Ahnentanz - Heather Graham - E-Book

Ahnentanz E-Book

Heather Graham

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Beschreibung

Ein unerwartetes Erbe - und Mächte, mit denen sie nicht gerechnet haben

Es ist nicht nur einfach eine Plantage in New Orleans, die die Flynn-Brüder geerbt haben … Als die Tarotkartenleserin Kendall Montgomery ihm erzählt, dass die ererbte Plantage von Geistern heimgesucht wird, kann Privatdetektiv Aidan Flynn nur lachen. Aber dann findet er einen menschlichen Knochen in der Erde und später einen weiteren am Fluss. Aidan beginnt, in die dunkle Geschichte der Flynn-Plantage einzutauchen. Bald schon stoßen er und Kendall auf Spuren eines Serienmörders, dessen Opfer spurlos verschwinden - und erkennen, dass ihr eigenes Schicksal besiegelt ist, wenn sie nicht anfangen, an das Unglaubliche zu glauben.

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Seitenzahl: 498

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Heather Graham

Ahnentanz

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Copyright © 2010 by MIRA Taschenbuch

in der CORA Verlag GmbH & Co. KG

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Deadly Night

Copyright © 2008 by Heather Graham Pozzessere

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Stefanie Kruschandl

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Charles William Bush /

Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-287-1 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-286-4

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

www.mira-taschenbuch.de

PROLOG

Die Flynn-Plantage

Bei New Orleans

1863

Da war es …

Sein Zuhause.

Alles, was er kannte und liebte, so nahe.

Sloan Flynn saß auf Pegasus, dem großen Rotschimmel, der ihn von den Schlachtfeldern bei Sharpsburg, Williamsburg und Shiloh hierher getragen hatte, und blickte gen Süden.

Farmland. Reich und fruchtbar, so weit das Auge reichte. Wenn er sich jedoch Richtung Norden wandte …

Zelte über Zelte, in perfekter militärischer Ordnung aufgereiht. Männer reinigten an brennenden Lagerfeuern ihre Waffen. Der eine Anblick zeugte von Schönheit, Frieden und Harmonie. Der andere verhieß ein Land, das im Blut seiner Söhne ertrank, ein Land, das der Zerstörung anheimgegeben war.

Sloan hatte keine Illusionen mehr über den Krieg. Er war abstoßend und brutal. Er bedeutete nicht nur Tod. Er bedeutete versehrte und gebrochene Männer auf dem Schlachtfeld. Er bedeutete einen Mann, der blind umherlief und nach Hilfe rief, weil das Kanonenfeuer ihm das Augenlicht geraubt hatte. Er bedeutete abgetrennte Gliedmaßen und die verstümmelten Körper der Verwundeten, der Toten und der Sterbenden. Und in den schlimmsten Momenten bedeutete der Krieg Angehörige, die über den Leichen ihrer Liebsten weinten.

Jeder Mann, der Krieg noch immer für ein probates Mittel der Konfliktlösung hielt, war nicht in Sharpsburg, Maryland, gewesen. Ebenso wenig hatte er mit angesehen, wie sich der Antietam Creek so rot gefärbt hatte wie das Rote Meer, weil er dermaßen angefüllt war mit Blut, dass er sich wie ein grellrotes Band durch die Landschaft wand.

Sloan hatte den Krieg als Captain der Kavallerie einer Louisiana-Einheit begonnen. Doch das war damals gewesen. Heute gehörte er zur Bürgerwehr, die Jeb Stuart und der Armee von Nord-Virginia unterstand. Sie waren in den Süden geschickt worden, um Gebiete des Mississippi auszukundschaften, doch heute Morgen hatte man sie zurück in den Norden berufen.

Es wäre so leicht, einfach nach Hause zu gehen …

Doch ein Mann brach den Krieg nicht einfach ab. Er wachte nicht auf und sagte den Vorgesetzten oder seinen Männern, dass Krieg etwas Verabscheuungswürdiges sei, das nur Leid hervorbrächte, und dass er deshalb gehen würde. Stattdessen kämpfte er, kämpfte, um zu siegen. Denn Krieg bedeutete auch Siegen. Die empörte Parole von der Verteidigung der Rechte der Einzelstaaten, die einst wie ein Fanfarenstoß in seinem Herzen geschmettert hatte, war zu einem stillen Schluchzen verstummt. Wenn sie zurückgehen könnten – wenn sie alle zurückgehen könnten –, um die Politiker und Kongressabgeordneten auf die Schlachtfelder zu zwingen und sie mit den verstümmelten und blutgetränkten Leichen ihrer Söhne zu konfrontieren, wäre es nicht so weit gekommen.

Doch das war es. Und nun bereiteten sie sich auf eine weitere Schlacht vor. Sie würden nicht versuchen, New Orleans zurückzugewinnen. Nicht jetzt. Sie versammelten sich, um Richtung Norden zu ziehen. General Robert E. Lee befahl Truppen aus dem ganzen Süden in Richtung Norden. Er wollte den Krieg in die Städte tragen, auf die Farmen und in das Weideland der Union. Sloans geliebtes Virginia lag in Trümmern, war wieder und wieder seiner Reichtümer beraubt worden und gezeichnet durch das Gemetzel.

Sehnsüchtig blickte Sloan noch einmal in Richtung seines Zuhauses.

Die Flynn-Plantage gehörte nicht zu den größten und prächtigsten Anwesen. Doch sie war Heimat. Seine Heimat.

Und sie würde dort sein. Fiona MacFarlane. Fiona Fair, wie sie sie gerne neckisch nannten. Tatsächlich allerdings – und wegen des Krieges heimlich – hieß sie Fiona MacFarlane Flynn.

Es war so lange her …

Ihr eigenes Zuhause, Oakwood, war kurz nach Beginn des Kriegs zerstört worden, woraufhin Fiona auf die Flynn-Plantage gekommen war, den Sitz seiner Familie. Die Plantage war nicht prachtvoll – seine Familie war einst ohne Geld und nur mit der Bereitschaft zu arbeiten nach Lousiana gekommen –, doch es gab genug Platz für Fiona. Es würde dort immer einen Platz für sie geben.

Jetzt stand die Plantage kurz vor dem Ruin, wie er wusste. Trotz des Krieges unterhielten er und sein Cousin Brendan, ein Lieutenant der Unionsarmee, einen Briefwechsel. Daher wusste er, dass es nicht gut stand um den Besitz. Seit die Yankees New Orleans eingenommen hatten, hatte Brendan einige Zeit auf der Plantage verbracht, und seine Briefe waren aufrichtig gewesen. Auf dem Schlachtfeld mochten die beiden Männer Todfeinde sein, doch sie waren noch immer Cousins, was die Korrespondenz für beide gefährlich machte. Brendan hatte von „The Beast“ Butler geschrieben, dem örtlichen Befehlshaber der Union, und dass er die Familie gewarnt habe, den Kontakt mit den Unionstruppen um jeden Preis zu vermeiden.

Und wenn diese Warnung von einem Offizier der Union kam … nun, Sloan wollte gar nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.

Er zögerte einen Moment und wusste, dass er nach Norden reiten sollte. Seine Aufklärungsmission hatte ergeben, dass sie heftige Scharmützel zu erwarten hatten, wenn die Truppen sich dem Bezirk näherten.

Doch er war so nah …

So nah an seinem Zuhause.

So nah bei Fiona.

Er könnte sich eine Stunde fortstehlen. Nur eine Stunde.

Eine Schar Soldaten würde einen sofortigen Vergeltungsschlag provozieren, doch er allein konnte unbemerkt durch die Reihen schlüpfen.

Nein. Er befand sich im Krieg und hatte seine Befehle. Doch trotz der Warnungen in seinem Kopf trieb er mit einem Schenkeldruck sein Pferd an und ritt gen Süden.

Bald erstreckte sich die lange, von Eichen beschattete Auffahrt vor ihm. Aus diesem Blickwinkel wirkte das Haus noch immer wunderschön. Elegant, im klassischen Stil errichtet und mit einer durchgehenden, offenen Eingangshalle, damit die Brise, die kühle Luft vom Fluss brachte, besser zirkulieren konnte. Die umlaufenden Veranden im ersten und zweiten Stock waren noch immer mit Efeu bewachsen, durch das einige Blüten durchschimmerten. Als Kind hatte er beim Bau des Hauses mitgeholfen. Es war seine Heimat, und beim bloßen Anblick überkam ihn ein Gefühl von bittersüßer Nostalgie.

Er ritt nicht die vordere Auffahrt hoch, sondern machte einen Umweg durch das angrenzende Gehölz und kam an überwachsenen, verwahrlosten Feldern vorbei. Sloan band Pegasus an einen Baum und bahnte sich dann einen Weg zu den Ställen hinter dem Haus. Ihr Verwalter Henry war dort, ein magerer Mann mit indianischem, haitianischem und vermutlich deutschem Blut, ein freier Farbiger und der wahre Chef des Anwesens seit Sloan überhaupt denken konnte.

„Henry?“, fragte er mit leiser, aber drängender Stimme. Henry, der gerade einen Sattel reparierte, sah lächelnd auf.

Sein Gesicht wirkte alterslos und stark. „Sloan?“ Sloan kam hinter einem Ballen Heu hervor.

Henry ließ die Lederahle fallen und stand auf. Beide Männer umarmten einander. Doch Henry löste sich rasch, seine Miene war düster.

„Da sind ein paar Soldaten oben im Haus“, warnte er Sloan leise. „Sie sind gerade heute Morgen angekommen.“

Sloan runzelte die Stirn. „Soldaten? Warum?“

„Warum?“, wiederholte Henry bitter. „Weil es ihnen nun gehört, nachdem New Orleans sich ergeben hat.“

Sloan verzog das Gesicht. Im Moment wollte er nicht über die Warnung vor „The Beast“ Butler nachdenken. „Was ist mit all den anderen? Ist noch jemand da? Von Ma habe ich gehört. Brendan schrieb mir letzten Sommer, dass sie gestorben ist.“ Selbst wenn er früher davon erfahren hätte, hätte er nicht an ihrem Begräbnis teilnehmen können. Er hatte die Schlacht von Sharpsburg beobachtet. „Aber was ist mit Fiona und Missy und George? Sind sie noch hier?“ Missy und George waren schon ebenso lange bei der Familie wie Henry.

„Ja, sie sind noch hier“, erwiderte Henry und wirkte unangenehm berührt. „Aber Miss Fiona sagte, ich solle hier draußen bleiben und mich fernhalten, bis sie mich ruft.“

Sloan blickte Henry an. Da er Fiona kannte, wusste er sofort, warum sie ihm den Befehl gegeben hatte. Sie befürchtete, dass es nicht gerade die Elitesoldaten der Konföderierten waren, die zum Haus gekommen waren. Sie wusste nicht, was sie von ihr verlangen würden, und wollte nicht Henrys Tod riskieren, falls sie sich selbst verteidigen musste.

Sloan blickte in die Ferne. Henry wirkte noch immer sehr unbehaglich. Was zur Hölle ging hier vor?

„Henry, was ist los? Was zum Teufel ist los?“, verlangte er zu wissen.

„Nichts. Nichts. Es ist nur … nun, es ist lange her, dass Sie zu Hause waren. Fast ein Jahr.“

Sloan starrte ihn an. „Was hat das mit alldem hier zu tun?“, fragte er.

„Brendan … er ist im Moment auch nicht hier. Er ist fort. Wenn er hier ist … Nun, dieser Ort gehört seiner Familie, deswegen lassen die Truppen ihn in Ruhe.“

„Und?“

„Er ist seit einer Weile nicht mehr hier gewesen.“ Henry atmete tief durch. „Das ist nicht gut. Das ist einfach nicht gut. Die Yankees sind eine Sache. Darunter sind gute Männer, und darunter sind schlechte Männer. Doch es gibt auch schlechte Männer von hier. Schlechte Männer, die ohne Grund Böses tun, nur um Geld zu machen. Wenn ich kann, gehe ich in die Stadt und versuche mich umzuhören, was so passiert.“ Henry blickte zur Seite. „Da ist ein Mann aus dem Ort … er findet Mädchen. Findet sie für diesen Offizier. Dann … sieht man sie nie wieder. Ich versuche, ihn zu stören. Manchmal gelingt es mir. Ich höre Dinge, zum Beispiel, wo die Leute hingehen. Und ich versuche, uns aus der Sache rauszuhalten, wenn ich es schon nicht aufhalten kann. Aber es gibt Menschen, die anderen Menschen gerne verraten, was passiert oder wo etwa Frauen allein sind … Miss Fiona, sie will es nicht glauben, doch sie wird Ärger bekommen, wenn sie nicht vorsichtig ist.“

Sloan spürte, wie sein Herzschlag kurz aussetzte. Guter alter Henry, der immer versuchte, Schaden von Fiona abzuwenden. Doch offenbar war sie überzeugt, mit den feindlichen Soldaten selbst fertig werden zu können. Eisige Furcht erfasste ihn.

Er wandte sich um und wollte den Stall verlassen, doch Henry versuchte, ihn aufzuhalten.

Und Henry war ein echter Kämpfer, weshalb Sloan sich umdrehte und ihm einen harten Schlag gegen den Kiefer verpasste. Es tat ihm leid, als Henry mit einem Stöhnen zu Boden sank, doch diese Schlacht musste er allein schlagen. Er würde Henry auf keinen Fall mit hineinziehen.

Sloan nahm seine Flinte, ein Repetiergewehr, das er einem toten Soldaten in Sharpsburg abgenommen hatte, und hastete auf das Haus zu. Noch auf dem Weg vernahm er den Schrei. Und dann sah er, wie sie aus dem Schlafzimmer auf den oberen Balkon gerannt kam.

Fiona.

Ihr schönes tiefrotes Haar wehte hinter ihr her, ihr Gesicht war zu einer Maske der Angst verzerrt und ihr schlanker Körper angespannt.

Ein Mann verfolgte sie. Ein Mann, der über ihre offensichtliche Panik lachte.

Sloan hob das Gewehr auf Schulterhöhe und rannte los.

Die Flynn-Plantage

Gegenwart

Es war hochgradig aufregend. Ein Täuschungsmanöver. Das größte Abenteuer ihres Lebens.

Bewaffnet mit ihrer Taschenlampe schlich Sheila Anderson durch die Dunkelheit. Sie spürte den Brief in ihrer Tasche. Triff mich am Flynn-Haus. Um Mitternacht. Ich kenne nun die Wahrheit hinter der Legende.

Sie wusste nicht, wer ihr den Brief geschickt hatte, doch sie nahm an, dass es ein anderes Mitglied der Historischen Gesellschaft gewesen sein musste – vielleicht sogar ein heimlicher Verehrer. Nun, da Amelia Flynn tot war und die neuen Inhaber der Flynn-Plantage in die Stadt kommen sollten, um ihr Erbe zu beanspruchen, musste die Gesellschaft einen Weg finden, das Haus zu erwerben und zu erhalten. Weder der Staat noch der Bezirk erwiesen sich als hilfreich. Es gab zahlreiche historische Orte rund um New Orleans, und Geld regierte die Welt. Die Gegend stand vor einem großen Aufschwung, und zu viele Unternehmen versuchten, das Land entlang des Flusses aufzukaufen. Die Historische Gesellschaft brauchte einen Durchbruch, einen Hinweis auf die Vergangenheit des Hauses, der wichtig genug war. Dann konnten sie, die die Geschichte und alles, wofür sie stand, liebten, einen Verkauf des Anwesens vielleicht so lange verhindern, bis sie genug Geld aufgetrieben hatten, um es selbst zu erwerben.

Aus diesem Grund war sie hier und schlich durch die Dunkelheit. Sie bahnte sich ihren Weg über den alten Familienfriedhof, wobei sie den Strahl ihrer Taschenlampe abschirmte. Niemand sollte sie dabei ertappen, wie sie auf der Plantage nach der Wahrheit hinter der Legende suchte in der Hoffnung, dass sie genug fände, um die historische Bedeutung des Hauses zu sichern.

Es war beängstigend, aber auch großartig. Besser als ein Film, besser als die Achterbahn. Seit jeher rankten sich Geistergeschichten um die alte Flynn-Plantage. Die Einheimischen behaupteten, sie sei verflucht. Die Flynns hätten sich hier beinahe ausgelöscht, und das war erst der Anfang der Geschichte.

Die Wahrheit hinter der Legende.

Und es war eine großartige Legende. Es ging um eine Frau und zwei Männer. Cousins, die auf unterschiedlichen Seiten kämpften im Angriffskrieg des Nordens, wie man ihn hier im Süden gerne nannte. Die beiden Männer waren sich beim Anwesen begegnet und hatten sich ihretwegen gegenseitig getötet. Sie war ebenfalls umgekommen, und man sagte, dass ihre Schreie noch immer zu hören wären und sie als weiße Gestalt auf der oberen Veranda erscheine.

Sheila hielt inne und ließ die Atmosphäre des Ortes auf sich wirken. Fast fürchtete sie sich davor, durch die Bäume in Richtung des Hauses zu schauen, das dort in tiefer Dunkelheit stand. Jetzt, da Amelia Flynn tot war, wohnte auch ihre Freundin Kendall Montgomery nicht mehr dort. Sie hatte der alten Dame, die jahrzehntelang in dem Haus gelebt hatte und in demselben Raum starb, in dem sie geboren worden war, zuletzt Gesellschaft geleistet.

Die Hitze des Tages war verklungen und hatte sich mit der Feuchtigkeit vom Fluss verbunden, sodass dichter Nebel über das Land zog. Die Grabsteine und Mausoleen erhoben sich dunkel vor den Nebelschwaden, und ein silberner Strahl Mondlicht tanzte über dem Marmor.

Keine Spur von einem Geist, dennoch spürte Sheila, wie ihr Herz raste.

„Sheila, hier drüben!“

Erschrocken fuhr sie zusammen. Aber die Stimme – eine männliche Stimme – war real, und sie lächelte erwartungsfroh. Gleich würde sie erfahren, wer sie für würdig befunden hatte, an einer solch kostbaren historischen Entdeckung teilzuhaben.

Ein Schauer überlief sie. Das war es! Sie half gerade dabei, Geschichte zu schreiben.

„Wo?“, rief sie und lief durch das Gestrüpp, wobei sie den Sarkophagen auswich. Sie stolperte über einen zerbrochenen Grabstein, und die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand. Sie hörte das Glas zerbrechen. Nun blieb ihr nur noch der schmale Lichtstrahl des Mondes, der sein Bestes tat, um den wabernden Nebel zu durchdringen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie auf dem Boden lag und an die Frau in Weiß dachte, die auf der Veranda erschien.

Rasch rappelte sie sich auf, und einen Moment lang überwog ihre Angst die Aufregung.

„Sheila!“

In dem Nebel und der Dunkelheit konnte sie kaum erkennen, wohin sie ging. Obwohl sie den Friedhof gut kannte, weil sie hier oft genug am Tag spazieren gegangen war, fühlte sie sich nun orientierungslos. Vorsichtig bewegte sie sich in die Richtung, aus der sie die Stimme zu hören geglaubt hatte. Sie stolperte erneut, doch diesmal fing sie sich an einem zerfallenen Mausoleum ab.

Eine Wolke schob sich vor den Mond und hüllte sie in völlige Finsternis.

„Sheila?“ Diesmal war es ein Flüstern, aber ganz nah. „Los, hol mich hier raus“, rief sie. „Ich habe meine Taschenlampe verloren.“ Überrascht registrierte sie, wie zittrig ihre Stimme klang, und erkannte, dass sie tatsächlich Angst hatte. Innerhalb weniger Sekunden war die leichte Beklommenheit zu echter Panik angewachsen. Es war dumm gewesen, hierherzukommen, begriff sie. Sie war eine Idiotin. Mitten in der Nacht auf einem entlegenen Friedhof herumzulaufen, nachdem sie einen nicht unterzeichneten Brief erhalten hatte.

Was hatte sie sich dabei gedacht?

Sie würde zurück zum Wagen gehen, nach Hause fahren, ein großes Glas Wein trinken und streng mit sich ins Gericht gehen, dass sie etwas so Idiotisches getan hatte.

„Ich bin doch hier“, sagte die Stimme ungeduldig.

„Scheiß drauf“, murmelte sie.

Als sie sich gerade von der Stimme abwandte, schien ein

riesiger schwarzer Schatten hinter ihr aufzusteigen und sie zu schubsen. Intuitiv streckte sie die Hände aus, um nicht hinzufallen, und berührte etwas, das sich wie rostiges Metall anfühlte. Sie hörte ein quietschendes Geräusch, als das Metall unter ihrem Druck nachgab, und geriet ins Stolpern.

Dann …

Ein weiterer Stoß.

Und dann schrie sie, weil sie fiel …

Die Flynn-Plantage

1863

Brendan Flynn war zurückgekehrt von der Überführung eines Kriegsgefangenen zum Hauptquartier von „The Beast“ Butler in New Orleans, wo er den berüchtigten General aber nicht zu Gesicht bekommen hatte.

Bill Harvey, ein unbedeutender Landstreicher, der sich gut in die Army eingefügt hatte – jedenfalls wenn Gemeinheit, Brutalität und sogar Sadismus einen guten Soldaten ausmachten –, hatte draußen herumlungert, als Brendan eintraf.

„Hallo, Flynn.“

„Bill“, murmelte Brendan, während er die Tür der Villa öffnete, in der Butler sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte.

„Du kennst die Vorschrift, nicht wahr?“ Bill Harvey grinste anzüglich bis über beide Ohren, was immer ein schlechtes Zeichen war.

„Wovon redest du, Bill?“

Bills Grinsen wurde noch breiter, wenn das überhaupt möglich war. „Nun, du weißt doch, was General Butler über diese Frauen sagt, die uns Soldaten anspucken und so. Wenn sie spucken und frech sind, nun, dann sind sie einfach Huren, und wir können sie wie die Huren behandeln, die sie nun mal sind. Und dieses Mädel, das da auf der Flynn-Plantage lebt – sie ist das frechste Miststück von allen.“

„Fiona?“ Zuerst war er aufrichtig verblüfft. Fionas Erziehung ließ es gar nicht zu, dass sie sich bei welcher Gelegenheit auch immer anders als höflich verhielt. Und er hatte sie beschworen, sich von den Soldaten der Union fernzuhalten. Das Anwesen war nicht konfisziert worden, weil er es erben würde, sollte Sloan im Krieg getötet werden. Damit niemand auch nur eine Konfiszierung versuchen würde, hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass er seine Besitzansprüche angemeldet hatte.

„Mm-mm. Ein paar von uns waren letzte Woche am Fluss, um nach Essbarem zu suchen. Und sie war saufrech“, sagte Bill.

Brendan trat einen Schritt näher und schlug dann zu. Wie ein Schraubstock schlossen sich seine Finger um Bills Hals und pressten ihn an die Säule, an die er sich gerade noch gelehnt hatte. Bill krächzte und wand sich, doch er war kein Gegner für Brendan und wusste das auch. „Was zur Hölle …? Dafür kommst du vors Kriegsgericht“, keuchte er.

„Was habt ihr mit ihr gemacht?“, wollte Brendan wissen. „Nichts! Nichts, ich schwöre es!“ Bills Gesicht lief rot an.

Weitere Soldaten hatten sich um sie versammelt, sahen jedoch nur zu. Bill war ein Mistkerl und von niemandem wohlgelitten. Und die meisten Männer fühlten sich abgestoßen von der Grausamkeit, mit der man ihren geschlagenen Brüdern und Schwestern begegnet war.

„Es ist Victor Grebbe … Er ritt heute Nachmittag fort mit … Art Binion.“

Brendan ließ den Mann los. „Wann genau?“, wollte er wissen.

Bill rieb sich den Hals. Sein Gesicht war noch immer gerötet. „Du Scheißkerl …“, begann er.

Innerhalb einer Sekunde hatte Brendan ihn wieder im Würgegriff.

„Vor dreißig Minuten“, keuchte er.

Brendan fluchte. Er konnte auf offiziellem Wege gegen die Sache vorgehen. Doch offizielle Wege würden Fiona nicht retten.

Oder den kleinen Sohn seines Cousins.

Brendan vergaß völlig den Gefangenen, den er übergeben sollte, machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zu seinem Pferd. Mercury war auf der Familienplantage gezogen worden, ebenso wie Sloans getreuer Pegasus. Armes Pferd. Mercury musste erschöpft sein. Doch Brendan trieb ihn kraftvoll an und galoppierte die Auffahrt hinunter nach draußen, wo die Straßen holprig und ausgetreten waren von zu vielen Pferden und zu vielen Männern.

Abgenutzt von zu viel Krieg.

Verdammt war der Krieg, verdammt war der Tod. Verdammt war der Ausnahmezustand, der es Männern erlaubte, Recht und Unrecht, Gnade und Menschlichkeit zu vergessen.

Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er hatte einiges gehört über Victor Grebbe. Hatte gehört, dass er eine kranke Vorliebe für Frauen hegte und dass man einige, die mit ihm gingen, seitdem nie wieder gesehen hatte.

Es war ein langer harter Ritt hinaus zur Plantage.

Er trieb sein Pferd an in der Hoffnung, dass er die Männer überholen konnte, die es auf Vergewaltigung und vielleicht sogar Mord abgesehen hatten, doch sie hatten zu viel Vorsprung und zudem zweifellos frische Pferde.

Und dann schließlich lag das Haus vor ihm. Aus der Ferne wirkte es so ruhig und freundlich, wie seine Familie einst gewesen war. Bis zum Krieg.

Im Krieg ging es um Konflikte, um Territorium.

Aber das hier?Das hier war persönlich.

Während er die eichengesäumte Auffahrt hinaufgaloppierte,

hatte er nur einen Gedanken im Kopf.

Fiona.

Er kam gerade rechtzeitig, um sie vom Balkon stürzen zu sehen. Er hörte ihren Schrei und erblickte den Feind, einen Soldaten der Konföderierten, auf dem Hof. Der Mann feuerte in Richtung Balkon und stieß einen Wutschrei aus, wie Brendan ihn noch nicht gehört hatte. Der Schuss explodierte in der Stille des schönen Frühlingstages, und Brendan tat, was jeder Mann getan hätte.

Er zog seine Waffe.

Und er feuerte auf den Feind.

Erst als dieser sich tödlich verwundet umdrehte, um zurückzufeuern, erkannte er, wer da die graubraune Uniform der Konföderierten trug.

Sloan.

Als die Kugel in seine Brust einschlug, wusste er, dass er den eigenen Cousin getötet hatte. Aber nicht mit Absicht, Gott möge ihm vergeben. Nicht mit Vorsatz und niemals aus Böswilligkeit. Oh, lieber Gott, was für ein Ende für sie alle, verdammt in den Augen all jener, die nach ihnen kommen sollten …

Und welch eine Ironie, dass Sloan ihn ebenfalls getötet hatte. Denn er lag im Sterben, das wusste er.

In diesem Moment erblickte er Victor Grebbe, der oben auf dem Balkon fluchend seine verletzte Schulter hielt, wo Sloans Kugel ihn erwischt hatte.

Brendans eigener Arm war kalt, und er wusste, dass er fast tot war. Seine Lebensgeister schwanden. Dennoch hob er in einer letzten Anstrengung die Waffe und zog mit letzter Kraft den Abzug.

Und er feuerte. Feuerte auf Grebbe, einen Mann, der eine Schande war für jede Uniform, eine Schande für die Menschlichkeit, die Menschheit.

Grebbe, durch den sie alle verdammt waren.

Während er starb, hörte er das angsterfüllte Wehgeschrei des Säuglings im Haus. Sloans Sohn. Sloan hatte niemals erfahren, dass er einen Sohn hatte. Brendan hatte es ihm nicht geschrieben, weil er fand, dass dies Fionas Vorrecht sei. Er betete zu Gott, dass das Kind leben und das furchtbare Schicksal seiner Familie irgendwie ausgleichen möge.

Denn sie waren verdammt zur Erinnerung, verdammt in den Augen der Menschen.

Was war mit den Augen Gottes?

Er würde es nur allzu bald erfahren.

Er konnte nur hoffen, dass Gott – und die Zeit – ihnen allen vergeben würde.

Die Flynn-Plantage

Gegenwart

Sheila kam wieder zu sich. Sie fühlte sich ausgesprochen verwirrt. Sie hörte … Wasser. Und sie nahm einen widerlichen Geruch nach Feuchtigkeit und Verwesung wahr, der an den Wänden zu kleben schien … wo auch immer sie hier lag. Sie blinzelte mehrere Male, doch es war nicht mehr neblig. Es war stockdunkel.

Sie setzte sich auf und versuchte zu ergründen, wo sie sich befand.

Plötzlich sah sie ein Licht. Nur wie ein Nadelstich, und es half nicht. Es war zu grell und stach schmerzhaft in ihren Augen. Sie hob eine Hand, um sich gegen die blendende Helligkeit zu schützen.

Mit der Hand vor den Augen blickte sie zur Seite und keuchte erschrocken auf.

Da war ein Gesicht in der Dunkelheit. Tief liegende Augen, eingesunkene Wangen, verwestes Fleisch. Es schwamm in dem Wasser, das sie umgab, und schien sie anzustarren.

Halloween, ermahnte sie sich. Halloween stand vor der Tür. Zweifellos war dies nur jemandes makabre Vorstellung von einem Streich.

Doch im Innersten wusste sie, dass sie unrecht hatte. Dies hier war echt. Dies war ein menschlicher Kopf, der nicht länger mit dem Körper verbunden war.

Voll nackter Panik wollte sie schreien, doch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, ließ die Stimme sie erstarren.

„Sheila …“, flüsterte sie freundlich, sogar liebevoll.

Und dann … Sie wusste, dass sie nie wieder schreien würde.

1. KAPITEL

New Orleans

Gegenwart

„Es ist ein Knochen“, verkündete Dr. Jon Abel.

„Offensichtlich“, bemerkte Aidan Flynn trocken.

Der Doktor warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Ein Oberschenkelknochen.“

„Und er ist menschlich“, sagte Aidan.

„Ja, das ist ein menschlicher Oberschenkelknochen“, stimmte Dr. Abel zu. Er stand am schlammigen Ufer des Mississippi und schaute achselzuckend in die Gesichter um sich herum. Es ging auf den Abend zu, doch der Tag war heiß und drückend gewesen, und nur eine leichte Brise vom Fluss deutete an, dass es kühler wurde. Jenseits des matschigen Ufers, an dem Aidan den Knochen gefunden hatte, war das aufgewühlte Wasser von einem hässlichen Braun. Ein Moskito summte. Der Doktor schlug auf seinen Arm und schüttelte angewidert den Kopf. Er hatte Außeneinsätzen noch nie viel abgewinnen können.

Aidan hatte darum gebeten, ihn vor Ort zu holen. Da Aidan jedoch nur ein Privatdetektiv war, der gemeinsam mit seinen zwei Brüdern gerade die alte Familienplantage geerbt hatte, war es Hal Vincent gewesen, der Ermittler von der örtlichen Mordkommission, der den Doktor angefordert hatte. Jonas Burningham vom hiesigen FBI hatte sich dem „Fall“ angeschlossen, falls sich herausstellen sollte, dass sie nach einem Serienmörder suchten, der sich das Chaos – und die viel zu häufige Gewalt – im Gefolge von Hurrikan Katrina zunutze machte.

„Wissen Sie“, sagte Abel. „Wir finden noch immer alle möglichen … Überreste, die der Sturm bloßgelegt hat. Das wird noch Jahre so gehen. Wir haben hier nicht immer oberirdisch bestattet, und das ganze Mississippi-Ufer entlang gibt es eine Menge Familiengrabstellen. Unten in Slidell lebt eine Frau, die nach dem Sturm monatelang drei Särge in ihrem Garten hatte. Niemand wusste, wo sie hingehörten, und keine Behörde erklärte sich bereit, sie abzuholen. Also nannte sie sie einfach Tom, Dick und Harry und grüßte sie jedes Mal, wenn sie an ihnen vorbeikam.“ Jon Abel war ein groß gewachsener, dünner Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, der mehr wie ein verrückter Professor wirkte und weniger wie das, was er wirklich war: einer der angesehensten Gerichtsmediziner des Staates. Er sah hinaus auf das braune Wasser und seufzte. „Herrje, dieser Fluss hat mehr Leichen gesehen, als Sie und ich uns überhaupt nur vorstellen können, und man würde zwölf Leben brauchen, um sie alle zu untersuchen.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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