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Eine der schönsten skandinavischen Weihnachtserzählungen: drei Freunde auf einer Wanderung im Hochgebirge Islands In der Adventszeit bricht Benedikt mit seinen Freunden Leo und Knorz zu einer ganz besonderen Wanderung auf. Die drei suchen in der Einsamkeit des Hochgebirges nach verlorenen Schafen, um sie vor den Winterstürmen zu retten. Die Novelle des großen isländischen Autors Gunnar Gunnarsson liest sich wie eine Meditation über das menschliche Leben und die Natur.
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Seitenzahl: 94
Veröffentlichungsjahr: 2025
Gunnar Gunnarsson
Erzählung
Reclam
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962469
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Harald Sohlberg, Winternacht im Gebirge, 1918. – © Sotheby’s / akg-images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962469-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014750-4
reclam.de | [email protected]
Advent im Hochgebirge
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Nachbemerkung
Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder nach seiner Weise. Es gibt mancherlei Arten. Auch Benedikt hatte seine eigne. Sie bestand darin, dass er zu Beginn der Weihnachtszeit, ja wenn es das Wetter erlaubte, möglichst schon am ersten Adventssonntag Proviant, Strümpfe zum Wechseln, mehrere Paar neue Lederschuhe sowie einen Petroleumkocher in den Rucksack packte, dazu eine Kanne Petroleum und ein Fläschchen Spiritus mitnahm und sich auf den Weg in die Berge machte, wo zu dieser Jahreszeit sonst nur winterharte Raubvögel, Füchse und einzelne verirrte Schafe umherstreiften. Und gerade auf diese Schafe war er aus, auf Tiere, die bei den regelmäßigen herbstlichen Einsammlungen nicht aufgefunden worden waren. Sie sollten nicht dort drinnen erfrieren oder verhungern, nur weil niemand sich die Mühe gab oder es wagte, sie zu suchen und heimzubringen. Auch sie waren lebendige Geschöpfe. Und er fühlte gleichsam eine Art Verantwortung für sie. Sein Ziel war also ganz einfach, sie aufzufinden und unversehrt unter Dach und Fach zu bringen, ehe das große Fest seine Weihe über die Erde und Frieden und Wohlgefallen in die Herzen der Menschen senkte, die ihr Möglichstes getan haben.
Auf dieser seiner Adventswanderung war Benedikt immer allein. Oder besser, ohne menschliche Begleitung. Denn er hatte ja seinen Hund und meistens auch seinen Leithammel bei sich. Sein jetziger Hund hieß Leo und war, nach Benedikts Ausspruch, ein wahrer Papst von Hund. Der Hammel hörte wegen seiner Ausdauer auf den Namen Knorz.
Diese drei waren auf derartigen Ausflügen jetzt schon seit einer Reihe von Jahren unzertrennlich gewesen und kannten einander nachgerade in- und auswendig mit jener tiefgründigen Bekanntschaft, die vielleicht nur zwischen einander fernstehenden Tierarten möglich ist, wo kein Schatten des eigenen Ich, des eigenen Blutes, eigener Wünsche und Begierden verwirrend oder verdunkelnd dazwischentritt. Übrigens gehörte noch ein Vierter zu dem Bunde, das Pferd Faxe; allein es war leider zu schmalfüßig und schwer, um den tiefen, lockeren Schnee des Vorwinters zu durchwaten, und überdies nicht recht fähig, allzu viele anstrengende Tage mit der schmalen Kost durchzuhalten, mit der die anderen drei sich behelfen konnten. Nur mit schmerzlicher Betrübnis trennten sich Benedikt und Leo von ihm, wenn auch nur für eine Woche. Knorz nahm diese Schickung wie alles andere mit größerer Ruhe.
Da wanderte das Kleeblatt durch den Wintertag: voran Leo, der trotz der Kälte die Zunge zufrieden aus dem rechten Mundwinkel hängen ließ, hinter ihm Knorz in gleichmütigem Trott, zuletzt Benedikt, der seine Skier hinter sich herzog. Die Schneedecke war hier unten im bewohnten Lande noch zu leicht und locker, um einen Skiläufer zu tragen; man musste durch den Schnee stapfen und stieß dabei mit den Zehen gegen Erdschollen und Steine – puh, es war recht beschwerlich voranzukommen, aber sonst keine große Sache. Leo war nach Hundeart vielfach beschäftigt und in bester Laune. Zuweilen konnte er sich nicht mehr halten, musste sich Luft machen. Dann jagte er in wilden Sätzen zu Benedikt zurück, dass der Schnee um ihn stob, bellte zu ihm auf, strebte an ihm empor und verlangte, gelobt und gestreichelt zu werden.
»Ja, du bist ein wahrer Papst«, sagte dann Benedikt; das war nun einmal sein Kosename für seinen Kameraden, ein höheres Lob gab es in Benedikts Munde nicht.
Vorläufig waren sie durch besiedeltes Land unterwegs nach Botn, dem letzten Gehöft vor den Bergen. Sie hatten den ganzen Tag vor sich und nahmen ihn gemächlich, folgten den Pfaden von Hof zu Hof, machten Aufenthalt und begrüßten Leute und Hunde. »Aber eine Tasse Kaffee …« – »Nein, danke, heute nicht …« – sie möchten gern beizeiten am Ziel sein. Dann bekamen sie stattdessen einen Schluck Milch – alle drei. Wieder und wieder musste Benedikt Auskunft geben, was er vom Wetter hielte. Man meine ja nur – wolle keineswegs aufdringlich sein oder den Unglückspropheten spielen. Aber eine Frage sei doch erlaubt. Vielleicht sagte man dann noch: »Ja, was ich noch sagen wollte, Leo ist ja wohl ein Hund, der seinen Weg findet – auch im Dunkeln und bei Schneegestöber?« Man brachte es sozusagen im Scherz vor und vermied es, die Augen aufzuschlagen, vermied es, selbst nur mit dem Blick, auf die reichlich drohenden Wolken am Himmel zu verweisen. Und ging rasch darüber hin: »Den Weg finden, das kann er ja, der Köter.«
»Das können wir alle drei«, antwortete Benedikt unbeirrt und leerte seine Milchschale. »Schönen Dank!«
»Abgesehen von Knorz würde ich mich nun am meisten auf Leo verlassen«, scherzte der Bauer, verschwand einen Augenblick im Hause und holte ihm einen Leckerbissen, etwas zum Knabbern.
Benedikt entgegnete nichts der Art, dass er ein wahrer Papst sei, deutete Leo aber mit einem Nicken an, dass er sich mit dem Fressen Zeit nehmen könne, er werde schon so lange warten. Knorz bekam unterdessen eine Handvoll gutes Wiesenheu. Dann zogen sie wieder los, die drei.
Benedikt war heute nicht in der Kirche gewesen, hatte es versäumt, keine Zeit dazu gehabt. Wollte er zu einigermaßen vernünftiger Stunde ankommen und sich vor dem zeitigen Aufbruch und dem langen Marsch des nächsten Tages genügend ausruhen, so musste der heutige vom frühen Morgen an ausgenutzt werden. Hauptsächlich Knorzens wegen nahm er den ersten Tag so wenig anstrengend. Wohlverstanden: Knorz war schon recht und trug seinen Namen nicht unverdient. Aber man musste achtgeben, ihn nicht gleich zuerst zu überanstrengen. Darum konnte Benedikt den Umweg über die Kirche nicht gut machen. Am ersten Advent ist diese Wanderung durch das Bauernland bis an den Rand der Heide sein Kirchgang. Zudem hatte er ja vor dem Aufbruch in der Gesindestube auf seinem Bettrand gesessen und den Text des Sonntags gelesen, Matthäi 21, von Jesu Einzug in Jerusalem. Aber das Glockenläuten, den Gesang in dem Rasenkirchlein und die weise, ruhige Auslegung des Evangeliums durch den alten Pastor musste er sich dazu denken. Auch das ließ sich machen.
So ging er jetzt durch Schnee – weiß, so weit das Auge reichte – grauweiß der Winterhimmel, selbst das Eis auf dem See bereift oder leicht überschneit. Nur die flachen Krater, die hier und da aus dem Schnee ragten, zeichneten die größeren oder kleineren Ringe ihrer Trichter wie ein mahnendes Muster in die Schneewüste ein. Woran wollten sie wohl mahnen? Ließ es sich ergründen? Vielleicht sagten diese Kratermünder: Lass alles gefrieren, Stein und Wasser erstarren; lass die Luft gefrieren und in weißen Flocken niedersinken und sich wie ein Brautschleier, wie ein Leichentuch über die Erde legen, lass den Hauch in deinem Munde gefrieren und die Hoffnung in deinem Herzen, und im Tode das Blut in deinen Adern – tief drunten lebt doch das Feuer. Vielleicht sagten sie das. Und was meinten sie damit? Vielleicht sagten sie auch etwas anderes. Aber jedenfalls: wenn man von diesen schwarzen Ringen absah, war alles weiß, insbesondere auch der See im Tal – eine glitzernde weiße Fläche, glatt wie eine Tenne. Für wen? Wen lud er zum Tanze?
Und wie all dieser Weiße entstiegen, in der nur die schwarzen Kraterringe und vereinzelte gespenstische Lavasäulen hie und da aufragten, lag eine Weihe über diesem Sonntag in dem Bergbezirk, eine herzbeklemmende Weihe. Eine unermessliche, unschuldsweiße Feierlichkeit umgab den stillen Ruhetagsrauch aus den weit verstreuten niedrigen Höfen, die unter dem Schnee fast verschwanden, eine unfassbare, eine unglaublich verheißungsvolle Stille – Advent, Advent. Ja, Benedikt nahm das Wort behutsam in den Mund, dieses große, stille, erstaunlich fremde und doch zugleich so vertraute Wort, für Benedikt vielleicht das vertrauteste von allen. Es ist wahr, er wusste nicht genau, was es bedeutete, aber es lag doch eine Erwartung, eine Vorbereitung darin, das fühlte er. Im Lauf der Jahre war ihm dies Wort zum Inhalt fast seines ganzen Lebens geworden. Denn was war sein Leben, was war das Leben der Menschen auf Erden überhaupt anderes als ein unvollkommenes Dienen, das doch von Erwartung, von Vorbereitung aufrechterhalten wurde?
Dann kamen sie zu einem neuen Hof, und der Alltag begegnete ihnen mit seiner Freundlichkeit nach Bauernart; aber Kaffee, nein danke, heute lieber nicht, sie wären sozusagen etwas pressiert, die Tage wären kurz, also schönen Dank. Der Bauer musterte den Himmel lang und sorgfältig und hielt, offen gestanden, nicht viel vom Wetter. »Ja, man muss das Wetter halt nehmen, wie Gott es gibt«, meinte Benedikt. Der Bauer seinerseits sprach nur die Hoffnung aus, es möchte noch vor Einbruch der Nacht losgehen. Solche Reden waren Benedikt ausgemacht zuwider, und also denn, sie müssten weiter.
»Taugen sie auch etwas, deine Begleiter?«, fragt der Bauer und möchte den Mann nicht fortlassen. Er sah ihn vielleicht zum letzten Male, wer weiß – hatte auch so schwer geträumt, und es ließ sich ja mit Händen greifen: um diese drei stand eine Witterung von nahen Prüfungen, wenn nicht von Schlimmerem. »Ist Knorz dir nicht nur ein Klotz am Bein? Kannst du dich auf ihn verlassen – und auf den Hund?« – »Ob ich kann?«, antwortete Benedikt, »wir sind alle drei allerhand gewohnt.«
So etwas soll man nicht sagen in der Stunde der Gefahr, so übermütig soll der Mensch die Mächte nicht herausfordern – der Bauer stand stumm und ließ ihn ziehen. Da gingen sie, die drei, und ein unsicherer, mit sich selbst, mit ihnen und der Welt unzufriedener Mann blieb zurück, sah ihnen nach und kaute Tabak. Solche Leute mochte sonstwer begreifen – alles, sogar das Leben aufs Spiel zu setzen. Und wofür? Für ein paar fremde Schafe. Denn Benedikt hat ja nur ganz wenige, und es fehlt ihm keins.
Vermutlich begriff Benedikt den vorsichtigen Bauern ebenso wenig. Jedenfalls zogen die drei weiter. Heute war ein guter Tag, und keiner sollte ihm den verderben, ein guter festlicher Tag. Heute vor vielen Jahren hielt Jesus seinen Einzug in Jerusalem. Wenn man es wusste, konnte man es auch deutlich spüren; der Tag hatte hiervon sein Gepräge erhalten und durch die Jahrhunderte bewahrt. Benedikt sah ihn so deutlich vor sich, wie er in die herrliche, sonnenleuchtende Stadt einzog. Er hatte ihre weißen Mauern und Häuser in einer Bilderbibel gesehen und Jesus auf dem Esel mitten darin. Die Zweige, die das Volk von den Bäumen schnitt und dem Esel vor die Füße breitete, sahen wie Eisblumen an einer Fensterscheibe aus. Aber dass sie nicht weiß waren, das wusste er genau; sie waren grün, saftig grün, und etwas Sonnenschein haftete an ihren glatten Blättern. Und plötzlich klangen die Worte des alten Buches fast hörbar durch die Luft, als hätten die Wellen des Äthers sie bewahrt und man brauchte nur das Ohr hinzuneigen: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.