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Die Aghori gelten als eine der geheimnisvollsten und zugleich radikalsten asketischen Traditionen Indiens. Ihre Rituale am Rand der Gesellschaft – vom Leben auf Verbrennungsplätzen bis hin zum bewussten Überschreiten kultureller Tabus – faszinieren, irritieren und stoßen bis heute auf Unverständnis. Doch hinter den schockierenden Bildern verbirgt sich eine tief verwurzelte Philosophie, die das Ziel verfolgt, alle Gegensätze von Reinheit und Unreinheit, Leben und Tod, Heiligkeit und Profanem zu überwinden. Dieses Buch führt tief in die spirituelle Welt der Aghori ein und verbindet präzise ethnografische Analyse mit lebendigen Einblicken in ihre Rituale, Mythen und Philosophie. Dabei wird nicht nur ihre historische Entwicklung und tantrische Prägung nachvollzogen, sondern auch ihr Einfluss auf westliche Esoterik und die Projektionen einer faszinierten Außenwelt beleuchtet. "Aghori – Zwischen Tabu und Transzendenz" lädt dazu ein, vertraute Vorstellungen von Religion, Spiritualität und menschlichen Grenzen neu zu überdenken – und zeigt, wie radikale Askese zur Erfahrung von Einheit und Transzendenz führen kann.
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Aghori – Zwischen Tabu und Transzendenz
Eine ethnografische Reise in die radikale Spiritualität Indiens
James S. Roberts
Die Ursprünge der Aghori-Tradition sind tief in der indischen religiösen und kulturellen Geschichte verwurzelt, wobei ihre Wurzeln bis zu den frühesten Formen des Hinduismus, insbesondere den Askese-Traditionen, zurückreichen. Die Aghori gelten als eine der radikalsten Sekten, die sich von den traditionellen Wegen der spirituellen Praxis in Indien unterscheiden. Ihr Ursprung liegt vermutlich in der Kapalika-Bewegung, die um das erste Jahrtausend n. Chr. blühte und bekannt für ihre extremen asketischen Praktiken war. Die Kapalikas, deren Name sich von "Kapala" für Schädel ableitet, dienten als Vorläufer für die Aghori und prägten viele ihrer Rituale und Praktiken.
Ein entscheidender Aspekt der historischen Entwicklung der Aghori war die Verschmelzung von Elementen des Tantra und der Shaiva-Tradition. Die Aghori folgen dem Weg des linksgerichteten Tantra, bekannt als Vama Marga, das bewusst soziale und religiöse Normen herausfordert. Diese Praxisform betont die Überwindung der Dualität von Reinheit und Unreinheit, Leben und Tod, sowie von Gut und Böse. Durch diese radikale Form des Glaubens und der Praktiken erhoffen sich die Aghori, höhere spirituelle Erkenntnisse zu erlangen.
Historisch gesehen begannen die Aghori, sich als eine eigenständige Gruppe im 17. Jahrhundert zu etablieren, als der Hinduismus in Indien eine Phase der Reform und Erneuerung erlebte. Diese Periode war geprägt von der Suche nach tieferem Verständnis und neuen Wegen der spirituellen Erleuchtung. In dieser Zeit wurde die Figur von Baba Keenaram, einem angesehenen Aghori-Guru, zentral für die Konsolidierung der Aghori-Tradition. Seine Lehren und sein Leben sind bis heute von großer Bedeutung für die Anhänger der Aghori.
Baba Keenaram wird oft als der Begründer der modernen Aghori angesehen. Es wird angenommen, dass er im 17. Jahrhundert gelebt hat und seine Lehren dazu beigetragen haben, die Praktiken und Philosophie der Aghori zu systematisieren. In der Stadt Varanasi, die als spirituelles Zentrum der Aghori gilt, befinden sich zahlreiche Stätten, die mit Baba Keenaram in Verbindung gebracht werden. Seine Anhänger verehren ihn als Inkarnation von Lord Shiva, was die zentrale Rolle dieser Gottheit im Glaubenssystem der Aghori unterstreicht.
Die historische Entwicklung der Aghori war auch von ihrer Interaktion mit der Gesellschaft und anderen religiösen Gruppen geprägt. Aufgrund ihrer unkonventionellen Praktiken standen sie oft am Rande der Gesellschaft und wurden sowohl gefürchtet als auch respektiert. Diese Ambivalenz gegenüber den Aghori spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie sie in historischen Texten dargestellt werden. Sie wurden oft als mächtige Mystiker beschrieben, die jenseits der normalen gesellschaftlichen Regeln operierten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der historischen Entwicklung der Aghori ist ihre Rolle in der Weitergabe von mündlichen Traditionen und esoterischem Wissen. Durch die Jahrhunderte haben sie ihre Lehren und Praktiken mündlich überliefert, oft in Form von Geschichten, Liedern und Ritualen. Diese Praxis hat ihnen geholfen, ihre Tradition in einer sich ständig verändernden sozialen und religiösen Landschaft zu bewahren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aghori-Tradition eine komplexe und facettenreiche Geschichte hat, die von der Integration vielfältiger religiöser Strömungen und der ständigen Herausforderung gesellschaftlicher Normen geprägt ist. Ihre Ursprünge und historische Entwicklung bieten einen faszinierenden Einblick in die dynamische Welt des indischen Spirituellen und die unaufhörliche Suche des Menschen nach Transzendenz und Erleuchtung.
Die Aghori sind eine der faszinierendsten und zugleich am meisten missverstandenen Gruppen innerhalb des Hinduismus. Ihre Rolle innerhalb der hinduistischen Welt ist komplex und wird oft durch ihre radikalen Praktiken und ihre transgressive Askese charakterisiert. Diese Praktiken stellen jedoch nur einen Teil ihres umfassenden spirituellen Engagements dar, das tief in den traditionellen hinduistischen Glaubenssystemen verwurzelt ist. Um die Rolle der Aghori im Hinduismus vollständig zu verstehen, ist es notwendig, ihre Beziehung zu anderen asketischen Traditionen zu untersuchen und ihre einzigartigen Beiträge zur spirituellen Landschaft Indiens zu betrachten.
Der Hinduismus ist eine der ältesten Religionen der Welt und zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Vielfalt an Glaubensrichtungen, Ritualen und Praktiken aus. Innerhalb dieser Vielfalt existieren zahlreiche Asketenorden, die verschiedene Wege der Entsagung und spirituellen Suche verfolgen. Die Aghori sind in dieser Hinsicht einzigartig, denn sie suchen das Göttliche in der Umarmung dessen, was andere als unrein oder tabu betrachten. Dies steht im krassen Gegensatz zu den Praktiken anderer asketischer Gruppen wie den Sannyasins oder den Naga Sadhus, die sich oft von weltlichen Freuden und Unreinheiten fernhalten.
Die Aghori folgen der Lehre von Shiva, dem Zerstörer und Erneuerer, und sehen in ihm das ultimative Ziel ihrer spirituellen Reise. Ihre Philosophie basiert auf der Überzeugung, dass das Göttliche in allem existiert, auch in den als unrein geltenden Aspekten der Welt. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu der dualistischen Herangehensweise, die in vielen anderen hinduistischen Traditionen vorherrscht, wo Reinheit und Unreinheit klar voneinander getrennt sind. Die Aghori glauben, dass die Überwindung dieser dualistischen Sichtweise zur Erleuchtung führt.
Im Vergleich zu anderen Asketen praktizieren die Aghori eine extreme Form der Askese, die oft mit Schock und Unverständnis betrachtet wird. Sie sind bekannt für ihre Rituale, die den Umgang mit Tod und Verfall beinhalten, wie das Meditieren auf den Verbrennungsstätten oder das Tragen von Totenschädeln. Diese Praktiken sind nicht nur symbolisch, sondern auch ein Mittel zur Transzendenz der Angst vor dem Tod und zur direkten Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens.
Die Beziehung der Aghori zu anderen Asketen ist komplex und vielschichtig. Während sie oft als Außenseiter betrachtet werden, teilen sie dennoch viele Grundüberzeugungen mit anderen hinduistischen Asketen, wie das Streben nach Moksha, der Befreiung von den Zyklen von Geburt und Wiedergeburt. Die Aghori unterscheiden sich jedoch durch ihren Glauben, dass Moksha durch die Akzeptanz und das Erleben aller Facetten der Existenz erreicht werden kann, anstatt durch deren Ablehnung.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Aghori-Tradition ist ihre Beziehung zur tantrischen Philosophie. Während Tantra oft mit sexuellen Ritualen in Verbindung gebracht wird, ist es in Wirklichkeit eine umfassende spirituelle Disziplin, die das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrung umarmt. Die Aghori verwenden tantrische Praktiken, um die Grenzen des Bewusstseins zu erweitern und das Göttliche in jeder Erfahrung zu erkennen.
Es wäre unvollständig, über die Rolle der Aghori im Hinduismus zu sprechen, ohne ihre soziale und kulturelle Bedeutung zu erwähnen. Obwohl sie oft isoliert leben, haben sie einen Einfluss auf die Gesellschaft, der weit über ihre numerische Stärke hinausgeht. Ihre Praktiken stellen eine ständige Herausforderung für konventionelle Vorstellungen von Reinheit und Heiligkeit dar und fordern die Gesellschaft auf, ihre Vorurteile zu hinterfragen.
Insgesamt sind die Aghori ein lebendiges Beispiel für die Vielfalt und Tiefe der hinduistischen Spiritualität. Während sie oft als extrem oder abweichend angesehen werden, bieten sie doch einen einzigartigen Einblick in die Möglichkeiten der spirituellen Transformation. Ihre Beziehung zu anderen Asketen und ihre Rolle im größeren hinduistischen Kontext sind Themen, die weiterhin faszinierende und wichtige Felder der Erforschung darstellen.
Die Aghori sind eine der faszinierendsten und zugleich am meisten missverstandenen Asketengruppen innerhalb der hinduistischen Tradition. Ihre Ursprünge sind tief in der Mythologie und den Legenden Indiens verwurzelt, die einerseits von mystischer Erhabenheit und andererseits von furchteinflößender Transgression geprägt sind. Um das Wesen und die Praktiken der Aghori zu verstehen, ist es unerlässlich, sich mit den mythologischen Hintergründen und legendenhaften Ursprüngen dieser Gruppe auseinanderzusetzen. Diese Erzählungen helfen nicht nur, die symbolische Bedeutung ihrer Rituale zu entschlüsseln, sondern auch, die philosophischen Grundlagen ihrer Lebensweise zu begreifen.
Im Zentrum der mythologischen Geschichten über die Aghori steht die Figur des Gottes Shiva, der in der hinduistischen Mythologie eine äußerst ambivalente Rolle einnimmt. Shiva wird oft als der Zerstörer betrachtet, aber auch als der Gott der Transformation und Erneuerung. Diese dualistische Natur von Shiva spiegelt sich in den Praktiken der Aghori wider, die den Tod nicht als Endpunkt, sondern als einen Übergang zu neuem Leben betrachten. Eine der bekanntesten Legenden berichtet von Shivas Tanz, dem Tandava, der die Zerstörung des Universums symbolisiert, um den Weg für seine Erneuerung zu ebnen.
Die Aghori sehen in Shiva das göttliche Vorbild für ihre Lebensweise. Sie verehren ihn nicht nur als den Zerstörer von Illusionen und weltlichen Bindungen, sondern auch als denjenigen, der die Grenzen zwischen Leben und Tod überwindet. In der Legende von Kali, einer weiteren bedeutenden Göttin im Aghori-Pantheon, wird diese Thematik vertieft. Kali, die oft als Verkörperung der göttlichen Mutter und als Zerstörerin von Dämonen dargestellt wird, repräsentiert die Kraft der Transformation und die Überwindung der Dualität von Reinheit und Unreinheit.
Ein weiterer wichtiger mythologischer Aspekt ist die Verbindung der Aghori mit den Smashana, den Verbrennungsstätten. In den Mythen wird oft erzählt, dass Shiva auf den Verbrennungsplätzen tanzt und meditiert, um die Vergänglichkeit des Lebens zu betonen und die Angst vor dem Tod zu überwinden. Diese Erzählung dient den Aghori als Grundlage für ihre Praxis, auf den Verbrennungsstätten zu leben und zu meditieren, wodurch sie eine direkte Konfrontation mit dem Tod und dem Prozess der Verwesung suchen.
Die legendenhaften Ursprünge der Aghori sind auch eng mit der Figur des Dattatreya verbunden, der als Inkarnation der drei Hauptgötter des Hinduismus – Brahma, Vishnu und Shiva – gilt. Dattatreya, oft als Avadhuta (derjenige, der die sozialen Normen überwindet) dargestellt, wird als einer der ersten Lehrer der Aghori angesehen. In den Geschichten über Dattatreya wird sein wanderndes Leben und seine Ablehnung von gesellschaftlichen Konventionen betont, was die Aghori als Ausdruck des höchsten spirituellen Pfades interpretieren.
Schließlich ist die Legende von Kapila von Bedeutung, einem Weisen, der als Begründer der Sankhya-Philosophie gilt. Kapila wird in einigen Überlieferungen als ein früher Aghori betrachtet, der die transgressive Praktik der Meditation auf Leichen begann. Diese Praxis wird als Weg zur Erlangung von übernatürlichen Kräften und zur tiefen spirituellen Erkenntnis angesehen, indem die Aghori die extremen Aspekte der Existenz erforschen und die Illusion der Dualität überwinden.
Zusammenfassend bieten die mythologischen Hintergründe und legendenhaften Ursprünge der Aghori wertvolle Einblicke in die symbolische und philosophische Grundlage ihrer Praktiken. Durch das Studium dieser Mythen kann man ein tieferes Verständnis für die Aghori-Kultur und ihre einzigartige Sicht auf Leben und Tod gewinnen. Diese Geschichten sind nicht nur Ausdruck einer reichen spirituellen Tradition, sondern auch eine Einladung, die Grenzen des konventionellen Denkens zu überschreiten und eine neue Perspektive auf das menschliche Dasein zu gewinnen.
Die Aghori, eine der rätselhaftesten und am meisten missverstandenen Sekten innerhalb der hinduistischen Asketen, verehren Shiva nicht nur als ihren Schutzpatron, sondern als die zentrale Gottheit, die ihre gesamte Existenz und Philosophie prägt. Shiva, oft als der "Zerstörer" oder "Transformator" im hinduistischen Dreigestirn der Trimurti bekannt, verkörpert für die Aghori weit mehr als nur das Ende; er ist der Inbegriff des Paradigmenwechsels und der Erneuerung. In der Aghori-Tradition wird Shiva als der Meister der transgressiven Askese verehrt, was seine Anhänger dazu inspiriert, die herkömmlichen Grenzen von Reinheit und Unreinheit zu überschreiten.
Die Aghori betrachten Shiva als die Verkörperung der absoluten Wirklichkeit, die jenseits der dualistischen Konzeptionen von Gut und Böse existiert. Diese Sichtweise ist tief verwurzelt in ihrer spirituellen Praxis, die darauf abzielt, das Ego zu überwinden und die Einheit mit dem Göttlichen zu erreichen. Shiva, der in der Ikonographie oft in Meditation versunken auf dem Kailash-Berg dargestellt wird, symbolisiert den Zustand der vollkommenen Befreiung (moksha), den die Aghori durch ihre rigorosen Praktiken anstreben. In der hinduistischen Mythologie wird Shiva als derjenige beschrieben, der die Welt sowohl kreiert als auch zerstört, was die zyklische Natur der Existenz verkörpert - ein Konzept, das in der Aghori-Philosophie zentral ist.
Die Verbindung der Aghori zu Shiva manifestiert sich auch in ihrer Verehrung des Leichnams als Symbol der Vergänglichkeit und des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod. In der tantrischen Tradition, der die Aghori stark verhaftet sind, wird Shiva oft in seiner Form als Bhairava verehrt, ein furchterregender Aspekt, der den Schrecken und die Akzeptanz des Todes symbolisiert. Der Mythos von Shiva, der aus dem Schädel eines Brahmanen trinkt, wird von den Aghori als Ausdruck der Überwindung sozialer und religiöser Tabus angesehen. Diese Geschichten verdeutlichen Shivas Rolle als Grenzgänger und Zerstörer von Illusionen, der die Aghori dazu inspiriert, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen und die tiefere Wahrheit des Seins zu suchen.
Ein zentraler Aspekt der Aghori-Verehrung von Shiva liegt in der Praxis der Meditation auf dem Leichnam, bekannt als ShavaSadhana, die in direktem Zusammenhang mit Shivas Rolle als Herr der Friedhöfe steht. Hierbei handelt es sich um eine symbolische Annäherung an die Vergänglichkeit und das Akzeptieren des Todes als integralen Bestandteil des Lebens. Diese Praktiken sind nicht nur Ausdruck der Verehrung Shivas, sondern dienen auch als Weg zur Erlangung spiritueller Kräfte (siddhis), die in vielen hinduistischen Traditionen als Mittel zur Befreiung angesehen werden.
Die Überwindung der dualistischen Sichtweise, die Shiva symbolisiert, ist ein entscheidender Bestandteil der Aghori-Philosophie. Während Shiva in der populären hinduistischen Religion oft als Gott der Zerstörung betrachtet wird, sehen die Aghori in ihm den Weg zur Erkenntnis der wahren Natur der Existenz, die alle Gegensätze umfasst und transzendiert. Die Aghori lehnen die Unterscheidung zwischen Reinem und Unreinem ab, ein Konzept, das tief in der Philosophie von Shivas Nataraja-Form verwurzelt ist, die den kosmischen Tanz der Schöpfung und Zerstörung darstellt. Diese Unterscheidungslosigkeit ist der Kern der Aghori-Praxis und veranschaulicht, wie Shiva als Gottheit tiefe Einflüsse auf ihr spirituelles Verständnis und ihre rituellen Praktiken hat.
Zusammenfassend ist Shiva für die Aghori mehr als nur eine Gottheit unter vielen; er ist das absolute Prinzip, das alle Aspekte des Lebens und des Todes umfasst. Seine Verehrung unterstreicht die Aghori-Bemühungen, die Grenzen der konventionellen Spiritualität zu überschreiten und das Unbekannte zu umarmen. Mit Shiva als spirituellem Führer und ultimativer Quelle der Weisheit streben die Aghori danach, die Wahrheit jenseits der Illusionen der weltlichen Existenz zu erkennen und zu leben.
Die Aghori sind in der spirituellen und religiösen Landschaft Indiens eine der faszinierendsten und zugleich am meisten missverstandenen Gruppen. Ihre Verbindung zur tantrischen Philosophie ist sowohl tiefgründig als auch komplex, da sie sich intensiv mit der Idee der Transzendenz durch das Überschreiten gesellschaftlicher und spiritueller Normen auseinandersetzt. Diese Verbindung zur tantrischen Philosophie ist nicht nur eine theoretische, sondern auch eine gelebte Praxis, die den Kern ihrer Existenz und ihrer rituellen Praktiken ausmacht.
Tantra, oft missinterpretiert im Westen als bloße sexuelle Praxis, ist in Wirklichkeit ein umfassendes spirituelles System, das die Einheit aller Gegensätze im Universum betont. Es anerkennt die Dualität und strebt danach, diese zu überwinden, um eine höhere Wahrheit zu erreichen. Die Aghori, die sich als radikale Tantriker verstehen, verkörpern diese Philosophie durch ihre Rituale, die oft Tabus brechen. Diese Rituale umfassen Praktiken, die gewöhnliche Menschen als abstoßend empfinden könnten, wie etwa Meditationen auf Leichenplätzen oder das Essen von Fleisch von verstorbenen Tieren, was jedoch im Kontext ihrer Glaubenssysteme symbolisch und transzendent ist.
Die Aghori-Glaubenslehre wurzelt in der Vorstellung, dass alles in der Welt eine Manifestation des Göttlichen ist und dass es keine inhärente Unreinheit gibt. Diese Philosophie stammt direkt aus den tantrischen Lehren, die die illusorische Natur von Dualität und Trennung betonen. In den Texten der Tantras wird häufig betont, dass das Göttliche in allen Aspekten der Existenz zu finden ist und dass durch die bewusste und kontrollierte Erfahrung von Tabus und Extremen eine spirituelle Erleuchtung erreicht werden kann. Diese Herangehensweise findet sich auch in den Schriften des Kularnava Tantra, einem der maßgeblichen tantrischen Texte, der die Wichtigkeit der Überwindung von Dualitäten beschreibt.
Ein weiterer zentraler Aspekt der tantrischen Philosophie, der in den Praktiken der Aghori reflektiert wird, ist die Vereinigung von Shiva und Shakti, den männlichen und weiblichen Prinzipien des Universums. Diese Vereinigung wird symbolisch in den Aghori-Ritualen dargestellt, die oft die Integration von gegensätzlichen Elementen als Mittel zur spirituellen Ganzheit nutzen. Die Aghori sehen in Shiva ihren Hauptgott und verehren ihn in seiner Form als den Herrn der Zerstörung und Erneuerung, was die zyklische Natur des Lebens und des Universums widerspiegelt.
Die Aghori sind für ihre unorthodoxen Methoden bekannt, die auf der tantrischen Vorstellung basieren, dass die direkte Konfrontation mit dem Tod und der Vergänglichkeit zu spiritueller Erleuchtung führen kann. In der tantrischen Tradition spielt der Tod eine zentrale Rolle, indem er als Tor zur Transzendenz und als Mittel zur Überwindung von Maya, der Illusion der Welt, betrachtet wird. Durch die Rituale, die Tod und Verwesung beinhalten, streben die Aghori danach, sich von den Fesseln der materiellen Welt zu befreien und die höchste Form der Erkenntnis zu erlangen.
Die Verbindung der Aghori zur tantrischen Philosophie ist somit nicht nur eine theoretische Übereinstimmung, sondern eine lebendige Praxis, die auf radikaler Akzeptanz der Welt in all ihren Facetten basiert. Diese Philosophie fordert die Gläubigen heraus, ihre eigenen Grenzen zu hinterfragen und die Einheit von Körper und Geist sowie die Einheit von Leben und Tod zu erfahren. Indem die Aghori die tantrischen Prinzipien auf extreme Weise verkörpern, bieten sie einen einzigartigen Einblick in die Möglichkeiten der spirituellen Praxis und die transformative Kraft der Akzeptanz des gesamten Spektrums der menschlichen Erfahrung.
Die Aghori und ihre Praktiken bleiben ein faszinierendes Thema für Anthropologen, Religionswissenschaftler und spirituelle Sucher gleichermaßen. Ihre Verbindung zur tantrischen Philosophie zeigt, wie alte Weisheiten und spirituelle Praktiken in der Lage sind, die Grenzen des traditionellen Denkens zu überschreiten und neue Wege des Verständnisses und der Erleuchtung zu eröffnen.
Die Aghori, eine Gruppe von Asketen, die oft als die extremsten innerhalb der hinduistischen Tradition betrachtet werden, sind tief in der kulturellen und sozialen Landschaft Indiens verwurzelt. Ihre Praktiken, die für Außenstehende oft schockierend erscheinen mögen, sind das Ergebnis einer komplexen Synthese aus historischen, sozialen und religiösen Einflüssen. Um die Ursprünge der Aghori-Praxis zu verstehen, ist es notwendig, die kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen zu betrachten, die ihre Entwicklung ermöglichten.
Die Entstehung der Aghori-Praxis kann nicht ohne die Betrachtung der allgemeinen Entwicklung des asketischen Lebens in Indien gesehen werden. Seit der vedischen Zeit gab es in Indien eine starke Tradition der Askese, deren Ziel die spirituelle Befreiung war. Diese Tradition, die sich über Jahrtausende entwickelt hat, bot den Aghori den Boden, auf dem ihre einzigartigen Praktiken gedeihen konnten. Die sozialen Strukturen Indiens, die durch das Kastensystem und die damit verbundenen Reinheitsvorstellungen geprägt waren, spielten ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die Aghori stellten sich bewusst gegen diese Normen, indem sie Tabus brachen und die Reinheitsschichten der Gesellschaft hinterfragten. Ihr Leben in der Nähe der Verbrennungsstätten und ihr Umgang mit Leichen sind Ausdruck dieser transgressiven Haltung.
Die Aghori-Praxis ist auch eng mit der Verehrung von Shiva verbunden, der als der Ur-Askese und Zerstörer gilt. In der hinduistischen Mythologie ist Shiva oft mit Orten der Begräbnisrituale und mit Praktiken verbunden, die die Vergänglichkeit des Lebens betonen. Diese mythologischen Elemente haben den Aghori eine göttliche Legitimation ihrer Praktiken verliehen, die in der indischen Gesellschaft tief verwurzelt sind. Die Verehrung Shivas als „Mahakala“, dem großen Zerstörer und Herrn der Zeit, ist ein zentraler Aspekt der Aghori-Philosophie, da sie durch den Tod und die Zerstörung das ewige Leben suchen.
Ein weiterer wesentlicher Einfluss auf die Aghori war die Entwicklung des Tantra, einer spirituellen Bewegung, die in Indien im ersten Jahrtausend nach Christus aufkam. Tantra, mit seiner Betonung auf die Vereinigung der Gegensätze und die Überschreitung von Dualitäten, bot den