After Work - Simona Ahrnstedt - E-Book

After Work E-Book

Simona Ahrnstedt

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Beschreibung

Stell dir vor, du triffst einen Mann in einer Bar.

Und er ist heiß und sexy und interessant.

Stell dir vor, du erzählst ihm alles von dir.

Und du küsst ihn.


Dann stell dir vor, du kommst am nächsten Morgen ins Büro.

Und er ist dein neuer Chef.


"Mit After Work zeigt Simona Ahrnstedt einmal mehr, warum sie zu Recht die skandinavische Queen of Romance genannt wird." Lottens Buchblog

Heiß ersehnt: der neue Roman von der skandinavischen Queen of Romance!


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Seitenzahl: 668

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445Die AutorinDie Romane von Simona Ahrnstedt bei LYXImpressum

SIMONA AHRNSTEDT

After Work

Roman

Ins Deutsche übertragen vonAntje Rieck-Blankenburg

Zu diesem Buch

Als Lexia Vikander erfährt, dass die Stockholmer Marketingagentur, in der sie arbeitet, von einem dänischen Geschäftsmann aufgekauft wurde, bricht für sie eine Welt zusammen. Denn nicht nur ist sie die einzige Texterin der Agentur, die keinen prestigeträchtigen Hochschulabschluss vorzuweisen hat, sondern sie ist auch – so fühlt es sich manchmal zumindest an – die einzige Frau in der schwedischen Werbebranche, die nicht wie ein Supermodel aussieht – beides keine guten Voraussetzungen, wenn der neue CEO Gerüchten zufolge ein skrupelloser Macho ist, der regelmäßig über Leichen geht. Um ihre Nerven zu beruhigen, gönnt sie sich am Abend vor der Übernahme in einer Bar ein paar Cocktails zu viel. Ihr Plan ist, alle Probleme und Ängste wenigstens für kurze Zeit zu verdrängen. Womit sie nicht rechnet, ist der Mann, der sich neben sie setzt und mit ihr zu flirten beginnt. Ein attraktiver, interessanter Mann, der Humor hat und ihr zuhört, als sie von ihren Problemen auf der Arbeit erzählt. Oder von der Tatsache, dass sie schon viel zu lange keinen Sex mehr hatte. Sein Name ist Adam, und Lexia ist betrunken genug, um die Initiative zu ergreifen und ihn am Ende des Abends zu küssen. Es ist der heißeste Kuss, den sie je erlebt hat. Aber es ist auch der verbotenste, wie sich am nächsten Morgen herausstellt. Denn da lernt Lexia ihren neuen Chef kennen. Und es ist niemand anders als Adam …

Für Milo Rev und Dante

Die Besten

1

Lexia

»Na ja, ich bin eben ein Mädchen, das alles im Griff hat«, sagte Lexia Vikander und bemühte sich, so deutlich wie möglich zu sprechen, ohne zu lallen. Ein anderer Gast drehte sich zu ihr um und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick. Lexia setzte eine entschuldigende Miene auf und senkte die Stimme, als ihr bewusst wurde, dass sie zu laut gesprochen hatte. »Oder Frau, besser gesagt. Ich bin eine Frau, die alles im Griff hat«, erklärte sie dem dunkelhaarigen Mann, der sich vor einer Weile neben sie an die Bar des Restaurants Sturehof gesetzt hatte. Er schien aufrichtiges Interesse an allem zu haben, was sie zu erzählen hatte.

Lexia schüttelte leicht den Kopf, um ihren Blick zu fokussieren. Vielleicht hatte sie ihren zweiten Drink doch etwas zu schnell getrunken. Oder war es schon der dritte? Oder gar der vierte? Ehrlich gesagt konnte sie sich nicht mehr genau erinnern. Aber sie saß nur selten allein in einer Bar, und weil niemand mit ihr geflirtet hatte, war ihr nichts anderes übriggeblieben, als ein Glas nach dem anderen zu leeren. Bis er auftauchte.

»Und inwiefern hast du alles im Griff?«, fragte der Mann. Er sah auf eine bodenständige Art ziemlich gut aus. Dunkler Bartansatz und verschlissene Jeans mit Farbflecken. Eine frische Schürfwunde am Fingerknöchel, als hätte er irgendwas Handwerkliches gemacht, bevor er hergekommen war, um ein Bier zu trinken. Sie saßen seit ungefähr einer Stunde hier, genau wusste sie es nicht, und unterhielten sich. Während er einen Burger gegessen hatte, warf sie zwar einen verstohlenen Blick auf seine frisch frittierten goldgelben Pommes, blieb aber bei ihrem Getränk. Und mittlerweile war sie bei ihrem zweiten-dritten-vierten Drink angekommen.

Lexia machte eine ausladende Handbewegung. Der Mann konnte das Schälchen mit den Nüssen gerade noch zur Seite schieben, bevor sie es von der Theke gefegt hätte. Sie lächelte ihn dankbar an. Er hatte ein tolles Reaktionsvermögen und schnelle Hände. Starke Finger.

»Ich hab immer den Überblick«, erklärte sie und bemühte sich, nicht auf seine Finger zu starren. Sie wirkten unglaublich geschickt. »Ich meine, ich hab alles unter Kontrolle und bin echt gut, was Planung und Organisation angeht. Ich hab wirklich alles im Griff«, fügte sie hinzu und fühlte sich ganz plötzlich niedergeschlagen. Jetzt, wo sie es aussprach, klang das ziemlich überheblich, obwohl es der Wahrheit entsprach. »Heute allerdings nicht unbedingt«, sagte sie mit Nachdruck.

»Nicht?«

»Nein. Ich hab beschlossen …« Sie erhob ihr Glas und schwenkte es in der Luft hin und her, während sie nach den richtigen Worten suchte. Schließlich sagte sie: »… heute mal nicht alles im Griff zu haben. Prost.«

Er stieß mit ihr an.

In der Bar war es gesteckt voll, obwohl es Sonntag war und schon recht spät sein musste. Sie konnte nicht abschätzen, wie viel Uhr es war, was sonst nie vorkam, und ihr Handy war schon seit einer ganzen Weile tot. Da ein anstrengender Tag hinter ihr lag und sie ihr Ladegerät vergessen hatte, kam es ihr vor, als wäre es tiefste Nacht.

»Könnte ich noch so einen Rosafarbenen kriegen?«, rief sie dem Mann hinter der Theke zu, der sich geschäftig hin und herbewegte. Sie hielt ihr leeres Glas hoch, doch der Barkeeper wandte sich demonstrativ von ihr ab und nahm stattdessen die Bestellungen zweier junger Frauen auf, deren Haare bis zum Po reichten.

Lexia überlegte, ob sie aufstehen und ihm eine Szene machen sollte. Doch ganz so weit war es mit ihrem neuen Vorsatz noch nicht gediehen. Ehrlich gesagt war sie auch keine Frau, die Männern eine Szene machte. Eigentlich war sie eher der Typ, der in der Schule gemobbt wurde, weil sie gerne aß, und der von den Männern immer dann fallen gelassen wurde, wenn sie plötzlich Frauen bevorzugten, die mehr auf ihre Linie achteten.

»Willst du wirklich noch einen Drink?«, fragte ihr Begleiter.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie.

»Adam.«

»Ich heiße Lexia. Und ich möchte wirklich gern noch einen Drink.«

Er schwieg einen Augenblick und schien nachzudenken. »Okay, aber lass mich dazu wenigstens ein Wasser bestellen«, sagte er schließlich und nickte dem Barmann kurz zu, der flüchtig zurücknickte und umgehend einen weiteren Cocktail mixte. Kurz darauf stand das Getränk knallrosa und prickelnd vor Lexia auf der Theke. Sie ignorierte das Wasserglas und nippte an ihrem Drink, während sie über den Rand des Glases hinweg unauffällig ihren Begleiter in Augenschein nahm. Sie hatte zwar definitiv einen sitzen, aber er war schon ziemlich sexy. Dunkelbraunes Haar in derselben Farbe wie Kaffee und Kakao oder alle möglichen anderen braunen Leckereien. Graue Augen. Er war etwas älter als sie mit ihren achtundzwanzig Jahren – sie tippte auf Mitte dreißig. Und er trug keinen Ring am Finger. Das war das Erste, wonach sie geschaut hatte. Er sah gut aus und war interessiert und aufmerksam. Eigentlich zu schön, um wahr zu sein, aber sie beschwerte sich keineswegs. Denn bevor er sich zu ihr setzte, hatte sie sich ziemlich einsam und wie eine Versagerin gefühlt, und er hatte ihr den Abend gerettet.

»Sie müssen nicht unbedingt hier bei mir sitzen bleiben«, sagte sie in einem höflichen Versuch, großherzig zu sein. Eigentlich idiotisch, als sie näher darüber nachdachte, aber der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen und sich für das Wohlbefinden anderer verantwortlich zu fühlen, war tief in ihr verwurzelt. Sie sollte endlich damit aufhören. Gleich morgen.

Er zog eine Augenbraue hoch. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es überhaupt möglich war, nur die eine Augenbraue hochzuziehen. Aber es war ziemlich wirkungsvoll. Sie versuchte es ebenfalls.

»Was machst du da?«, fragte er.

»Die eine Augenbraue hochziehen«, erklärte sie.

»Ich dachte schon, du hättest einen Schlaganfall erlitten oder wärst ohnmächtig geworden. Soll ich lieber gehen?«

»Nein, auf gar keinen Fall«, antwortete sie mit Nachdruck. Denn es wäre verdammt langweilig, allein an der Theke zu sitzen, während man vom Barmann und von allen anderen Gästen ignoriert wurde. Niemand hatte auch nur den Versuch unternommen, sie anzubaggern. Die Feministin in ihr hätte sich freuen müssen, doch sie empfand es eher als deprimierend. Konnte man Feministin sein und dennoch von Männern umworben werden wollen? Gute Frage. Plötzlich entdeckte sie auf ihrem Kleid einen Fleck. Diskret befeuchtete sie ihren Zeigefinger und versuchte ihn wegzuwischen. Ihr Kleid, das auf dem Bügel in der Boutique noch luftig und bequem gewirkt hatte, fühlte sich jetzt viel zu eng an, und außerdem war der Stoff zerknittert. Sie gab auf. »Heute ist wirklich nicht mein Tag.«

»Aber warum denn?«, fragte er und erhob erneut sein Glas. Er trank ganz gewöhnliches Bier, keine spezielle Marke in einem ausgefallenen Krug, sondern schlicht und einfach Bier vom Fass. Dafür liebte sie ihn gleich ein bisschen. In seiner Jeans und mit seinen Bodybuilder-Schultern sah er aus wie ein Arbeiterjunge, ein Rowdy aus dem Vorort. Er erinnerte sie an manche Jungs aus ihrer Schule. Coole Typen, die allerdings nie auch nur Notiz von der pummeligen biederen Lexia Vikander genommen hatten. Was auch sein Gutes hatte. Während ihrer Schulzeit hatte sie eigentlich kaum jemand wahrgenommen, weder die Jungs noch die Mädchen. Und wenn man nicht wahrgenommen wurde, ließen sie einen in Ruhe. Jedenfalls zeitweilig.

»Wie bitte?«, fragte sie, weil sie nicht mehr wusste, worüber sie gesprochen hatten.

»Du hast gesagt, dass heute nicht dein Tag ist.«

»Stimmt, ja. Eigentlich war schon die ganze Woche ziemlich daneben. Und dann wurde sie auch noch von einem superbeschissenen Wochenende getoppt.«

Er nippte an seinem Bier und stellte das Glas wieder ab. Auf seinem Handrücken und seinen Fingern wuchsen dunkle Härchen. Er hatte kräftige Hände. Sie liebte große Hände. Hatte sie das eben schon gedacht? Sie ließ ihren Blick etwas länger auf ihnen ruhen.

»Erzähl mal.«

»Ach, ich hatte Stress im Büro«, sagte sie. Es war ihr lieber, über ihre Arbeit zu sprechen. Alles andere war einfach zu erbärmlich. »Die Stimmung ist mies, und meine Kollegen sind ziemlich schlecht gelaunt.«

»Deinetwegen?«

Jetzt verzog Lexia den Mund. »Wegen mir hat nur selten jemand schlechte Laune.« Manche störten sich zwar an ihr, aber richtig sauer auf sie waren sie fast nie. »Nein. Aber es war wie gesagt eine lange Woche.«

»Mit einem superbeschissenen Wochenende«, fügte er hinzu.

»In der Tat. Schon lange her, dass es an allen Fronten gekracht hat.« Normalerweise gelang es ihr besser, die Dinge nicht so persönlich zu nehmen, aber heute war alles zusammengekommen.

»Erzähl schon.«

»Willst du es wirklich hören?«

»Ja, klar.«

»Erst bin ich mit meiner Mutter aneinandergeraten, richtig schlimm. Obwohl ich längst erwachsen bin, gibt sie mir das Gefühl, gerade mal fünf Jahre alt zu sein.« Ihre Mutter hatte morgens bei ihr angerufen und jeden einzelnen ihrer wunden Punkte thematisiert: ihr Gewicht (»Ich sag es ja nur, um dir zu helfen, mein Schatz«), ihr Singledasein, ihre Zukunft. Kritik und Nadelstiche in Fürsorglichkeit gehüllt. »Geht es dir auch so mit deiner Mutter?«, fragte sie. Vielleicht war es bei Männern ja anders.

»Meine Mutter ist tot.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte sie und kam sich schlecht vor.

»Kein Problem. Sie lebt schon lange nicht mehr.«

»Tut mir trotzdem leid, wenn ich unsensibel war.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Aber es klingt so, als wäre deine Mutter manchmal ganz schön gemein, oder?«

»Ja, vielleicht. Manchmal zumindest.« Lexia und ihre Mutter standen sich nahe, was allerdings auch gewisse Nachteile mit sich brachte. »Aber sie ist schließlich meine Mutter, und natürlich liebe ich sie. Und sie liebt mich auch. Sie hat viel für mich getan und will letztlich nur mein Bestes.« Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, ihre Mutter in Schutz zu nehmen. Auch wenn sie Lexia manchmal zu Tode nervte, hieß das noch lange nicht, dass sich irgendwer anders kritisch über sie äußern durfte.

»Ich verstehe«, sagte er und schien es ernst zu meinen.

»Sorry, wenn es etwas schnippisch geklungen hat«, sagte sie. Die Beziehung zu ihrer Mutter stellte für sie ein hochsensibles Thema dar.

»Es klang gar nicht schnippisch«, entgegnete er ruhig.

Er war unglaublich nett. Dabei schleimte er sich nicht ein und war auch nicht übertrieben bemüht, sondern hörte ihr zu und gab ihr Bestätigung. Das machte ihn verdammt attraktiv. »Ich komme gerade von einem komplett misslungenen Mädelsabend«, sagte sie.

»Oha.«

Lexia nickte. Sie hatte schon vorher befürchtet, dass es nicht ganz unkompliziert werden würde, aber sie hatte Lust auf Gesellschaft gehabt und war trotzdem mitgegangen. Das hätte sie besser bleiben lassen sollen. Und sie hätte auch jetzt nicht mit einem Fremden im Sturehof sitzen und rosafarbene Drinks schlürfen, sondern zu Hause bleiben und früh zu Bett gehen sollen. Sonntags bereitete sie sich normalerweise auf die nächste Arbeitswoche vor, indem sie E-Mails schrieb, die Kleidung für den kommenden Tag heraussuchte, eine Gesichtsmaske auflegte und plante, welche gesunden Lebensmittel sie einkaufen und im Rahmen irgendeiner angesagten Wunderdiät ausprobieren würde. Aber manchmal war sie es so leid, sich um all diese Dinge zu kümmern. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand ihres Glases.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Mann.

»Ja, schon.« Jetzt war in der Tat alles in Ordnung. Der Alkohol, der Mann mit dem interessierten Blick. Eigentlich hatte sie sich überhaupt nur deswegen getraut, ihn anzusprechen, weil er aufrichtiges Interesse an ihr zu haben schien und sie schon fast alle verfügbaren Cosmopolitans im Sturehof intus hatte. »Weißt du, normalerweise betrinke ich mich nie«, sagte sie und schaute in ihr Glas, in dem die rosafarbene Flüssigkeit herumschwappte.

»Nie?«

Lexia beugte sich etwas zu ihm vor und pfiff einen Augenblick lang auf misslungene Mädelsabende, nervige Mütter und ihren Job. Er beugte ebenfalls seinen Oberkörper vor, und seine Augen begannen zu leuchten. Er hatte unglaubliche graue Augen und einen warmherzigen Blick. Anfänglich hatte sie gemeint, darin einen Anflug von Kälte oder Härte zu erkennen, doch jetzt war beides verschwunden. Vielleicht lag es an der Beleuchtung hier drinnen, die ihr einen Streich gespielt hatte. Jedenfalls sah sie nur noch Wärme und Interesse darin.

»Was ist denn?«, fragte er. Dabei lächelte er zwar nicht direkt, doch seine Augen umspielte ein dezentes Lachen.

»Wie kann man als Mann nur so lange Wimpern haben?«, hörte sie sich selbst fragen. Lange, dichte und dunkle Wimpern, völlig unfassbar. Jedes Mal, wenn er blinzelte, wurde ihr gesamter Körper von einem angenehmen Schauder erfasst. Sein ganzes Erscheinungsbild erinnerte sie an eine Werbung für Outdoor-Aktivitäten und Männerwerkzeug. Diese Firmen, die Testosteron in Konservendosen anboten, hätten ihn als Werbeträger verpflichten können. Und sie würde dann den passenden Slogan dazu entwerfen, dachte sie, doch im Augenblick fiel ihr nichts Pfiffiges ein.

Jetzt zog er schon wieder eine Augenbraue hoch. »Was ist? Warum starrst du mich so an?«

Lexia ergriff ihr Glas, drehte es in der Hand und nahm einen kleinen Schluck. »Ach, nichts. Aber wenn ich nicht so betrunken wäre, hätte ich mich nie getraut, dich anzusprechen.«

»Und warum nicht?«

Sie wusste nicht so recht, ob er sie aufzog. Hatte er denn nicht bemerkt, dass alle Frauen in der Bar ein Auge auf ihn geworfen hatten? Er war zwar nicht der bestaussehende Mann im Lokal, bei Weitem nicht, aber er zog mit seiner Ausstrahlung trotzdem alle Blicke auf sich. »Na ja, in der Hinsicht hat bei mir in der letzten Zeit ziemlich Flaute geherrscht«, sagte sie und musste kichern, weil sie es laut ausgesprochen hatte. Aber es stimmte. Ihr Sexleben war derzeit nicht existent. Sie war achtundzwanzig und hatte schon ewig nicht mehr mit einem Mann geschlafen. Dabei sollte eine junge Frau wie sie nicht wochen- oder gar monatelang ohne Sex auskommen müssen.

Er kratzte sich am Kinn und wirkte einerseits amüsiert, andererseits ein wenig befangen.

Lexia überlegte kurz, wie sie das Gespräch auf ein unverfänglicheres Thema leiten könnte, fragte dann aber:

»Bist du eigentlich verheiratet oder so?« Diese Frage war für sie ohnehin die wichtigste. Ob er eine Frau oder Freundin hatte, der er treu sein musste.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Und du?«

»Nein, ich bin Single«, antwortete sie. »Aber du stehst schon auf Frauen, oder?« Er sah nicht gerade aus, als wäre er schwul, aber was wusste sie schon? Sie war nicht besonders gut darin, Männer einzuschätzen. Und mit ihm war es irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Er lud sie auf Drinks ein, erzählte ihr von sich selbst und interessierte sich für sie. Vielleicht war er ja ein Gigolo, fiel ihr ein. Aber was das betraf, war sie nicht besonders pingelig. Sollte er doch. Sie musste erneut kichern.

Er trank von seinem Bier und wischte sich den Schaum von der Oberlippe, ohne ihre Frage zu beantworten. Eigentlich sah er mit seiner Jeans und den Sneakers nicht gerade wie ein Gigolo aus. Nicht dass sie genau wüsste, wie ein Gigolo aussah, aber dennoch. Eigentlich wirkte er eher wie ein Bauarbeiter, der sich in die Innenstadt verirrt hatte. Und trotzdem passte er besser in diese Bar als sie selbst.

Jedes Mal, wenn Lexia ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, sah sie, wie andere Frauen ihm hungrige Blicke zuwarfen und schmachtend zulächelten. Ein paar Männer ebenfalls. Sie versuchte, auf dem hohen Barhocker ihre Beine übereinanderzuschlagen, doch es gelang ihr nicht. Er schaute sie fragend an. »Nicht ganz leicht, eine elegante Sitzposition zu finden«, sagte sie entschuldigend und leerte ihr Glas. Eigentlich sollte sie jetzt nach Hause gehen. Besser gesagt, sie hätte es schon vor ein paar Stunden tun sollen.

»Noch einen?«, fragte er. Sie hätte schwören können, dass sein Blick gerade an ihrem Bein hinaufgeglitten war, und wurde von einer Welle der Erregung erfasst. Er saß also da und scannte ihren Körper. Ihre Beine waren eigentlich ganz okay. Nicht gerade lang und schlank, aber zumindest waren es nicht ihre hässlichsten Körperteile. Außerdem trug sie schicke High Heels und darunter sündhaft teure Nylonstrümpfe.

Während sie seine Frage mit einem Nicken bejahte, versuchte sie ihren in Auflösung begriffenen Haarknoten diskret wieder zurechtzurücken. Sie fragte sich, ob ihr Begleiter es womöglich darauf anlegte, sie betrunken zu machen, und wenn ja, ob es ihr wirklich etwas ausmachte. Sie rückte den Haarknoten erneut zurecht. Das war noch eine Fehlentscheidung des heutigen Tages gewesen: der Versuch, elegant zu wirken. Es fühlte sich eher so an, als hätte sie ein totes Tier am Kopf hängen.

»Ja gern«, antwortete sie und gab den Versuch mit den Haaren irgendwann auf. Stattdessen ergriff sie das Glas mit dem neuen Drink, das bereits vor ihr stand, und nahm einen Schluck. Er schmeckte so säuerlich, dass sich ihr Mund zusammenzog. »Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein«, erklärte sie. Oder hatte sie es ihm schon erzählt?

»Und wo solltest du stattdessen sein?«

Gute Frage. Sie hatte keine Ahnung. »Ich war heute nämlich mit einigen ehemaligen Klassenkameradinnen verabredet. Mädels, mit denen ich zusammen in die Mittelstufe gegangen bin.« Sie sahen sich zwar nicht besonders oft, vielleicht zweimal im Jahr, aber Lexia mochte sie. Alle außer einer. »Wir wollten gemeinsam was essen gehen und danach einen Cocktail trinken.«

»Aber jetzt sitzt du allein hier. Oder na ja, mit mir. Was ist denn passiert?«

Josephine war passiert.

Sie zuckte mit den Achseln. »Sie haben sich kurzfristig umentschieden und beschlossen, ins Spa zu gehen.«

»Und du gehst nicht so gern ins Spa?«, mutmaßte er.

»Wir hatten eigentlich verabredet, uns danach um zwanzig Uhr hier zu treffen.« Sie war um zehn vor acht hergekommen, weil sie pünktlich sein wollte, doch keine der anderen war aufgetaucht oder hatte ihr eine SMS geschickt, und jetzt war ihr Handy tot, sodass sie nicht wusste, wohin sie stattdessen gegangen waren. »Sie wollten ins Sturebad und sich anschließend hier mit mir treffen.« So hatten sie es vereinbart. Sie schaute in ihr Glas und schüttelte den Kopf. »Ich hatte absolut keine Lust mitzugehen«, erklärte sie mit finsterer Miene.

»Und warum?« Er klang aufrichtig erstaunt.

Ach, eigentlich konnte sie ihm auch ebenso gut sagen, wie es war. »Die anderen sind superschlank, total durchtrainiert, braun gebrannt und einfach perfekt, und ich … eben nicht. Ich hasse Spas«, fügte sie angriffslustig hinzu, denn kein normaler Mensch konnte es ernsthaft gut finden, sich vor anderen auszuziehen. Über dieses Thema sprach sie sonst nie, aber egal, sie würden sich ja sowieso nie wiedersehen. »Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest …« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Ich bin übergewichtig.«

Sie sah, wie er seinen Blick über ihren Körper gleiten ließ, und zog rasch ihren Bauch ein. Sie erinnerte sich noch immer daran, wie ihr letzter Freund einmal mit dem Finger in eines ihrer Fettröllchen gepikst und sie aufgefordert hatte, doch endlich einmal über ihr Gewicht nachzudenken. Als würde sie je über irgendetwas anderes nachdenken. Doch er sagte nichts.

»Ich nenne sie immer die fiese Josephine«, sagte sie kichernd.

»Wer ist das denn?«

»Meine Erzfeindin. Ein Mädchen, mit dem ich mal zusammen zur Schule gegangen bin. Ich glaub nämlich, es liegt an ihr, dass sie nicht aufgetaucht sind.« So lautete zumindest die logischste Erklärung. Manchmal kam es Lexia vor, als wäre die Rollenverteilung noch dieselbe wie früher. Die allseits beliebte Josephine und das dicke Mobbingopfer Lexia. Die Freundinnen, die sich Josephine unterordneten. So war es schon immer gewesen. Sobald Josephine auftauchte, verloren alle anderen das Interesse an Lexia. »Sie ist in der ganzen Stadt bekannt. Hast du noch nie von ihr gehört? Josephine Sandelman? Sie produziert einen eigenen Podcast namens Rauschen. Wie das Medienrauschen, durch das man ihre Stimme hören kann.«

»Ich höre mir keine Podcasts an.«

»Ihr Mann Leo und ich arbeiten zusammen.«

»Das klingt etwas kompliziert.«

»In der Tat. Aber so ist das Leben nun mal. Ich hab das Ganze inzwischen hinter mir gelassen und mach mir keinen Kopf mehr darüber«, sagte sie und wünschte, dass es die ganze Wahrheit wäre und sie sich endgültig von Josephines Bosheiten befreit hätte. Dass die erwachsene Lexia stark genug wäre, um alle boshaften Spitzen, Blicke und jegliche Unsicherheit abgestreift zu haben. Eigentlich wollte sie heute keine Trübsal blasen. Doch dann kam ihr ein ganz anderer Gedanke, der ihr weitaus wichtiger erschien.

»Du kommst nicht zufällig aus Dänemark?«, fragte sie.

Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, und du?«

Sie fuchtelte ungeduldig mit der Hand in der Luft herum. Er sprach perfekt Schwedisch, aber man konnte nie vorsichtig genug sein. »Ehrenwort?«

»Ehrenwort. Kein einziges dänisches Gen im Körper.« Er klang vertrauenerweckend. Das war eine wunderbare Eigenschaft. Er war männlich, sexy und vertrauenerweckend. Sie verlor den Faden. Worüber hatten sie gerade gesprochen?

»Dann muss ich dir ein Geheimnis anvertrauen«, sagte sie. »Nächste Woche sollen wir nämlich einen dänischen Geschäftsführer bekommen. Gerüchten zufolge ist er ein absoluter Blödmann. Nicht zu fassen, oder?«

»Nein.«

Lexia schüttelte den Kopf, dass ihr Haarknoten noch ein wenig weiter hinunterrutschte. »Sie fliegen einen verfluchten Dänen ein, der die Geschäftsleitung übernehmen soll«, sagte sie und spürte, wie die Wut, die schon die ganze Woche lang in ihrer Brust schwelte, neu angefacht wurde. »Um es kurz zu machen: Meine Agentur ist verkauft worden.«

Sie arbeitete als Werbetexterin in einer kleinen Agentur. Alles war wie immer gewesen, alle Mitarbeiter waren wie gewöhnlich ihrer Arbeit nachgegangen und hatten sich um ihre Kunden gekümmert, bis letzte Woche plötzlich die Bombe geplatzt war. Ihre Agentur war an einen Riesenkonzern verkauft worden, und nun war von einem Tag auf den anderen alles ungewiss. Nicht zuletzt ihr Job. »Völlig aus heiterem Himmel wollen die uns einen Idioten aus dem neuen Management vorsetzen. Wahrscheinlich hat der Typ keinen blassen Schimmer.«

»Ist das denn bei denen nicht gang und gäbe?«

»Bei den Dänen?«

»Nein, im Management.«

»Ich weiß nur, dass ich mich darauf gefasst machen muss, dass mir irgendwer ein Messer in den Rücken rammt. Alles ist irgendwie in Bewegung geraten, und jeder x-Beliebige kann es auf einen abgesehen haben. Konkurrenten, Kollegen, alle.«

»Oder irgendein verfluchter Däne«, schlug er vor.

»Genau.«

Er warf sich eine Chilinuss in den Mund, trank von seinem Bier und sagte aufmunternd: »Erzähl weiter, ich hör dir zu.«

»Ich kann es kaum fassen, was geschehen ist. Und ich mache mir Sorgen.«

Er stellte sein Bierglas ab. »Klingt stressig.« Er fragte nicht, was sie genau machte, und das war ihr nur recht. Sie hasste es, über ihre Position definiert und danach beurteilt zu werden. Vielleicht ging es ihm ja ähnlich.

»Ich wünschte nur, ich hätte nicht so große Angst«, gab sie zu.

»Hast du Angst?« Seine Frage klang so skeptisch, als sähe man ihr gar nicht an, dass sie in der Werbebranche arbeitete, ohne eine offizielle Ausbildung in dem Bereich zu haben, und deshalb jeden Tag aufs Neue beweisen musste, dass sie ihrem Job gewachsen war. Als merke man gar nicht, dass sie sich insgeheim oft wie eine Mogelpackung vorkam. Dass sie sich ihrer Intelligenz und auch ihrer Fähigkeit, eine gute Freundin zu sein, zwar ziemlich sicher war, dass es mit ihrem Selbstwertgefühl als Frau nicht sonderlich weit her war.

»Ja«, antwortete sie, weil sie tatsächlich Angst hatte. Nicht durchgehend, aber ziemlich oft. Angst, sich zu blamieren und nicht zu genügen. Und jetzt auch noch davor, gefeuert zu werden.

»Und was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?«, fragte er.

Ausgezeichnete Frage. Sie überlegte. Was würde sie tun, wenn sie vor nichts Angst hätte? Mal abgesehen davon, dass sie sich mit ihm unterhalten würde. In ihrem Kopf formte sich ein Gedanke. Ich würde mich trauen, alles zu fordern. Doch der Gedanke verflüchtigte sich rasch wieder, und sie betrachtete stattdessen verstohlen seinen Mund. Er hatte seine Frage natürlich auf ihre Arbeit bezogen. Doch im Moment hatte sie nur Augen für seine Lippen, die vom letzten Schluck Bier noch leicht glänzten. Sie hatte Männermünder schon immer gemocht. Und seiner war einfach wunderbar. Er hatte weiße Zähne und einen angedeuteten dunklen Bartansatz.

»Ich glaube, ich würde mehr Männer küssen«, antwortete sie halb im Scherz, halb ernst gemeint. Und beugte sich zu ihm vor.

Er verzog den Mund. »Ach ja?«

Dann legte sie ihre Hand auf sein Bein. Schließlich sprachen sie gerade über die Überwindung von Ängsten, und die unerschrockene Lexia, die sie gerne wäre, tat Folgendes: Sie nahm sich, was sie haben wollte, und forderte ihn heraus. Seine grauen Augen weiteten sich leicht. Sie beugte sich noch etwas weiter vor, stützte sich mit ihrer Handfläche auf seinem Oberschenkel ab und stellte fest, dass unter dem Stoff seiner Jeans nur steinharte Muskeln zu spüren waren, die eine angenehme Hitze ausstrahlten. Dann kippte sie vornüber und ihm geradewegs in die Arme, sodass sich ihre Lippen berührten. Es war keine besonders elegante Bewegung. Eher ein Mittelding zwischen einem Kuss und einem Unfall, aber definitiv ein Kontakt ihrer Münder. Er erstarrte, entzog sich jedoch nicht, woraufhin Lexia die Augen schloss und sich in den Kuss hineinsinken ließ. Oh, was für ein herrlicher Mund. Er fühlte sich noch besser an, als er aussah. Stark und fest und trotzdem angenehm weich. Weil sie jedoch beim Vorbeugen auf dem Barhocker das Gleichgewicht verloren hatte, wurde es ein ziemlich fester und etwas unbeholfener Kuss, aber egal. War sie es etwa, die da stöhnte? Vielleicht lag es am Alkohol, aber plötzlich war ihr furchtbar schwindelig. Sie stöhnte erneut. Auf einmal entzog er sich ihr so rasch, dass Lexia fast ein weiteres Mal das Gleichgewicht verloren hätte. Sie öffnete die Augen, hielt sich an der Theke fest und wurde wieder in die Realität zurückkatapultiert, während sich der Schwindel und das Prickeln langsam legten. Hatte sie ihn tatsächlich gerade geküsst? Am liebsten hätte sie mit ihren Fingern auf ihrem Mund nachgespürt, weil sich darauf noch die Wärme seiner Lippen gehalten hatte.

Er stand mit finsterer Miene von seinem Barhocker auf. Der warmherzige Blick war aus seinen grauen Augen gewichen. »Ich muss leider gehen«, erklärte er kurz angebunden und in geschäftsmäßigem Ton. Er zückte seine Kreditkarte und reichte sie dem Barmann. »Aber ich werde dafür sorgen, dass du heil nach Hause kommst.«

»Ich komm schon allein zurecht«, entgegnete sie und bemühte sich, den Gedanken daran zu verdrängen, dass sie ihn gerade eben angebaggert hatte. Großer Gott, wie peinlich. »Ist ja noch früh am Tag.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist schon spät, und die Bar schließt bald.« Seine Miene wurde etwas sanfter. »Komm schon, ich setze dich in ein Taxi.«

Lexia glitt von ihrem Barhocker herunter. Der Blick aus seinen grauen Augen bohrte sich förmlich in ihre, und ihr Herz machte erneut einen Sprung. Er war wahnsinnig sexy. »Vielleicht solltest du mich lieber nach Hause begleiten«, murmelte sie scherzhaft und in einem Versuch, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Sie hätte nichts dagegen gehabt, ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen, sich an seinen Körper zu schmiegen, von seinem starken Bizeps aufs Bett hinuntergepresst zu werden und mit ihren Fingern durch seine braunen Haare zu fahren. Seinen nackten Körper zu berühren und gemeinsam mit ihm zu kommen.

Der Mann verdrehte die Augen, als könnte er ihren inneren Monolog hören und verspürte nicht die geringste Absicht, gemeinsamen Sex mit ihr zu haben. »Komm jetzt.«

»Okay«, murmelte sie. Sie verließen das Lokal und gingen auf die Straße hinaus. Als Lexia ins Schwanken geriet, legte er einen Arm um sie. Es war kalt, und sie fröstelte. Das Kopfsteinpflaster war uneben und ihre Absätze extrem hoch.

Da geschah es.

Plötzlich brach ihr der kalte Schweiß aus, und ihr wurde übel. »Oh nein«, jammerte sie.

»Was ist denn?«, fragte er.

Lexia konnte nicht mehr antworten. Sie presste eine Hand auf ihren Mund. »Hilfe«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand. Dann begann sie zu würgen. Er zog sie rasch zur Seite und blieb dann neben ihr stehen, während sie sich gegen einen Ahornbaum erbrach, der zwischen Pflastersteinen und Asphalt ein welkes Dasein führte. Wenn Lexia nicht so speiübel gewesen wäre, dann wäre sie höchstwahrscheinlich im Erdboden versunken und vor Scham gestorben. Doch jetzt begnügte sie sich damit, ihren Mund mit einem Feuchttuch abzuwischen, das er von irgendwoher hervorgezaubert hatte, und den Gedanken zu verdrängen, dass das Erbrochene auf seine Schuhe gespritzt war.

»Besser?«, fragte er.

Lexia nickte matt. Sie befand sich gerade in einer der demütigendsten Situationen, die sie je erlebt hatte.

Er warf einen Blick in Richtung Straße, winkte einen Wagen herbei und sagte: »Hier kommt ein Taxi. Spring rein.« Er öffnete ihr die Wagentür, half ihr hinein und bat den Taxifahrer, dafür zu sorgen, dass sie wohlbehalten in ihre Wohnung kam.

»Warte«, sagte Lexia. »Wie heißt du eigentlich?«

Er betrachtete sie. Er sah weder böse aus, noch lächelte er. »Ich hab dir schon gesagt, dass ich Adam heiße«, antwortete er.

»Ach ja, richtig. Danke«, sagte sie. Dann schlug er die Tür hinter ihr zu. Lexia begrub ihre Stirn in den Händen und konzentrierte sich während des ganzen Heimwegs darauf, sich nicht noch ein weiteres Mal zu übergeben.

Zu Hause angekommen verlor sie den Kampf, doch da war sie zumindest allein und befand sich auf der Toilette. Oder zumindest in der Nähe. Selbst ein Mädchen wie sie hatte nicht immer alles im Griff.

2

Adam

Adam Nylund sah das Taxi mit der betrunkenen Lexia auf der Rückbank um die nächste Straßenecke biegen. Er schaute auf seine fleckigen Schuhe hinunter, schob die Hände in die Hosentaschen und spazierte durch die Nacht nach Hause. Er hatte sie attraktiv gefunden, das konnte er nicht leugnen. Als er die gut besuchte Bar betreten hatte, war sie ihm sofort aufgefallen. Vorher hatte er in seiner Wohnung die Wände gestrichen und dabei Musik gehört, bis er irgendwann völlig vertieft ins Schaben, Spachteln und Schleifen gewesen war. Gegen halb acht hatte er einen Bärenhunger verspürt. Er war mit der ersten Morgenmaschine aus London gekommen, nachdem er im ganzen vergangenen Jahr kaum zu Hause in Schweden gewesen war. Stattdessen hatte er fast durchgängig im Hauptsitz des Unternehmens gearbeitet. Zudem hasste er es zu kochen, und demzufolge war sein Kühlschrank leer. Er hatte lediglich das Shirt gewechselt, die Jeans mit den Farbflecken aber anbehalten und sich auf den Weg zum Sturehof gemacht. Und dort hatte sie gesessen. In ihrem hellen Haar hatten sich die Lichter der Bar widergespiegelt, sodass sie zu leuchten schienen. Ihre weichen Kurven, die das dunkle Kleid nicht verbergen konnte, und ihre angestrengte Miene beim Versuch, auf dem hohen Barhocker das Gleichgewicht zu halten, hatten seine Aufmerksamkeit erregt und ihn innehalten lassen. Er hatte sich förmlich zu ihr hingezogen gefühlt. Alles an ihr war üppig und weich. Ihre Wangen, ihre Brüste, ihre Beine. Ihr Körper wies weder irgendwelche Kanten noch harte, definierte Muskeln auf. Und sie hatte einsam gewirkt, fast, als hätte sie jemand im Stich gelassen. Obwohl er zum Essen ins Restaurant gekommen war und um sich innerlich auf einen anstrengenden Arbeitstag vorzubereiten, und obwohl Frauen und Komplikationen das Letzte waren, was er nach einer extrem hektischen Woche suchte, hatte er sich aus einem Impuls heraus neben sie an die Bar gestellt, seine Bestellung aufgegeben und ihr zugenickt. Das beschwipste Lächeln, das er zur Antwort bekommen hatte, und der darauffolgende schlagfertige Kommentar hatten bewirkt, dass er sich auf dem Hocker neben ihr niedergelassen und eine Unterhaltung mit ihr begonnen hatte. Schon ganz am Anfang, noch bevor er merkte, dass er sich auf verbotenes Terrain begab, hatte er mit dem Gedanken gespielt, sie zu verführen. Denn er hatte eine Schwäche für Kurven, die sie im Überfluss besaß.

Ich würde mehr Männer küssen.

Adam bog in den Strandvägen ein. Er wohnte fast am anderen Ende der langgezogenen Straße und war dankbar für den erfrischenden Spaziergang. Er musste wieder einen klaren Kopf bekommen. Ich würde mehr Männer küssen. Er hatte ihren Kommentar extrem unpassend gefunden, auch wenn sie natürlich nicht wissen konnte, wie unpassend, aber irgendwie war er auch amüsant, das musste er zugeben. Sie selbst war ebenfalls amüsant mit ihrer Selbstironie, ihrer Begeisterungsfähigkeit und Nachdenklichkeit. Und während sein Blick an ihren hellen, glänzenden Lippen hängen geblieben war, hatte er eine primitive Lust verspürt. Als er jetzt an den Kuss dachte, wurden seine Schritte langsamer. Diesen Kuss würde sie morgen noch bereuen. Er selbst war in keiner Weise darauf vorbereitet gewesen. Sie hatte mit ihm geflirtet, und zwischen ihnen hatte eine Spannung in der Luft gelegen, aber dennoch hatte er nicht erwartet, dass sie letzten Endes tatsächlich so verwegen sein würde. Er war überrascht gewesen und hatte es deshalb zugelassen, dass sie ihren weichen Mund auf seinen presste, noch dazu viel zu lang. Ehrlich gesagt war er angesichts seiner eigenen Reaktion auf einen ziemlich unschuldigen Kuss in einer Bar, der eigentlich eher ein keusches Küsschen war, schockiert, auch wenn dabei mehrere Drinks und ein paar Biere im Spiel gewesen waren. Doch als sich ihre Lippen berührten, war es, als wäre sein Körper von einem elektrischen Schlag getroffen worden.

Er schob seine Hände etwas tiefer in die Jeanstaschen. Man merkte, dass der Oktober nahte, denn der Wind, der von der Bucht Nybroviken kam, war kühl.

Sie musste stark betrunken gewesen sein, dachte er. Die rosafarbenen Drinks hatte sie mit einer beeindruckenden Zielstrebigkeit hinuntergekippt. Und obwohl sie einen Teil des Alkohols wieder von sich gegeben hatte, als sie sich über seine Schuhe erbrochen hatte – er warf erneut einen Blick auf seine Sneakers –, befürchtete er, dass sie am nächsten Morgen einen heftigen Kater bekommen würde. Und wer weiß, ob sie überhaupt zur Arbeit erscheinen konnte.

Adam nahm die Schlüssel aus seiner Jackentasche, öffnete die Haustür, nahm die Treppe nach oben und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf, als plötzlich sein Handy klingelte. Es gab nur einen Menschen, der ihn zu jeder beliebigen Uhrzeit anrief. Er meldete sich, ohne auch nur einen Blick aufs Display zu werfen.

»Was willst du?«, fragte er.

»Ich will mich vergewissern, ob für morgen alles klar ist«, antwortete Roy Hansson, sein Chef, Mentor und der größte Quälgeist, den er kannte.

»Es ist mitten in der Nacht«, entgegnete Adam, während er an seiner Reisetasche vorbeiging, die noch unausgepackt im Flur stand. »Ich muss jetzt schlafen.«

»Mir reichen nachts drei Stunden Schlaf völlig aus«, erklärte Roy.

»Ich weiß. Du erwähnst es ungefähr einmal am Tag.«

»Es gibt nicht viele Fünfundsechzigjährige mit meiner Fitness«, prahlte Roy.

In all den Jahren, seit Adam ihn kannte, bildete seine körperliche Topform eines seiner wiederkehrenden Lieblingsthemen.

»Du weißt aber schon, dass nur Kleinkinder und Greise ständig über ihr Alter reden?«

Roy schwieg eine Weile. Adam zog sich die Schuhe aus, suchte nach einer Plastiktüte und steckte sie hinein. »Gut, dass du den Posten als Geschäftsführer in der Agentur übernommen hast«, sagte Roy schließlich.

»Wenn du es so sagst, klingt es, als hätte ich eine Wahl gehabt«, entgegnete Adam. Sie wussten beide, dass er nur unter Protest hergekommen war. Erst hatte Roy eine Werbeagentur aufgekauft, ohne sich mit seinen Beratern abzustimmen. Dann hatte er den erfahrenen Geschäftsführer der Agentur in despektierlicher Manier geschasst, um kurz darauf einen neuen einzustellen – einen erfahrenen Dänen, den Adam eigentlich ganz okay fand und der bestimmt einen guten Job gemacht hätte. Doch dann hatte Roy den Dänen nach nur einem Tag schon wieder gefeuert. Alles, ohne sich mit irgendwem darüber abzustimmen, nicht einmal mit Adam, der eigentlich als Roys rechte Hand fungierte.

»Ich begreife nicht, warum du den Dänen nicht behalten hast. Er war doch wie geschaffen für den Posten. Im Gegensatz zu mir, der ich völlig überqualifiziert bin.« Adam war verdammt sauer.

»Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann«, erklärte Roy.

Auch ein wiederkehrendes Thema. Roy konnte manchmal geradezu paranoid sein.

»Es handelt sich um eine zweitklassige Werbeagentur«, entgegnete Adam. »Ich bezweifle, dass er da so viel Schaden hätte anrichten können. Aber ich kapiere noch immer nicht, warum du sie überhaupt gekauft hast.«

»Ich habe meine Gründe.«

»Ist es mal wieder etwas Persönliches?«, fragte er, mit einem Mal misstrauisch geworden.

Denn es wäre nicht das erste Mal. Adam bewunderte Roy, aber manchmal machte ihn seine Impulsivität fast verrückt. Dieselben Eigenschaften, die Roy Hansson, dem Jungen aus der Kleinstadt, dabei geholfen haben, ein Imperium aufzubauen, trieben Adam immer wieder in den Wahnsinn.

»Geschäfte sind stets persönlicher Natur. Jedenfalls für mich. Sie sind ein Teil meines Lebens.«

Roy bezeichnete sich gern als »Street Fighter« und »Underdog«. Adam wusste, dass er nur zu gern in den Medien provozierte und Seitenhiebe gegen Kollegen und gegen diejenigen austeilte, die andere Auffassungen vertraten als er. Doch er war ein gewiefter Geschäftsmann und tolerierte kein dummes Geschwätz. Und dafür respektierte Adam ihn.

Er klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter und streifte rasch sein T-Shirt ab. Er wusste, dass Roy ihn nur dazu bringen wollte, noch einmal nachzufragen, warum er die Agentur gekauft hatte, und ließ es gerade deswegen bleiben. Irgendwann würde er es schon noch erfahren. Roy hatte immer seine Gründe, es war nur so, dass man nie vorher wusste, welche. Adam vermutete, dass Roy von irgendwem beleidigt worden war.

»Wolltest du etwas Bestimmtes, Roy, oder hast du nur angerufen, um mir auf die Nerven zu gehen?«

»Ich möchte, dass du mir hinterher Bericht erstattest. Ich will alles erfahren.«

»Wirst du denn nicht dabei sein? Ich dachte, du würdest wenigstens am ersten Tag in die Agentur kommen.« Adam hatte geplant, morgens als Erster im Büro zu erscheinen. Er kam immer als Erster und war immer am besten vorbereitet. Und dennoch hatte er damit gerechnet, dass Roy ihn begleiten würde. Im Vorfeld waren sie alle Dokumente gemeinsam durchgegangen, und er selbst hatte sich bereits einen ersten Eindruck von der Agentur verschafft, aber es waren noch immer jede Menge Entscheidungen zu fällen. Es standen Entlassungen an, während im Gegenzug neue Stellen geschaffen werden mussten.

»Nein, ich muss zu anderen Meetings.«

»Wie lange bleibst du eigentlich in Stockholm?«, fragte Adam.

»Eine ganze Weile. Wir werden noch Gelegenheit haben, über deine Zukunft zu reden.«

Adam entgegnete nichts, wappnete sich aber innerlich. Roy und er waren ziemlich oft geschäftlich unterwegs und immer auf Reisen. Doch langsam wurde es Zeit, darüber zu sprechen, das wussten sie beide.

»Bist du noch dran?«

»Ich ruf dich nach dem Morgenmeeting an. Und du rufst bitte nicht mehr an. Ich melde mich bei dir. Morgen. Und jetzt geh ich schlafen.« Adam legte auf und schaltete den Ton aus, denn er traute Roys Impulskontrolle nicht über den Weg. Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass Roy um vier Uhr morgens bei ihm anrief, nur um mit ihm über irgendeine Idee zu diskutieren, die ihm gerade gekommen war.

Adam hatte vor, sich erst noch einige Notizen für das Morgenmeeting zu machen und danach ein paar Stunden zu schlafen, um sich am nächsten Morgen den Dingen zu widmen, wegen denen er nach Stockholm gekommen war. Er nahm den frisch gereinigten Anzug mit ins Schlafzimmer, hängte den Bügel über eine Tür und schaltete seinen Laptop ein.

Er hatte noch keinen einzigen Auftrag in den Sand gesetzt und war in der gesamten Finanzwelt bekannt für seine stringente Effizienz. Exakt für diese Zwecke hatte Roy ihn angeheuert. Sein Auftrag in der Werbeagentur lautete, hart durchzugreifen, und genau das liebte er. Eine Wirtschaftszeitschrift hatte Roy einmal als Geschäftsmann mit Mafiamethoden porträtiert. Roy hatte den Artikel grandios gefunden und ihn einrahmen lassen, um damit prahlen zu können. Der Mafiavergleich war zwar etwas übertrieben, denn sie hielten sich selbstverständlich an die gesetzlichen Vorgaben, aber sie beide bildeten ein gutes Team und ergänzten sich perfekt. Während Roy wortreich und theatralisch agierte, blieb Adam sachlich und analytisch. Und wenn Roy sich von seinen Gefühlen leiten ließ, setzte Adam zu hundert Prozent seinen Verstand ein.

Doch während er seine E-Mails durchging, schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf, sodass er sich unmöglich auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Er klappte seinen Laptop zu. Wie die meisten anderen Männer konnte auch er nicht leugnen, dass er schöne Frauenbeine bewunderte und Sex liebte. Hingegen war es ihm noch nie passiert, dass sich die Erinnerung an zwei schöne Augen und einen Körper mit verlockenden Kurven negativ auf sein Arbeitspensum auswirkte.

Also gut, wenn Lexia Vikander ihren Job in der Werbeagentur behalten wollte, die Roy aufgekauft hatte und der er selbst als Geschäftsführer vorstehen würde, dann täte sie gut daran, morgen früh im Büro zu erscheinen und zu zeigen, was sie draufhatte. Denn Adam war zwar für so einige Eigenschaften bekannt, aber Mitgefühl für nachlässige Angestellte gehörte nicht dazu. Und wie man die Sache auch drehte und wendete – Adam war bereits seit achtundvierzig Stunden Lexia Vikanders Chef.

3

Lexia

Nur wenige Stunden, nachdem sie eingeschlafen war, wachte Lexia mit dem gefühlt schlimmsten Kater ihres Lebens auf. Ihr Hirn pulsierte vor Schmerzen. Ihr Puls raste. Mühsam schlug sie die Augen auf. Ihr Herz pochte so laut, als würde es jeden Moment ihren Brustkorb sprengen. Sie hustete leicht und stöhnte auf. Schmerzen. Überall Schmerzen. Die Augenlider, der Kopf, sämtliche Körperteile taten ihr weh. Vorsichtig bewegte sie ein Bein. Sie lag auf dem Bettüberwurf und hatte in den wenigen Stunden offenbar in ein und derselben Stellung geschlafen, denn sie fühlte sich steif wie ein Brett. Der eine Arm war taub, und als sie das eine Fußgelenk bewegte, spürte sie, dass der Schuh noch daran hing. Der andere Fuß war nackt. Als sie den Kopf anhob, sah sie, dass ihre Strumpfhose Löcher hatte.

Stöhnend sank sie wieder aufs Kissen hinab. Hinter ihrer Stirn flimmerten vage Erinnerungsfetzen an einen aufgebrachten Taxifahrer vorbei, der sie auf der Rückbank wachrüttelte und ihr zurief, dass sie zu Hause angekommen sei. Irgendwie musste es ihr gelungen sein, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und die Tür aufzuschließen, doch sie erinnerte sich nicht mehr daran. Großer Gott, sie hoffte inständig, dass sie sie auch wieder hinter sich geschlossen und verriegelt hatte.

Plötzlich wurde sie von einem Brechreiz erfasst, fühlte sich aber zu matt, um auch nur den Gedanken daran zuzulassen, sich zu übergeben. Genau, sie hatte sich in die Toilette erbrochen, gleich nachdem sie heimkam, und war danach irgendwie ins Schlafzimmer getaumelt. Dort war sie offenbar vollständig bekleidet aufs Bett gefallen. Jetzt spürte sie, dass sie ihre Handtasche gegen die Brust gepresst hielt, und versuchte sie mit zitternden Händen zu öffnen. Alles schien noch drin zu sein. Sie hatte mit ihrer Kreditkarte bezahlt und dem Beleg zufolge viel zu viel Trinkgeld gegeben.

Während der uralte Wecker auf ihrem Nachttisch schrillte, stellte sie fest, dass ihr Kleid wie zu einer Wurst zusammengerollt um ihre Hüften hing. Mit einem lahmen Stöhnen tastete sie mit einer Hand nach dem Wecker und schaltete ihn aus.

Sie war sich ziemlich sicher, dass sie heute arbeiten musste, auch wenn ihr beim besten Willen nicht einfiel, welcher Wochentag gerade war. Dann kam ihr flüchtig der Gedanke, sich krank zu melden, aber eigentlich ließ sie sich nie krankschreiben. Sie versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass sie stattdessen husten musste. Sie stützte sich mühsam auf die Unterarme und wartete erst eine Welle der Übelkeit ab, bevor sie aufstand und auf wackeligen Beinen in die Küche stolperte, wo sie eine Schachtel Aspirin aus dem Schrank nahm. Nachdem sie ein Glas mit Wasser gefüllt und zwei Brausetabletten hineingegeben hatte, griff sie sich ihr Handy, schloss es an die Steckdose an und hörte, wie jede Menge SMS nacheinander eintrafen. Sie scrollte sich durch mehrere Mitteilungen der Mädels vom gestrigen Abend. Ja, es war genauso, wie sie geahnt hatte. Josephine war zu ihnen gestoßen, und dann hatten sie beschlossen, ein Taxi zum Lydmar zu nehmen, anstatt zu Lexia in den Sturehof zu kommen. Offenbar hatten sie sich nicht einmal gefragt, wo Lexia abgeblieben war. Wider besseres Wissen loggte sie sich auf Josephines Instagram ein. Josephine hatte zweihunderttausend Follower auf ihrem Insta, wo sie ihre Fettphobie mit Diätvorschlägen kaschierte, überteuerte Shoppingschnäppchen mit irgendwelchen Lebensweisheiten versah, nett kaschierte Gemeinheiten von sich gab und jede Menge Werbung für ihren Podcast und ihre VIP-Gäste platzierte. Und tatsächlich, da war es. Ein Foto von mehreren lachenden Mädels mit Champagnergläsern in den Händen und der Bildunterschrift: Die tollste Mädelsclique ever. Trotzig likte sie das Bild und schloss danach die App wieder. Lexia wusste genau, dass es ihr scheißegal sein sollte, ob die Mädels sich auch ohne sie vergnügt hatten. Dann klickte sie eine SMS von ihrer Mutter mit einem Link zu einem Artikel an, in dem Zucker als Gift bezeichnet wurde. Und dann … Um Gottes willen! Lexia stöhnte, als sie die Nachrichten von Dina Mahfouz überflog, die am Empfang der Werbeagentur Sandelman & Dyhr saß, wo auch Lexia arbeitete:

Hier herrscht das absolute Chaos. Leo sagt, alle müssen zum Morgenmeeting erscheinen.

Zehn Minuten später:

Bist du schon unterwegs? Unser neuer Geschäftsführer kommt heute. HEUTE!

Fünf Minuten später:

Bist du tot?

Und weitere zwei Minuten später:

Falls du noch lebst, musst du unbedingt kommen. Eigentlich schon vor fünf Minuten.

Lexia starrte aufs Display. Ihr Gehirn kam nicht ganz hinterher. Der ehemalige Geschäftsführer war nicht mehr da. Er hatte in der vergangenen Woche notgedrungen seine Sachen packen und gehen müssen, nachdem er per E-Mail gefeuert worden war. Niemand im Büro wusste Näheres darüber, außer dass ein dänischer Geschäftsführer auftauchen würde, und zwar offenbar schon heute.

Sie schickte eine kurze Nachricht zurück:

Ok.

Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass der neue Geschäftsführer, dieser verfluchte Däne, schon heute kommen würde. Keiner hatte irgendetwas gewusst. Sie trank die aufgelösten Aspirintabletten und wartete eine weitere Welle der Übelkeit ab, bevor sie sich zwang, ins Bad zu gehen und sich mit ihrem eigenen Spiegelbild zu konfrontieren. Der Anblick war schlimmer als erwartet. Ihr Haarknoten hatte sich während der Nacht aufgelöst, und jetzt ragten daraus die Haarnadeln und Spangen hervor wie eine Horde Außerirdischer, die sich in einem unwirtlichen Dschungel verirrt hatten. Ihrem zerzausten Schopf war die Feuchtigkeit gestern Abend gar nicht gut bekommen, weshalb die Haare wie die Metallfasern eines Topfschwamms von ihrem Kopf abstanden. Sie schaute auf die Uhr. Ihr blieb keine, absolut keine Zeit mehr, diese Katastrophe zu waschen, zu föhnen und mit dem Glätteisen in Form zu bringen. Lexia strich sich mit den Handflächen über die Brüste und den Bauch. Die Metallbügel ihres BHs schnitten ihr in die Haut, und ihr neu erstandenes Etuikleid war wohl selbst mittels einer chemischen Reinigung nicht mehr zu retten.

Außerdem wäre es gut gewesen, wenn ich mich vorm Schlafengehen noch abgeschminkt hätte, dachte sie panisch und betrachtete die klebrigen Reste ihres Make-ups. Quer über ihre gesamte Wange erstreckten sich Striemen von ihrer Bettwäsche, und ihre Augen waren blutunterlaufen. So abstoßend hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht ausgesehen. Es war, als wäre sie in einem Paralleluniversum aufgewacht und dort einer anderen Version von sich selbst begegnet. Eigentlich war sie überhaupt nicht der Typ Frau, der sich betrank und an einem ganz gewöhnlichen Arbeitstag verschlief. Vielmehr war sie gepflegt, leistungsfähig und zuverlässig. Immer und ausnahmslos.

Während sie in der Dusche den Warmwasserhahn aufdrehte, begann sie ihre Kleidung abzustreifen. Wenn sie es schaffte, in weniger als dreißig Sekunden zu duschen, könnte sie es vielleicht noch pünktlich schaffen.

Eine knappe halbe Stunde später stieg Lexia auf äußerst wackeligen Beinen in den uralten Aufzug des Gebäudes auf Skeppsbron in der Stockholmer Altstadt, wo sich ihre Werbeagentur befand. Eigentlich hätte sie die Treppe nehmen müssen – über zwei Etagen verbrannte man mindestens fünf Kalorien –, aber da es ihr schon schwerfiel, sich aufrecht zu halten, fuhr sie lieber. Die anderen Leute im Aufzug warfen ihr verstohlen vorwurfsvolle Blicke zu, eine Frau hielt sich sogar die Hand vor die Nase, sodass Lexia oben angekommen das enge Gefährt mit Erleichterung verließ und die Tür zu ihrem Arbeitsplatz öffnete. Mit einem Pappbecher Coffee to go in der Hand lehnte sie sich erst einmal gegen die nächste Wand und wartete eine weitere Welle der Übelkeit ab, bevor sie sich traute weiterzugehen.

»Guten Morgen, Dina«, murmelte Lexia zur Begrüßung. »Und hallo, Godzilla«, sagte sie zu dem winzigen dreifarbigen Chihuahua, der Dina überallhin folgte. Jetzt lag er in einem schwarzen Körbchen auf dem Empfangstresen. Godzilla wedelte mit seinem flauschigen Schwänzchen.

Dina formte ihren blau geschminkten Mund zu einem O und fragte: »Shit, wie geht’s dir?«

Lexia bemühte sich, den nächsten tsunamiartigen Brechreiz zu unterdrücken. Vermutlich waren Dina die schwarzen Ringe unter ihren Augen, die blutunterlaufenen Iriden und ihre noch immer zerknitterte Wange nicht entgangen.

»Mal im Ernst, bist du das, die hier so eine Fahne hat?«, fragte Dina mit der brutalen Aufrichtigkeit der Jugend. Dina war neunzehn und eine Art Social Media Whizz Kid. Sie hatte einen eigenen YouTube-Kanal, und neben dem Empfang betreute sie die Facebook-Seite, den Instagram-Account und die Homepage der Agentur. »Du solltest unbedingt ein paar Lutschbonbons einwerfen«, fügte Dina hinzu und wedelte mit der Hand, um den unangenehmen Geruch zu vertreiben.

»Haben sie schon angefangen?«, fragte Lexia, während sie sich vorsichtig von der Wand löste, die sie aufrecht gehalten hatte. Sie warf den leeren Pappbecher in die Nähe des Papierkorbs.

»Nein, sie warten noch auf den neuen Geschäftsführer«, antwortete Dina, während sie bestürzt ihren Blick über Lexias äußere Erscheinung gleiten ließ. »Er war schon früh hier, ist dann aber noch mal gegangen. Und gerade eben hat er eine SMS geschickt, dass er unterwegs ist. Er simst ständig«, murmelte sie.

Lexia fuhr bei dem Gedanken an den neuen dänischen drakonischen Geschäftsführer ein Schauer über den Rücken.

Dina tätschelte Godzilla den Kopf. »Du weißt aber schon, dass es nicht der Däne ist, der kommt, oder?«

»Nicht?«

»Nein, der ist auch gefeuert worden.« Dina kratzte sich mit ihren spitzen blau lackierten Fingernägeln am Hals.

»Noch bevor er angefangen hat?«

»Ja, der Neue ist angeblich ein Star in seiner Branche und kommt direkt aus London. Ein Finanzmanager.«

»Aha«, sagte Lexia. Sie war nicht im Geringsten scharf darauf, einen Finanzmanager aus London kennenzulernen, denn Engländer konnten verdammt streng sein. Beinahe vermisste sie den Dänen, dem sie nie begegnet war. Ein Skandinavier erschien ihr irgendwie unproblematischer. Aber ein englischer Finanzmanager? Vor ihrem inneren Auge sah sie einen hoch aufgeschossenen autoritären Typen, einen finster dreinblickenden Mann, der an allem etwas auszusetzen hatte. Sie vermied es, in den Spiegel neben dem Empfangstresen zu schauen, denn sie wollte auf keinen Fall mit ihrem eigenen Anblick konfrontiert werden. Ihre Haare waren zu einem nachlässigen Knoten hochgesteckt, aber womöglich hatte sie beim Durchkämmen der verfilzten Strähnen etwas von der angetrockneten Substanz übersehen, die noch an der Schläfe geklebt hatte, weil sie sich nebenbei geschminkt und außerdem noch nach einer heilen Nylonstrumpfhose gesucht hatte. Aber ihre Kleidung, ein schlichter schwarzer Rock und eine langärmlige schwarze Bluse von Monki, die sie im Schlussverkauf erstanden hatte, war zumindest sauber. Lexia rieb sich eine Schläfe und versuchte ihre Nylonstrümpfe zurechtzurücken, die unterm Rock etwas schief saßen, und dachte, dass es noch besser gewesen wäre, wenn sie ihre Bluse vorher gebügelt hätte. Sie fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben keine Zeit gehabt hatte, ihre Kleidung zu bügeln.

»Das Meeting findet im großen Konferenzraum statt«, sagte Dina zögerlich, als stellte sie es stark infrage, dass Lexia daran teilnehmen würde.

Lexia bedachte sie mit einem blassen Lächeln, begab sich auf zittrigen Beinen in den Raum und sank auf einen Stuhl am Konferenztisch. Das Einzige, was sie wollte, war, weiterhin als Werbetexterin arbeiten zu dürfen, denn sie liebte ihren Job. Den Großteil ihres Lebens hatte sie sich außen vor und anderen unterlegen gefühlt und war gemobbt worden. Aber das Schreiben hatte ihr schon immer gelegen, und eines Tages hatte sie entdeckt, dass es einen Beruf gab, der Werbetexter hieß. Das Gefühl, das sie damals beschlich, hatte sie nie vergessen. Es war ein Job, in dem man schreiben konnte und für den man bezahlt wurde, der sich aber von dem eines Journalisten oder Schriftstellers unterschied, was sie beides als unerreichbar angesehen hatte. Man konnte Botschaften ersinnen, Texte kreieren und bekam auch noch Geld dafür.

Draußen im Korridor näherten sich Stimmen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Es war soweit. Sie legte ihr iPad zur Seite, setzte ein Lächeln auf und hoffte, dass der alte strenge Finanzmanager Wichtigeres zu tun hatte, als sich um ihr Aussehen und ihre eventuelle Alkoholfahne zu scheren. Vielleicht war er ja schon so alt, dass er halb blind war. Womöglich trug er ein Monokel. Dieter, der frühere Firmenchef, war auch alt gewesen. Sie kannte Dieter nun schon so lange und fand, dass er sie eigentlich über den Verkauf der Agentur hätte informieren müssen. Dann wurde die Tür geöffnet. Lexia stand auf, schluckte ihre Übelkeit hinunter und wandte sich dem Türrahmen zu, während sie ihren Bauch einzog und ihr professionellstes Lächeln aufsetzte. Ältere Männer fanden sie meistens sympathisch und nahmen ihr gegenüber eine väterliche Haltung ein. Vielleicht stellte sie in ihren Augen schlicht und einfach keine Gefahr dar.

Doch dann hatte sie plötzlich das Gefühl, als würde alles um sie herum zu Eis gefrieren. Als liefe ein völlig irrationaler Film vor ihr ab.

Das kann doch wohl nicht wahr sein.

Es war ganz einfach unmöglich. Vielleicht hatte sie ja einen Filmriss. Lexia blinzelte. Einmal, zweimal, doch nichts Entscheidendes geschah. Er war noch immer da.

Der Bauarbeiter.

Abgesehen davon, dass er nicht mehr wie ein Bauarbeiter aussah, nicht im Geringsten. Jedenfalls nicht in seinem eleganten, gut sitzenden Anzug, dem sorgfältig gebügelten Oberhemd und mit einer Armbanduhr aus Platin am Handgelenk, die aussah, als hätte sie mehr gekostet als ein halbes Bruttojahresgehalt einer Werbetexterin wie Lexia. Er war es tatsächlich.

Lexia schaute sich um, doch sie konnte nirgendwohin flüchten und sich auch nirgends verstecken. Und jetzt war es sowieso zu spät, denn sämtliche Angestellten der Agentur bevölkerten den Raum. Insgesamt waren sie zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Beschäftigte, je nachdem, wie man die Teilzeitangestellten und Praktikanten berücksichtigte. Im Vergleich zu den großen Akteuren auf dem Markt waren sie nur eine kleine unbedeutende Agentur. Aber jetzt bewegten sich alle Mitarbeiter auf Zehenspitzen. Die Übernahme war wie eine Bombe eingeschlagen und hatte alle in Angst und Schrecken versetzt. Nun bemühten sie sich, kreativ und kompetent aufzutreten und sich unverzichtbar zu geben. Einer nach dem anderen musterte den Mann im Anzug und seine strenge Miene, bevor sie sich um den Tisch herum verteilten.

Lexia beugte sich langsam vor und stützte sich mit schweißnassen Handflächen auf der Tischplatte ab, während sie gegen ihren Schwindel und den Brechreiz ankämpfte.

»Lexia!«, rief Leo Sandelman, der angehende Senior Artdirector, quer durch den Raum. Seine Stimme ging ihr durch Mark und Bein. Sie war keineswegs erpicht darauf, mit Leo zu sprechen.

»Was ist denn?«, fragte sie mit einem unterdrückten Stöhnen und wurde von einer neuerlichen Welle der Übelkeit erfasst. Es kam ihr vor, als befände sie sich in einem beklemmenden Albtraum.

»Lexia. Das ist Adam Nylund von der Firma Kastnäs. Er ist unser neuer Geschäftsführer.« Ein Teil von ihr war noch immer der Überzeugung, dass sie unter heftigen Halluzinationen litt. Sie war es nicht gewohnt, so viel zu trinken, und womöglich hatte ihr Gehirn einen heftigen Aussetzer. »Er wird am Montagsmeeting teilnehmen«, fügte Leo unnötigerweise hinzu. Ihr war klar, dass Adam nicht nur teilnehmen, sondern das Meeting auch leiten würde. Er sah nämlich genauso aus wie jemand, der Menschen herumkommandierte. Lexia war kurz davor, in Panik zu verfallen. Auch die meisten anderen um sie herum wirkten eingeschüchtert. Leo hingegen schien nicht besonders beunruhigt zu sein. Doch Leo machte sich sowieso nur selten Sorgen. Er war schließlich der Sohn des legendären Werbemoguls Sandelman Senior, gut aussehend und wohlhabend und bekannt wie ein bunter Hund. Männer wie er hatten immer Erfolg.

Dann richtete Adam seinen Blick auf sie, und Lexia spürte, wie ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Ihr brach der kalte Schweiß aus, und sie wurde von Schwindel erfasst. Denn wenn der Mann, dem sie vergangene Nacht begegnet war – Adam Nylund – nicht lächelte, hatte er eine völlig andere Wirkung auf sie.

In der vergangenen Nacht hatte er noch Wärme und Einfühlsamkeit ausgestrahlt.

Doch heute flößte ihr seine Miene Angst ein.

4

Adam

Adam begegnete Lexia Vikanders angsterfülltem Blick und sah, wie ihr kreideweißes Gesicht noch blasser wurde. Sie stand unter Schock, das konnte er deutlich erkennen. Doch Adam verzog keine Miene. Er war nicht hier, um seinen Angestellten Mitgefühl entgegenzubringen, auch wenn es Lexia sichtlich schlecht ging, was zum Teil auch an ihm lag. Selbst quer über den Konferenzraum hinweg sah er, dass sie mit einem heftigen Kater zu kämpfen hatte. Ehrlich gesagt wirkte sie wie der Tod auf Latschen. Ihr zusammengepresster Kiefer, ihre Blässe, die Schweißperlen auf ihrer Stirn, ihre Körpersprache – alles verriet, dass diese Frau eher in einem abgedunkelten stillen Raum liegen und ihren Rausch ausschlafen sollte, anstatt an einem Meeting teilzunehmen. Adam, der noch nie etwas für Angestellte übriggehabt hatte, die ihre Arbeit vernachlässigten, empfand dennoch völlig unerwartet eine gewisse Sympathie für sie. Im Nachhinein betrachtet hätte er sie vielleicht lieber doch nicht auf so viele rosafarbene Drinks einladen sollen. Und eigentlich war es beachtlich, dass sie überhaupt bei der Arbeit erschienen war, obwohl sie den Eindruck erweckte, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

»Das hier ist unser größter Konferenzraum«, erklärte Leo Sandelman. Sein Vater war einer der beiden ursprünglichen Eigentümer gewesen, mittlerweile aber bereits verstorben. Vermutlich hatte er sich totgesoffen, dachte Adam. Leo hatte mit großer Selbstverständlichkeit die Aufgabe übernommen, ihn herumzuführen.

»Hier empfangen wir unsere wichtigsten Kunden und halten unsere Montagsmeetings ab.«

»Und worin besteht die Zielsetzung dieser Meetings?«, fragte Adam, der nichts von Meetings ohne klare Zielsetzung hielt.

»Die Teams stellen ihre jeweiligen Projekte vor. Die Geschäftsführung, tja, ab jetzt also Sie, berichten über Planungsfragen und neue Kunden. Und wenn jemand der gesamten Belegschaft etwas mitzuteilen hat, kann er es immer montags hier tun.«

»Ich verstehe«, sagte Adam kurz angebunden. Er kam sich in seinem Anzug etwas idiotisch vor. Keiner der anderen Männer trug ein Oberhemd, einen Sakko oder gar einen Anzug. Leo Sandelman war hoch aufgeschossen und hatte einen athletischen Körperbau. Seine dunklen Haare waren verstrubbelt, und er trug einen gestreiften Pulli zu einer potthässlichen roten Hose, die vermutlich unter Hipstern höchst angesagt war. Leo Sandelman sah genauso aus, wie Adam es nach seinen Recherchen im Internet erwartet hatte. Er war ein bekannter Medienfachmann, kam aus der Oberschicht und strahlte Selbstsicherheit aus. Seine gesamte Familie arbeitete in der Medienbranche (im Übrigen ein Begriff, den Adam verabscheute). Seine ältere Schwester betrieb einen Blog, seine Ehefrau Josephine produzierte einen Podcast, Leos Mutter war Produzentin von Fernsehshows, und sein Vater, Sandelman Senior, war eine einflussreiche Persönlichkeit in der Kulturszene gewesen und hatte hinter einigen der legendärsten Werbekampagnen landesweit gestanden.

Adam hatte jahrelang in der Finanzbranche in Stockholm, London und New York gearbeitet und wusste, dass es Typen wie Leo wie Sand am Meer gab. Man begegnete ihnen in der Finanzwelt wie in der Kulturszene. Sie waren Söhne und Töchter der Reichen und Schönen, Kinder und Enkel der Crème de la Crème, und bildeten einen elitären Kreis, geprägt von Privilegien und Macht. Nur zu gern betonten sie, wie schwierig es für sie sei, nach ihren eigenen Fähigkeiten beurteilt zu werden, und beklagten sich in Interviews darüber, während sie sich zugleich schamlos mit ihrem Familiennamen brüsteten. Während seiner Ausbildung an der Handelshochschule Stockholm hatte Adam unter anderem immer wieder beobachtet, wie sie von den Professoren bevorzugt behandelt wurden. Man sah eben vieles, wenn man die Dinge von außen betrachtete.