Alles oder nichts - Simona Ahrnstedt - E-Book
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Alles oder nichts E-Book

Simona Ahrnstedt

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Beschreibung

Glamour, Intrigen und große Gefühle


Ambra ist eine erfolgreiche Journalistin auf der Suche nach einer heißen Story.
Tom ein ehemaliger Elitesoldat, dem Schreckliches zugestoßen ist.


Ambra muss an den Ort zurückkehren, an dem sie niemals wieder sein wollte.
Tom versucht hier, sich ins Leben zurück zu kämpfen.


In Kiruna, im Norden Schwedens, wo klirrende Kälte und ewige Dunkelheit herrschen, begegnen sich zwei Menschen, die auf der Flucht vor ihrer eigenen Vergangenheit sind. Zwei Menschen, die tiefe Wunden tragen. Und niemandem vertrauen.


Zwei Menschen, die von der Anziehungskraft, die zwischen ihnen herrscht, überwältigt werden.


Es kommt ihnen falsch vor. Und doch so beängstigend richtig.
Aber können sie einander wirklich heilen?
Oder wird ihre Liebe sie ein für alle Mal zerstören?


"Alles oder nichts hat alles, was einen guten Liebesroman ausmacht: Spannung, Liebe, Authentizität und tolle Protagonisten!" COLETTES BÜCHERBLOG


Abschlussband der schwedischen Bestseller-Trilogie

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Inhalt

TitelZu diesem BuchProlog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263EpilogDie AutorinSimona Ahrnstedt bei LYXImpressum

SIMONA AHRNSTEDT

Allesoder nichts

Roman

Ins Deutsche übertragen von Antje Rieck-Blankenburg

Zu diesem Buch

Wenn es eine Sache gibt, die Ambra Vinter noch weniger leiden kann als Weihnachten, dann ist es, Weihnachten ausgerechnet in Kiruna verbringen zu müssen. Hier, in der nördlichsten Stadt Schwedens, wo es nichts als Schnee, klirrende Kälte und ewige Dunkelheit gibt, werden schmerzhafte Erinnerungen an ihre Vergangenheit wach – Erinnerungen, die aus der achtundzwanzigjährigen, toughen Journalistin, die für die größte Boulevardzeitung des Landes schreibt, plötzlich wieder das verängstigte zehnjährige Mädchen von damals machen. Aber ihre Chefin wittert eine heiße Story, und so hat Ambra keine Wahl, als zu fahren. Ihr Aufenthalt nimmt eine unerwartete Wendung, als sie am Weihnachtsabend in der Hotelbar auf den ehemaligen Elitesoldaten Tom Lexington trifft. Mit seiner schweigsamen Art ist er eigentlich genau die Sorte Mann, von der Ambra sich sonst fernhalten würde. Aber Tom fasziniert sie, nicht zuletzt deshalb, weil sie spürt, dass sich hinter der düsteren, undurchdringlichen Fassade ein Mann verbirgt, der mindestens ebenso sehr mit seiner Vergangenheit zu kämpfen hat wie sie. Je mehr sie übereinander erfahren, desto stärker wird die Anziehungskraft zwischen ihnen. Doch können zwei Menschen, die so tiefe Wunden tragen, einander wirklich heilen? Oder wird ihre Liebe sie ein für alle Mal zerstören?

PROLOG

Es gab so viele Dinge in diesem Haus, die einem Angst einflößten, jedenfalls wenn man ein Kind war. Das abscheuliche Essen, die aufbrausenden Stimmen und nicht zuletzt auch die Unsicherheit, nie genau zu wissen, was als Nächstes geschehen und wann sie wieder Schläge bekommen würde.

Aber hier unten im Keller war es am schlimmsten.

Hier war es kalt, und es roch eklig.

Sie kauerte sich an die Wand, legte ihre Stirn auf den Knien ab und spürte die Einsamkeit wie einen Klumpen im Magen oder einen Stich ins Herz. Es tat so weh, allein sein zu müssen und ausgeschlossen zu werden. Auch wenn sie es gewohnt war, hatte sie es noch nie so schlimm erlebt.

Außerdem war es dunkel, und sie hatte Hunger.

Sie schluchzte auf. Obwohl sie sich bemühte, tapfer zu sein, verspürte sie große Angst.

Aber sie würde nicht weinen.

Was auch immer sie ihr antäten, weinen würde sie nicht.

1

Ambra Vinter schaute hinunter auf ihren Notizblock. Sie hatte mehrere Ideen für Artikel, die Telefonnummer eines Interviewpartners und eine persönliche Erinnerung daran, dass sie Kaffee kaufen musste, aufs Papier gekritzelt. Das Wort Kaffee hatte sie zweimal unterstrichen. Ihre Ansprüche ans Leben waren nicht besonders hoch, aber morgens Kaffee zu trinken, war ihr wichtig.

»Ambra, hörst du mir zu?«

Nein, amliebsten würde ich weghören.

Doch da die Frage von ihrer direkten Vorgesetzten beim Aftonblad, der Nachrichtenredakteurin Grace Bekele kam, antwortete Ambra so diplomatisch wie möglich: »Von mir aus kannst du liebend gern jemand anders schicken. Ich war erst letzte Woche für einen Artikel in Varberg unterwegs und komme gerade von dem Brand in Akalla.«

Ambra bemühte sich, einen flehenden Blick aufzusetzen. Es müsste doch irgendeinen anderen Reporter geben, den Grace auf diesen Scheißjob ansetzen könnte. Einen jungen, ambitionierten Journalisten, der noch nicht ganz so zynisch war wie sie und sich darüber freuen würde, seinen Schreibtisch für eine Weile verlassen zu können.

»Ich möchte aber, dass du hinfährst.« Grace zeigte mit ihrer schmalen Hand auf sie, sodass die langen, spitz zulaufenden Fingernägel aufblitzten. Sie sah aus wie ein Supermodel, war aber in erster Linie für ihre erfolgreichen Führungsqualitäten bekannt. Und Ambra wusste, dass Grace auch diesen Machtkampf gewinnen würde. Wie fast immer.

»Wo war das noch gleich?«, fragte Ambra. Ihre Kleidung roch nach Rauch. Sie würde sich nie daran gewöhnen, wie rasch sich ein Brand ausbreiten konnte. Drei Minuten, dann hatte das ganze Haus in Flammen gestanden. Keine Toten, was zwar keinen besonders guten Aufhänger bot, aber dennoch beruhigend war. Drei Tage vor Weihnachten bei einem Brand ums Leben zu kommen, war kein schönes Schicksal für eine Familie.

»In Norrland, hab ich doch gesagt.«

»Norrland ist groß. Geht es vielleicht noch etwas genauer?« Ambra hatte gute Gründe, nicht in den Norden zu fahren, Scheißjob hin oder her.

»In Norrbotten. Ich hab mir den Namen des Ortes hier irgendwo notiert.«

Ambra wartete, während Grace zwischen den Stapeln auf dem überladenen Schreibtisch herumwühlte. Sie saßen am Breaking News Desk, der das eigentliche Herz in der Maschinerie der Redaktion darstellte. Es war vierzehn Uhr, draußen fiel Eisregen, begleitet von stürmischen Böen, und es war bereits stockdunkel. Selbstverständlich brachten sie das Wetter auf der Titelseite. Ungewöhnlich gute oder auch schlechte Wetternachrichten wurden im Internet grundsätzlich auf der Startseite positioniert, da sie sich immer gut verkauften. Sie zählten mit an die tausend Klicks in der Minute zu den meistgelesenen Nachrichten überhaupt.

Ambra blätterte eine leere Seite in ihrem Notizblock auf und fragte so entgegenkommend wie nur möglich: »Und was genau soll ich in Norrbotten machen?«

Grace hob diverse Stapel mit Unterlagen an und stieß dabei um Haaresbreite einen Becher mit abgestandenem Kaffee um. Keiner der Mitarbeiter bei der Zeitung arbeitete an einem eigenen Schreibtisch, nicht einmal die Ressortchefs. Grace war eine von vier Nachrichtenredakteuren, die sich den Tisch miteinander teilten, der jahrein, jahraus rund um die Uhr genutzt wurde. Die anderen Ressorts, angefangen von Sport über Gesellschaft und Kriminalität bis hin zu Ausland, Investigativ-Ressort und Kultur waren um den Newsdesk herum verteilt wie Satelliten um die nie stillstehende Erdkugel.

»Gerade eben hatte ich den Zettel noch. Ich glaube, es war Kalix«, meinte Grace.

Immerhin etwas. Gehorsam notierte Ambra sich den Ort Kalix.

»Dort wirst du die zweiundneunzigjährige Elsa interviewen. Ruf sie schon mal an und mach einen Termin mit ihr aus. Ihre Nummer hab ich auch irgendwo. Sie kam per Storyfinder, und ich hatte den Eindruck, dass es etwas sein könnte.«

»Na dann«, sagte Ambra und konnte sich gerade noch verkneifen, die Augen zu verdrehen. Der Storyfinder-Service war die digitale Anlaufstelle des Aftonblad, bei der die Bürger Hinweise auf Ereignisse übermitteln und sich damit tausend Kronen verdienen konnten, wenn ihr Tipp erfolgreich war. In 99,9% aller Fälle war dem nicht so, doch Ambra notierte sich brav den Namen Elsa in ihrem Block und rieb sich danach die Stirn. »Handelt es sich dabei denn wenigstens um einen Menschen?«, wollte sie wissen. Ihre Frage war nicht ganz unberechtigt, denn einmal war sie losgeschickt worden, um einen gewissen Sixten Berg, zwanzig Jahre alt, zu interviewen, der sich als Weißhaubenkakadu erweisen sollte und zu »Hooked on a Feeling« singen und tanzen konnte. Es hatte zu einer unterhaltsamen Notiz auf der Website mit einem witzigen Videoclip gereicht, war aber ziemlich genau das Gegenteil von dem, wovon Ambra während ihres Journalismusstudiums geträumt hatte.

Schließlich zog Grace einen neongelben Post-it-Zettel hervor. »Hier. Elsa Svensson, geboren 1923. Sie hatte eine Affäre mit einem unserer Premierminister und offenbar heimlich ein uneheliches Kind von ihm bekommen.«

Jetzt schaute Ambra auf. »Kürzlich?«, fragte sie skeptisch.

Grace zog eine ihrer eleganten Augenbrauen hoch. »Die Dame ist wie gesagt zweiundneunzig Jahre alt, demnach also nicht in diesem Jahrtausend. Aber sie hat sich den Medien gegenüber noch nie dazu geäußert und scheint darüber hinaus ein richtiges Norrbotten-Original zu sein. Es könnte also eine gute Story werden. Lange, ereignisreiche Lebensgeschichte, fremdartiger Ort, du weißt schon. Das wird viele Leser ansprechen, und das Thema passt perfekt zu Weihnachten.«

»Mhm«, meinte Ambra ohne jeden Enthusiasmus. »Und welcher Premierminister?«

»Na, einer von den verstorbenen eben. Du solltest es noch mal überprüfen.«

»Hatten nicht alle von denen jede Menge uneheliche Kinder?« Ambra hatte wirklich überhaupt keine Lust auf die ganze Sache. Da würde sie lieber über einen Doppelmord oder einen Verkehrsunfall schreiben.

»Nun komm schon, Ambra. Das Ganze ist wie für dich gemacht und genau das, was du gut kannst. Die Story erzielt bestimmt jede Menge Klicks, und ich hab die Order erhalten, in Zukunft noch mehr von dieser Art zu bringen, so was verkauft sich wie verrückt. Außerdem möchte die Dame gern, dass du es übernimmst.«

»Sicher«, meinte Ambra trocken. Doch es kam tatsächlich vor, dass Leser gezielt mit bestimmten Reportern sprechen wollten.

Sie schaute zum Fenster, in dem ein adventlicher Lichterbogen aufflackerte. Die Existenz der ganzen Branche basierte auf möglichst vielen Klicks, die Werbeeinnahmen einbrachten. Außerdem konnte sie die Tatsache nicht ignorieren, dass sie praktisch nur eine eventuelle Umorganisation davon entfernt war, ihren Job loszuwerden. Ihre Karriere dümpelte mittlerweile schon seit ein paar Jahren vor sich hin, und Ambra konnte die Tendenz nur mit einer Abwärtsspirale vergleichen. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie irgendwann bei der Nachtschicht landen, und damit säße sie in einer Sackgasse. Die Kollegen dort sahen nie das Tageslicht, sondern vegetierten wie farblose Nachttiere vor sich hin, während sie nichtssagende englischsprachige Artikel übersetzen mussten und dabei seelisch verarmten. Ambra gab auf.

»Fotograf?«, fragte sie.

Grace nickte. »Lokaler Freelancer. Du musst vor Ort Kontakt zu ihm aufnehmen.«

»Okay.« Ambra stand von ihrem Stuhl auf. Jetzt schon Feierabend zu machen, kam nicht infrage. Stattdessen würde sie sich in der Personalküche einen Kaffee holen, aus der Kühltheke ein eiskaltes Sandwich besorgen, danach die zweiundneunzigjährige Elsa anrufen und schließlich so lange in der Redaktion sitzen bleiben, bis sie ihre Recherche auf den Weg gebracht hatte. Hurra.

»Schickst du mir die Infos, die du hast?«, bat sie Grace.

»Ich möchte übrigens so schnell wie möglich einen ersten Entwurf haben. Und wenn es richtig gut läuft, bringen wir es vielleicht in mehreren Teilen. Weihnachten in Norrland mit Rentieren und Schnee in heimeliger Winterlandschaft, so was in der Art.«

Ambra wippte auf den Füßen vor und zurück.

»War sonst noch was?«, fragte Grace.

Ambra zögerte.

»Ich weiß, dass es recht kurzfristig und auch ziemlich weit weg ist. Aber sieh zu, dass du noch vor Heiligabend wieder zurück bist.« Grace’ Ton war gestresst, aber freundlich, und Ambra wusste, dass ihre Chefin es letztendlich gut mit ihr meinte. Aber Weihnachten stellte für sie nicht unbedingt das Problem dar, denn Ambra besaß nur eine einzige Verwandte – ihre Schwester Jill –, und die vergangenen Weihnachtsfeste hatten sie sowieso nicht gemeinsam gefeiert. Es war auch nicht so, dass sie es als unter ihrer Würde ansah, mit einer Exgeliebten eines bekannten, aber längst verstorbenen Politikers zu sprechen. Ein Journalist durfte zwar niemals dazu verpflichtet werden, entwürdigende Aufträge auszuführen (eine Regel, an die sich niemand hielt), aber Ambra hatte zuvor im Gesellschaftsressort gearbeitet und war dort schon mit bedeutend Schlimmerem konfrontiert worden. Es ging schlicht und einfach darum, dass es ihr ernsthafte Probleme bereitete, in den Norden zu fahren.

»Ich krieg das schon hin«, sagte sie mit einem unterdrückten Seufzer. Ihr Privatleben ging letztlich niemanden etwas an.

»Davon bin ich überzeugt.« Grace musterte sie eingehend über ihren Schreibtisch hinweg.

Mit ihren dreißig Jahren war Grace nur zwei Jahre älter als Ambra. Aber sie hatte als erfahrene Nachrichtenredakteurin bereits einen der aufreibendsten Posten in der Branche inne. Und als wären ihr relativ geringes Alter und die Tatsache, dass sie eine Frau war, nicht schon hinderlich genug, war Grace außerdem schwarz, in Äthiopien geboren und als Kind nach Schweden gekommen. Grace Bekele war eine Art Genie und in der Branche eine Legende, und wenn Grace sie mit diesem Blick bedachte, war Ambra sogar bereit, über glühende Kohlen zu gehen. Oder eben nach Kalix zu fahren.

»Danke.«

»Du, ich weiß, dass du diesen Posten im Investigativ-Ressort haben willst. Ich hab es nicht vergessen und werde bei Dan Persson ein gutes Wort für dich einlegen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt.«

Ambra wusste nicht, was sie entgegnen sollte, denn es fiel ihr schwer, ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Aber genau dieser Job war schon immer ihr Traum gewesen: in der Redaktion für investigativen Journalismus zu arbeiten, Scoops zu landen und längere Reportagen zu schreiben. Der Gerüchteküche zufolge würde dort bald eine Stelle frei werden, was selten genug vorkam, und natürlich würden sich viele um den Job prügeln. Vermutlich sogar all ihre Kollegen und Konkurrenten. Aber wenn sie in den kommenden Wochen nichts vermasselte und es ihr gelänge, den Chefredakteur Dan Persson nicht zu verärgern, hätte sie vielleicht dennoch eine Chance. Wenn sie genauer darüber nachdachte, wäre es vielleicht sogar gar nicht so schlecht, für kurze Zeit wegzufahren.

»Danke. Ich fliege gleich morgen.« Sie hatte bereits angefangen, über unterschiedliche Fragestellungen nachzudenken, während sie im Kopf durchging, was sie an Kleidung und Ausrüstung einpacken müsste.

»Warte«, sagte Grace und hielt einen weiteren Post-it-Zettel hoch, diesmal einen orangefarbenen in Pfeilform. »Hier ist er. Ich habe etwas Falsches gesagt. Wie ich sehe, ist es gar nicht in Kalix. Tut mir leid.«

Solange es nur nicht Kiruna ist, dachte Ambra noch, bevor Grace sagte: »Die Dame wohnt in Kiruna. Die beiden Orte bringe ich immer durcheinander. Na ja, ist ja fast dasselbe.«

Sie äußerte die Worte mit der Unbedarftheit einer Person, die Stockholm als den nördlichsten Punkt der Zivilisation erachtete. Norrland mit seiner riesigen Gesamtfläche war selbst für viele Hauptstadtbewohner mit Allgemeinbildung ein unbeschriebenes Blatt. Doch Ambra wusste es besser, denn selbst in der Hölle gab es gradweise Abstufungen.

Kiruna. Natürlich wohnte die alte Dame in Kiruna.

Sie riss Grace den Zettel aus der Hand und verließ das Newsdesk.

Warum musste es ausgerechnet Kiruna sein? Eine Stadt, in die sie nie wieder vorhatte zurückzukehren. Ein Ort, an dem sie nur gefroren und geweint und den sie mehr gehasst hatte als jeden anderen Winkel des Universums.

Ambra ging an der Online-Agentur und der Kriminalredaktion vorbei. Dann kam sie zu den Räumen des Investigativ-Ressorts, einer der wenigen Redaktionen hinter verschlossenen Türen, warf einen sehnsuchtsvollen Blick durchs Fenster, holte sich danach einen Becher Kaffee, schnappte sich ihren Laptop und konnte gerade noch den Blicken ihres Erzrivalen Oliver Holm ausweichen, bevor sie auf ein freies Sofa hinuntersank. Sie startete ihren Computer, loggte sich ein und checkte ihre Mailbox. Zwanzig Mails innerhalb von zehn Minuten. Neunzehn davon waren Hassmails zu einem Artikel über sexuelle Belästigung in einem Fitnessstudio, den sie heute Morgen verfasst hatte. Sie scrollte sich bis nach unten durch und war sich im Klaren darüber, dass sie die allerschlimmsten an die Sicherheitsabteilung weiterleiten müsste, hatte jedoch nicht den Nerv dazu. Sie arbeitete schon zu lange in diesem Job, um die anonymen Hasskommentare gegen Frauen noch ernst zu nehmen. Heute würde sie stattdessen über uneheliche Kinder in Kiruna schreiben.

Sie wählte die Nummer von Elsa Svensson und seufzte ermattet, während sie darauf wartete, dass sich die alte Dame meldete. Sie ahnte bereits, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie nach Hause in ihre Wohnung zu ihrem Fernseher und ihrem Sofa zurückkehren könnte.

2

Tom Lexington warf ein Holzscheit in den Kamin. Auch wenn das Haus gut isoliert war, spendete das Feuer eine angenehme zusätzliche Wärme. Draußen war es minus zehn Grad kalt, und es schneite wie verrückt. Aber wann schneite es in Kiruna im Winter schon mal nicht? Wenn er das Haus verlassen wollte, würde er gezwungen sein, sich mit dem Schneeschieber einen Gang von der Tür aus freizuschaufeln.

Tom schaute ins Feuer. Wenn er sich ganz auf die Flammen und das Knistern des Holzes konzentrierte, fühlte er sich fast so wie früher. Er streckte seinen Arm nach einem weiteren Holzscheit aus. Gerade als er es hineinwarf, hörte er das leise Surren seines Handys auf dem Couchtisch. Er stand auf, um nachzusehen, wer gerade anrief. Lodestar Security Group, Empfang. Die Arbeit.

Er kratzte sich am Bart. Eigentlich müsste er rangehen, denn es könnte etwas Wichtiges sein, aber auch heute brachte er es nicht über sich. Stattdessen schlurfte er auf Socken in die Küche hinaus, wusste dann aber nicht mehr, was er dort wollte. Er blieb stehen und starrte durchs Fenster hinaus auf den Schnee und den Wald, während er den Wetterbericht im Radio abwartete. Plötzlich hörte er einen lauten Knall im Radio. Ein Werbespot für irgendeinen Jagdartikel. Toms Hände begannen zu zittern und kurz darauf auch seine Oberschenkel. Sein Blickfeld verengte sich, und er bekam kaum noch Luft. Es ging rasend schnell, in weniger als einer Sekunde stand er kurz vor einem Kollaps.

Er griff nach der Arbeitsplatte, um sich darauf abzustützen. Sein Herz raste, als befände er sich mitten in einer Kampfhandlung. Und plötzlich war er nicht mehr in seinem Haus und auch nicht in der Winterlandschaft im Wald außerhalb von Kiruna mit Minusgraden und Schnee. Er war wieder zurück in der Hitze der Wüste. In der Höhle, in der sie ihn verhört und gefoltert hatten. Sein Herz pochte heftig, das Blut rauschte dröhnend durch seinen Körper, und es fühlte sich an, als würde der Fußboden unter ihm schwanken. Die Erinnerungen überwältigten ihn und liefen wie ein Film vor seinen Augen ab. Er zwang sich, langsam durch die Nase ein- und durch den Mund wieder auszuatmen, doch es half nichts. Er war und blieb dort unten in der Wüste.

Er holte mit dem Arm aus und schlug mit voller Kraft mit der Hand gegen die Arbeitsplatte. Der Schmerz schoss durch seinen Arm hinauf und breitete sich im ganzen Körper aus, und es half tatsächlich. Es tat zwar höllisch weh, aber die Schmerzen stoppten die Panikattacke, sodass er schließlich wieder zurück im Haus war.

Tom holte zitternd tief Luft. Der Flashback hatte nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert, aber Tom war völlig durchgeschwitzt. Als er die wenigen Schritte zur Speisekammer zurücklegte, um eine Whiskyflasche herauszuholen, trugen ihn seine Beine kaum. Er verdrängte kurzerhand den Gedanken daran, wie viele leere Flaschen bereits unter der Spüle standen, genehmigte sich ein großes Glas und drehte dann den Wasserhahn auf. Kiruna lag nördlich des Polarkreises, sodass das Wasser in den Rohren unterm Haus eiskalt war, und er trank gierig. Als er das Whiskyglas wieder abstellte, meinte er, erneut sein Handy surren zu hören. Er ging ins Wohnzimmer und nahm es vom Couchtisch hoch.

Mattias Ceder las er auf dem Display. Schon wieder. Mattias hatte den ganzen Herbst lang versucht, ihn anzurufen, doch Tom war kein einziges Mal rangegangen. Er drückte den Anruf weg und nahm das Handy mit sich in die Küche, wo er sich einen weiteren Whisky genehmigte. Nach zwei Sekunden klingelte es erneut. Er schaute aufs Display. Natürlich noch einmal Mattias Ceder. Der Mann war wirklich hartnäckig. Früher waren Mattias und Tom beste Freunde und Waffenbrüder gewesen, und damals hätte jeder von ihnen ohne Zögern sein Leben für den anderen gelassen. Doch das war lange her, und seitdem hatte sich vieles verändert. Tom schaute auf sein Handy, bis es verstummte und stattdessen eine hereinkommende SMS aufblinkte.

Könntest du vielleicht irgendwann mal rangehen.

Er nahm einen weiteren großen Schluck, schenkte sich nach und schwenkte das Glas.

Tom hatte schon seit vielen Jahren nicht mehr mit Mattias gesprochen. Als junge Männer konnten sie über alles reden, doch das war, bevor Mattias ihn verraten hatte.

Tom schaute in die Spüle, die gefüllt war mit Bechern, Tellern und Besteck, das er nicht geschafft hatte, in die Spülmaschine zu stellen. Die Reinigungskraft würde morgen kommen, sodass er es einfach stehen ließ, obwohl ihm bewusst war, dass er eigentlich nie der Typ gewesen war, der den eigenen Dreck von anderen Leuten hatte wegräumen lassen.

Tom nahm sein Glas, die Flasche und sein Handy und ging damit zurück ins Wohnzimmer. Schon früher hatte er mehrfach unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung gelitten, und als Soldat, der er mehr oder weniger seit seinem achtzehnten Lebensjahr war, wusste er genau darüber Bescheid. Er hatte an Kampfeinsätzen teilgenommen, Kameraden sterben sehen und war auch selbst schon schwer verwundet worden. Das hinterließ Spuren, und er hatte insbesondere nach traumatischen Ereignissen sowohl Flashbacks als auch Panikattacken erlebt. Aber noch keine dieses Ausmaßes. Die Erinnerungen übermannten ihn wie aus dem Nichts. Ein ungewohntes Geräusch, ein Aufblitzen, ein bestimmter Geruch oder was auch immer konnte sie auslösen, und plötzlich war es, als wäre er wieder zurück in der Gefangenschaft. Es entzog sich völlig seiner Kontrolle. Wenn die Dinge anders gelegen hätten, hätte er vielleicht darüber nachgedacht, sich Mattias anzuvertrauen, denn Mattias war ebenfalls Soldat und hatte selbst schon im Kreuzfeuer gestanden, sodass er wusste, wie es sich anfühlte. Ein Zustand, den man als Zivilist nicht nachvollziehen konnte.

Tom leerte sein Glas. In seinem Kopf drehte es sich leicht. Er griff nach seinem Handy und schrieb Mattias eine SMS:

Fahr zur Hölle!

Es war ein angenehmes Gefühl, die Nachricht abzuschicken. Er betrachtete das Display, um zu sehen, ob er eine Antwort erhalten würde, doch es kam keine. Wenn Mattias noch ein weiteres Mal anriefe, würde er vielleicht sogar rangehen, beschloss er. Allmählich spürte er, dass er betrunken war. Er wusste, dass sein Urteilsvermögen eingeschränkt war und er in diesem Zustand eigentlich niemanden anrufen sollte. Aber er klickte dennoch eine Nummer an. Nicht die von Mattias, sondern eine andere. Er ließ sich aufs Sofa fallen und lauschte dem Freizeichen.

»Hallo?«, meldete sich Ellinor.

»Hej, ich bin’s«, lallte er.

»Tom.« Sie klang traurig, als sie seinen Namen aussprach.

»Ich wollte nur deine Stimme hören«, sagte er und war bemüht, sich so deutlich wie möglich zu artikulieren.

»Du musst damit aufhören. Du quälst dich doch nur selbst. Du solltest mich nicht mehr anrufen.«

»Ich weiß.« Eigentlich müsste er unter die Dusche gehen, sich rasieren und endlich zusammenreißen, anstatt Woche für Woche bei seiner Ex anzurufen. »Aber ich vermisse dich«, murmelte er.

»Ich muss jetzt auflegen.« Im Hintergrund waren leise Geräusche zu hören.

»Ist er da?«

»Hejdå, Tom. Pass auf dich auf.« Ellinor legte auf.

Tom starrte geradewegs ins Leere. Es war natürlich ein Fehler gewesen, Ellinor anzurufen, das war ihm schon vorher klar gewesen. Aber wie sollte er ohne sie weiterleben? Er wusste es einfach nicht. In all den Jahren beim Militär war es im Training genau darum gegangen: sich selbst zu pushen, um das Unmögliche möglich zu machen; seinen Körper trotz hoffnungsloser Aussichten und verheerender Verluste zum Durchhalten zu zwingen, auch wenn er am liebsten längst aufgegeben hätte. Dabei war es wichtig, sich ausschließlich auf diese Aufgabe zu konzentrieren und alles andere auszublenden.

Er legte seinen Kopf auf der Armlehne ab und starrte hinauf an die Decke, während er spürte, dass ihn die Erinnerungen an seine Entführung wieder zu übermannen drohten. In der Gefangenschaft hatten ihn einzig die Gedanken an Ellinor aufrechterhalten. Die Erinnerung an ihr Lächeln und die Sehnsucht danach, wieder bei ihr sein zu können.

Es war idiotisch, sie anzurufen. Er war betrunken und konnte nicht klar denken. Aber hier heraufzukommen, war richtig gewesen. Hier in Kiruna war Ellinor, und er wollte in ihrer Nähe sein. Er würde alles tun, um sie zurückzugewinnen. Buchstäblich alles.

3

Es war wirklich saukalt in Kiruna, dachte Ambra, als sie fröstelnd vom Flieger in die Ankunftshalle des Flughafens ging. Der Wind zerrte an ihrer Jacke, und sie folgte ihren Mitpassagieren im Laufschritt. Als der Flieger zum Landeanflug ansetzte, hatten sie den Polarkreis längst hinter sich gelassen. Hier oben war die Sonne am zehnten Dezember untergegangen und wurde erst wieder im Januar über dem Horizont zurückerwartet. Jetzt, mitten am Tag, herrschte noch eine Art Zwielicht, doch in einer Stunde würde es stockdunkel sein.

Sie hatte nur Handgepäck bei sich und beeilte sich, das Terminal in Richtung Ausgang zu durchqueren, um rasch zum Flughafenbus zu gelangen. Mit jedem Schritt breitete sich das unangenehme Gefühl in ihrem Inneren weiter aus. Draußen lag der Schnee zu meterhohen Wällen aufgeschichtet, und der Boden war schneebedeckt, sodass sie in ihren viel zu dünnen Stiefeln ins Rutschen geriet. Hinter einem Stacheldrahtzaun hörte sie ein Gespann aufgeregter Schlittenhunde aufjaulen. Frierend stieg sie in den Bus, löste eine Fahrkarte ins Zentrum von Kiruna und setzte sich auf einen Fensterplatz. Schnee, Schnee, Schnee. Während der Bus losfuhr, bekam sie leichte Magenschmerzen.

Als sie zum ersten Mal nach Kiruna kam, war sie zehn Jahre alt gewesen. Damals war ebenfalls Vorweihnachtszeit, was ihre Unlust jetzt wahrscheinlich noch verstärkte. Kurz vorher hatte eine gestresste Sozialarbeiterin mit krausem hellem Haar und nervösem Blick sie darüber informiert, dass sie nicht länger bei der Familie bleiben konnte, bei der sie gerade wohnte. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie mit ihrem Teddy im Arm vor der Frau gesessen hatte. Sie wusste, dass sie eigentlich zu alt für ein Kuscheltier war, doch er vermittelte ihr Geborgenheit.

»Wie heißt denn dein Teddy?«, hatte die Sozialarbeiterin mit dieser gekünstelten Stimme gefragt, mit der sich Erwachsene in solchen Situationen immer einzuschmeicheln versuchten.

»Einfach nur Teddy«, antwortete Ambra im Flüsterton.

»Teddy und du, ihr werdet gemeinsam zu einer anderen Familie fahren. Ihr seid zwar allein mit dem Bus unterwegs, aber du bist ja schon groß, Ambra, das funktioniert bestimmt wunderbar. Ein richtiges Abenteuer ist das«, sagte sie in keckem Ton.

Kurz darauf stieg Ambra in den Bus, mitsamt ihrem Teddy und einem kleinen Karton, der die einzigen Dinge enthielt, die ihr von ihren Eltern geblieben waren.

»Wirst du abgeholt?«, fragte der Busfahrer. Ambra nickte, denn sie traute sich nicht zu sagen, dass sie es nicht wusste.

Der Busfahrer war nett, bot ihr starke, leicht scharfe Halspastillen an und unterhielt sich während der ganzen Fahrt mit ihr. Doch als sie ankamen, nahm ihre Angst zu. Sie hatte noch nie zuvor so viel Schnee gesehen, und obwohl sie alles, was sie an Winterkleidung besaß, am Körper trug, fror sie. Während der Busfahrer den anderen Fahrgästen dabei half, ihre Taschen aus dem Gepäckraum zu heben, wich sie ihm nicht von der Seite. Und wenn nun niemand kam, um sie abzuholen? Was würde sie dann tun?

»Bist du das Pflegekind?«, vernahm sie plötzlich eine kühle Stimme hinter sich.

Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, dass sie nichts Gutes verhieß.

»Wollten Sie nicht hier aussteigen?«

Ambra zuckte zusammen und kehrte gedanklich in die Gegenwart zurück.

Der Busfahrer betrachtete sie auffordernd im Rückspiegel. Sie hatte ihre Haltestelle erreicht.

Ambra stand auf, nahm ihr Gepäck an sich und beeilte sich auszusteigen. Es gelang ihr, sich durch die Schneemassen zum Hotel Scandic Ferrum durchzuschlagen, ohne bis zum Hals in den Schneemassen zu versinken. Im Hotel war es warm, sie stampfte den Schnee von ihren Stiefeln und schaute sich in der leeren Lobby um. Sie wurde von einer jungen Empfangsdame willkommen geheißen, checkte ein und fuhr mit dem Aufzug zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Dort war es eiskalt, sodass sie einen Fleecepulli aus ihrer Tasche nahm und ihn überzog, bevor sie sich ihren Laptop unter den Arm klemmte und wieder zum Empfang hinunterfuhr.

»In meinem Zimmer ist es ziemlich kalt«, sagte sie.

»Ja, wir haben leider Probleme mit der Heizung«, erklärte die Empfangsdame freundlich. »Wir sind gerade dabei, sie wieder in Gang zu bringen, aber leider kann ich Ihnen kein anderes Zimmer anbieten.«

Ambra beschloss, im Restaurant des Hotels zu arbeiten, und setzte sich mit dem aufgeklappten Laptop an einen Tisch. Das Restaurant war mit Mittagsgästen gefüllt, alles ganz normale Menschen, wie sie annahm, und dennoch war sie innerlich angespannt und ließ ihren Blick ein ums andere Mal über den Raum schweifen, wobei sie den Eingang immer im Auge behielt aus Angst, irgendeiner Person aus ihrer Vergangenheit zu begegnen, so unwahrscheinlich dies auch sein mochte.

Ihre neuen Pflegeeltern hatten Rakel und Esaias Sventin geheißen. Esaias war groß und hager und Rakel blass und schweigsam. Sie trug einen dicken Zopf, der ihr bis weit über den Rücken hinunterreichte. Die beiden hatten fünf Söhne, vier ältere aus einer früheren Ehe von Esaias und einen gemeinsamen, der ein Jahr älter war als Ambra. Esaias war das Familienoberhaupt.

»Setz dich hinten rein«, sagte er, nachdem er sie schließlich am Bus abgeholt hatte, und deutete auf ein altes Auto ein Stück entfernt. Ambra stieg ein, denn sie hatte ja keine andere Wahl, und er streckte rasch seine Hand in ihre Richtung aus, riss ihr den Teddy aus den Armen und warf ihn in den nächsten Papierkorb, bevor er die Wagentür hinter sich zuzog.

Als irgendjemand plötzlich ein Tablett fallen ließ, wurde Ambra gedanklich mit einem Ruck wieder ins Restaurant zurückgeholt. Sie schaute sich um, und als ein großer, hagerer Mann das Restaurant betrat, begann ihr Herz heftig zu pochen, während ihr ein Schauer über den Rücken lief. Eine Welle des Unbehagens erfasste sie, die sie fast panisch werden ließ, bevor sie realisierte, dass es sich natürlich nicht um Esaias handelte, sondern um einen Mann, der ihm vage ähnelte. Doch ihr Körper hatte die Erinnerungen an ihn gespeichert.

Sie nippte an ihrem Kaffee und legte eine Hand auf ihr Handy. Ich bin erwachsen, wiederholte sie im Stillen. Diese Worte waren ihr ständiges Mantra. In jeder Sekunde wurden weltweit wehrlose Kinder misshandelt, und viel zu viele von ihnen führten ein Dasein, das noch weitaus schlimmer war als das, was sie selbst hatte durchstehen müssen. Doch sobald sie Kiruna verlassen dürfte, würde alles wieder in Ordnung sein.

Auf ihrem Bildschirm ploppte eine neue Meldung auf. Rund um die Uhr wurden die Nachrichten aktualisiert, und sie kam sich angesichts des unablässigen Nachrichtenstroms fast wie eine Sklavin vor. Sie überflog die neuesten News, teilte einen Link auf Twitter und lud ein Foto auf Instagram hoch. Sie arbeitete als moderne Webreporterin und war eine derjenigen, von denen man in Redaktionsmeetings und bei Umorganisationen als Person sprach, die immer »nahe an den Lesern« war. Während viele ihrer Journalistenkollegen nörgelten und sich manche von ihnen zu fein dafür waren, in den Sozialen Medien zu schreiben, gefiel es ihr außerordentlich gut, und ihre Plattform in den Sozialen Medien war wohl einer der Gründe dafür, dass sie noch immer ihren Job hatte. Also setzte sie alles daran, sich digital zu profilieren.

»Bist du vielleicht Ambra Vinter?«

Sie schaute zu dem Mann auf, der plötzlich neben ihrem Tisch stand und sie angesprochen hatte. Er war jung, schlank und äußerst gut aussehend. Trug praktische Winterkleidung und grobe Stiefel sowie eine große Nikon-Kamera an einem breiten Riemen über der einen Schulter und eine Tasche mit Fotoausrüstung über der anderen.

»Und du bist der Freelancer«, stellte sie fest.

»Tareq Tahir«, stellte er sich vor. Sie gaben sich die Hand, und er setzte sich ihr gegenüber. Ambra scannte ihn unauffällig, als er seine Kamera auf dem Tisch ablegte. Tareq war vielleicht zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Viele Fotografen waren extrem jung, die besten in der Branche starteten ihre Karriere schon frühzeitig. Tareq hatte dichte Wimpern, dunkelbraune Augen und einen männlichen, verführerischen Mund. Außerdem sinnliche starke Finger, mit denen er sich an seiner Kamera zu schaffen machte.

Als die Kellnerin an ihren Tisch eilte, um seine Bestellung aufzunehmen, bedachte Tareq sie mit einem strahlenden Lächeln. Ambra hingegen hatte sich ihr Mittagessen und ihren Kaffee selbst am Kassentresen holen müssen. Nicht eine der Bedienungen hatte auch nur das geringste Interesse daran gezeigt, ihre Bestellung aufzunehmen. Aber sie sah natürlich auch nicht aus wie der Star einer Boygroup.

»Und, wie läuft’s?«, fragte Tareq, nachdem die Frau mit seiner Bestellung davongeeilt war. Er strich sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn, die sofort wieder zurückfiel. »Kannst du sie nicht erreichen?«

Ambra schüttelte den Kopf. Nachdem sie gestern vor Antritt ihres Fluges mit Elsa Svensson telefoniert hatte, waren Probleme aufgetaucht. Die Zweiundneunzigjährige hatte einen mehr als redseligen Eindruck auf sie gemacht und ihr mit unerwartet klarer und aufgeweckter Stimme versichert, dass sie sich auf ihren Besuch freue. Doch als Ambra aus dem Flieger gestiegen war, hatte sie die Nachricht erhalten, dass Elsa das Treffen lieber verschieben wollte.

»Ich hab mehrfach versucht, sie anzurufen, aber sie geht einfach nicht ran.«

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Tareq.

Ambra kannte Elsas Adresse und hatte schon überlegt, einfach unangemeldet hinzufahren, doch eine derartige Aktion konnte auch den entgegengesetzten Effekt haben. Ältere Leute waren oft ziemlich eigen und mochten es nicht, wenn Journalisten einfach so vor ihrer Haustür auftauchten und darum baten, hereingelassen zu werden. Streng genommen wusste sie ja nicht einmal, ob Elsa überhaupt zu Hause war. Vielleicht hatte die Alte ja ihre Siebensachen gepackt und Kiruna verlassen. Es kam vor, dass Leute, die ein Interview zugesagt hatten, es sich in letzter Sekunde anders überlegten. Was natürlich ihr gutes Recht war, aber in diesem Fall auch verdammt frustrierend.

»Kennst du sie?«, fragte Ambra.

Tareq strich sich erneut dieselbe Strähne aus der Stirn und bedachte sie mit einem amüsierten Blick. »Du glaubst wohl, dass sich in Kiruna alle untereinander kennen. Aber so klein ist die Stadt nun auch wieder nicht.«

So hatte sie es nicht gemeint, die Frage hatte einfach einen verzweifelten Versuch dargestellt, das Problem des fehlenden Interviewobjekts irgendwie zu lösen. Sie wusste schließlich genau, wie es in Kiruna zuging. Natürlich kannten sich nicht alle Einwohner persönlich. Es war eher so, dass sie ziemlich gut darin waren, alle anderen ihr Ding machen zu lassen. Beispielsweise konnte es passieren, dass ein Pflegekind mit blauen Flecken, unbehandelten Mittelohrenentzündungen und Knochenbrüchen in die Schule kam, ohne dass es irgendjemandem aufzufallen schien. Wobei sie jetzt natürlich ungerecht war, denn so etwas kam nicht nur in Kiruna vor, sondern fast überall, denn sie lebten ganz einfach in einer Scheißwelt.

Ambra fuhr sich mit den Fingerspitzen über den Haaransatz. Die Mütze, die sie sich über die Haare gezogen hatte, kratzte, aber ihr war so verdammt kalt, dass sie es vorzog, sie aufzubehalten.

»Bist du von hier?«, fragte sie Tareq, obwohl sie die Antwort schon ahnte, denn er sprach keinen nennenswerten Dialekt.

»Nein, ich bin in Stockholm geboren, aber nach der Grundschule mit meiner Mutter hergezogen, weil sie einen Typen aus Norrland getroffen hat. Ich bin gerade auch nur zu Besuch, nach Neujahr muss ich wieder zurück nach Stockholm, wo ich eine Ausbildung zum Fotografen mache.«

»Aber du arbeitest schon für das Aftonblad?«

»Ich hatte Glück und hab ein paar Aufträge an Land ziehen können.«

Sie deutete seine Antwort so, dass er verdammt gut sein musste. Er sah aus, als hätte er seine Wurzeln im Mittleren Osten. Irak, tippte sie. Wenn seine Eltern Einwanderer waren, besaß er vermutlich kein Netzwerk, das ihm in der Branche weitergeholfen hätte, und mit diesem Hintergrund einen Job als Fotograf beim Aftonblad zu bekommen, war fast ein Ding der Unmöglichkeit, aber es war ihm offenbar gelungen.

»Du hast irgendwann mal eine Reportage für die Unterhaltung gemacht, oder?«, fragte sie, weil sie sich an Grace’ Worte erinnerte. »Wie hat’s dir da gefallen?«, fragte sie so neutral wie möglich. Ihrer Auffassung nach war der Gesellschaftsteil die reinste Kloake. Man musste über Events der High Society schreiben; eine journalistenunwürdige Tätigkeit, bei der man keine kritische Berichterstattung betreiben konnte und von allen mies behandelt wurde – sowohl von den VIPs als auch den eigenen Chefs. Es war grässlich, es sei denn, man hatte ein Faible dafür, Dokusoap-Stars zu jagen und Instagram-Accounts auszuspionieren.

Tareq strich mit den Fingern über die glänzende Oberfläche seiner Kamera. Er hatte maskuline Hände mit schwarzen Härchen darauf sowie kurz geschnittene, saubere Fingernägel. Und dann diese sanfte, höfliche Stimme. Er war ungemein sympathisch und attraktiv.

»Du warst auch mal dort, oder?«, fragte er zurück.

»Ja«, antwortete sie, ohne die Antwort näher auszuführen. Es war ihr schlimmstes Jahr als Reporterin gewesen. Das Einzige, was sie seither vom Leben erwartete, war, nie wieder in einem Gebüsch liegen und auf irgendeinen untreuen Promi warten zu müssen.

»So schlimm?« Er lachte, und seine schönen Augen blickten mitfühlend drein. »Ich fand es eigentlich ganz okay. Aber vielleicht nicht gerade das, was ich auf Dauer machen wollte«, fügte er hinzu.

Clever, gewandt und noch dazu diplomatisch. Tareq würde es weit bringen. Ambra verspürte den unangemessenen Impuls, ihre Mütze abzunehmen und ihre Haare zu richten.

Die Kellnerin kam mit Tareqs Bestellung zurück, und er schloss seine Finger um das beschlagene Glas mit Orangenlimonade.

»Fanta ist mein Laster«, sagte er und lächelte die Bedienung an, woraufhin sie ihn anschmachtete, als wollte sie auf der Stelle eine Familie mit ihm gründen.

Nachdem die Bedienung schweren Herzens ihren Tisch verlassen hatte, checkte Ambra gefühlt zum zehnten Mal das Display ihres Handys. In ihrem Inneren machte sich Rastlosigkeit breit. Rein wirtschaftlich betrachtet kostete sie hier oben nur Geld, solange sie keinen Text produzierte. Insgeheim überlegte sie bereits, worüber sie stattdessen schreiben könnte. Irgendwas mit Schnee vielleicht.

Tareq trank seine Fanta in einem Zug leer und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Dann stand er auf und nahm seine Kamera und die Tasche mit den Objektiven an sich. »Ich wollte nur kurz reinschauen und Hallo sagen. Ist es okay für dich, wenn ich kurz wieder gehe? Ich hätte noch einiges zu tun, während wir warten. Schick mir eine SMS, sobald du was hörst.«

Ambra nickte und sah ihn mit langen, raschen Schritten verschwinden, woraufhin sie ihren Blick erneut übers Restaurant schweifen ließ. Das Scandic Ferrum lag mitten in der Stadt und schien eine Art sozialen Treffpunkt darzustellen.

An einem Tisch saßen mehrere Geschäftsleute und fröstelten in ihren viel zu dünnen Kostümen und Anzügen. An einem anderen fütterten Mütter in praktischer Winterkleidung ihre Kleinkinder mit Brei und Bananen. Am Tresen stand eine Gruppe Feuerwehrleute. Sie warf erneut einen Blick auf ihr Handy und klickte ihre letzte SMS an Grace an, während sie ungeduldig darauf wartete, dass eine Sprechblase mit Pünktchen darin auftauchen und ihr signalisieren würde, dass sie demnächst eine neue SMS bekäme. Sie wollte wissen, was sie tun sollte, wenn Elsa Svensson nicht auftauchte.

Doch nichts geschah.

Stattdessen loggte sie sich erneut auf Instagram ein und überlegte, ob sie Jill anrufen sollte, doch dann blinkte das Display ihres vibrierenden Handys auf. Endlich ließ Grace mit einer SMS von sich hören:

Schon Näheres gehört?

Ambra antwortete mit raschen, geübten Tippbewegungen:

Nein. Soll ich noch warten?

Sie hoffte fast darauf, dass Grace sie wieder nach Hause beordern würde.

Was allerdings nicht der Fall war:

Ja, warte. Ist Tareq schon aufgetaucht?

Ja.

Grace beendete die Kommunikation mit den Worten Halt mich auf dem Laufenden, und Ambra legte ihr Handy wieder zur Seite. Aus Frust trommelte sie mit den Fingern auf die Tischplatte. Hinzu kam, dass sie sich zittrig fühlte und ihr leicht übel war, weil sie viel zu viel Kaffee getrunken hatte. Sie warf erneut einen Blick in Richtung Tresen. Die Feuerwehrleute waren verschwunden. Jetzt stand ein Mann dort und bestellte sich gerade einen Kaffee. Er trug eine dicke, aufgeknöpfte Winterjacke, ein offen stehendes kariertes Hemd und darunter ein T-Shirt.

Während Ambra überlegte, was sie als Nächstes tun könnte, beobachtete sie den Mann. Er war ganz und gar nicht ihr Typ, doch ihr Blick wurde immer wieder zu ihm hingezogen, denn er hatte eine Präsenz, die sie allerdings an nichts festmachen konnte. Er stand groß gewachsen und schweigend da wie ein Bergmassiv. Mit breiten Schultern, langen Haaren und Bart. Puh, er sah aus wie ein Verbrecher, das reinste Klischee eines waschechten Norrländers, fehlte nur noch der Motorschlitten und das Gewehr. Ambra drehte sich weg, denn sie hatte noch nie etwas für machohafte Muskelprotze übriggehabt. Als der Mann mit seinem Becher Kaffee in ihre Richtung ging, warf sie einen weiteren flüchtigen Blick auf sein Äußeres. Auf dem Shirt unter seinem Hemd las sie: FBI. Sie linste auf die Zeilen darunter. Female Body Inspector stand dort in kleineren Lettern. Pfui Teufel, wie geschmacklos. Sie verzog angeekelt das Gesicht und konnte sich den Kommentar »Schickes Shirt« nicht verkneifen, als er gerade ihren Tisch passierte.

»Wie bitte?« Die Stimme des Mannes war dunkel und heiser. Er blieb stehen und starrte Ambra an, als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht. Anscheinend war er tief in Gedanken gewesen und hatte nicht einmal gemerkt, dass er sich unter Leuten befand.

In seinen Augen, die wohl die schwärzesten waren, die sie je gesehen hatte, konnte sie nicht das geringste Fünkchen Humor entdecken, und sofort begannen alle Alarmglocken in ihrem Kopf zu schrillen. Er sah Furcht einflößend aus.

»Haben Sie etwas gesagt?«, fragte er und blickte sie stirnrunzelnd an. Seine schwarzen Augen waren blutunterlaufen, und sein Bart wirkte ungepflegt. Und dann dieses T-Shirt mit dem chauvinistischen Spruch drauf. Es sollte ein Scherz sein, das war ihr klar, aber dafür hatte sie schon zu viele Artikel über Trafficking und Ehrenmorde geschrieben, über junge Frauen, die lediglich wie Objekte oder noch schlimmer behandelt wurden. Über ganz gewöhnlich anmutende Männer, die ihre Partnerinnen oder Ehefrauen aus Eifersucht ermordeten, nur weil sie der Meinung waren, sie und ihre Körper zu besitzen. Das Shirt war wirklich geschmacklos, auch wenn es nur als Scherz gemeint war.

Sie müsste sich eigentlich entschuldigen oder die Klappe halten und ihn einfach ignorieren. Doch stattdessen sagte sie: »Das ist echt nicht witzig, falls Sie das geglaubt haben.« Verdammtes Arschloch.

Der Mann erstarrte, und sie spannte sich reflexartig an. Bleib ruhig, Ambra. Er sieht gefährlich aus. Der Mann starrte sie weiterhin an, als hätte er nicht begriffen, was sie gesagt hatte. Angesichts seines eindringlichen Blicks lief ihr ein Schauer über den Rücken. Kurz sah es so aus, als wollte er etwas entgegnen, doch dann schüttelte er nur den Kopf und ging weiter.

Ambra sank auf ihrem Stuhl mit dem Rücken gegen die Lehne, und das Blut begann wieder in ihren Adern zu zirkulieren. Verdammt auch, was für eine heftige Begegnung. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen und ihm nachzuschauen. Irgendwas an seinem Blick und in seiner Haltung suggerierte ihr, dass er nicht der Typ war, der sich provozieren ließ. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, und sie ahnte, dass er sich irgendwo an einen Tisch hinter ihr gesetzt hatte. Verflucht, wie sie diese Stadt hasste.

4

Tom linste in Richtung der Frau, die ihn eben angeschnauzt hatte. Er war so in Gedanken vertieft gewesen, dass er gar nicht gehört hatte, was sie sagte, sondern nur mitbekam, dass sie erbost zu sein schien. Jetzt saß er mit dem Rücken zur Wand, sodass er sie von schräg hinten beobachten konnte und zudem noch den bestmöglichen Überblick übers gesamte Lokal erhielt. Er ließ seinen Blick rasch über das Restaurant schweifen, bevor er die Frau erneut betrachtete. Unter all den Schichten an Klamotten sowie Schal und Mütze, die sie trug, konnte er nur ein paar dunkle Locken ausmachen. Als sie ihn angefaucht hatte, waren ihm automatisch ihre blasse Haut, ihre dunklen Augenbrauen und die leuchtend grünen Augen aufgefallen.

Sie war nicht von hier, das konnte er an ihrer Kleidung und ihrer Art ausmachen und nicht zuletzt auch an ihrer Haltung und ihren Bewegungsmustern. Die Bewohner von Kiruna hatten es nur selten eilig und bewegten sich mit einer gewissen Langsamkeit, die ganz anders war als diese aggressive Hektik. So, wie sie die Tastatur ihres Laptops bearbeitete und andauernd auf ihr Handy schaute, war sie eher eine Großstadtpflanze, da war er sich fast sicher. Hin und wieder scannte sie den Raum, während sie rasch einen Schluck Kaffee trank. Alles, was sie tat, ging schnell, sie machte irgendwie einen gehetzten Eindruck.

Tom nahm ebenfalls einen Schluck Kaffee. Hier im Ferrum schenkten sie guten Kaffee aus, und es gefiel ihm, dass das Restaurant so groß war. Seit seiner Gefangenschaft verabscheute er jegliche Enge. Das Hotel war ein zentraler Treffpunkt in Kiruna. Tagsüber Restaurant und Café und abends Bar; früher oder später kamen die meisten Einwohner Kirunas hierher.

Er ließ seinen Blick erneut über den Raum schweifen. Die Umgebung zu kontrollieren, war für ihn ein völlig automatisierter Vorgang. Festzustellen, welche Personen dasaßen und auf jemanden warteten und wer von ihnen eine Bedrohung darstellen könnte. Er tat es einfach, ohne nachzudenken. Studierte die verschiedenen Gesichter, um auszumachen, ob die Leute gewalttätig waren, und scannte ihre Hände auf Waffen. Immer wieder aufs Neue. Männer wie auch Frauen.

Heute, zwei Tage vor Heiligabend, waren ziemlich viele Gäste hier. Unter der Woche fanden im Hotel Konferenzen statt, doch jetzt befanden sich im Restaurant hauptsächlich Touristen und Einheimische, die Urlaub hatten. Kiruna war in dieser Hinsicht ein populärer Ort. Man konnte mit dem Hundeschlitten fahren, das Nordlicht beobachten und Skifahren oder eine nächtliche Tour mit dem Schneemobil über den gefrorenen Fluss Torne unternehmen, um sich danach an einem Feuer mit heißen Getränken zu wärmen. Darüber hinaus schickten die großen Autohersteller ihre Mitarbeiter hierher, um die neuesten Modelle bei winterlichen Straßenverhältnissen zu testen, und rund um Kiruna waren schon viele Werbefilme für Autos gedreht worden. Außerdem befand sich der Raketenstartplatz Esrange nur ein Stück entfernt, wodurch es schwedische und internationale Forscher in die Gegend zog. Doch die dunkelhaarige Frau mit dem intensiven Blick war nichts dergleichen, weder Testfahrerin noch Weltraumforscherin, da war sich Tom sicher. Sie zog seine Aufmerksamkeit auf sich, aber er wusste nicht recht, warum. Doch ihr derart abweisender, feindlich gesinnter Blick war durch den Nebel hindurchgedrungen, in dem er sich befunden hatte, und ließ ihn jetzt einfach nicht mehr los. Der Haltung ihres Rückens nach zu urteilen, hämmerte sie gerade wieder auf ihre Tastatur ein. War sie vielleicht Schriftstellerin? Nein, die waren doch wohl nicht so grimmig, oder? Im Gegenteil, die wenigen Autoren, denen Tom begegnet war, machten nicht viel Wirbel um sich selbst. Sie saßen vorwiegend herum und hingen ihren Tagträumen nach. Eigentlich hätte es ihm egal sein können, doch er kapierte irgendwie nicht, warum sie so sauer gewesen war. Ihr Zorn schien sich direkt gegen ihn gerichtet zu haben, als hätte er ihr persönlich etwas angetan. Doch er konnte sich Gesichter gut merken und war fest davon überzeugt, ihr noch nie zuvor begegnet zu sein.

Als er sie ein ums andere Mal auf ihr Handy schauen sah, fiel es ihm plötzlich ein: Journalistin. Keine Lokalreporterin, sondern eher eine von den Zeitungen der Großstadt. Alles stimmte. Aber was wollte sie hier? Was konnte so bedeutend sein, dass eine Reporterin aus der Hauptstadt – er war sich fast sicher, dass sie aus Stockholm kam – zwei Tage vor Weihnachten hier hinaufreiste? Aber vielleicht hatte sie ja Verwandte hier oben und nutzte die Zeit zwischen den Familienzusammenkünften zum Arbeiten?

Oftmals hatten in Stockholm arbeitende Journalisten ihre Wurzeln in irgendwelchen Kleinstädten. Tom wusste es, denn er war im Lauf der Jahre schon vielen Journalisten begegnet, die er in Sicherheitsbelangen ausgebildet hatte. In Krisenherden und in Kriegsgebieten rannten immer eine Menge verrückter, sensationslüsterner Reporter herum. Und er hatte sich schon mit vielen von ihnen angelegt, denn Journalisten waren mitnichten konfliktscheu. Sie waren ihm auf den Geist gegangen mit ihrer grenzenlosen Überzeugung, sich als die Einzigen zu wähnen, die wirklich für Demokratie stritten. Er war interviewt und falsch zitiert worden, und er hatte gesehen, wie sie unbescholtene Bürger nur um eines Artikels willen an den Pranger stellten, Fakten verdrehten und Meinungsmache betrieben. Nein, er hatte nichts für Journalisten übrig.

Tom senkte seinen Blick vor sich auf die Tischplatte und spürte noch immer die Nachwirkungen der morgendlichen Panikattacke. Heute war einer seiner schlechteren Tage. Es war ihm unbegreiflich, dass seine Tagesform so schwanken konnte und das Ganze jeglicher Logik entbehrte. Er wusste nie, wann die Angst zuschlagen oder ein lautes Geräusch ihn überreagieren lassen würde. Und all die Silvesterböller, die die Jugendlichen zündeten, machten es auch nicht gerade besser. Bis zum Beginn des neuen Jahres war es zwar noch über eine Woche hin, und das Zünden von Feuerwerkskörpern war eigentlich verboten, aber dennoch knallte es immer wieder. Kürzlich hatte er sich aus einem reinen Reflex heraus in eine Schneewehe gestürzt, als er hinter sich eine Explosion hörte. Sein Herz hämmerte laut, er hatte einen Tunnelblick, und erst als er wieder zu sich kam, war ihm bewusst geworden, dass er sich über ein kleines Kind geworfen hatte, um es mit seinem Körper zu schützen. Während das Kind unter ihm lag, stand dessen Mutter daneben und schlug hysterisch auf seinen Rücken ein. Das Kind hatte laut geweint, die Mutter hatte ihn angeschrien, und er selbst hatte eine beschämte Entschuldigung vor sich hin gemurmelt und war davongeeilt.

Die Journalistin stand auf. Sie telefonierte gerade und nutzte die Gelegenheit, um sich zu strecken, ihre Nackenmuskeln zu dehnen und ihre Schultern zu lockern. Dabei verzog sie das Gesicht, als schmerzten die Bewegungen. Sie hatte lange Beine, aber ansonsten konnte er unter der dicken Schicht Kleidung ihre Körperformen nicht ausmachen. Nicht, dass er sie genau beobachtet hätte. Er stellte es einfach nur fest. Während des gesamten Telefonats wachte sie mit Argusaugen über ihren Laptop.

Doch plötzlich veränderte sich alles.

Tom vergaß die Journalistin und alles andere um sich herum.

Denn sie betrat das Restaurant, und ihm verschlug es fast den Atem.

Ellinor.

Oh Gott, sie war es wirklich.

Wenn es tatsächlich so war, dass früher oder später alle hier einliefen, war er dann etwa nur hergekommen, weil Ellinor vielleicht auch kommen würde? Ehrlich gesagt wusste er es nicht, denn sein Gehirn funktionierte plötzlich nicht mehr wie sonst. Er fragte sich sogar, ob er kurz davor war, verrückt zu werden. Doch Ellinor war schließlich der Grund, weshalb er in Kiruna war, und er hoffte, dass sie ihn trotz allem, was geschehen war, noch immer brauchte und ihn genauso sehr vermisste wie er sie.

Sein Mund war wie ausgetrocknet, und er bekam Schluckbeschwerden. Er folgte ihren Bewegungen am Kassentresen mit dem Blick. Sie stand mit ihren hellen Haaren aufrecht wie eine nordische Birke da und wirkte frisch und munter. Eine sportliche junge Frau, die kinder- und tierlieb war, die gerne Ski fuhr und schwamm und offenbar die ganze Welt liebte – außer ausgerechnet ihn, Tom Lexington.

Sie gab ihre Bestellung auf und schaute sich dann im Lokal um. Ihr Blick schweifte über die Gäste.

Tom saß reglos da.

Dann erblickte sie ihn und erstarrte mitten in der Bewegung, und Tom starrte sie einfach nur an. Sie erwiderte seinen Blick, und alle anderen Geräusche um ihn herum verstummten. Es war, als bildete sich zwischen ihnen eine Art Korridor. Tom hielt die Luft an und traute sich noch immer nicht, sich zu bewegen. Bitte, geh nicht, war das Einzige, was er dachte.

Er hatte im Hinblick auf Ellinor so viele Fehler gemacht.

Wenn sie bleibt, werte ich es als positives Zeichen. Bitte, geh nicht!

Gib mir noch eine zweite Chance!

Sie zögerte.

Er hielt noch immer die Luft an, während die Erinnerungen über ihn hereinbrachen.

Tom war Ellinor Bergman in Kiruna im Alter von einundzwanzig Jahren begegnet. Ellinor war achtzehn, hatte glattes blondes Haar und einen Mund, der fast immer lächelte. Sie waren in einer Bar aufeinander aufmerksam geworden, wo sie mit einigen Freundinnen an einem Tisch, er mit Freunden an einem anderen gesessen hatte.

»Wohnst du hier?«, fragte er, als sie sich an der Theke trafen.

»Ja. Und du?«

»Ich mache eine Ausbildung zum Offizier und bin gerade hier, um in meinem alten Regiment ein Praktikum zu absolvieren.«

»Feldjäger?« Sie lächelte.

Tom nickte. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie beeindruckt sein würde. Denn so reagierten die meisten Mädels, wenn man sagte, dass man Feldjäger und Offizier war.

»Mein Vater ist auch bei der Armee«, erklärte sie.

»Und was machst du?«

»Ich gehe aufs Gymnasium. Ich bin heute achtzehn geworden und feiere hier gerade mit meinen Freundinnen Geburtstag.«

»Dann darf ich dich ja vielleicht auf einen Geburtstagsdrink einladen?«, fragte Tom und fühlte sich unglaublich weltgewandt.

Das durfte er.

Sie unterhielten sich den ganzen Abend lang. Ellinor war am Ende ziemlich betrunken und gab sich verführerisch, und Tom bemühte sich, es ihr gleichzutun, obwohl Flirten eigentlich noch nie sein Ding gewesen war.

An diesem Abend schliefen sie nicht miteinander, denn er spürte sofort, dass Ellinor mehr als nur ein One-Night-Stand war, und wollte sich langsam vortasten. Außerdem wohnte sie noch zu Hause. Also machte er ihr in den nachfolgenden Wochen den Hof. Lud sie ins Kino und zum Essen ein. Und bald war er verliebt, was eigentlich nicht weiter verwunderlich war, denn Ellinor war äußerst umgänglich, fröhlich, positiv eingestellt, locker und gut gelaunt. Ein nettes, unkompliziertes Mädchen. Und dazu noch attraktiv.

Den ersten Sex hatten sie bei ihr zu Hause, als ihre Eltern eines Abends weggefahren waren. Weder für ihn noch für sie war es das erste Mal. Es war schön, und er wusste, dass sie die Richtige für ihn war. Mit Ellinor war nichts kompliziert. Wenn er lernen musste, beschäftigte sie sich problemlos allein. Sie hatte massenweise Freunde, jede Menge Hobbys und war voller Energie. Während seines Studiums und seiner Ausbildung wurde er im ganzen Land herumgeschickt, doch er fuhr, sooft er konnte, nach Kiruna, um mit ihr zusammen zu sein.

»Ich will aber nicht mein Leben lang in Kiruna wohnen«, sagte Ellinor, als sie ihr Abi in der Tasche hatte.

Er küsste sie auf die Nasenspitze. »Und wo willst du stattdessen wohnen?«

»In Stockholm. Gemeinsam mit dir.«

Nachdem Tom zum Hauptmann ernannt worden war, zogen sie in Stockholm zusammen. Sie kauften sich eine Wohnung und kamen sich erwachsen vor. Ellinor studierte und jobbte nebenbei, während Tom unglaublich viel arbeitete. Manchmal vergingen Wochen, in denen sie sich kaum sahen.

Natürlich hatten sie ihre Tiefs, aber welches Paar hatte die nicht? Als sie vier Jahre zusammen waren, kauften sie sich Verlobungsringe.

»Es fühlt sich so richtig an, Tom«, sagte sie, als er ihr den Ring über den Finger streifte, und nach seinem Empfinden würden sie von jetzt an für immer zusammenbleiben.

Das Leben ging weiter, und Ellinor bekam eine Anstellung als Lehrerin in einer Schule in der Innenstadt, besuchte diverse Kurse und Fortbildungen und wechselte schließlich die Stelle. Er arbeitete ebenfalls hart. Die Jahre vergingen, und abgesehen von der Tatsache, dass er im Zuge geheimer Operationen viel im Ausland unterwegs sein musste, waren sie ein normales Großstadtpaar wie viele andere auch. Das hatte er zumindest angenommen.

Doch an einem Tag im Juni hatte Ellinor plötzlich im Türrahmen der Küche gestanden, die sie gerade renoviert hatten, den Kopf gegen das Holz gelehnt und ihn seufzend angeschaut. »Tom, wir müssen reden.«

Anfänglich hatte er kaum auf ihren befremdlichen Tonfall reagiert, da er mit den Gedanken völlig woanders war. Er schaute von seiner Morgenzeitung auf und fragte: »Können wir das nicht später besprechen? Ich hab gerade jede Menge um die Ohren.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du hast doch immer jede Menge um die Ohren. Aber ich will reden. Und zwar jetzt.« Sie sah aus, als nähme sie Anlauf, und er ahnte bereits, dass eine Katastrophe bevorstand. »Ich war mit einem anderen Mann zusammen.«

Ihre Worte trafen ihn wie der Schlag. »Und mit wem?«, fragte er, während er gegen das irreale Gefühl ankämpfte, das ihn befiel.

»Das spielt keine Rolle.«

»Für mich spielt es aber eine ziemlich große Rolle. Ist es was Ernstes?«

»Dass ich mit einem anderen geschlafen habe? Ja, das ist es wohl.«

Und dann fing sie an zu weinen. Tom war wie gelähmt. Er steckte im Augenblick wirklich bis zum Hals in Arbeit. Seine Firma, Lodestar Security Group, hatte im Rekordtempo expandiert, sie befanden sich gerade mitten in einem komplizierten Ausschreibungsverfahren, und einer ihrer Kunden im Irak hatte kürzlich bei einem Selbstmordattentat mehrere Angestellte verloren. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erklärte er mit einem Gefühl der Ohnmacht.

»Bist du nicht sauer? Empfindest du denn nichts dabei? Wenigstens irgendwas?«

»Ich liebe dich, Ellinor. Was soll ich denn sonst noch sagen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Dann sag lieber nichts. Darin bist du ja sowieso am besten. Ich will Schluss machen, Tom. Es funktioniert einfach nicht mehr.«

»Aber was funktioniert denn nicht mehr? Sag es mir, bitte! Ich werde alles tun, was du willst.«

»Es spielt keine Rolle mehr.«

Er begriff nicht, wie es so weit hatte kommen können. Für ihn kam diese Entscheidung wie aus dem Nichts, die ganze Situation erschien ihm völlig unwirklich. »Ich weiß, dass ich in letzter Zeit viel gearbeitet habe.«

»Aber es geht nicht nur darum. Ich habe mich entschieden.«

»Bitte, Ellinor. Kannst du nicht noch warten? Wir können doch darüber reden.«

»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«

Plötzlich klingelte sein Handy. Es war ein Anruf aus dem Irak. »Ich muss leider rangehen«, sagte er mechanisch.

Sie bedachte ihn mit einem schiefen Blick, sagte jedoch nichts weiter und ließ ihn gehen.

Daraufhin arbeitete er zwei Tage lang durch wie ein Roboter. Ellinor schickte ihm irgendwann eine SMS mit der Nachricht, dass sie zu ihren Eltern fahren würde, um nachzudenken. Ihre Eltern mochten ihn und auch sie beide als Paar, und Tom hielt es für eine gute Idee, da er annahm, dass sie vielleicht mit ihr reden könnten. Doch das war für mehrere Monate das letzte Mal, dass er etwas von ihr hörte. Hätte er anders reagiert, wenn er gewusst hätte, was danach passieren würde?

Am Tag darauf erhielt Tom einen Anruf von seinem Freund David, der zur Folge hatte, dass er in den Tschad flog, wo er eine bewaffnete Operation leitete, bei der er mit seinem Hubschrauber in der Wüste abstürzte und gekidnappt wurde.

Zu Hause glaubten alle, er wäre tot. Seine Reise, die eigentlich nur wenige Tage hätte dauern sollen und eine Ablenkung von ihrer Beziehungskrise hätte sein können, veränderte alles. Er war erst im Oktober, nach vier Monaten, wieder nach Schweden zurückgekehrt. Da hatte Ellinor ihre gemeinsame Wohnung schon vermietet und war nach Kiruna zurückgekehrt. Sie hatte ihn abgehakt, um ein neues Leben anzufangen.

Was für ein schrecklicher Ausdruck.

Jemanden abhaken.

Jetzt, wo sie einander quer durchs Restaurant hindurch anstarrten, wurde ihm bewusst, dass sie sich seit dem besagten Tag im Juni in ihrer gemeinsamen Küche nicht mehr gesehen hatten. Doch Ellinor hatte sich nicht verändert, nur ihre Haare waren vielleicht etwas länger als vorher.

Er hatte sie angerufen, sobald er freigelassen worden war, und er wieder zurück nach Schweden kam. Sie war froh gewesen, dass er noch lebte. Doch er hatte nicht gewollt, dass sie ihn im Krankenhaus besuchte, woraufhin sie ganz darauf verzichtete, nach Stockholm zu kommen, da sie es besser fand, wenn sie sich nicht mehr sehen würden. Jetzt nahm Ellinor ihren Becher mit Tee vom Tresen und ging langsam, fast zögerlich auf ihn zu. Tom traute sich kaum zu atmen. Er suchte in ihrer Miene nach irgendwelchen Anzeichen für, tja, wofür eigentlich? Es musste doch irgendwas zu bedeuten haben, dass sie hier war, auf dem Weg zu seinem Tisch, und sie sich endlich wiedersahen.

Wenn Ellinor ihm nur eine einzige Chance geben würde, würde er alles wiedergutmachen, was er zerstört hatte, und der Mann werden, den sie wollte, den sie verdient hatte. Bei ihrem Anblick verspürte er ein Ziehen in der Brust. Er hielt fast die Luft an.

Dann erreichte sie seinen Tisch, legte den Kopf schräg, betrachtete seinen Oberkörper und sagte: »Mensch, Tom, was für ein T-Shirt! Das hätte ich wirklich nicht von dir gedacht.« Sie zog die Augenbrauen hoch, und Tom kapierte gar nichts. Allmählich begriff er und schaute an sich hinunter. Er trug ein kariertes Hemd, erinnerte sich aber nicht daran, es angezogen zu haben, und darunter ein schwarzes Shirt, das er sich einfach gegriffen hatte, ohne es näher in Augenschein zu nehmen. Er hatte angenommen, dass es eines seiner gewöhnlichen einfarbigen war. Über Kopf las er den weißen Slogan darauf, FBI in großen Lettern. Darunter Female Body Inspector. Aha. Das erklärte natürlich einiges. Sowohl Ellinors fassungslosen Blick als auch die Reaktion der abweisenden Journalistin zuvor. Rasch warf er einen flüchtigen Blick in Richtung ihres Tisches, doch sie schien tief versunken in ihre Arbeit mit dem Laptop zu sein.

»Das gehört mir nicht«, sagte er erklärend zu Ellinor, obwohl sie eigentlich andere Themen hätten bereden müssen. »Die Frau, die bei mir putzt und meine Wäsche wäscht, hat einen Drecksack von Sohn. Es muss ihm gehören. Vermutlich hat sie es verwechselt.«

Ellinor betrachtete ihn eingehend.

»Du siehst müde aus«, sagte sie schließlich. Sie stand noch immer vor ihm. Er wünschte, sie würde sich ihm gegenüber an den Tisch setzen und ihren Tee trinken, wie sie es früher getan hatte, und ihm dann sagen, dass sie es sich anders überlegt und keineswegs ein neues Leben angefangen hätte.

Doch sie blieb stehen und inspizierte ihn weiterhin. »Und du hast abgenommen«, fügte sie hinzu.

Tom fuhr sich mit der Hand über die Stirn und kratzte sich am Bart. »Mir geht’s gut«, log er.

»Und außerdem trinkst du zu viel«, fuhr sie fort.