Dort besteht kein Zweifel an einer AD(H)S-Erkrankung, obwohl die Eltern nachdrücklich darauf hinweisen, dass Luigi im Elternhaus stets gut zu führen ist, sich an die Regeln hält, sich nicht nur schulbezogen lernbegierig zeigt, sondern auch mit nachhaltigem Interesse und Geschick seinem Klavierlehrer Freude macht. In der Klinik ist bekannt, dass die AD(H)S-Diagnose an die Situationsunabhängigkeit des Problemverhaltens gebunden ist. Aber man glaubt den Eltern nicht, sondern fühlt sich belogen. Die Klinik bleibt bei der AD(H)S-Diagnose und entlässt Luigi schließlich mit einer Verordnung entsprechender Arzneien. Die hochkomplexe familiäre Problematik wird nicht psychotherapeutisch bearbeitet.

Die physikalische Wissenschaft von den kleinen Teilchen weiß, dass die Beobachtung vom Beobachter abhängt. Entsprechendes gilt auch im Bereich der Psychologie. Obwohl die AD(H)S als die am besten untersuchte kinderpsychiatrische Problematik gilt, herrscht eher wenig Bewusstsein über deren Komplexität. Nimmt man nur die Verhaltensoberfläche in den Blick, erfährt man zu wenig von der Entwicklungs- und Lerngeschichte, von den Lebensumständen und den Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Je nach Ausgangspunkt, von dem aus wir wahrnehmen, konstruieren wir einfachere oder komplexere Wirklichkeiten: Müssen wir uns denn wirklich um so Vieles kümmern, oder reicht es aus, über Biologie nachzudenken?

1.3 Wo »sitzt« die Störung?

Die medizinische Forschung erlebte einen großen Zuwachs an Wissen, als man damit begann, Leichen zu öffnen. In der Folge wurde es möglich, eine Fülle von beobachteten Krankheitssymptomen bestimmten organischen Veränderungen zuzuordnen. Mit der Zeit entstand eine sehr hilfreiche Systematik der körperlichen Störungen und ihrer Bezüge zu einzelnen oder mehreren Organen. Diese half, Ursachen rascher zu erkennen und wirkungsvolle Behandlungen einzuleiten. Schwieriger war es mit dem Gehirn: Seine Struktur und seine komplexe Organisation wurden erst mit der Entwicklung der neuen bildgebenden Verfahren transparenter. Heute lassen sich die Auswirkungen von Blutansammlungen, Durchblutungsstörungen, Hirntumoren oder zerstörtem Hirngewebe auf das Erleben und Verhalten von Kranken gut erklären. Komplexe Verhaltensauffälligkeiten wie Neurosen und Psychosen aber lassen sich nach wie vor nicht organisch erklären. Dessen ungeachtet geht die psychiatrische Wissenschaft nach wie vor davon aus, dass diese Erkrankungen hirnorganische Ursachen haben.

Als die Aufmerksamkeit und ihre Störungen zunehmend in das Interesse der Öffentlichkeit gelangten und komplexe Hirnfunktionen (wie z. B. die Wahrnehmung) besser erklärt werden konnten, bemühte man sich in der Hirnforschung darum, auch deren organische Voraussetzungen zu verstehen. Zunächst ging man von einem Aufmerksamkeitszentrum aus, das im Vorderhirn vermutet wurde. Später wurde die Bedeutung von Zellverbänden in den hinteren Hirnabschnitten und bestimmten zentralen Kernen herausgearbeitet. Dazu lieferten neue Kenntnisse über die Hirnchemie Annahmen zu bestimmten Stoffwechselabläufen und deren Störungen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein könnten. So wird heute ein weit gespanntes zelluläres Netz als Ort der Aufmerksamkeit und ihrer Störungen identifiziert: Fehlfunktionen dieser Nervenzellverbände, die mit den Überträgerstoffen Dopamin und Noradrenalin arbeiten, werden für die AD(H)S verantwortlich gemacht.

Abb. 1: Aufmerksamkeitshirnorte und ihr Zusammenwirken (modifiziert nach G. Hüther 2007)

Soweit seien die Erkenntnisse der Hirnforschung benannt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die für Aufmerksamkeitsleistungen verantwortlichen Funktionsorte und die entscheidenden Stoffwechselvorgänge zu bestimmen.

1.4 Wahrnehmung und Wissen

»Am Krankenbett schweigt jede Theorie!« So fordert schon 1761 der französische Arzt Covisart (zit. in M. Foucault: Die Geburt der Klinik). Jeder Laie tut gut daran, den Arzt nach seinen Wahrnehmungen zu fragen, auf die er sein Wissen gründet. Durch diePraxisroutine und das hohe Arbeitstempo hat solches Fragen oft nicht genug Raum und Zeit. Zudem sind die Eltern von der Angst bestimmt, ihrem Kind könne ernstlich etwas fehlen. Sie möchten deshalb dem Experten und seinen Kenntnissen vertrauen. Sie wissen nicht unbedingt davon, dass es – wie es der Physiker H. Haken glaubhaft macht – die »Versklavung der Meinung« gibt, weshalb auch durchaus feinsinnige Experten gar nicht mehr bemerken, dass sich ihr diagnostisches Urteil nicht auf ihre eigenen Wahrnehmungen stützt. So entstehen Modediagnosen.

Es ist eine gute Übung, wenn man im Zweifel eine zweite Meinung einholt. Beide Einschätzungen zu berücksichtigen ermöglicht dann eher die Entwicklung eines hilfreichen Lösungsplans.

2 Ein klares Licht auf die Entwicklung werfen

Kein Kind wird mit AD(H)S geboren.

Zum Zeitpunkt der Geburt wiegt ein neugeborenes Kind im Durchschnitt etwa 3000 Gramm und ist ca. 50 cm lang. Alle Organe sind zwar vorhanden, müssen ihre Funktionsweisen jedoch dem Leben außerhalb des Mutterleibes anpassen: Zum Beispiel sorgt die gereifte Lunge für die Atmung, dem Darm gelingt mit Unterstützung durch die Leber allmählich die Verdauung der Speisen. Das Gehirn verarbeitet die vielen Signale aus der Umgebung und organisiert die Vielfalt der Stoffwechselfunktionen. Einige Monate nach der Geburt funktionieren alle Organe mit Ausnahme des Gehirns vollständig. Das Gehirn unterscheidet sich von anderen Organen grundsätzlich in einem Punkt: Es bleibt zu keinem Zeitpunkt, was es war. Es reift und wächst nicht nur, wie das z. B. die Muskeln und Knochen tun, sondern es wandelt seine Funktionsweise lebenslang unter dem Einfluss der kindlichen und späteren Entwicklung. Die Summe der gemachten Erfahrungen, das Lernen und die Fülle der Umweltbedingungen bewirken den ständigen Umbau der Hirnstrukturen und ihren wechselseitigen Einfluss. Nervenzellverbände verknüpfen sich pausenlos neu und sichern so das Gelernte. Diese Eigenschaft des Gehirns wird Neuroplastizität genannt. Kein anderes Körperorgan verfügt über eine vergleichbare Eigenschaft.

Kein Kind wird mit AD(H)S geboren. Die Neurowissenschaften gehen von AD(H)S-spezifischen Hirnfunktionen aus, die für die Ausprägung dieser Störung ab dem Grundschulalter verantwortlich sein sollen. Folglich muss man versuchen zu verstehen, welche Bedeutung die Neuroplastizität und solche Entwicklungseinflüsse haben, die das Gehirn des AD(H)S-Kindes verändern.

Abb. 2: Summe der Einflussfaktoren, die eine Bedeutung für die kindliche Entwicklung haben