Agentinnen aus Liebe - Marianne Quoirin - E-Book

Agentinnen aus Liebe E-Book

Marianne Quoirin

4,5

Beschreibung

»Liebe« war das Codewort, das Tresore in Ministerien und bei der NATO öffnete. Doch war sie das einzige Motiv, das in Zeiten des Kalten Krieges Bonner Ministerialsekretärinnen zu Agentinnen werden ließ? Warum unbescholtene Frauen, die an den Schaltstellen der Macht saßen, sich vom vermeintlichen Mann ihres Lebens zur Spionage verführen ließen und ihre Existenz riskierten, hat nicht nur den Verfassungsschutz jahrzehntelang beschäftigt. Die Journalistin Marianne Quoirin hat fünfzehn authentische Fälle zusammengetragen, um die Welt der Verführung, Verstrickung und des Verrats auszuleuchten. Sie beobachtete Prozesse, führte Gespräche mit den verurteilten Frauen, den Anklägern, Richtern und Verteidigern und wertete die bis zur Wende streng geheimen Dokumente aus. Herausgekommen ist ein packendes Buch, das auf spannungsreiche Weise die Motive und das Schicksal der »Agentinnen aus Liebe« dokumentiert und von den persönlichen Katastrophen mitten im politischen Geschehen sowie dem schmalen Grat zwischen Lebenstraum und Lebenslüge eindrucksvoll berichtet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 351

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (16 Bewertungen)
10
4
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marianne Quoirin

Agentinnen aus Liebe

Warum Frauen für den

Osten spionierten

edition berolina

eISBN 978-3-95841-541-6

1. Auflage

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

© 2017 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

© 1999 by Eichborn GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildung: © Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

www.buchredaktion.de

Zu diesem Buch

Die Namen vieler Agentinnen tauchen in den Schlagzeilen auf. Sie gelten als Personen der Zeitgeschichte, dennoch haben sie ein Recht auf Diskretion in ihrem neuen Leben. Aus diesem Grund erscheinen die meisten Nachnamen abgekürzt, nur wenige Frauen, deren Namen untrennbar mit der Geschichte der deutsch-deutschen Spionage-Szene verknüpft sind, werden mit Vor- und Zunamen genannt.

»so viel Lügen geliebt,

so viel Worten geglaubt,

die nur aus der Wölbung der Lippen kamen,

und dein eigenes Herz

so wandelbar, bodenlos und augenblicklich«

Gottfried Benn, 1951, aus dem Gedicht »Spät«

Für Peter

Vorwort

Zwischen der Verhaftung von Margret H. im August 1985 und dem Prozessauftakt 1987 im Saal A 01 des Oberlandesgerichts in Düsseldorf hatten sich Journalisten mit Mutmaßungen überschlagen. Abermals tat sich »ein Abgrund von Landesverrat« auf, andere zitierten aus »Liebesbriefen« des Romeo. »Ihre schönen Augen lachten nie«, lautete die Schlagzeile einer Boulevardzeitung, die vorgab, ihren Bericht auf Aussagen der besten Freundin über »die graue Maus« aus dem Bundespräsidialamt und deren Affäre mit dem fremden Beau vom sowjetischen Geheimdienst zu stützen.

Von wegen »graue Maus«. Margret H., damals 51 Jahre alt, eine aparte, vielseitig interessierte Frau, passt in keines der üblichen Klischees von Bonner Sekretärinnen, die aus Liebe zu Verräterinnen wurden. Margret H. sucht selbstkritisch nach Antworten, warum sie das für sie selbst Unbegreifliche getan hat: sich einzulassen auf das verhängnisvolle Doppelspiel, bei dem es nur Verlierer gab.

Das Verfahren und spätere Gespräche zeigten, warum die im Prinzip simple, aber psychologisch und strategisch ausgeklügelte Methode der Romeos so gut funktionierte, warum sich Opfer zu Täterinnen entwickelten: Die Weichen für das Drama sind bereits in der Kindheit gestellt, die Parallelen zu den Biographien von Terroristinnen nicht zu übersehen.

Margret H. hat die Neugier auf die Hintergründe ihrer Geschichte geweckt – wie die auf die Erlebnisse anderer Frauen, deren Aussagen vor Gericht bei einer skeptischen Gerichtsberichterstatterin zunächst Zweifel hervorriefen. Zu unbegreiflich, zu mysteriös, zu romanhaft schienen diese vor Gericht zu entwirrenden Beziehungsgeflechte, denen auch etwas anrührend Altmodisches anhaftete. Das Motiv Liebe sollte ewig währen, selbst wenn eine neue intensive Partnerschaft dem Verhältnis mit dem Romeo gefolgt war. Und schließlich gab es immer nur diese eine Person, die über die verhängnisvolle Affäre Auskunft gab.

In den Prozessen nach der Wende kam vieles ans Tageslicht. Auch die Methoden des DDR-Spionageapparats konnten trotz der Aktion Reißwolf in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) weitgehend rekonstruiert werden. Im ersten Prozess gegen Markus Wolf, Leiter der HVA bis 1986, sagten als Zeugen nicht nur Abteilungs- und Referatsleiter, Führungsoffiziere, Instrukteure und zwei erfolgreiche Romeos aus, sondern auch der Chefpsychologe der HVA, zuständig für die psychologische Strategie und Betreuung von DDR-Spionen und Agentinnen. Das Bild, zusammengesetzt aus den vielen Mosaiksteinen von etwa 40 Fällen, ist noch immer nicht komplett, aber längst nicht mehr diffus. Es wird weiterhin ergänzt durch Funde der Gauck-Behörde. Die Entschlüsselung der geheimen Datenbank der DDR-Auslandsspionage Ende 1998 bietet eine komplette Aufstellung über das, was welcher Spion und welche Agentin verraten haben – oft mehr, als er oder sie vor Gericht unter der Last der Beweise einräumen musste. Für die strafrechtliche Aufarbeitung sind solche Quellen inzwischen ohne Belang, für die historische Betrachtung sind sie es nicht.

Die Bundesrepublik gehört zu den wenigen Ländern der westlichen Welt, in denen Presse und Publikum zu Spionageprozessen zugelassen sind und nur bei Verlesung der klassifizierten Dokumente und dem Vortrag des Gutachters ausgeschlossen werden. Die Öffentlichkeit erhält so einen Blick hinter die Kulissen eines zwielichtigen Gewerbes und braucht sich nicht auf die Lektüre von Thrillern zu beschränken. Öffentlichkeit trägt dazu bei, Mythen und Legenden zu entschleiern, auch jene, an denen Täter und Opfer aus unterschiedlichen Gründen selbst gestrickt haben. Dennoch gilt auch hier die Erfahrung, die sich in Bonn zu einem Bonmot verdichtet hat: Am ehesten bleibt geheim, was offen auf dem Tisch liegt.

Die Prozesse haben immer wieder offenbart, wie das Leben in einer zweiten Identität zu einer Deformation der menschlichen Psyche mit unterschiedlichen Ausprägungen führt. Die Nachrichtendienste schieben ihre Spione und Agenten wie Figuren auf dem Schachbrett hin und her, manipulieren sie so sehr, dass sich die Grenzen zwischen Täter und Opfer, Jäger und Gejagtem bald verwischen. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Schauplätze und teilweise die Akteure verändert; der Untergang von HVA und KGB bedeutet aber nicht das Aus für die perfide Anbahnungsmethode auf höchst emotionaler Ebene. Sie funktioniert nicht nur beim Verrat klassifizierter Regierungsdokumente und von Staatsgeheimnissen, sondern ebenso in der Industriespionage.

Die Verfahren gegen die Opfer von Romeos aus dem Ostblock fanden bis auf Ausnahmen vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf statt, da seit dem 8. September 1969 die erstinstanzliche Zuständigkeit für Staatsschutzstrafsachen auf jene Oberlandesgerichte übertragen ist, in deren Bezirk die Landesregierungen ihren Sitz haben. Vor dem OLG Düsseldorf, zuständig für Nordrhein-Westfalen und damit auch für den Tatort Bonn, endeten die Agenten-Karrieren von Kanzleramtsspion Günter Guillaume und dessen Frau Christel, des Top-Agenten bei der ­­NATO­­, Rainer Rupp (»Topas«), der seine Frau Ann-Christine (»Türkis«) zum Spionieren für die HVA verführte. Fünf Berufsrichter und -richterinnen zogen auch den juristischen Schlussstrich unter die Tragödien von Verstrickung und Schuld der Sekretärinnen aus Bonner Ministerien und Parteizentralen. Dem Ehepaar Guillaume wurde 1975 mit dem Bau des abhörsicheren und fensterlosen Saal A 01 im Tiefgeschoss des wilhelminischen Prunkbaus in der Cecilienallee ein Denkmal gesetzt; die Sekretärinnen, denen seither in dem holzgetäfelten Saal wegen Landesverrats oder geheimdienstlicher Agententätigkeit der Prozess gemacht wurde, haben das Ambiente des Bunkers vor allem als bedrückend empfunden. Atmosphäre, Verhandlungsstil und Ton waren aber auch in Zeiten des Kalten Krieges durchweg sachlich bis verbindlich, ganz im Gegensatz zu den Strafverfahren gegen Terroristen. Das Klima in den Prozessen erklärt ebenfalls, warum die meisten Agentinnen ausgepackt, die Verfahren mehr über die Realitäten und Absurditäten der deutsch-deutschen Spionagen enthüllt haben, als es später die Erinnerungen der Täter und Opfer vermochten.

Bisweilen haben die Prozesse auch das Geheimnis der Lust an Verborgenem und Verschlüsseltem durchscheinen lassen: die Verheißung von Abenteuer jenseits des Alltags in der Bonner Provinz. Das Doppelleben mit gefälschten Pässen, gestohlenen Identitäten und erfundenen Legenden, der berühmte Blick über die Schulter, die ewige Suche nach einer menschlichen Schwäche als möglicher Quelle für Informationen prägen das Bild der Nachrichtendienste auch heute noch. Überall lauert angeblich Geheimes, das der Enttarnung harrt. Die Spione Kim Philby und Graham Greene haben in ihren Memoiren verraten, was ein solches Leben früher bot: Fluchtwege aus der Realität, der Langeweile – und vor sich selbst. Für die Agentinnen aus Liebe aber endeten die Fluchtwege in einer Sackgasse. Die Wirklichkeit erwies sich bald als banal, brutal und bedrohlich für die eigene Existenz.

I. Der Romeo, der aus der Kälte kam

Die Sekretärin aus dem Bilderbuch und der »schöne Franz«

Seit Monaten lebt sie im Zwiespalt, von ihren Gefühlen hin- und hergerissen. Manchmal quält sie Angst vor einem Wiedersehen, manchmal sehnt sie es herbei, weil sie hofft, danach den Schlussstrich ziehen zu können und endlich ihren Seelenfrieden zu finden. Erneut plagen sie Zweifel, ob sie die Begegnung mit dem Mann, der ihr Leben so dramatisch verändert hat, verkraften wird. Lächelnd räumt sie ein, nach all den Jahren auf »Franz Becker« neugierig zu sein. Gleichzeitig fürchtet sie, das Treffen könnte Erfahrungen, die sie in den tiefsten Schichten der Erinnerung belassen möchte, in ihr Bewusstsein zurückbringen: all die Lügen, den 15 Jahre währenden Betrug, die Jahre im Gefängnis, das Ende ihres bürgerlichen Lebens, den Verrat an ihrer Seele. Aber andererseits sagen ihr die Zahlen, deren Mystik sie fasziniert, dass sein echtes und ihr Geburtsdatum auf Harmonie hindeuten.

In jenem fensterlosen Saal des Oberlandesgerichts Düsseldorf, in dem Margret H. vor elf Jahren ihr Leben, ihre facettenreiche Beziehung zu Franz Becker und ihre Schuld offenbarte, soll sie ihm nun wieder begegnen. Eine langjährige Freundin, Medizinerin in Bonn, will sie begleiten. Im Wechselbad der Empfindungen zeigt Margret H. erste Anzeichen von Anspannung und Stress. Als der Tag des Wiedersehens kurz bevorsteht, diagnostiziert ein Arzt die beginnenden Symptome einer Gürtelrose.

Margret H., 62 Jahre alt, ist im November 1998 als Zeugin im Prozess gegen Franz Becker geladen, der die ehemalige Vorzimmerdame aus dem Bundespräsidialamt vor 30 Jahren zum Spionieren für den sowjetischen Geheimdienst KGB verführt hatte. 1987 war die Sekretärin wegen Landesverrats vom 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Fall der Margret H. hatte am Ende des Kalten Krieges noch Schlagzeilen gemacht: Die Geschichte der Sekretärin mit der Bundesverdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, mit dem Silbernen Kreuz des spanischen Ordens Isabel Católica, mit der Medaille Erster Klasse der finnischen Weißen Rose und dem kargen Lohn vom KGB bot abermals Einblicke in die Arbeitsmethoden östlicher Agenten, die seit den 50er Jahren in der Bundeshauptstadt Bonn Jagd auf Sekretärinnen machten.

Der 17 Tage dauernde Prozess gegen die angebliche Top-Spionin Margret H. geriet zum Medienspektakel ohnegleichen. Die Boulevardzeitungen erzählten wieder mal die reißerische, aber falsche Story von der legendären Meisterspionin und Tänzerin Mata Hari und ihren deutschen Nachfolgerinnen, diesmal am Beispiel von Margret H: »Mata Hari: Ihre Töchter leben in Bonn«. Die meisten Tageszeitungen kamen in ihren Berichten und Kommentaren der Realität jedoch erheblich näher, auch wenn viele Aspekte damals im Halbdunkeln blieben. »Der Fall der Margret H. scheint wie kaum ein anderer geeignet, die seelischen Defekte und menschlichen Tragödien zu offenbaren, die sich mitunter hinter den Masken untadeliger Vorzimmerdamen verbergen, und die sie auf so erstaunliche Weise anfällig machen können für das Werben dieser Romeos«, schrieb Hans-Ulrich Jörges am 19. Juni 1987 in der »Süddeutschen Zeitung«.

Heute weiß keiner mehr, wer die psychologisch geschulten Verführer aus der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und der KGB-Dependance Karlshorst bei Ostberlin zuerst »Romeos« nannte, der Begriff hat sich jedenfalls eingeprägt wie ein Markenname. Nicht einmal Heinz Hülser, jahrzehntelang beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit dem Romeo-Phänomen befasst, erinnert sich an die Paten des Romantik und Dramatik verheißenden Namens. Hinter Hülsers Schreibtisch prangt ein Foto des schönsten Verführers aller Zeiten – ein schwarzer Kater, der Romeo heißt. Er posiert aber nicht als Lockvogel für das zweitälteste Gewerbe der Welt, sondern wirbt für Luxuskatzenfutter.

»Romeo ist eine irreführende Bezeichnung«, schreibt Dr. Klaus Wagner, der als Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1995 über 100 Agenten verurteilt hat. Unter ihnen mehr als ein Dutzend Opfer von Ostblock-Casanovas, auch Margret H.: »Romeo liebte, wie bei Shakespeare nachzulesen ist, seine Julia und ging wegen ihres Verlustes in den Tod. Die Sendboten der Geheimdienste gaukelten dagegen den umworbenen Frauen in den meisten Fällen wahre Liebe nur vor. Eine dauerhafte Bindung und ständiges Beisammensein scheiterte häufig schon an Sicherheitsbedenken.« Wagner charakterisiert die Masche der Romeos als eine »der wohl menschlich übelsten Methoden der HVA und des KGB«, weil diese Nachrichtendienste »die in ihrem Auftrag planmäßig erweckte Zuneigung und Liebe der Frauen zu den auf sie angesetzten Männern rücksichtslos ausnutzten und für sich ausbeuteten«.

Dem Romeo der Margret H. wirft im Spätherbst 1998 die Bundesanwaltschaft – analog zu den Taten seines Opfers – Landesverrat vor; es ist einer der seltenen Fälle, in dem einem der etwa 40 erfolgreichen Romeos der Prozess gemacht wird. Insgesamt sollen Ende der 60er Jahre etwa 80 Agenten der HVA Versuche im Anbandeln mit Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen in der Bundesrepublik gestartet haben. Diese ungewöhnlich hohe Zahl hat der britische Fernsehsender Channel 4 in einer am 21. Juli 1997 ausgestrahlten Dokumentation »Spying for love« genannt. Auf Anfrage betont der Sender, dass er sich dabei auf eine Information des früheren HVA-Chefs Markus Wolf stützt. Sollte die Angabe zutreffen, sieht die Erfolgsbilanz der HVA in Sachen Romeo erheblich dürftiger aus, als Verfassungsschützer und Bundesanwaltschaft bisher angenommen haben. Nicht einmal jeder zweite Casanova aus Ostberlin wäre demnach bei seinem Liebeswerben ans Ziel gekommen. Wolf wusste, dass der in vielen Details bemerkenswerte Film niemals in Deutschland gezeigt werden darf; eine frühere Spionin hatte ihre Aussagebereitschaft davon abhängig gemacht.

Von vielen der selbst in die Erfolgsstatistik eingegangenen Romeos konnte bis heute die wahre Identität nicht geklärt werden. In einer Reihe von Fällen waren die Straftaten bereits verjährt, bevor sie namhaft gemacht wurden, in anderen Fällen sind die Ermittlungen aus diversen Gründen eingestellt worden. Das Verfahren gegen Franz Becker vor dem 7. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf, zunächst auf mindestens zehn Tage terminiert, findet mangels Interesse quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und endet überraschend schon am zweiten Verhandlungstag. Die Probleme mit dem hochbetagten Gutachter, der bereits im Verfahren gegen Margret H. die Qualität der von ihr verratenen Dokumente bewertet hatte, führen zu einem Deal zwischen allen Prozessbeteiligten im neunten Jahr nach der Wende: zwei Jahre Haft auf Bewährung, 80.000 Mark Geldstrafe. Den Zeugen, auch Frau H., bleibt ein Auftritt vor Gericht erspart. Sie scheint erleichtert, an den Folgen der schmerzhaften Gürtelrose wird sie allerdings noch Monate leiden.

Szenenwechsel. Eine große Anwaltskanzlei an der Budapester Straße in Berlin, Ende Januar 1999. Der Mann, der sich Franz Becker nannte, sitzt in einem Konferenzraum, vor sich einen Stapel sorgfältig sortierter Papiere. Wer sich an die Bilder erinnert, die nach der Festnahme von Margret H. im August 1985 in den Nachrichtensendungen ausgestrahlt und in fast allen Tageszeitungen abgedruckt wurden, erkennt ihn auf Anhieb wieder – trotz der Fülle, die von den Medikamenten zur Behandlung einer schweren Herzerkrankung herrührt.

Aktennotizen, handschriftliche Aufzeichnungen und Zeitungsausschnitte in Reichweite bekundet er nun Bereitschaft, die Geschichte eines deutsch-deutschen Dramas aus seiner Perspektive zu schildern. Die einzige Bedingung: keinen Hinweis auf seinen Namen, nicht einmal eine Abkürzung und keine Andeutung bezüglich seines anspruchsvollen Arbeitsplatzes. Der Mann, der nur als Franz Becker zitiert werden will, lässt sich das schon von seinem Anwalt schriftlich gegebene Versprechen der Diskretion noch einmal mit einem Handschlag besiegeln. Er, der das Doppelspiel nahezu perfekt beherrschte, kann die Angst nicht verbergen, mit 57 Jahren seinen Job zu verlieren. Es ist der erste seines Lebens ohne Legende, ohne Deckadresse, ohne eine Fluchtburg im Schattenreich des KGB, dennoch bedroht von den Hinterlassenschaften der Vergangenheit. Franz Becker, einer der erfolgreichsten Romeos, bemitleidet vor allem sich selbst.

Vor Gericht, nachdem er nervös und den Tränen nahe eine persönliche, gleichwohl sehr allgemein gehaltene Erklärung verlesen hatte, zeigte die Vorsitzende Richterin des 7. Strafsenats am Oberlandesgericht Düsseldorf, Claudia Neuhaus, Erbarmen mit dem Romeo. Sie brach die Sitzung ab, damit er sich fangen konnte, bevor er sich der Befragung des Gerichts stellte. Keine Frage: Franz Becker sieht sich nicht nur als Täter, sondern ebenso als ein Opfer der Ereignisse und Zeitläufte – und es fällt nicht leicht, ihm zu widersprechen. Er fürchtet neben dem Verlust des Arbeitsplatzes eine neue Krise seiner Ehe, die schon zweimal in einer Tragödie zu enden drohte. Angeblich fühlt er sich auch vor seinen alten Auftraggebern nicht sicher. »Der KGB ist nicht tot«, sagt Franz Becker, »er hat nur einen neuen Namen und ein neues Gesicht.«

Die Geschichte von Margret H., scheinbar das Musterbild einer tüchtigen deutschen Sekretärin, und von Franz Becker, dem Studenten der Pädagogik und KGB-Agentenführer, steckt voller Dramatik und menschlicher Tragik, voller Rätsel und Widersprüche. Sie erzählen zu wollen, bleibt ein Annäherungsversuch an die Wahrheit, die unter den diffusen Schichten von Erinnerungen begraben liegt, der Selbsttäuschung und den oft unbewussten Versuchen ausgeliefert, beim Blick zurück begangene Fehler korrigieren und das Geschehene mit dem eigenen Part in Einklang bringen zu wollen – und zwar mit einer Rolle, mit der man leben und vor sich selbst bestehen kann.

Das Drama von Margret und Franz beginnt am 2. Mai 1968 an einer Telefonzelle in der Römerstraße gegenüber der Pädagogischen Hochschule im Bonner Norden. Margret H., 32, wohnt um die Ecke im Sigambrerweg und will an diesem Tag ihre Eltern in Löhne anrufen. Sie hat bislang keine Verbindung bekommen und geht deshalb vor der Fernsprechzelle ungeduldig auf und ab, als sie von Franz Becker plötzlich angesprochen wird. Er bewohnt ein möbliertes Zimmer gegenüber und erzählt ihr, er habe durchs offene Fenster das Klappern ihrer Absätze gehört und sei davon neugierig geworden. Er stellt sich vor, und nach einem kleinen Wortgeplänkel gehen sie zusammen am Rhein spazieren. Einige Wochen später ist das Verhältnis intim, und Franz Becker, den angeblich jüngere Frauen nicht interessieren, nennt Margret H. »meine kleine Kräuterhexe«.

Welch ein ungleiches Paar: sie, ausnehmend hübsch, aber furchtbar schüchtern, errötet manchmal wie ein kleines Mädchen. Sie will nicht auffallen, trägt sehr dezente Kleidung und die Haare bieder hoch gesteckt. Und er? Nicht nur Margret H. beschreibt ihn als gutaussehend, höflich, sympathisch und gewandt. Allen, die ihn kennen, erscheint er als ein Mann, der weiß, was er will, und mit sich und der Welt im reinen ist. Auch seine neue Bekannte ist von seiner Legende beeindruckt: Flucht aus der DDR, Verkauf der geliebten Briefmarkensammlung, um das Abitur im Westen nachzuholen und zu studieren, dann Werkstudent. Die äußere Gegensätzlichkeit des Paares täuscht jedoch. Beide sind extrem sensibel, beide reagieren auf emotionale Störungen höchst empfindlich. Wie Margret H. leidet auch Franz Becker unter psychischem Stress, der sich in einer Reihe seelisch bedingter Erkrankungen immer wieder manifestiert. Wie ein Seismograph hat sie jedes Mal die Leiden ihres Partners registriert und später in ihrem Prozess beschrieben, lange bevor Beckers wahre Identität und wesentliche Passagen seines Lebenslaufs publik wurden.

Die Biographien der beiden weisen erstaunliche Parallelen auf, vergisst man das Märchen, das er ihr erzählt hat. Beide stammen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Margret H., aufgewachsen im westfälischen Löhne, ist die Tochter eines Tischlers. Die Mutter, gelernte Schneiderin, gab nach der Geburt ihrer ersten Tochter den Beruf auf. Franz Becker, Sohn eines Installateurs und einer Arbeiterin in einer Munitionsfabrik, hat schon als Schüler Zeitungen ausgetragen, um das Familieneinkommen aufzubessern. Beide mussten die Zukunftsträume ihrer Jugend begraben. Margret H., ein begabtes Mädchen, wollte gern das Gymnasium besuchen, um später studieren zu können, aber die Mutter verhinderte dies. Franz Becker begann nach einer Lehre zum Elektriker und dem Besuch einer Abendschule das Ingenieurstudium, war aber gezwungen, es aus gesundheitlichen Gründen nach nur einem Jahr aufzugeben. Margret H. entfloh der mütterlichen Bevormundung und begann mit 22 Jahren eine erstaunliche Karriere in Bonn, stieg von der Stenotypistin im Auswärtigen Amt zur Vorzimmer­dame im Bundespräsidialamt auf. Aber »das unbewältigte Verhältnis zur Mutter«, so Margret H. Jahre später vor Gericht, bleibt auch in Bonn allgegenwärtig, überschattet ihre Beziehungen zu Männern; die Probleme belasten sie bis zum Tod der Mutter.

Franz Becker, Lehrlingsausbilder in einem Berliner Glühlampenwerk, suchte über die Jungen Pioniere, die »Gesellschaft Technik und Sport« und die SED ein Ziel zu erreichen, das seinen Jugendträumen nahe kam. Irgendwann Mitte der 60er Jahre offerierte ihm die HVA über das Innenministerium einen Job. Abenteuerlust und finanzielle Anreize gaben den Ausschlag, ihn anzunehmen. Ob die HVA ihn an den großen Bruder KGB vermittelt oder ob der KGB den ehrgeizigen und begabten jungen Mann angefordert hat, bleibt offen. Jedenfalls beschattete Becker bald unter Anleitung erfahrener Operateure Besucher aus dem Westen in Ostberlin, bevor er das Handwerk der Spionage von der Pike auf lernte.

Im Jahr 1966, kurz nach der Heirat mit einer Lehrerin, kommandierte der KGB den 24-Jährigen ins feindliche Ausland ab. Der echte Franz Becker, geboren am 29.1.1941, war nach enttäuschenden Jahren in der Bundesrepublik in die DDR zurückgekehrt. Der falsche Franz, geboren am 24.12.1941, soll in seine Identität schlüpfen, damit die kostbaren Westpapiere für zukünftige Geheimdienstoperationen nicht verlorengingen. Mit dem Abmeldeformular seines Namensgebers aus Köln meldete sich der neue Franz Becker binnen eines Monats in Detmold an. Mehr als 30 Jahre später wird er behaupten, dass er damals keine Wahl gehabt hätte und der Auftrag eine Auszeichnung und Ehre für ihn gewesen sei. Übrigens ein Argument, dass Romeos der HVA gebetsmühlenartig wiederholen, wenn sie von der Zentrale in Ostberlin oder von einer Bezirksverwaltung aus ihrem Beruf als Theaterdirektor, Ingenieur oder Chemiker und aus ihrer Familie herausgerissen und zu Playboy-Diensten auf Zeit verpflichtet wurden. Der Grund war immer der gleiche: Sie passten vom Typ, Alter und sonstigen Eigenschaften her am besten zu einer schon ausgeguckten potentiellen Agentin.

Franz Becker erschien der angeblich nicht näher definierte Einsatz in der Bundesrepublik als seine erste und vielleicht auch seine einzige Chance, Karriere zu machen und in den Westen zu kommen. Binnen drei Wochen musste er sich entscheiden. Von dem Augenblick an, da er ja gesagt hatte, führte der KGB Regie in seinem Leben: brutal und rücksichtslos. Mit dem ersten Einsatz begann die typische »deformation professionnelle« des KGB-Offiziers Franz Becker: Charakter, Intellekt, Sinneswahrnehmungen und Realitätsorientierung verändern sich allmählich. Robert Gates, ein früherer Direktor des US-Geheimdienstes CIA, hat die Optik der Agenten so beschrieben: »Ein Geheimdienst blickt durch ein einzigartiges und düsteres Prisma auf die Welt. Wenn ein Mitarbeiter Blumen riecht, dann schaut er sich nach einem Sarg um.«

Ein bis zwei Jahre, so hatte man ihm gesagt, sollte er in der Bundesrepublik nach »interessanten Personen« Ausschau halten, sobald er sich in der neuen Identität etabliert habe. Bei seiner ersten Weststation Detmold fand er als Hilfsarbeiter in einer Sargfabrik einen Job, bis er in Bonn mit einem gefälschten DDR-Abiturzeugnis (der echte Franz Becker ist fast An­alphabet!) das Pädagogik-Studium begann. Seiner jungen Frau in Ostberlin log er vor, in Moskau zu studieren. Alle Briefe, die er ihr aus Bonn nach Ostberlin schrieb, wurden über Moskau geschickt. Wenn er sie in den Semesterferien besuchte, musste er auf Umwegen über seinen vorgeblichen Studienort anreisen, ihr Erlebnisse aus der Sowjetunion berichten und Souvenirs made in UdSSR als Beleg mitbringen.

Als Franz Becker der sechs Jahre älteren Margret H. begegnet, studiert er tatsächlich, als Sonderfach Politikwissenschaften. Er engagiert sich im Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) und in der Fachschaft, wo er für politische Bildung zuständig ist. Kommilitonen von früher werden sich noch Jahre später an seine Aktivitäten an der Hochschule erinnern. Unter anderem beschafft er Studentinnen Adressen von Ärzten, die auch unverheirateten Frauen die Pille verschreiben – Ende der 60er Jahre keine Selbstverständlichkeit. Aus gleichem Anlass organisiert er eine Studentendemonstration in Düsseldorf.

Das offene, wenn nicht gar öffentliche Leben des Studenten Franz B. wechselt nach den Vorlesungen und den Aufgaben beim AStA in ein verborgenes Doppelspiel – unter anderem mit Margret H. aus der Nachbarschaft. War schon das erste Treffen an der Telefonzelle, wie Jahre später Ermittler und Richter vermuten, eine Inszenierung? Ein abgekartetes Spiel? Ein raffiniert als Zufall getarntes erstes Rendezvous, bei dem ein auf die Bedürfnisse seines Opfers sorgfältig ausgewählter und abgerichteter Romeo seine vorab geheimdienstlich ermittelte Julia trifft? Margret H. und Franz Becker sprechen von echtem Zufall. Die beiden passen freilich so gut zusammen, dass jede Führungsstelle eigentlich stolz sein müsste, hätte sie das Paar nach dem üblichen Muster zusammengeführt.

Frau H. erinnert sich, Monate nach dem ersten Treffen mit ihm über ihren Arbeitsplatz gesprochen und dabei bemerkt zu haben: »Als ich Bundespräsidialamt sagte, da hat es bei ihm Klick gemacht.« Franz Becker pflichtet ihr bei und behauptet gar, der KGB schien zunächst gar nicht so interessiert, als er Meldung über den Job seiner Bekannten machte: Der Geheimdienst hatte das Bundespräsidialamt angeblich als »minderwertiges Objekt« eingestuft. Die Führungsstelle sei erst dann wie elektrisiert gewesen, als er Fakten über die Rolle des Amtes und die dort zusammenfließenden Informationswege aus allen Ministerien und dem Bundeskanzleramt nachgeliefert habe. Ausgerechnet einer von Beckers Professoren, der gelegentlich für den Bundespräsidenten tätig war, hatte dem KGB-Agenten Nachhilfe in Organisationsstrukturen und Aufgabenverteilung des Bundespräsidialamtes gegeben. Als es danach auch beim KGB geklickt hat, muss sich der Agent Franz B. auf Befehl um seine Geliebte kümmern. Nach zwei Jahren beginnt sich die Beziehung allmählich zu wandeln. Der Reiz des Neuen hat sich verflüchtigt, die erotische Spannung flaut ab. Aus der Liebe entwickelt sich eine tiefe Freundschaft; Margret H. nennt es ein »Lebensverhältnis«.

»Es gibt ein Codewort zum Öffnen von Tresoren: Liebe«: So warnt seit Jahren der Verfassungsschutz mit einem Plakat, auf dem ein Paar im Schatten eines Baumes lagert. »Es fängt immer an, wie es immer anfangt …« Doch der Kontrast zwischen diesen jungen schönen Menschen und den Vorstellungen der Sekretärinnen in Bonner Ministerien von Agentinnen könnte nicht größer sein. Margret H. hat diese Plakate gesehen und auch die Filme des Verfassungsschutzes, in denen Sekretärinnen über ihre üblen Erfahrungen berichten und von den Maschen der Romeos erzählen. Bei diesen Aufklärungsstreifen hat Margret H. gemeinsam mit ihren Kolleginnen über die so simpel wirkenden Tricks nur milde gelächelt. Alle waren sich einig: Keine von ihnen würde sich jemals von einem solchen Typen einwickeln lassen, zu durchsichtig sei das ganze Spiel.

Margret H., damals schon mit Franz Becker liiert, erzählt ihm daheim von diesem Film – und beide amüsieren sich köstlich über die Geschichte vom bösen Agenten, der in einem Café eine zufällige Begegnung mit einer ahnungslosen Sekretärin aus dem Auswärtigen Amt in Szene setzt und sie unter Vortäuschung ewiger Liebe zur Spionage unter falscher Flagge verführt. »Ich würde nie auf einen Romeo hereinfallen«, gesteht sie dem »schönen Franz«, wie Frauen gern den immer schick gekleideten KGB-Mann nennen. Und er wird 30 Jahre später beteuern, nie als Romeo auf sie angesetzt gewesen zu sein: »Der Befehl, Margret als Agentin zu führen, kam erst später.«

Als Franz Becker anfängt, Margret H. weisungsgemäß nach Vorgesetzten und Kolleginnen im Bundespräsidialamt auszufragen, schöpft sie keinen Verdacht, wertet seine Neugier als Interesse an ihrem Beruf. Sie vertraut ihm, glaubt ihm, liebt ihn. Die Sekretärin und Hilfssachbearbeiterin für Geheimschutzsachen kennt zwar die verhängnisvolle Affäre der Helge B., Vorlage für den von ihr belächelten Informationsfilm, und die Tragödie der Leonore Sütterlin, die sich im Gefängnis erhängte. Später, als sie sich immer tiefer in das konspirative Gewerbe verstricken lässt, es fast professionell betreibt, sind ihr auch die Geschichten der Gerda O. aus dem Auswärtigen Amt und der Dagmar K.-S. (Bundeskanzleramt) bekannt, beide Opfer desselben DDR-Agenten. Sie weiß von den Dramen der Renate L. (Verteidigungsministerium) und der Ingrid G. (Auswärtiges Amt und ­NATO­-Hauptquartier).

Mehrmals hat der Geheimschutzbeauftragte Frau H. belehrt, pflichtbewusst liest sie die Informationsblätter, die der Verfassungsschutz sechsmal im Jahr mit aktuellen Beispielen zur Warnung und Abschreckung unter Geheimnisträgern verteilt. Wahrscheinlich schmückt eines der kleinen Geheimschutzgeschenke ihren Schreibtisch, Notizzettel oder Bleistiftanspitzer mit den Telefonnummern der Verfassungsschützer und der Warnung »Spionage ist ein Teufelskreis. Wir helfen raus. Dazu ist es nie zu spät«. Und sicher hat sie geschmunzelt über den in Bonner Behörden allgegenwärtigen Aufkleber mit dem geheimnisvoll blickenden Blondchen und der törichten Frage: »Das Lächeln der Spionage?«

Margret H. fühlt sich nicht angesprochen. Was hat denn das mit ihr zu tun und dem ehrgeizigen Studenten, den sie liebt und für den sie sich beim Hochschulförderausschuss zur Fortsetzung der Studienförderung (»Honnefer Modell«) als Adressbürgin zur Verfügung stellt? Franz Becker wird drei Jahrzehnte später sagen, dass er sie nie wegen des Stipendiums um einen solchen Gefallen gebeten hätte, wenn er sie damals schon zum Spionieren hätte verführen wollen: »Das wäre ein unverzeihlicher Kunstfehler gewesen.«

Für Margret H. haben die Warnungen vor Spionen überhaupt nichts mit ihrem Freund zu tun, der sich ihr ja offen als DDR-Flüchtling zu erkennen gegeben hat und für den sie auf einer Schreibmaschine des Bundespräsidialamtes die Diplomarbeit tippt: »Die Oktoberrevolution von 1917 und ihre Behandlung im Unterricht der DDR«.

Sie lacht ungläubig, als ihre Freundin Maria G. wiederholt Warnungen ihres jüngeren Bruders übermittelt: »Pass auf, sag deiner Margret, dass der Franz typisch ist für Männer, die rübergeschleust werden, um in Bonn Sekretärinnen zu betören.« Der junge Mann hatte Zeitungsberichte über die Romeo-Masche östlicher Agenten gelesen und sie mit den Schilderungen vom Freund der Margret H. verglichen. Bei ihm schrillten alle Alarmglocken, nachdem die sonst so zurückhaltende Margret H. der gleichaltrigen Maria G. empfohlen hatte: »Schaff dir auch einen jüngeren Mann an, da lebt man als Frau wieder auf.« Als sie drei Jahre nach ihrer Inhaftierung vor der Kamera eines Teams des Bundesamtes für Verfassungsschutz über sich und Franz Becker Auskunft gibt, um andere zu warnen, sagt sie: »Außenstehende haben Dinge gesehen, die ich nicht sehen wollte. Wenn man selbst beteiligt ist, sieht man sie nicht. Ich habe sie verdrängt.«

Franz Becker ist in den ersten Jahren ihrer Beziehung immer für sie da, wenn er da ist, und nicht gerade, wie in den Semesterferien, bei seiner Frau in Ostberlin oder sonst wo. Margret H. fühlt sich geborgen, er hört zu, wie ihr noch niemand zugehört hat. Sie glaubt, dass er sie ernst nimmt und auch das versteht, was andere als Marotte abtun: ihr Interesse an Esoterik, Religion und alternativer Medizin. Sie nimmt seine häufige Abwesenheit hin, auch wenn mitunter das Verhältnis deshalb überschattet wird von Zweifeln und Eifersucht. Sie verreisen zusammen, schmieden Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Dann beginnt er, sie zu vertrösten. Er appelliert an ihr Mitgefühl, spielt den einsamen Wolf, wenn sie über Trennung redet. Andererseits spricht er von seiner geplanten Promotion, wenn sie ihn an die Heiratspläne erinnert.

Anfang 1970 lassen Ereignisse erkennen, dass bei ihm das Doppelleben Spuren hinterlässt. Er fliegt häufiger nach Ostberlin, immer auf Umwegen, wie vorgeschrieben via Moskau. In seiner Ehe kriselt es heftig. Seine Frau hat eine Fehlgeburt erlitten, sie fühlt sich in ihrer Verzweiflung und Not von ihrem Mann alleingelassen. Er muss sie trösten, beruhigen, aber er darf nicht bleiben, will er nicht seinen Job beim KGB verlieren. Als er nach Bonn zu Margret H. zurückkehrt, leidet er an einer Gürtelrose. Seine Geliebte hat wie immer Mitleid und spendet Trost, obwohl er ihr die wahre Ursache seines Kummers und seiner Krankheit verschweigt.

Franz Becker gehört offenbar nicht zu jener Spezies von Geheimagenten, die es angeblich mühelos schaffen, sogar drei bis fünf Identitäten fein säuberlich auseinanderzuhalten und in ihnen zu leben, ohne Anzeichen von Schizophrenie. Wie das zu bewältigen ist, hat Heinz Felfe, KGB-Spion bei Bundesnachrichtendienst in den 60er Jahren, in seinem vor der Wende in der DDR veröffentlichten Buch »Im Dienst des Gegners« beschrieben. Voller Stolz über seinen »Einsatz an der geheimen Front« gibt er die Grundregeln des Überlebens als Agent preis. Er spricht lieber von »Doppeldenken« statt vom Doppelleben: »Das wird zur zweiten Natur, reine Übungssache. Es ist eine ununterbrochene, angespannte Wachsamkeit. Keinen Fehler machen, sich nicht verraten. Diese andauernde Anspannung bringt Verschleiß mit sich. Ich habe mich nie betrunken, damit ich nichts ausplaudere. Die Mandeloperation habe ich mit örtlicher Betäubung machen lassen, keineswegs mit Vollnarkose, das war mir zu brenzlig.«

In der Zeit, als bei Franz Becker im echten Leben sich die Probleme häufen und bei Margret H. die Liebe zu erkalten beginnt, muss er sie Schritt für Schritt als Agentin gewinnen. Das ist selbst für einen Profi harte Arbeit. Margret H. interessiert sich für Esoterik, Yoga, Naturheilkunde, Zahlenmystik, Anthroposophie und andere metaphysische Theorien. Nur für Politik und für das, was bei ihr täglich über den Schreibtisch geht, interessiert sie sich nicht. Jahre später werden im Prozess ihre früheren Vorgesetzten aussagen, dass sie nie durch eine besondere Wissbegier oder Neugier aufgefallen wäre. Ein Abteilungsleiter: »Sie war nicht interessiert genug an den Dingen, mit denen wir zu tun hatten.«

Während Franz Becker erst einmal probehalber versucht, über sie Informationen aus dem Bundespräsidialamt abzuschöpfen, sie auf Themen hinweist, die ihn interessieren, macht sie sich Gedanken über die Beziehung zu ihm. Sie besucht in Köln die Praxis einer »medial begabten Dame«, die aufgrund ihrer Beschreibung des Franz Becker zu dem Ergebnis kommt, er sei Margret H.s »Sohn aus einer früheren Inkarnation«.

Jahre später, als Margret H. ganz offen im Prozess den Versuch schildert, wie sie sich auf den Pfad des Okkultismus gewagt hat, um das Verhältnis zu klären, ergibt sich ein für das Verfahren typischer Dialog zwischen dem Vorsitzenden Richter Klaus Wagner und der Angeklagten. Er beginnt mit dem Hinweis des Richters, dass jeder fünfte Deutsche an eine Seelenwanderung glaube, macht aber sofort klar, dass er nicht dazugehöre. »War das dann nicht transzendentale Blutschande?«, fragt er mit spöttischem Unterton. Doch Margret H. lässt sich nicht provozieren, sie legt kein Glaubensbekenntnis ab, gibt nur zu, sie habe die Auskunft interessant gefunden. Der Satz, der vielleicht erklärt, was in den Jahren danach geschah, warum sie sich trotz Gewissensqualen und einer Schuppenflechte nicht von Franz Becker lösen kann, fällt fast beiläufig: »Die Frau hat mir auch gesagt, dass er immer wieder zu mir zurückkehren wird.«

1971 beendet Franz Becker sein Pädagogikstudium mit dem Diplom in Bonn, er will angeblich in der Schweiz weiterstudieren und sich endlich um die Organisation kümmern, die er so sträflich vernachlässigt habe. Er sei Mitglied einer rechtsgerichteten, geheim operierenden Emigrantengruppe in Südamerika mit einer Zweigstelle in der Schweiz. Dieses Märchen, das Becker seiner konservativen Freundin auftischt, ist nicht gerade originell. KGB und HVA haben Agentinnen in spe gern die Legende von Auswanderern erzählt, wenn sie es für opportun hielten, nicht mit dem wahren Auftraggeber herauszurücken oder eine andere Organisation als Tarnung zu erfinden.

Der stets korrekt auftretende KGB-Agent gibt seiner Freundin nach und nach gezielt Aufträge für »die Organisation«. Er lehrt sie, im Schein einer Stehlampe in ihrem Wohnzimmer Dokumente zu fotografieren und die von ihr stenographierten Aufzeichnungen aus dem Vorzimmer des Abteilungsleiters mit Geheimschrift auf Burda-Schnittmusterbögen oder in die jüngste Ausgabe des »Spiegel« zu übertragen. Und als er ihr sagt, dass sie allen Verwandten und Bekannten mitteilen soll, sie habe die Beziehung zu ihm abgebrochen, gehorcht sie. Später wird ihr das Gericht vorwerfen, sie hätte zu diesem Zeitpunkt erkennen müssen, dass sich hinter der Organisation in Südamerika ein östlicher Geheimdienst verborgen habe.

Margret H. lässt sich auf alles ein, was Franz Becker will, wenn auch widerstrebend. Als er sein Ziel erreicht hat, setzt er sich ab. Angeblich bereitet er sich auf seine Promotion vor, doch was er von 1971 bis 1981 tatsächlich im Auftrag des KGB im westlichen Europa treibt, lässt sich nicht ergründen. Er hält – vielleicht aus Selbstschutz, vielleicht aus Eitelkeit – an einem Teil seiner mindestens zwei Legenden fest. Eine Legende für die Ehefrau in Ostberlin und eine für die Geliebte in Bonn sind aktenkundig: Für Margret H. studiert er in Zürich Politikwissenschaften, was er tatsächlich auch getan haben will. Für sie fährt er oft nach Südamerika, wo er aber nie gewesen ist, auch wenn er ihr von diesen Reisen so wunderschön und detailliert erzählen kann und ihr kleine Geschenke mitzubringen pflegt. Margret H. wird noch Jahre später im Brustton der Überzeugung von diesen Reisen berichten, von seiner gebräunten Haut, von seinen Erschöpfungszuständen, seinen Krankheiten und Wehwehchen nach einem Aufenthalt in den Tropen, wenn er zu ihr zurückgekommen ist.

Für seine Frau, die 1971 eine Tochter zur Welt gebracht hat, hält er sich weiter zu Studienzwecken in Moskau auf. Er kehrt nur in den Semesterferien heim nach Ostberlin, in den Schoß der Familie. Das bittere Erwachen kommt für sie Ende August 1985, nachdem Margret H. in Bonn festgenommen worden ist. In der »Tagesschau« sieht die Frau zusammen mit der inzwischen 14 Jahre alten Tochter Fotos ihres Mannes. Der immer so rührend besorgte Ehemann, der liebevolle Papa wird – wenn man als DDR-Bürger der Propaganda des Klassenfeindes trauen darf – in der Bundesrepublik als KGB-Agent und Führungsoffizier der Margret H. steckbrieflich gesucht. Angeblich lautet sein Name Franz Becker, und nach Ermittlungen der Polizei hat er mit der festgenommenen Sekretärin seit 1968 ein Liebesverhältnis. In der Wohnung der Margret H. in Bonn-Oberkassel, so heißt es weiter, ist noch ein Koffer mit Anzügen des besagten Herrn Becker gefunden worden. Das Bundeskriminalamt bittet um sachdienliche Hinweise.

Die Nachricht trifft Frau und Tochter wie ein Schlag aus dem Dunkeln: keine Warnung, kein Hinweis. Nichts. Fast 20 Jahre lang belogen, betrogen, genauso hinters Licht geführt wie die Geliebte im fernen Bonn. Für zwei Frauen scheint die ganze Welt aus den Fugen geraten: Für Margret H. bei der Festnahme in Bonn, für die Ehefrau von Becker beim Anblick der Fahndungsfotos. Beide wissen nicht mehr, was wahr ist und was erfunden, was Legende, Lebenslüge. Die Frau des falschen Franz versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie überlebt, will sich aber von ihrem Mann trennen. Sie bleibt selbstmordgefährdet, als sie der gemeinsamen Tochter wegen den Gedanken an eine Trennung aufgibt. Margret H. beginnt in der Haft, für sich selbst nach der Wahrheit zu suchen.

Blick zurück nach Bonn 1971. Seit Franz Becker angeblich in Zürich studiert, taucht er etwa alle fünf Monate in Bonn auf, um Material abzuholen. Wenn Margret H. weiß, dass er kommt, schleppt sie zuvor fast wahllos Geheimes und weniger Geheimes mit nach Hause, bearbeitet, präpariert es wie gewünscht und wartet auf ihn. Irgendetwas ergattert sie immer, das Franz Becker dazu animieren wird, wiederzukommen – alle fünf Monate. Ihr Verhalten in diesen Jahren, in denen sie angeblich unschätzbare Dienste für den KGB geleistet hat, gibt zunächst Rätsel auf.

Margret H. sträubt sich heftig und auch erfolgreich dagegen, an das von Franz Becker begehrte Material heranzukommen. Ein Vorgesetzter muss eine ihrer Kolleginnen bitten, klassifizierte Vermerke (VS-vertraulich und VS-geheim) zu tippen, weil Frau H. sich weigert. Später wird sie sagen: »Alles in mir hat sich gewehrt. Ich war blockiert.« Die angebliche Top-Spionin setzt sich in ihrem Vorzimmer mit dem Rücken zur Tür, um den Blick ins Grüne zu genießen, anstatt allzeit auf mögliche Beobachter ihres heimlichen Nebengewerbes gefasst zu sein. »Sie hat sich nie geschützt« oder »Geheimsachen schrieb sie nur, wenn die Pflicht sie rief« oder »Sie ist nicht einmal halbwegs professionell vorgegangen«, haben später im Strafverfahren gegen Margret H. ehemalige Vorgesetzte ausgesagt und sie entlastet, obwohl sie über ihre Agententätigkeit erbost, wenn nicht gar erbittert gewesen sind.

Aber auch die Reaktionen von Franz Becker haben ein gewisses Erstaunen ausgelöst. Er gibt sich teilweise mit Informationen zufrieden, die schon längst in der Zeitung gestanden haben, oder mit Protokollen, wie dem von einem Gespräch zwischen Bundespräsident Carstens und dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko, das selbst das Gericht später als »Gemeinplätze höflicher Art« bewertet. Franz Becker wird Jahre später darüber hinaus behaupten, dass sie prinzipiell nichts geliefert habe, was der KGB nicht ohnehin schon gewusst hätte – erst an ihn, später an eine Kurierin, die jedes Mal aus der Schweiz anreiste.

Irgendwann tritt anderthalb Jahre Funkstille zwischen Margret H. und Franz Becker ein. Angeblich ist er krank, in Wahrheit hat er anderes zu tun. Dann wird er sich wieder ganz brav bei der faulen Agentin H. ankündigen, sie in Bonn besuchen oder sich mit ihr im Ausland treffen, ihr Geld mitbringen, mal ein kleines Schmuckstück, mal eine Münze, um sie bei Laune zu halten. Verkehrte Welt der Spionage? Der Romeo am Gängelband von Julia?

Die Düsseldorfer Richter, die Margret H. wegen Landesverrats in einem besonders schweren Fall verurteilten, hatten sie zwar als »gefährliche Spionin« charakterisiert, gleichzeitig jedoch ihr »kriminelles Tun« als »weit unter ihren Möglichkeiten« eingestuft – nach dem Motto, wenn sie wirklich gewollt hätte, hätte sie dem KGB einen guten Einblick in die Arbeit des Bundessicherheitsrates, VS-Informationen aus dem Verteidigungsministerium und vieles mehr geben können. Von 1972 bis 1985 hatte sie Zugang zu etwa 1700 als Verschlusssachen eingestuften Schriftstücken, wie viel oder wie wenig sie davon weitergegeben hat, bleibt dennoch ungeklärt. Den Gesamtinhalt von elf geheim gehaltenen Vermerken, zu deren Weitergabe sich Margret H. bekannt hat, hat das Gericht als Staatsgeheimnis bewertet und sie deshalb wegen Landesverrats verurteilt.

Warum hat der KGB sie bloß gehätschelt und nie gedrängt, besseres Material zu liefern? Warum hat sich der Romeo überwiegend mit wahllos Zusammengerafftem zufrieden gegeben, obwohl er dabei zunehmend unzufriedener mit seiner Rolle wurde? Franz Becker glaubt heute den Grund dafür zu wissen. Was er behauptet, wird von anderen Kennern der Materie gestützt, die das erst nach der Wende und dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugängliche Material ausgewertet haben: Margret H., aufgrund ihrer Position wahrscheinlich die wichtigste Quelle für den KGB in Bonn, sollte erst im Ernstfall sprudeln – am Tag X, wenn die ­NATO­ den Kalten Krieg mit einem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion beenden würde. Seit den Nachrüstungsdebatten im Westen Ende der 70er Jahre und der Stationierung von Pershing-Raketen in der Bundesrepublik war die sowjetische Regierung von der Idee besessen, die ­NATO­ könne die Staaten des Warschauer Pakts überraschend angreifen. Deshalb sollte bis zu jenem Tag, wenn im Bundespräsidialamt der Verteidigungsfall verkündet würde, die hochkarätige Quelle H. gehegt und gepflegt werden. Sie sollte selbst bestimmen, was sie preisgeben wollte, und nicht etwas tun, was sie gefährdete. Dass Margret H. immer wieder demonstriert hat, eigentlich nicht spionieren, sondern nur Franz Becker wiedersehen zu wollen, hat bei diesem Zukunftskonzept nicht gestört. Becker galt als Garant dafür, dass sie bis zu jenem Tag an ihrem Platz ausharren würde.

Margret H. hatte keine Ahnung von ihrer Schlüsselrolle im Spionagekonzept des KGB. Bis zu ihrer Festnahme ist sie mit sich selbst und ihrem Beruf beschäftigt, gelegentlich auch mit Franz Becker, von dem sie wiederholt versucht loszukommen, es aber nicht schafft. Margret H. lernt andere Männer kennen, Becker wird eifersüchtig, obwohl sie seit Jahren keine intime Beziehung mehr haben. Dennoch: Wenn Becker sich ankündigt, sagt sie Verabredungen ab, belügt ihren neuen Freund. Sie will sich von Becker trennen, aber am Ende kappt sie die Verbindung zu dem anderen. Es ist eine endlose Geschichte, in der sich die Grenzen zwischen Täter und Opfer stets verwischen. Beide bleiben bis zum Ende Marionetten in einem geheimen, bisweilen für Margret H. auch reizvollen, weil verbotenem Spiel.

Als sich Margret H. vor Gericht verantworten muss, klagt sie ihren früheren Geliebten nicht an. Sie macht ihm keine Vorwürfe, um sich selbst zu entlasten. Bar jeglichen Selbstmitleids offenbart sie alles, was sie weiß und was sie zugleich belastet. Sie ist viel mutiger als er, der Jahre später im selben Saal auf der Anklagebank sitzen wird. Manchmal lächelt sie sogar auf eine Frage hin, die schöne Erinnerungen zu wecken scheint. »Er kam doch nur alle fünf Monate«, sagt der Richter. »Immerhin alle fünf Monate«, gibt sie trotzig zur Antwort. Und plötzlich kann man sich in diesem trostlosen Gerichtssaal vorstellen, dass sie die Zeit mit Franz Becker auch genossen hat.

II. Die Masche der Romeos

Die Anmache

Sommer 1957. Nach einem arbeitsreichen Tag im Auswärtigen Amt klingelt es abends an der Wohnungstür von Leonore H. in Bonn-Duisdorf. Ein Mann steht mit einem Strauß roter Rosen davor. Er lächelt und bittet höflich, »mit der Dame sprechen zu dürfen, die ich gestern Abend kennengelernt habe«. Frau H. bedauert, nicht jene Dame zu sein, glaubt an eine Verwechslung und bittet schließlich den offenbar enttäuschten Rosenkavalier herein. Sie findet Gefallen an seiner Gesellschaft, lässt sich die Blumen schenken und nimmt seine Einladung zum Abendessen an.

Leonore H., von Freunden und Bekannten nur Lore genannt, hat so ihrer besten Freundin und Kollegin Ada M. die erste Begegnung mit dem Fotografen Heinz Sütterlin geschildert und von dem »glücklichsten Zufall ihres Lebens« geschwärmt.

Zufall? Glück? Der geflüchtete KGB-Oberstleutnant Jewgenij Runge hat, als er sich im Oktober 1967 der US-Mission stellte und unter anderem das Agenten-Ehepaar Sütterlin der CIA als Morgengabe offerierte, eine andere Variante des ersten Treffens zu Protokoll gegeben.