Affix of Death - Jill H. Heinrichs - E-Book

Affix of Death E-Book

Jill H. Heinrichs

0,0
5,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Freundin von James Jethro Farck zu sein, in der Welt herumzujetten und die schönen Seiten des Lebens zu genießen – die Zweifel an diesem Traum keimen schneller als Tamara ›Prefix of Death‹ sagen kann. James herrische und oftmals undurchdringliche Art führt von einem Streit zum nächsten, weswegen Tamara die Reißleine zieht und zu Amanda ins Hotel flieht. Dort erfährt sie einige Hintergründe über James Leben. Nach und nach erkennt sie, dass er und weitere ihrer Freunde tief in der Klemme stecken. Alle Fäden laufen bei einem Mann zusammen – Stefano Brandao. Ein ebenso großer wie riskanter Plan könnte dessen intrigantes Spiel auf ewig beenden. Doch dazu müssen sie alle zusammenarbeiten – und sogar noch eine Menge mehr Personen in die Sache hineinziehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

04/2023

 

Affix of Death

 

© by Jill H. Heinrichs

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Hygin Graphix

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto:Tatjana Langliz Fotografie

 

Coverbild › Ich rette die Welt, aber erstmal eine rauchen - Zündstoff‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg; Artwork Cover © 2019 by Christoph Gey

Coverbild ›Puppenmoor‹

© 2021 by Creativ Work Design, Homburg

Stock-Fotografie-ID: 869402154, Bildnachweis: PatriciaDz

Stock-Fotografie-ID: 91740398, Bildnachweis: toxawww

Coverbilder ›X-Romane‹

© by tab visuelle kommunikation, Stuttgart,

& Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-193-5

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Jill H. Heinrichs

 

Affix of Death

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

Nachwort & Danksagung

Die Autorin

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Zweifel am Siege entschuldigt

nicht das Aufgeben des Kampfes.

 

Marie von Ebner-Eschenbach

 

Prolog

 

Tschr … Tschr … Tschr … Tschr … Stimmen hallen an meine Ohren. Sie klingen schockiert. Tschr … Tschr … Dumpfe Worte, von denen ich nur erahnen kann, was sie bedeuten. Mein Blick ist verschwommen. Rechts und links von mir sehe ich bloß Umrisse. Mein Körper liegt auf einer Bahre. Ich rolle an Raufasertapete vorbei, die mit Bildern von menschlichen Skeletten geziert ist.

»Tamara!« Seine Stimme klingt wie ein Schuss Honig im Kaffee. James. Doch der süße Kick schafft es trotzdem nicht, mich ans Hier und Jetzt zu binden. Meine Augenlider schließen sich wie automatisch. Dunkelheit.

 

Ein Ruck fährt durch meinen Körper. Die Bahre kommt schlagartig zum Stehen. Ich befinde mich in einem Raum, der so trist aussieht, als sei ich in Michael Endes Momo gefangen. Die grauen Herren treten an mich heran und spritzen mir eine Substanz in die Armbeuge. Brennend sucht sie sich ihren Weg durch meinen Körper.

»Nei… nein …«, versuche ich mit meinen Lippen zu formen. Niemand lässt sich dadurch beirren. Die Stahlspitze, der Spritzenaufsatz rammt ein weiteres Mal in meine Vene.

Einer der Männer schaut mich mit einem prüfenden Blick an und wendet sich dann zu einem der anderen. »Wir können gleich beginnen.«

»Nei… n…« Meine Lippen erschlaffen. Totenstille. Schwärze. Überall. Ich stehe mitten im Nichts und sehe mich um. Ein Lichtschein strahlt weiter hinten und gibt den Blick auf einen Korbstuhl frei. Die Lehne ist leicht nach hinten gebogen. Ein paar der dünnen Ruten sind oben herausgezogen und stehen auseinander. Das Licht wandelt sich in strahlendes Weiß. »Hallo? Ist hier jemand?« Stück für Stück gehe ich auf den Stuhl zu. Ich muss mir die Hand vor die Augen halten, so sehr schmerzt der Blick in das Hell. Ein lautes Zischen ertönt und plötzlich sitzt Clark auf dem Stuhl. Er hat einen Anzug an. Die schwarzen Bügel seiner breiten Brille reflektieren den Lichtstrahl in mein Gesicht. Unwillkürlich kneife ich die Augen zusammen. Sie tränen. Rinnsale laufen an meinen Wangen hinab. Ich schluchze, obgleich ich nicht traurig bin. Oder bin ich es doch?

»Tamara, jetzt ist es wohl an der Zeit.« Clark seufzt.

»Was meinst du?« Mit meinem Arm wische ich die Tränen weg, versuche, der Lichtreflexion auszuweichen, doch egal wohin ich mich bewege, vermag ich ihr nicht zu entkommen. Bei jedem Schritt trifft mich die volle Wucht der Spiegelung.

»Es war eine wundervolle Reise bis hier her.« Er schaut von mir weg und schlägt seinen linken Fußknöchel auf sein rechtes Knie. Jetzt schaffe ich es, einen klaren Blick auf ihn zu erhaschen, der weder von Helligkeit noch von Tränen getrübt wird. Die Hände legt Clark auf den Oberschenkel.

»Clark? Was ist hier los? Wo bin ich?«

»Keine Sorge, du kommst wieder auf den Damm. Nur …« Clark wippt mit seinem Fuß auf und ab.

»Nur, was?« Vorsichtig gehe ich auf dem pechschwarzen Boden weiter, will näher zu ihm.

»Nur …, leider ohne mich.«

Als ob er einen Zauberspruch gewirkt hätte, zieht sich die Schwärze auseinander. Clarks Körper dehnt sich in die Breite wie ein Kaugummi. Alles spannt sich und mit einem Schrei jagt die Umgebung zusammen. Sie knallt in dem Punkt ineinander, an dem Clark eben noch gesessen hat und löst sich in pure Bewusstlosigkeit auf.

 

1

 

»Und es ist sicher?« James’ Stimme klingt besorgt.

»Mehr als das, mein Junge. Du hast gut daran getan, sie zu dem Spezialisten fliegen zu lassen. Der Gehirndruck war stark. Um ehrlich zu sein, ist es ein Wunder, dass sie ihn so lange ertragen hat. Hier hatten sie die besten Gerätschaften, um an das tiefgelegene Gehirnareal zu gelangen.«

James atmet lautstark aus. Ein Seufzen der Erleichterung? Oder des Frusts? Meine Augen öffnen sich. Die Lider blinzeln, als würden sie gegen reines Sonnenlicht ankämpfen. Dabei ist der schwache Schein einer Neonleuchte die einzige Lichtquelle im Raum. Sie erhellt ein schlicht eingerichtetes, dennoch stilvolles Zimmer. Die weiß getünchte Wand hat hellgrüne Streifen, die wie dicke Bambusrohre aussehen und von der Zimmerdecke bis zum Boden verlaufen. Ein dunkler Parkettboden säumt die gesamte Raumfläche. Vorsichtig bewege ich die Finger, spüre das gepolsterte Weich einer Matratze. Ich liege in einem Bett. Eine dick gesteppte Daunendecke ist über meinem Körper ausgebreitet. Neben mir steht eine geräuschvoll piepende Apparatur. Sie zeigt hellblaue Schlangenlinien auf einem Bildschirm, die aussehen wie die rudimentäre Aufzeichnung eines Gebirges.

»Schau, habe ich es dir nicht versprochen?« Vor James steht ein Mann in weißem Kittel. Ein dunkelblaues Hemd lugt unter dem zugeknöpften Schlitz hervor. Der Mann trägt einen feingestutzten Bart, der lediglich seinen Mund umrahmt. Seine Haut ist olivbraun, beinah grünlich. Er nickt zu mir herüber. Meine Augen huschen zu James. Er steht mit dem Rücken zum Bett. Ich probiere zu schlucken, doch meine Kehle scheint so ausgetrocknet, als habe ich einen Sahara-Sturm eingeatmet.

Wie immer, denke ich, ist er perfekt gekleidet. Nichts könnte ihn entstellen. Er ist wie ein Kunstwerk. All seine Ecken, all seine Kanten machen ihn nur umso schöner.

Als der fremde Mann seine Hand hebt und auf mich zeigt, zögert James. Er scheint verwirrt. Doch trotzdem wendet er sich um. Sein Blick trifft meinen. Er schaut mir direkt in die Augen. Kann es sein, dass die seinen feucht werden?

»Tamara …« Er presst seine Lippen aufeinander und zieht sie ein, befeuchtet sie und lässt sie glänzend wieder hervortreten. Dann fügt er hinzu: »Du bist wach.« Sein Mund verformt sich kurz zu einem schwachen Lächeln. Er kommt auf mich zu und streicht mir sanft über meinen Oberarm. »Wie geht es dir?«

»Ich lasse euch dann mal allein«, mischt sich der Mann ein, bevor ich einen Ton herausbekomme. »Nachher besuche ich euch aber nochmal und bringe meinen Kollegen mit. Jetzt, wo sie wach ist, müssen wir ein paar weiterführende Untersuchungen anstellen.«

»Und die Probe?«, fragt James, dabei gebührt die Aufmerksamkeit seiner faszinierenden Iris weiterhin mir.

»Sobald ich einen Fuß durch die Tür mache, veranlasse ich die Gewebeprobe. Mit Nachdruck, versprochen.«

James schluckt geräuschvoll, macht noch immer keine Anstalten, sich von mir abzukehren. Erwidert dem Mann nichts weiter. Die besagte Analyse scheint ihn nervös zu machen. Was ist geschehen?

Ich höre die Tür ins Schloss fallen. Der fremde Mann ist fort.

»Mir geht … mir geht es gut … glaube ich … Was ist denn …?«

»Du bist ohnmächtig geworden. Wieder mal …« James schüttelt den Kopf, als wolle er eine unliebsame Erinnerung loswerden. »Die böse Vorahnung, die in mir immer weiter nach oben kletterte, ließ mich bereits denken, dass etwas Grundlegendes mit dir nicht stimmen kann. Während der Gamescom war ich deshalb stetig mit Dr. Stein in Kontakt. Er meinte, ihr hattet einen Termin zur Nachkontrolle ausgemacht. Mir war bewusst, dass du ihn, im Angesicht des Gamescom-Debakels und des Umzugs nicht mehr allzu präsent haben konntest und ihn nicht wahrnehmen würdest. Aus diesem Grund habe ich ihn auf einen Zeitpunkt nach dem Umzug verschoben. Ich wollte Dr. Stein direkt zu mir holen, wenn du bei mir angekommen bist und dich ein paar Tage einleben konntest.« James drückt sich Daumen und Zeigefinger auf die Stirn und zieht sie zueinander, sodass eine Hautwulst in der Mitte entsteht. Er atmet geräuschvoll aus und sieht mich unter seiner Hand hindurch weiterhin an. »Du kannst dir denken, wie groß meine Vorwürfe jetzt an mich selbst sind, dass ich dich nicht zu dem ursprünglichen Termin gebracht habe.«

»Vorwürfe?«, krächze ich. »Die brauchst du nicht haben. Ich bin doch diejenige, die den Termin sausen ließ.« Mit tiefen Schlucken versuche ich die Trockenheit im Hals zu bekämpfen, ehe ich weiterspreche. Vergeblich. Schmerz klebt an meinen Mandeln und bahnt sich bei jedem neuen Versuch den Weg ein Stück tiefer meinen Rachen hinab. »Was habe ich denn? Was …?« Schockiert weite ich meine Augen, als mein Blick auf eine Aluminiumverkleidung neben dem Bett trifft. Über meinem Kopf liegt ein schmaler weißer Verband. Ein Stück meiner Haare ist abrasiert. Es sieht aus, als trage ich einen Sidecut. Mehrere Schläuche, durchzogen mit hellen Flüssigkeiten, gehen von sämtlichen meiner Körperteile aus. »Verdammt!« Mir bleibt die Luft weg. Ich muss husten. Der Bildschirm neben mir piept lauter. Die Berge des Gebirges werden immer steiler.

»Mach dir bitte keine Sorgen«, versucht James mich zu beruhigen. Es nützt nichts. Panisch wende ich mich von rechts nach links. »Tamara!« James drückt meinen Körper auf die weiche Matratze und setzt sich zu mir auf die Bettkante. Mein Atem verlangsamt sich wieder.

»Was habe ich?«, frage ich mit mehr Nachdruck.

»Es ist so …«

»Wie ist es?«

»Du hattest ein Gewebe, was gewachs…«

»Einen Tumor? Krebs?« Scharf ziehe ich einen Schwall Luft durch den Mund. So viel, dass meine Lungen bis zur äußersten Gänze gefüllt werden. Die Lungenflügel schmerzen. Ich widerstehe dem Drang zu husten und lasse die Luft in kleinen Schüben wieder entweichen.

James saugt derweil erneut seine Lippenbögen ein und lässt sie befeuchtet aus seinem Mund schnellen. »Das steht noch nicht fest. Die Möglichkeit besteht, dass es ein gutartiger Tumor war, den sie dir herausoperiert haben.«

Tränen nässen meine Augenpartie. »Wie …?«, schluchze ich. »Wie konnte das passieren? Ich meine, in einem Moment … und dann im nächsten …«

»Beruhig dich, Tamara.«

»Ich verstehe nicht …«, keuche ich.

James schaut mit schmerzverzerrtem Blick zur Seite und lässt von mir ab. »Das Gewebe ist gewachsen und hat auf deinen frontalen Gehirnlappen gedrückt«, flüstert er und stützt dabei seine Arme auf die Oberschenkel. »Dieser Tumor musste entfernt werden.«

Vorsichtig taste ich an meinen Kopf. Er schmerzt nicht. Es drückt nicht.

»Leider saß er in einem Areal, an das man durch die Nase nicht herankommen konnte. Normalerweise kann man von dort gut tumoröse Gebilde entfernen.« Er schaut auf meine Hände, die weiterhin meinen Schädel abtasten. »Es kann sein, dass sich das noch ein bisschen komisch anfühlt. Dr. Stein meint, dass es längere Zeit braucht, bis das vollständige Gefühl in der Kopfhaut zurückkommt.« James nimmt meine Hand, die ich immer noch an meine Schläfe halte und zieht sie zu sich. »Du brauchst dich erstmal um nichts sorgen. Was sag ich da? Erstmal?« Er lacht.

»Was meinst du?«

»Du brauchst dich von jetzt an um nichts mehr sorgen. Ich sorge nun für dich. Hast du vergessen, dass du meine Freundin bist?«

Mit einem flachen Atemzug verzieht sich die Panikattacke. Wohlbefinden kehrt zu mir zurück, als ich seine rauen Finger um meine geschlossen fühle. Ich muss schmunzeln. »Wer sind Sie überhaupt?«

James guckt für einen Augenblick irritiert, dann versteht er meinen Witz und grinst. »Gut, dass ich den Ärzten gesagt habe, sie sollen dich, wenn sie dich sowieso schon in Narkose liegen haben, direkt zu Tibor umoperieren. Du weißt ja, dass ich eigentlich nur auf ihn stehe.« Brennend heiß fällt mir Gwendolyns Nachricht wieder ein. James ist unfähig zu lieben, hallt es in meinen Gedanken nach. James ist unfähig zu lieben. Hat sie damit recht? Was wusste sie über James, was ich nicht weiß? Woher kam plötzlich der Brief? Sie ist doch tot. Sie muss …

»Tut mir leid, das war ein Spaß«, fügt James schnell hinterher. »Tamara? Alles okay bei dir? Hast du doch Schmerzen? Soll ich die Ärzte rufen, damit sie dir Beruhigungsmi…?«

»Bestens, mir geht’s bestens!« Die Lüge ist so offensichtlich, dass sie wahrscheinlich einem taubstummen Blinden aufgefallen wäre. Doch James geht nicht näher darauf ein. Er verzieht bloß seine Lippen, formt sie zu einem gequälten Ausdruck und nickt. »Verstehe. Du hast aber wirklich nicht vergessen, dass du und ich …« Er wirkt plötzlich unsicher, deutet mit seiner Hand zwischen uns hin und her.

»Nein, das habe ich nicht«, erwidere ich und bin entschlossen, die Gedanken an Gwendolyns Message ganz weit hinten in meinem Kopf zu parken. Immerhin schaut James mich an, verunsichert und mit einem Hauch an Nervosität, sodass ich in keinem Fall bezweifle, er habe die Worte vor meinem ungeplanten Krankenhausaufenthalt nicht ernst gemeint.

»Gut«, sagt er und beugt sich zu mir. Er küsst mich, ganz sanft. Seine Lippen schmecken nach Menthol und ausnahmsweise fehlt der Geruch nach Zigaretten, der sonst immer an ihnen klebt.

»Dürfen wir stören?« Jemand klopft mit lauten Schlägen an die Tür des Krankenzimmers.

James schreckt von mir zurück. »Natürlich«, äußert er und steht eilig auf. Zwei Männer und eine Frau kommen herein. Der Mann von vorhin ist einer von ihnen, genauso wie Dr. Stein. Er trägt eine hellbraune Cordhose und darüber ein leichtes grünes Hemd. Die Dritte im Bunde ist eine kräftige kleine Dame, die eine breite Brille auf der Nase platziert hat. Ihre Bluse hat eben denselben Farbton wie Dr. Steins Cordhose. Ein stimmiges Bild.

»Dr. Stein war quasi schon auf dem Weg zu euch, als ich ihn über Tamaras Erwachen unterrichten wollte. Deshalb konnte ich euch nicht länger ungestört lassen«, entschuldigt sich der Mann mit der olivgrünen Haut.

James nickt ihm zu, während Dr. Stein sich an mich wendet. »So, dann schauen wir doch mal, wie es dir geht, Tamara.« Erst jetzt bemerke ich die Kladde in Dr. Steins Händen. Er schlägt das oberste Papier zurück und liest das darunter befindliche Dokument. Dann nickt er und reicht es dem Mann von vorhin. »Also …« Er kommt dicht neben mein Bett und legt seine Hand auf James’ Schulter. »Die gute Nachricht ist, wir konnten das wachsende Gewebe gänzlich entfernen.«

»Und die schlechte Nachricht?«, grätscht James zwischen seine Worte.

»Tamara muss noch ein paar Tage hierbleiben. Wir haben noch einige Untersuchungen mit ihr vor, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung ist und der Gehirndruck nicht zurückkehrt. Nach solch einer Operation kann es zu Schwellungen kommen. Eigentlich treten sie meistens direkt danach auf, aber sicher ist sicher.«

»Denken Sie, dieser …, dieser Tumor könnte gestreut haben?«, erkundige ich mich, ehe James etwas sagen kann, der auch zum Reden ansetzen wollte.

»Dafür müssen wir die Gewebeprobe analysieren. Sie liegt dem Labor bereits vor und Dr. Helfiger hat einiges daran gesetzt, dass sie schnellstmöglich bearbeitet wird.«

Der Mann mit der olivgrünen Haut lächelt zu mir hinüber.

»Ich will nichts versprechen«, fährt Dr. Stein fort. »Aber ich bin mir fast schon sicher, dass es ein gutartiger Tumor war.« Jetzt lächelt auch er. Er erinnert mich an meinen Vater, weswegen ich ihm prompt glaube.

»Dann beeilen Sie sich bitte mit der Analyse«, äußert James und es klingt wie ein Befehl. Dr. Stein nickt.

»Das werden wir. Sollte irgendetwas sein, du starke Schmerzen haben oder dich antriebslos fühlen, bemerken, dass in den kommenden Tagen dein Gewicht rapide sinkt, du deine Knochen ächzen spürst, du Flimmern vor den Augen siehst, alles, was nicht normal ist, dann melde dich sofort. Du kannst dort auf die Klingel drücken und jemand wird nach dir sehen.«

»Können Sie sie nicht durchchecken?« James hört sich geschockt an. Glaubt er mir nicht, dass ich körperliche Veränderungen auch selbst bemerken würde? Wahrscheinlich habe ich sein Vertrauen, was das betrifft, verwirkt, als ich jahrelang mit einem wachsenden Tumorgewebe im Kopf herumgelaufen bin, ohne es zu merken …

»Ich war noch nicht fertig, James. Wir werden Tamara selbstverständlich täglich durchchecken. Trotzdem ist es wichtig zu hören, wie sie ihren Körper empfindet, was sie spürt. Wir wissen ja leider nicht, was in ihr vorgeht.«

Jemand klopft an die Tür, ehe James etwas sagen kann. »Darf ich reinkommen?« Meine Mutter steckt ihren Kopf durch den Türspalt. Sie winkt mir und mimt mit ihrem Mund ein »Hi«.

»Natürlich Frau Carlmeyer, kommen Sie nur.« Dr. Stein macht eine einladende Geste in die Richtung meines Bettes. Dann wendet er sich wieder an mich und James. »Wir werden morgen früh wieder kommen«, sagt er, geht zur Tür, zieht sie auf und lässt meine Mutter eintreten. Dann verlässt er mit seinem Anhang den Raum.

»James, wie schön, dass du auch hier bist«, ruft Mum. James steht auf und zieht seinen Pullover gerade. Mum umarmt ihn, als gehöre er schon ewig zur Familie. Ich beobachte schmunzelnd das Schauspiel und lasse dann eine Mum-Umarmung auch über mich ergehen. Sie riecht nach Flieder und Veilchen. Es ist das Parfüm, was sie auflegt, wenn sie ausgeht. Meistens, wenn sie abends unterwegs ist.

»Mum«, flüstere ich und genieße sofort ihre Anwesenheit. Sie versprüht Sicherheit. Es ist eben diese, die eine Mutter ihrer Tochter gibt. Warm und wohlig. Mum löst sich vorsichtig von mir und zieht sich einen Stuhl ans Bett. Als sie darauf Platz genommen hat, beginnt sie mich nach meinem Wohlbefinden auszufragen. James steht indes etwas verloren neben uns, wippt auf seinen Füßen hin und her. Es tut gut, James so zu sehen. Er wirkt … ja … normal.

»Ich werde mich um ein paar Angelegenheiten kümmern«, sagt er dann plötzlich, überwindet die Distanz zwischen uns und küsst mich flüchtig auf die Wange. Ich nicke und er verlässt den Raum. Mum winkt ihm nach, lässt ihren Blick aber nicht von mir ab und redet unbeirrt weiter. Sie hat zwischenzeitlich das Thema gewechselt und spricht jetzt von ihrer Hotelverpflegung. Sie lässt sich nicht aufhalten, plaudert wie ein Wasserfall.

Ich erfahre, dass Mum und Dad sich jeweils eine Woche Urlaub genommen haben, um nach der Operation bei mir zu sein. Mum arbeitet wieder. Sie hat einen Job in der Geschäftsleitung einer Konditorei angenommen. Seitdem sie und Dad beschlossen haben, getrennte Wege zu gehen, hat sie noch mehr Energie, als sie ohnehin schon besaß. Doch ich weiß, dass ihre Euphorie bloß eine Seite der Medaille ist. Ich kenne die andere, die Schattenseite: nächtliche Heulkrämpfe, Panikattacken, Selbstsicherheitsverlust, das komplette Paket an Destabilisierung. Auch wenn es definitiv nicht meine Schuld war, dass sie sich getrennt haben, fühle ich mich immer noch seltsam, dass ich damals ihre Vergangenheit aufgewühlt habe. Erst dadurch wurde das Feuer entfacht, was ihre Liebe niedergebrannt hat. Doch, so leid es mir tut, ist Mum selbst daran schuld. Sie hätte ehrlich zu Dad sein müssen. Als Kind ergreift man dennoch nur schwerlich Partei für den einen oder anderen. Ich dachte mein Leben lang, dass Dad mir näher wäre als Mum. Doch nach all den Vorfällen, den vielen Ereignissen, habe ich gemerkt, wie sehr Mum für mich da sein will, wie sehr sie sich sorgt, wie sehr sie mich schon immer geliebt hat. Klar, sie hat ihre Fehler und hätte mich gerne anders und mehr in Richtung Mädchen-Mädchen beeinflusst, aber kann man einer Mutter verübeln, dass sie Träume und Wünsche für ihre Tochter hat? Wie gerne würde ich jetzt mit Clark darüber diskutieren … Seit meinem Traum ist er nicht mehr aufgetaucht. Er hat sich aus dem Staub gemacht. Er war mein Unterbewusstsein. Wenn er weg ist, bedeutet das, dass ich mein Unterbewusstsein verloren habe? Das geht doch nicht! Oder doch? Vielleicht hat jeder Mensch einen persönlichen Clark und ich habe den Anspruch auf meinen verwirkt. Habe ich ihn nicht gut genug behandelt? Etwas falsch gemacht? Seufzend schaue ich zu der Aluminiumverkleidung, in der sich gezerrt mein Gesicht spiegelt.

 

»Sind Sie sich sicher?« Ich schaue wahrscheinlich wie eine begeisterte Kuh. Meine Augen mustern gierig Dr. Steins Gesicht und versuchen abzulesen, dass er wirklich die Wahrheit spricht.

»Ganz sicher! Der Tumor war gutartig.« Er lacht. Es klingt tief und freundlich.

»Das muss ich James erzählen!«, rufe ich.

»Nimm’s mir nicht übel, den habe ich schon informiert. Hätte ich ihn nicht direkt angerufen, wäre er mir womöglich an die Gurgel gesprungen.«

»Er weiß es schon?«

»Ja, seit heute Morgen«, erwidert Dr. Stein.

Ein Stich fährt durch meinen Magen. Wenn er es schon so lange weiß, wieso hat er mich nicht kontaktiert oder ist hierhergekommen? Genau in dem Moment schwebt ein herzförmiger Luftballon in den Raum. Er kommt zusammen mit dem Duft nach Kuchen — Schokoladenkuchen — und was viel wichtiger ist, gemeinsam mit James. »Mensch, da wäre ich aber gerne du, Tamara«, sagt Dr. Stein und zwinkert mir zu. Keinen Moment danach geht er zur Tür, durch die James hereingekommen ist. Dr. Stein klopft ihm im Vorbeigehen auf die Schulter und lässt uns dann allein.

»Du hast es also gerade erfahren. Ich dachte, dass ich schneller mit dem Backen fertig bin. Doch ich muss gestehen, dass mein erster Versuch in einem schwarzen Haufen geendet ist.« James lacht. Dann streckt er mir das Tablett mit dem Kuchen hin und nickt auffordernd.

»Will ich den wirklich probieren? Oder muss ich dann noch länger im Krankenhaus bleiben?«

»Hmh?« James steht auf dem Schlauch.

»Wegen einer Lebensmittelvergiftung.« Ich grinse. Er zieht das Tablett zurück. »Eigentlich wollte ich dir eine Gemüseplatte bringen. Du brauchst jetzt Vitamine anstatt Fett und Zucker«, sagt er und reckt die Nase hoch in die Luft. »Aber ich habe mich dir zuliebe durchgerungen, dir diese gesundheitliche Sünde zuzubereiten. Doch wenn du nicht willst, dann landet er eben im Müll.« James geht zum Mülleimer, der etwas abseits meines Betts steht.

»Nein! Her damit! Ich könnte morden für etwas, das nicht wie Krankenhausessen schmeckt.« Ich versuche, aus dem Bett aufzustehen. James hetzt mit aufgerissenen Augen zu mir. »Ist ja gut, du kriegst deinen Kuchen. Aber bleib ja liegen, hörst du?«

Ich nicke und greife gierig nach einem vorgeschnittenen Stück. Er schmeckt köstlich. Wahrscheinlich eine Backmischung, aber total egal. Die Geste ist das, was zählt.

»Trotzdem musst du …« Er stellt das Tablett neben mich und geht rückwärts zurück zur Tür.

»Was muss ich?«

»Für jedes Stück, das du futterst, einen Teil Gemüse essen.« James verlässt das Zimmer und kommt mit einem zweiten Tablett zurück, auf dem lauter geschnittene Gurken- und Paprikastreifen liegen.

»Abgemacht«, stimme ich nickend zu.

So sitzen wir einige Zeit da, essen Kuchen, rufen zusammen erst Mum und dann Dad an. Wir spaßen, lachen miteinander. So lange, bis er aufbrechen muss, um noch ein paar Angelegenheiten zu klären. Wie immer … Kann ein Mann, der so eingebunden in seine Arbeit ist, überhaupt eine Beziehung führen? Kann er für etwas anderes brennen als für den Job? James ist nicht im Stande zu lieben. Gwendolyn schleicht sich wieder in meinen Schädel. So weit hinein, dass es beinah schmerzt. Nein, James hat dir Kuchen gebracht, Tamara, und das, obwohl er nichts von Süßkram nach einer Operation hält. Er hat für dich gebacken, obwohl das normalerweise seine Angestellten für ihn erledigen. Er muss dich lieben! Oder?

 

»Tammy, wie geht’s dir heute?« Mums Routinebesuch. Sie hat einen Strauß Blumen dabei, an denen noch ein Preisetikett hängt.

»Mir geht’s so lala«, sage ich wahrheitsgetreu. Die Gedanken um Gwendolyns Nachricht zermürben mich immer mehr.

»Wieso? Schmerzt die Wunde? Soll ich jemanden …?«

»Nein, das ist es nicht.« Ich ringe damit, meiner Mutter die Wahrheit zu sagen: Ich habe Angst, dass James es nicht ernst mit mir meint. »Irgendwie bin ich heute sentimental.«

»Weißt du, Liebling, ich habe auch viel nachgedacht. Es ist nun wirklich eine Menge geschehen, was eigentlich nicht zu einem normalen Leben dazugehören sollte.«

»Da sagst du was.« Ich grinse spöttisch, woraufhin sie nickt, als habe sie genau diese Reaktion von mir erwartet.

»Aber …« Sie legt den Strauß auf einen hölzernen Beistelltisch. »Aber, wenn etwas davon nicht passiert wäre, hätte man dann früh genug festgestellt, dass du einen Tumor hast? Und hättest du dann solch eine Behandlung erhalten? Geschweige denn James kennengelernt? Den ich übrigens voll und ganz als meinen Schwiegersohn akzeptiere.« Sie lacht. Natürlich tut sie das. Etwas habe ich in ihren Augen doch richtig gemacht. James ist der perfekte Gentleman, obwohl er auch ganz anders kann … James ist nicht im Stande zu lieben, drängen sich Gwendolyns Worte wieder in meine Gedanken. Doch, doch, doch! Ist er!

»Mum … Wegen … na ja …« Wenn ich dieses Fass aufreiße, wird sie James vielleicht anders sehen, als sie ihn zurzeit wahrnimmt. Will ich das wegen einer spinnenden Psychologin riskieren?

»Möchtest du mit mir über etwas sprechen? Ich habe nur nicht allzu viel Zeit. Dein Vater wollte gleich kommen …« Sie verdreht die Augen.

»Wegen damals …«, setze ich an, um das Thema auf etwas für Mum Prägnanteres zu lenken. Aus Mums Blick erahne ich sofort, dass sie weiß, was ich sagen will.

»Tammy, das war nicht deine Schuld. Dein Dad und ich … Wir sind irgendwann erwachsen geworden und haben den liebestrunkenen Teenie begraben.«

»Wäre ich nicht zu Grandpa und Grandma gefahren, dann …«

»Du hast nur etwas ins Spiel gebracht, was schon längst überfällig war gesagt zu werden. Ich hätte damals mit deinem Vater ehrlich sein und bleiben müssen.« Sie zögert. »Im Grunde waren wir nicht füreinander bestimmt und lebten auf zwei verschiedenen Inseln.«

Ich weiß, dass sie das nur sagt, weil ihr die Trennung zu schaffen macht. Sie schmerzt sie. Der gequälte Ausdruck auf ihren Lippen spricht mehr als tausend Bände.

»Es tut mir wirklich leid …«

»Es tut mir leid.« Sie seufzt so schwer, als habe sie in diesem Moment eine tragische Nachricht erhalten. »Allerdings ist es besser so.« Sie grinst schief und unecht. »Und jetzt erzähl mal, was du heute Morgen zu essen gekriegt hast? Was Leckeres? Oder gab’s nochmal diese lieblose Riesenkäsescheibe garniert mit steinhartem Brötchen?«

»Nein, zum Glück nicht.« Ich setze ein verschmitztes Lächeln auf.

»Aha?«

»James war so gütig und hat mir Veggie-Burger bestellen lassen. Ganz geheimnisvoll, mit einem Zettel daran von deinem Verehrer.«

»Zum Frühstück?« Sie schaut kurz irritiert, dann zuckt sie mit den Schultern. »Na ja, nicht mein Geschmack, aber dennoch sehr romantisch. Ach, wäre ich doch auch nochmal jung.«

Wir reden noch über ein paar belanglose Ereignisse des Morgens und dann verabschiedet sie sich. Dad schaut ebenfalls kurz vorbei, hat seine Wanderschuhe an, um sie einzulaufen, weil er morgen eine Wanderung im nahegelegenen Gebirge unternehmen will. Am Abend taucht dann noch jemand auf, mit dem ich beinah schon nicht mehr gerechnet hatte: James.

»Wie geht es dir?« Die Frage, die jeder immer stellt, sobald er diesen Raum betritt. Ich bin müde, sie zu beantworten, lasse es mir aber nicht anmerken aus Angst, dass James wieder gehen könnte, wenn ich nicht auf ihn eingehe.

»Gut. Was aber hauptsächlich an dir liegt.«

Er grinst. »Meine Anwesenheit macht schon ganz schön was her, oder?«

»Vielmehr deine Veggie-Burger. Dass ich das von dir zum Frühstück erlaubt kriege, hätte ich nie im Leben erwartet.« Ich spiegle sein Grinsen.

»Hmh?« Prompt ist die Freundlichkeit aus seinem Blick gewichen und macht Platz für ein skeptisches Mustern.

»Danke für die Burger«, versuche ich weiter auf die Situation zu lenken, was James nur noch mehr zu derangieren scheint.

»Ich habe dir keine Veggie-Burger kommen lassen. Das zählt nicht zu dem ausgewogenen Speiseplan, den du jetzt benötigst. Der Kuchen war eine Ausnahme.«

»Ich weiß, dass du ungesundes Essen nicht gutheißt, aber ich dachte … Du hattest ja auch den Kuchen und …«

James findet von allein den kleinen Zettel, den ich neben den Blumenstrauß gelegt habe. Von deinem Verehrer. Sein verwirrter Ausdruck bekommt eine dunkle Note. Mir schnürt es plötzlich die Kehle zu. Wenn sie nicht von ihm waren, von wem …

»Wo ist das Verpackungspapier? Hast du Übelkeitserscheinungen? Wer hat sie dir hierher geliefert?«

»Du denkst doch nicht, dass …«

»Nach den vergangenen Monaten kann ich mir alles denken.« Er sieht wütend aus, greift in den Mülleimer und zieht die Burgerpapiere heraus. Mit der freien Hand holt er sein Mobiltelefon hervor und wählt eine Nummer. »Guten Abend, Farck hier, ich brauche eine Notfallanalyse. Ja, nein, eine Überprüfung auf Toxine.« James schnuppert an den Papieren. »Nein, danach riecht es nicht. In Ordnung. Ich bin gleich bei Ihnen.« Dann legt er auf und wendet sich zu mir. »Wenn dir in irgendeiner Art und Weise schlecht wird oder du dich übergeben musst, dann ruf sofort den Arzt!« Er tippt mit bloß einem Daumen auf dem Display herum. »Ich habe eine Security für dich bestellt. Sie wird vor deinem Zimmer postiert.«

»Mir geht es gut. Ich glaube nicht, dass …«

»Wir werden sehen«, sagt er streng und eilt aus dem Raum.

»Jetzt geht es mir allerdings schlecht …«, flüstere ich und sehe zur Tür, die sich hinter ihm schließt.

 

Die Veggie-Burger waren nicht vergiftet, was trotzdem nicht die Frage klärt, von wem sie waren. Wer weiß alles, dass ich sie gerne esse? Wer würde sich so etwas erlauben? Es muss jemand sein, der nicht weiß, dass ich mit James zusammen bin. Oder jemand, der dreist genug ist, um trotzdem solch eine Nachricht zu verfassen. Auch wenn James am nächsten Morgen tut, als würde es ihm nichts ausmachen, weiß ich, er brodelt vor Wut. Seine Augen lassen nicht von der Botschaft auf dem Beistelltisch ab, die ich bisher noch nicht entfernt habe. Sie ist gedruckt und nicht handschriftlich, was eine Analyse auf den Verfasser unmöglich macht. Nachdem ich mit James bereits ein paar Worte gewechselt habe, steht er abrupt auf, nimmt sich wie beiläufig das Blättchen mit der Botschaft und zerknüllt es.

»Ich beseitige das für dich«, sagt er und drückt es in seine Hosentasche, wahrscheinlich, um es irgendwo draußen wegzuwerfen, sodass ich es nicht aus dem Müll angeln kann. Wenn er wüsste, wie sehr es mir schmeichelt, dass er so reagiert. James kann doch lieben!

»Ich werde dich morgen früh abholen. Deine Eltern fliegen heute Abend zurück. Sie wollen beide nochmal herkommen. Immerhin wirst du sie danach einige Zeit nicht sehen. Obwohl du jederzeit, das verspreche ich dir, zu ihnen fliegen darfst.«

»Klar darf ich das.« Es klingt fast so, als sei ich James’ Gefangene.

»So meinte ich das nicht«, brummt er und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe hier noch etwas zu erledigen.«

»Du erledigst momentan ziemlich viel.«

»Die Arbeit ruht eben nie.« Er steht auf, geht zur Tür und wendet sich noch einmal zu mir um. »Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf unsere gemeinsame Zeit freue.« Dann verschwindet er mit einem Schmunzeln.

 

2

 

James Jethro Farck höchstpersönlich geleitet mich aus dem Krankenhaus. Er stützt mich, obgleich ich im Stande wäre, selbstständig zu seinem Wagen zu gelangen. Er fragt mich bestimmt fünfhundert Mal, ob mir etwas wehtut, obgleich ich die nächsten Stunden durch jede Menge Tabletten gegen die Schmerzen, die sich auch nur erdreisten, in die Nähe meines Kopfes zu kommen, gewappnet bin. Er lächelt mich an, besorgt, liebevoll, und das ist der Grund, weswegen ich gerne ein kleines Bisschen wehleidiger tue, als ich es eigentlich bin. Mein Leben wird fortan ein anderes sein: an seiner Seite. Und er will mich bei sich, trotz der Tatsache, dass ich mit meiner ungewollten Frisur wie ein gerupftes Hühnchen aussehen muss. Ich habe mir die Haare zu einem kleinen Zopf gebunden. So fällt die rasierte Stelle, an der schon wieder Stoppeln ihren Weg durch die Kopfhaut suchen, kaum mehr auf.

Wir überqueren einen gepflasterten Platz. Am Rand parkt ein schwarzer BMW, der eindeutig James’ extravagante Note trägt. Das Leder im Inneren ist hell und bildet einen geschmackvollen Kontrast zum glänzenden Äußeren. James öffnet mir die Tür hinter dem Fahrersitz.

»Wieso …?«

»Hinten kannst du dich hinlegen, wenn du möchtest.«

»Wer bist du und was hast du mit James gemacht?« Ein Grinsen kann ich mir nicht verkneifen. Seine wachsamen Augen ruhen unvermittelt auf mir und scannen jede Regung in meinem Gesicht. Ein besorgter Ausdruck huscht über seines. Nicht, dass ich mein Spielchen zu weit treibe und ihm ernsthafte Sorgen bereite.

»Ist okay«, füge ich schnell bei. »Ich kann ruhig vorne sitzen.«

»Hinten«, erwidert James trocken. Auf der einen Seite rührend, wie er sich um mich bemüht, auf der anderen Seite: Warum dieser Befehlston?

»Gut, vielleicht ist es gar nicht so übel, wenn ich mich ab und zu etwas hinlegen kann.«

James nickt. »Der Airport ist ein gutes Stück von hier entfernt. Hoffentlich haben wir keine Turbulenzen auf dem Flug.« Es ist seltsam, James, der in meinen Augen immer konsequent, hart und forsch an Dinge herangetreten ist, jetzt nachdenklich zu erleben. Ob er sich durch die Vergangenheit tatsächlich zu einem anderen Menschen gewandelt hat? Ob er jetzt lieben kann? Natürlich kann er das! Tamara, hör auf, Gwendolyns Nachricht mehr Bedeutung beizumessen, als sie sie verdient hat.

»Es wird schon alles glatt gehen. Mir geht’s schon viel besser.«

Er legt seinen Kopf schief, als wolle er fragen: Sicher? Ich befürchte, dass ich sein Mitleid tatsächlich zu sehr ausgekostet habe und er deswegen glaubt, ich sei so zerbrechlich wie ein rohes Ei. Er fasst sanft meinen Ellenbogen und lässt ihn erst los, als ich mich gesetzt habe.

»Dann wollen wir mal«, kündigt er mit einem Lächeln auf den Lippen an und lässt sich auf den Fahrersitz gleiten.

»Du hast was ausgeheckt«, stelle ich fest. Diesen süffisanten Ausdruck kenne ich nur allzu gut.

»Wer weiß.« James’ Lächeln wird noch breiter, er fährt den Wagen an und dreht dann das Radio auf. Heitere Musik erfüllt meinen gesamten Körper. Mein Fuß wippt zum Beat mit. Erst jetzt realisiere ich so richtig, dass ich das Krankenhauszimmer hinter mir gelassen habe. Ich bedenke das große eckige Gebäude mit einem letzten Blick, als ich auf einen schwarzen Geländewagen aufmerksam werde, der unmittelbar hinter uns fährt. In ihm sitzen zwei breitgebaute Herren in Anzügen. Der eine ist glatzköpfig, der andere trägt eine schwarze Haarpracht, die er streng zurückgekämmt hat. Sonnenbrillen sitzen wie selbstverständlich auf ihren Nasenrücken und schimmern durch die Frontscheibe zu mir herüber. Etwas an ihnen gefällt mir nicht. Vielleicht ist das ihre grimmige Miene, das straffe Aussehen oder diese wachsame Haltung? Ich schlucke geräuschvoll, will James nicht unnötigerweise eine panische Szene machen, weswegen ich versuche, mich wieder auf die Musik zu konzentrieren. James singt bei einem Lied mit. Er wirkt gelöst. Geschmeidig lenkt er den Wagen zur Autobahnauffahrt und beschleunigt. Mein Blick huscht immer wieder in den Rückspiegel. Neben James’ freudigem Gesicht sehe ich den Wagen mit den Fremden darin hinter uns herfahren. Allerdings ist es mir nicht mehr möglich, zu erkennen, ob die Männer miteinander sprechen oder ob sie gestikulieren, dafür ist der Abstand zu groß. Unwohlsein klettert in meine Gedanken. Die Männer überholen dieselben Wagen wie wir, fügen sich stets direkt hinter uns wieder in die rechte Fahrspur ein und nehmen dieselbe Ausfahrt.

»James …«

»Ja? Geht es dir gut?«

»Ja, also …«

»Soll ich langsamer fahren? Wird dir übel? Der Arzt meinte, es kann durchaus sein, dass in nächster Zeit starke Kopfschmerzen auftr…«

»Nein, das ist es nicht.«

»Was denn?«

»Ich glaube, wir werden verfolgt.«

James zieht die Augenbrauen zusammen, bekommt einen harten Ausdruck und schaut in den Rückspiegel. Er mustert nun ebenfalls den Geländewagen. Seine Züge entspannen sich wieder. »Ich habe vergessen, dir Bescheid zu geben«, merkt er dann an.

»Hmh?«

»Das sind die Guten.« Abermals ziert ein Lächeln seine Mundpartie. »Nach den ganzen Vorkommnissen der letzten Zeit habe ich es für klug erachtet, uns ein bisschen Rückendeckung zu verschaffen.«

»Leibwächter?«

»Nenn sie, wie du magst. Ich bevorzuge den Ausdruck Security.«

Nenn sie, wie du magst spottet mein Unterbewusstsein. Ich kann es nicht leiden, wenn er so beiläufig damit angibt, dass er viel Geld besitzt und sich dadurch Dienstleistungen aller Art kaufen kann. Trotzdem fühle ich mich sogleich sicherer. Ich ärgere mich, dass ich nicht schon eher nachgefragt habe. James biegt auf die Fahrspur zum Flughafen ein. »Das ist ja ein riesiges Gebäude.« James lacht. »Was denn?«, frage ich prompt.

»Es ist süß, wenn dich Kleinigkeiten faszinieren.«

Schon wieder. Als ob ein riesiger Flughafen eine Kleinigkeit wäre …

James parkt auf einem der Parkdecks. »Sicher alles okay?«

»Ja, ja«, erwidere ich und steige aus dem Wagen aus, noch bevor mir James öffnen kann.

»Du hast es wirklich eilig, zu mir nach Hause zu kommen, was?«

Für einen Augenblick hatte ich vergessen, dass ich mich nicht auf die Reise zu meinen Eltern mache, sondern zu ihm. Ich werde bei James Farck wohnen. Schmetterlinge schlüpfen in meinem Bauch und verbinden sich zu einer Polonaise, über die ich seine Angeberei vergesse.

»Dir wird es mit Sicherheit gefallen.«

»Ich kenne es doch schon.« Unwillkürlich verziehe ich meinen Mund zu einer Grimasse. Meine Erinnerung ist ohne Umschweife zu dem Herrenzimmer gerast, in dem ich ihn und Samuel damals … erwischt hatte.

»Nicht mehr«, sagt er und bekommt wieder dieses schelmische Grinsen, was ich eigentlich viel eher von Yoshi gewohnt bin. Ich meine, von Yoshi gewohnt war. Er hat sich jetzt schon eine ganze Zeit nicht mehr gemeldet. Der Kontakt scheint eingefroren. Einmal schrieb ich ihm, doch es kam nichts zurück. Yoshi … Wie es ihm wohl geht?

Mein Mobiltelefon vibriert. Ich ziehe es aus meiner Hosentasche und inspiziere das Display: Mum. »Da muss ich rangehen.«

James nickt mir zu und verriegelt den Wagen. Als ich den grünen Hörer drücke, nimmt James meine freie Hand und zieht mich vorsichtig in Richtung des Gebäudeeingangs. Ich habe einen Freund, juble ich innerlich. Einen waschechten Fre… Mein stummer Jubelruf wird von Mum jäh unterbrochen. »Und? Ist alles gut gegangen? Seid ihr schon am Flughafen?«

»Wir sind gerade angekommen«, sage ich und versuche dabei so emotionslos wie irgend möglich zu klingen. Auf eine banale Art und Weise habe ich Angst, mich zu euphorisch anzuhören. Nachher verletzt es Mum, wenn sie mitkriegt, wie gerne ich bei James bin und zu ihm ziehe.

»Gut, gut! Ich bin auch wohlbehalten gelandet und habe mich direkt daran gemacht, die Post zu sortieren. Du glaubst nicht, was ich für einen Berg an Briefen vorgefunden habe.«

Mums Worte dringen gar nicht richtig zu mir durch. Sie erzählt irgendwas über eine Grußkarte von einer alten Freundin. Es ist an der Zeit, dem Herzen zu folgen. Auch wenn ich damit vielleicht auf die Nase falle, so wie es Mum nach langen Ehejahren passiert ist. Gwendolyns Brief, ihre Nachricht, die Mitteilung darin …Die Schmetterlinge in meiner Magengegend werden hektisch und breiten sich in alle Richtungen aus. … Sie hatte kein Recht!

»Ach, und grüß James von mir.«

Hör auf, daran zu denken, Tamara!Du spürst doch, wie sehr er dich liebt!, rufe ich mir selbst zu.

»Das mache ich«, versichere ich und kann meine Augen nicht von James ablassen. Mein Freund. Mein Freund.

»Meld dich bitte, wenn ihr bei ihm zuhause angekommen seid, ja?«

»Natürlich!«

»Ich hab dich lieb«, fügt sie noch hinzu, ehe ich auflege und mich von James durch die große Flughafenhalle lenken lasse.

»Darf ich dich etwas fragen, Tamara?«, kommt es wie beiläufig aus James’ Mund, aber ich sehe ihm an, dass er den Moment bewusst abgepasst hat.

»Was?«

»Hast du eventuell Kontakt zu jemand anderem als mir?«

»Wie meinst du das?«

Er seufzt, als würde es ihm die Worte Anstrengung bereiten. »Ich meine mit jemandem, der dich gerne vögeln würde.«

»Was?« Schockiert bleibe ich stehen. »Denkst du etwa, ich hätte eine Affäre?«

Er schaut mich durchdringend an. »Na ja, diese Burgernummer geht mir nicht aus dem Kopf. Irgendjemand muss denken, er hätte eine Chance bei dir.«

»Du bist manchmal wirklich unmöglich, James! Ich lag im Krankenhaus und du vermutest, dass ich mir einen Liebhaber angelacht habe. Vielleicht Dr. Stein?« Ich ziehe meine Augenbrauen wütend zusammen und stapfe an ihm vorbei.

»Du läufst falsch!«, ruft er mir nach und deutet in eine andere Richtung. Ich lasse ein entnervtes Geräusch verlauten und drehe um. Er geht ein paar Schritte hinter mir. Ich vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen.

»Tamara«, sagt James und holt zu mir auf. »Es ist ein ungewohntes Gefühl, selbst der Eifersüchtige zu sein.« Ein humorloses Lachen folgt seinen Worten. »Das bin ich einfach nicht gewohnt.«

Den Insekten in meinem Bauch entfährt ein liebestrunkenes Seufzen. Ich bleibe stehen. »Ich setze das zwischen uns nicht für ein paar vegetarische Buletten aufs Spiel.«

»Verstanden«, sagt er und macht eine Armbewegung wie ein gehöriger Soldat zu seinem Vorgesetzten. Wir gehen weiter. Er legt seinen Arm um meine Schulter. Ich sehe ihm an, dass er immer noch über diese Burgergeschichte nachdenkt. Womöglich war es ein Streich, denke ich mir. Ja, das muss es sein. Jemand wollte James beunruhigen und hat es offensichtlich auch geschafft. Apropos verunsichern …

»Erinnerst du mich daran, dass ich, wenn wir gelandet sind, auch noch Dad anrufe? Sonst denkt er nachher, ich würde Mum ihm vorziehen.« Ich verziehe meinen Mund. »Diese Streithähne.«

James’ Gesichtsausdruck wandelt sich und transportiert Besorgnis. »Kann ich dich noch etwas fragen?«

»Solange du mir nicht wieder eine Affäre mit einem Krankenpfleger unterstellst, gern.« Nach meinen Worten strecke ich ihm die Zunge raus.

»Macht dir die Scheidung deiner Eltern viel aus?«

»Es geht«, antworte ich wahrheitsgetreu. »Klar ist es ein komisches Gefühl, dass sie sich entschlossen haben, getrennte Wege zu gehen. Aber ich bin glücklicherweise keine sechs Jahre alt, ich kann damit umgehen.«

James nickt.

»Mum und Dad sind erwachsen und müssen ihren eigenen Weg finden, um glücklich zu sein.« Ich bin selbst überrascht, wie diplomatisch ich antworte.

»Gut«, erwidert er schlicht. James holt mit der freien Hand sein Mobiltelefon hervor und tippt darauf herum. Dann hält er es sich ans Ohr. Indes löst er die andere Hand von meiner Schulter und umschließt mit ihr meine Finger. Mit wem will er sprechen? Der Security? Ich schaue hinter mich, kann die beiden Männer nirgends entdecken. Wahrscheinlich befinden sie sich irgendwo in den Massen an Menschen und sind in Bereitschaft, falls uns etwas passiert. Jetzt sind es die Gedanken an Stefano, die meine Schmetterlingsparade panisch werden lässt. Man kann nie wissen, wen er besticht, wen er unter seiner Kontrolle hat und was derjenige für ihn tun soll. Hör endlich auf mit diesen negativen Gedanken! Es ist wirklich verrückt, dass Clark immer noch nicht aufgetaucht ist. Das sind Situationen, die wie für ihn und seine altklugen Faseleien gemacht wären.

»Ja? Hallo? Dr. Jelega? Die Sitzung, die ich für übermorgen angesetzt habe, kann entfallen. Ich denke, vorerst werde ich ihre Dienste nicht benötigen. Hmh …, ja …, in Ordnung. Ihnen ebenfalls einen schönen Tag.« James spricht so schnell, wenn er ins Englische wechselt, dass ich ihn fast nicht verstehe.

»Wer ist Dr. Jemega?«

»Jelega«, korrigiert James mich. »Sie wäre deine Psychotherapeutin gewesen.«

»Meine was?« Der zweite Schock innerhalb einer Viertelstunde. Ich weite meine Augen mehr als nötig. Etwas fliegt in sie hinein, sie tränen. Auch mehrmaliges Blinzeln schafft es nicht, dass ich mich von dem Fremdkörper befreien kann. Es brennt.

»Ich habe gelesen, wie es manchen Menschen nach der Scheidung der Eltern geht und da … Brauchst du Hilfe?« Er mustert mich, wie ich versuche, das Flugobjekt aus meinen Augenwinkeln zu wischen.

»Bitte keine eigenmächtigen Arzttermine, in Ordnung?«, sage ich und halte triumphierend eine kleine durchnässte Eintagsfliege auf meiner Zeigefingerkuppe.

»Aber …«, protestiert er.

»Das kann ich ganz allein machen«, entgegne ich und schnipse die Fliege zur Seite weg.

»Ja, aber …«

»Da gibt’s kein aber!«

James atmet geräuschvoll aus und lächelt dann. »Du bist ein Sturkopf«, sagt er und küsst meine Stirn. Die Schmetterlinge in meinem Magen formieren sich neu, halten nun einen Sambatanzkurs mit anschließendem Wettbewerb im Discofox ab. Ich kann ihm keinen Widerspruch entgegenbringen, stehe einfach nur da und sauge diesen Duft auf, der jetzt in meine Nase kriecht. Es ist der Geruch nach Geborgenheit: Pfefferminz mit einem Hauch Zigarettenqualm. Auf eine unerklärliche Weise harmonisch, betörend, sinnvernebelnd.

Erst als er sich von mir löst, dringen die Umgebungsgeräusche wieder an mich heran. Mechanische Durchsagen, rollende Gepäckstücke, rufende Menschen und inmitten von ihnen ein junges Paar.

3

 

»Ich bitte Sie, die Sicherheitshinweise auf den Sicherheitskarten vor Ihnen zu beachten. Sie erhalten nun zudem von unseren Stewardessen eine Einweisung, wie Sie sich im Falle eines Notfalls verhalten müssen. Passen Sie gut auf! Vielen Dank!«

»Verrückt.« Ich schüttle ungläubig den Kopf.

»Was?«, flüstert James, während die Stewardessen sich aus einer Gepäckklappe Showsets zur Notfalleinweisung greifen.

»Früher hätte mir allein schon die Ankündigung der Notfalleinweisung den kalten Schweiß über die Stirn gejagt.«

James grinst. »Du hast dich gemacht. Liegt sicherlich an deiner starken, gut gebauten, imponierenden Begleitung.«

Ich mache ein Würggeräusch. Er lehnt sich zu mir. »Findest du das etwa nicht?« Er küsst meinen Hals und knabbert mein Ohrläppchen. Die Schmetterlinge können sich nicht halten und fliegen hektisch hin und her.

»James …«, keuche ich. Er neigt sich wieder zurück, ein selbstzufriedenes Grinsen auf dem Gesicht.

»Also, wie ist deine Begleitung?«

»Eingebildet!«, sage ich, wütend darüber, dass er mich nicht weiter geküsst hat. James schaut aus dem Fenster. Er sprüht vor Selbstzufriedenheit und reagiert gar nicht auf meine patzige Antwort. Eine Tatsache, die mich wirklich rasend macht.

»Hallo?«, frage ich und tippe seinen Arm an.

Er schaut weiterhin nach draußen, streift meine Hand von sich ab und nimmt meine Hand in seine. »Ich bin froh, mit dir zusammen zu sein, Täubchen.« Ein entwaffnender Satz, auf den eine nachdenkliche Stille folgt. Auch ich gebe mich abermals meinen Gedanken hin, die ich sonst versuche im Zaum zu halten. Das, was James gesagt hat, ist ganz klar ein Beweis dafür, wie sehr er dich mag, Tamara, spreche ich zu mir selbst. Was wohl passiert wäre, wenn ein Ereignis in unserer Vergangenheit anders abgelaufen wäre? Vielleicht würde ich dann mit Yoshi hier sitzen. Yoshi, wiederhole ich innerlich.

»Sag mal …«, erkundige ich mich, nachdem das Flugzeug bereits in der Luft ist.

»Ja?«

»Hast du eigentlich nach den Vorfällen Kontakt zu jemandem von der Gamescom geha…«

»Nicht mehr als nötig.«

»Hmh, verstehe. — Und von Yosh…«

»Wärst du so freundlich und würdest seinen Namen nicht erwähnen?« James verengt die Augen. Sein kühler Teil der Iris glüht. Helles Blau verdrängt für einen Augenblick den braun eingefärbten Bereich seiner Regenbogenhaut. Würde er mich damit nur nicht so einschüchtern, hätte ich seinem Blick gerne länger standgehalten, um den Anblick zu genießen.

»Ja«, sage ich und muss mich ziemlich kleinlaut anhören.

»Danke«, erwidert er knapp und bestellt sich einen schwarzen Kaffee bei einer Stewardess, die mit einem Wagen voller Snacks und Getränkeflaschen vorbeifährt.

Wir reden kaum mehr ein Wort. Immer wieder kommt das Gespräch zum Erliegen. Dafür trägt keiner von uns die Schuld. Es liegt daran, weil wir jedes Mal, wenn wir es schaffen, ausgelassen zu sprechen, an einen Punkt gelangen, an dem wir bei einem der Schatten unserer Vergangenheit ankommen. Diese einschneidenden Momente, die mit fiesen fragwürdigen Personen gespickt waren, werden uns fortan begleiten. Trotz unserer Abmachung, sie in unserem Alltag auszusparen, füllen sie unsere gemeinsame Zeit. Jedes Geplänkel, jeder Smalltalk fühlt sich dadurch wie ein Spießrutenlauf an. Ich seufze. Es ist ein so lautes Geräusch, dass sich bei James ein sorgenvoller Ausdruck auf seinem Gesicht abzeichnet. Er nimmt sich meine Finger, streicht sanft über meine Haut. »Hast du Angst vor der Landung? Wir wären doch besser mit meinem Privatjet geflogen. Wäre er doch nur rechtzeitig aus der Inspektion zurück gewesen. Ich bin kein Fan von Linienflügen.«

»Schon okay«, sage ich und ziehe meine Hand von ihm zurück. Er greift sie augenblicklich von Neuem. Siehst du, Gwendolyn, spreche ich zu mir selbst, James hat sich verändert.

»Woran denkst du gerade?«, erkundigt James sich und schaut dabei aus dem kleinen Flugzeugfenster auf die Landebahn, die immer näher kommt.

»An unsere Zukunft«, sage ich wahrheitsgetreu.

»Lass uns erstmal das Hier und Jetzt zusammen auskosten.« Ein Ruck fährt durch uns hindurch, als die Rollen auf der Landebahn aufsetzen.

»Einverstanden«, flüstere ich. Er hat es gehört, lehnt sich zu mir und küsst mich auf die Wange.

»Kriege ich auch einen richtigen Kuss?«

»Den musst du dir erst verdienen.« Dieser süffisante Ausdruck kehrt auf sein Gesicht zurück. Obwohl meine Schmetterlinge jetzt in hemmungslose Fiesta ausbrechen müssten, verkrampfe ich. Bin ich ihm genug? Bin ich das, was er sich erhofft? Die Richtige für seine Bedürfnisse? Immerhin liebt er auch Männer. Heißt das vielleicht, dass ich irgendwann erfahre, dass er noch einen Mann an seiner Seite hat? Szenen tun sich in meinem Unterbewusstsein auf. Ich sehe James vor meinem inneren Auge, wie er sich Männern hingibt. Fremden, deren Gesichter ich nicht sehen kann. Er genießt es, keucht, stöhnt. Spinn nicht rum, Tamara!

 

»Du hast recht, du hast dich tatsächlich verändert, was die Einstellung zum Fliegen betrifft. Jetzt fühlst du dich hier so wohl, dass du gar nicht mehr aufstehen willst.« James lacht. Dabei wird das Grübchen auf seiner Wange sichtbar. Wann sind wir denn gelandet? Neben und vor uns sind die Menschen dabei, aus dem Flugzeug zu strömen.

»Entschuldige«, sage ich und stehe viel zu schnell auf. Mein Kopf schlägt an die Handgepäckabteile.

»Pass auf«, ruft James und zieht damit die Blicke der aussteigenden Passagiere auf sich. Es klang forsch. Seine Augen glühen, als ich ihn anschaue. »Du bist doch von allen guten Geistern verlassen!«, keucht er und inspiziert meinen Kopf mit seiner Hand.

»Es geht schon«, sage ich und schmunzle.

»Was gibt es da zu grinsen?«

»Du sorgst dich um mich«, antworte ich.

»Natürlich! Du bist jetzt meine Freundin, da sorge ich mich selbstredend!« Er schiebt mich auf den Gang und hechtet an mir vorbei, spricht ein paar Worte mit der Stewardess, bedankt sich für den Flug und winkt mich aus dem Flugzeug heraus. Meine Füße wollen seiner Geste noch nicht gehorchen. Bin ich eine belastende Verpflichtung, die er eingegangen ist? Hat er sich so auch um Mera gesorgt?

James ist bereits halb im Gang, lehnt sich nochmal in das Flugzeug zurück, wendet sich an mich: »Kommst du bitte?«

Es klingt nicht mehr besonders liebevoll. Kann es sein, dass der Ortswechsel auch sein Gemüt verändert hat? Ich nicke ihm zu und gehe ihm entgegen. Er streckt den Arm nach mir aus und ich entspanne mich. Es war reine Einbildung, Tamara. James wird sich nicht verändern. Er liebt dich. James legt seinen Arm um meine Schultern und geleitet mich so den Gang aus dem Flugzeug entlang in die Flughafenhalle des Heathrow Airport. Mein neues Zuhause wartet auf mich.

 

4

 

Wir stehen auf dem gepflasterten Weg, mitten auf James’ Anwesen. Eigentlich dachte ich, ich sei gegen den Anblick seines Wohnhauses gewappnet, immerhin war ich schon einmal hier, doch die Größe und das stilvolle Aussehen erschlagen mich ein weiteres Mal.

»Weißt du …«, beginnt James und stellt sich vor mich. »Es ist ein wundervolles Gefühl, dass man nicht mehr allein ist, wenn man von einer Geschäftsreise zurückkehrt.«

»Ja, also, was das betrifft …« Der Buchsbaum-Amor wurde frisch geschnitten. Der Geruch von gemähtem Rasen steigt mir in die Nase.

»Oder hast du vor viel auszugehen?« James hebt spöttisch eine Augenbraue, als traue er es mir nicht zu, dass ich mich ins Londoner Nachtleben schmeiße. Damit liegt er zwar zu hundert Prozent richtig, aber das war nicht das, was ich eigentlich an sein Gesagtes andocken wollte. Eigentlich wollte ich bloß erfahren, ob er viel auf Reisen sein würde.

»Hmh, vielleicht habe ich das vor«, patze ich und verschränke die Arme. Er lacht. »Was ist so komisch?«

»Wir wissen beide, dass du keine Partymaus bist.«

Prompt entfährt mir ein wütendes Schnaufen. Natürlich wissen wir das beide, aber was für eine Unverschämtheit, dass er es so herausstellt.

»Du bist meine Maus, mein Täubchen und wartest brav hier, während ich mich um den geschäftlichen Teil kümmere.« Er küsst mich auf meine Stirn, ehe ich mich wehren kann. Das Gefühl von seinen Lippen auf meiner Haut lässt meine inneren Schmetterlinge ihre Waffen niederlegen.

»Wirst du oft weg sein?«

»Ab und zu.« Er beginnt zu grinsen. »Wirst du mich dann vermissen?«

Ich verziehe den Mund. »Natürlich nicht. Du musst wissen, ich gehe vielleicht nachts nicht aus, aber ich hole liebend gerne meine Gäste hier her.«

»Das könnte mir gefallen.« James’ Blick bekommt etwas Gieriges.

»Warum hast du dich eigentlich für London entschieden?«, lenke ich ab, bevor er einen Dirty Talk beginnen kann. Dazu ist mein Selbstbewusstsein gerade definitiv nicht in der Stimmung.

»Weißt du, Täubchen, jemand wie ich ist nirgendwo richtig zuhause.«

»Gerade deswegen interessiert es mich.«

»Die Londoner pflegen einen modischen Geschmack, eine respektvolle Konversation und England ist die Heimat der Rolling Stones. Brauchst du mehr Argumente?« Er grinst breiter und setzt sich wieder in Bewegung, geht in Richtung der Flügeltür, die wie eine Pforte nach Narnia aussieht: Elegant, geschwungen, beinah übergangslos in den Stein eingelassen.

»Ich wusste nicht, dass du Rock ’n’ Roll Fan bist.«

»Es gibt einiges, was du erst noch kennenlernen wirst.« Das Lächeln vergeht ihm. Er spannt seinen Kiefer an. Mir wird mulmig in der Magengegend. Was bedeutet das nun schon wieder?

»Bestimmt nur Gutes«, erwidere ich, bin um einiges leiser als zuvor.

»Ja, ja …« Er schüttelt seinen Kopf und lächelt von Neuem. »Gewiss. Jetzt sollten wir uns beeilen. Wir werden erwartet.«

»Wo?«

James kommt einen Schritt zurück, nimmt meine Hand und zieht mich behutsam den Weg entlang. Vor der Flügeltür hält er inne, lässt meine Hand los, richtet sein Jackett und drückt die Tür auf. Ein Verlangen steigt in mir auf, eine dringende Bitte meines Unterleibs an meinen Kopf: Sieh dir diesen Mann an, er ist perfekt, gib dich ihm hin. Und genau das ist es, was mir Angst macht. Wir sind ein wirklich ungleiches Paar.Kann so etwas funktionieren?

»Pass auf, dass mein Gärtner dich nicht beschneidet, wenn du dich nicht langsam mal bewegst.« James’ Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und bringt mich in die Realität zurück. Ich nicke und stolpere in die Eingangshalle. Der Boden ist so spiegelglatt und glasiert, dass ich mich darin verzerrt sehen kann. Als würde ein Teil von mir unter den frisch gebohnerten Platten gefangen gehalten. Ein grotesker Anblick.

»Steven?«, ruft James und schaut sich um.

»Ja, Herr?«, erwidert ein Mann, der neben der Flügeltür steht und zuvor kein Stück auf sich aufmerksam gemacht hat. Er hält ein leeres Tablett in Händen und nickt mir begrüßend zu. Ich erwidere mit einem zaghaften »Hallo«. In meinen Gedanken krame ich, ob ich diesen Butler schon einmal gesehen habe, aber er kommt mir nicht bekannt vor. Der, der mich und Yoshi damals hineinließ, hieß Hugo und sah ganz eindeutig anders aus. Er war hagerer und hatte eine lange dünne Nase. Steven hingegen ist breit gebaut und hat ein knolliges Riech-Exemplar mitten im Gesicht sitzen. Trotz dieser unverkennbaren Merkmale habe ich das Gefühl, als könne er sich ohne Weiteres unsichtbar machen.

James geht zu ihm, beugt sich nah an den Mann heran und flüstert: »Ist alles vorbereitet?«

»Natürlich, Herr.«

»Danke — komm, Täubchen«, säuselt James in meine Richtung. Für einen Augenblick vergesse ich, dass er mich mit dem Kosenamen meint. Zu ungewohnt die Tatsache, dass er mir in aller Öffentlichkeit mit derart verbalen Zärtlichkeiten begegnet. Als er dann aber noch ein »Sweety?« hinterher setzt und mich dabei eindringlich anschaut, gehe ich ihm umgehend nach. Er schlingt seinen Arm um meine Hüfte und geleitet mich in den Raum, in dem damals seine Geburtstagsfeier in vollem Gange gewesen war.

---ENDE DER LESEPROBE---