Mörderisches Paradies - Heather Graham - E-Book

Mörderisches Paradies E-Book

Heather Graham

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Beschreibung

Beth Andersen, Managerin in einem exklusiven Yachtclub in Miami, macht am Strand einen grauenhaften Fund: ein menschlicher Schädel. Doch noch bevor sie ihn jemandem zeigen kann, wird er beiseite geschafft. Aber Beth weiß was sie gesehen hat und forscht nach. Ein gefährliches Unterfangen, denn plötzlich fühlt sie sich bei jedem Schritt beobachtet. Wer will verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt? Und was hat der mysteriöse Keith Henson damit zu tun? Ganz offensichtlich sagt er über seine Mission in Florida nicht die Wahrheit. Dennoch wirft Beth in den warmen Nächten auf seiner Yacht alle Vorsicht über Bord ...

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Seitenzahl: 453

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Heather Graham

Mörderisches Paradies

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuchin der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Island

Copyright © 2006 by Heather Graham Pozzessere

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Bernd I. Gutberlet

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-181-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

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PROLOG

“Du willst sie doch nicht schon wieder füttern!”

Molly Monoco sah auf, als sie die Stimme ihres Mannes hörte. Mit viel Hingabe hatte sie in der Kombüse ein reichhaltiges Lunchpaket zusammengestellt. Ted, dem das ganz und gar nicht gefiel, war mit etwas anderem beschäftigt gewesen. Anscheinend fiel ihm jetzt erst auf, wie liebevoll sie in der Kombüse das Essen vorbereitete.

Ihr Mann klang sowohl verärgert als auch abgestoßen.

Denn er wusste, was sie vorhatte.

Sie konnte es ihm wirklich nicht vorwerfen. Sein ganzes Leben hatte Ted hart gearbeitet, damit sie ihren Ruhestand so verbringen konnten, wie sie es taten. Sie stammten beide aus kubanischen Familien, die lange vor den großen Flüchtlingsströmen nach Florida gekommen waren. Auch wenn Molly mit Mädchennamen Rodriguez hieß, war ihr Vorname schon immer Molly gewesen. Genau wie Ted immer schon Theodore geheißen hatte. Ihre Eltern hatten sie in die USA gebracht, weil sie an den amerikanischen Traum glaubten, und ihre Kinder dazu erzogen, sich diesen Traum auch zu erfüllen.

In den ersten Jahren hatte Ted in den Nachtclubs von Miami Schlagzeug gespielt, später arbeitete er als Hilfskellner und Kellner, als Wirt und Tänzer. Irgendwann verliebte er sich in die Salsa-Musik. Daher blieb er beim Schlagzeug und tanzte und kellnerte weiter. Dann, als er genug Geld verdient hatte, machte er ein eigenes Tanzstudio auf – nur für Salsa. Aus dem einen Studio wurden mehrere, die er dann mit gutem Gewinn weiterverkaufte.

Arbeit. Das war Teds ganzes Leben gewesen. Deshalb hatte er wenig Verständnis für Menschen, die sich nicht selbst halfen.

Das verstand Molly durchaus.

Aber auch sie hatte Ideale im Leben und versuchte Menschen zu helfen, die ihre Hilfe vielleicht nicht verdient, sie aber durchaus nötig hatten.

Als gut situierter Pensionär pflegte er seine Hobbys, zu denen die technische Ausrüstung seiner Jacht gehörte. Wenn er damit nicht so beschäftigt gewesen wäre, hätte er schon viel früher bemerkt, was sie vorhatte!

Sie lächelte. Selbst wenn er wütend war wie jetzt, fand sie ihn noch immer genauso attraktiv wie den jungen Mann, in den sie sich vor über vierzig Jahren verliebt hatte. Groß, aber nicht zu groß, und immer noch sehr fit. Das Haar auf seiner Brust war längst grau – wie auch die dünneren Haare auf seinem Kopf –, aber das kümmerte Molly nicht weiter. Nach all den Jahren ihrer Ehe, den Höhen und Tiefen, liebte sie ihn noch genauso wie am ersten Tag – auch wenn er seiner Jacht den wenig attraktiven Namen “Retired!” gegeben hatte, wo sie sich so viele charmantere Namen hätte vorstellen können.

1. KAPITEL

Es war ein Totenschädel.

Das war Beth Anderson klar, nachdem sie Staub, Grashalme und Reste von Palmblättern weggewischt hatte.

“Und?”, fragte Amber ungeduldig.

“Was ist es?”, hakte Kimberly nach, die direkt hinter Amber stand und neugierig über ihre Schulter spähte.

Beth warf ihrer vierzehnjährigen Nichte und deren bester Freundin einen schnellen Blick zu. Vor ein paar Minuten noch hatten sie angeregt geschwatzt wie immer – wie fies sich ihre Freundin Tammy benommen hatte, weil sie ihre eigene Freundin Aubrey so schlecht behandelte. Aubrey suchte jedes Mal bei Amber und Kimberly Trost, wenn Tammy sie mal wieder gedisst hatte. So was machten sie nie, beteuerten die beiden Beth, sie würden Tammy immer direkt ins Gesicht sagen, was sie dachten.

Beth mochte die Mädchen sehr und war gern mit ihnen zusammen. Und es ging ihr immer wieder nahe, dass sie eine Art Ersatzmutter für Amber war, die ihre leibliche Mutter als kleines Mädchen verloren hatte. Längst hatte sie sich daran gewöhnt, endlose Diskussionen mitzuhören über die angesagteste Musik, die angesagtesten Talkshows und die angesagtesten Kinofilme – und wer gut oder schlecht gecastet war, denn die beiden wollten Schauspielerinnen werden.

Aber dieses Mal verstummte ihr unaufhörliches Geschnatter von einem Moment zum nächsten.

Just nachdem Kimberly mit ihrem Zeh an das merkwürdige Objekt gestoßen war.

Als Amber das Ding näher in Augenschein genommen hatte, rief sie ihre Tante.

“Los! Graben Sie es aus!”, spornte Kimberly Beth an.

“Ich … vielleicht besser nicht”, meinte Beth zögernd und biss sich auf die Unterlippe.

Denn es war nicht nur ein Schädel. Auch wenn sie es vor lauter Dreck und Schmutz nicht genau sah und Gras und Sand den Blick behinderten, erkannte sie mehr als einen Knochen.

Da sind sogar noch Haare, dachte Beth und spürte ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

Und Gewebereste.

Auf keinen Fall sollten die Mädchen mehr von dem sehen, was sie da aufgestöbert hatten.

Selbst Beth wurde plötzlich eiskalt. Sie fasste den Schädel nicht an, sondern legte ein Palmblatt darüber, um die Stelle beim nächsten Mal wiederzufinden.

Hastig klopfte sie sich den Dreck von den Händen und stand auf. Sie mussten schnell zurück zu ihrem Bruder, der gerade ihr Zeltlager aufbaute, und einen Funkspruch an die Polizei senden, denn mit dem Handy hatte man in dieser Gegend keinen Empfang.

Als ihr eine Schlagzeile wieder einfiel, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl und es lief ihr kalt über den Rücken. Molly und Ted Monaco – zwei erfahrene Segler wie vom Erdboden verschluckt.

Zuletzt waren die beiden vor Calliope Key gesehen worden, also genau hier.

“Lasst uns Ben holen”, schlug sie vor und versuchte dabei sicherer zu klingen, als sie sich fühlte.

“Es ist ein Schädel, oder?”, fragte Amber.

Sie war ein hübsches Mädchen, groß und schlank, mit haselnussbraunen Augen und langen dunklen Haaren. In ihrem Badedress – ein einigermaßen züchtiger Bikini – zog sie die Aufmerksamkeit von Jungen auf sich, die viel zu alt für sie waren, zumindest nach Beths Meinung. Kimberly war das Gegenteil von Amber: zierlich, blond und mit hellblauen Augen, aber ebenso bildschön.

Manchmal kam es ihr wie eine Belastung vor, für zwei derart hübsche Mädchen verantwortlich zu sein. Sie wusste, dass sie sich meistens zu viele Sorgen machte. Aber die Vorstellung, den Mädchen könnte etwas zustoßen …

Nun gut, sie war die Erwachsene. Verantwortlich. Und nach dieser Verantwortung musste sie jetzt auch handeln.

Allerdings waren sie mehr oder weniger allein auf der Insel, ohne Telefon, ohne Auto, ohne den geringsten Luxus. Ein beliebtes Ziel für die Segler der Gegend, aber abgelegen und verlassen.

Bis nach Miami waren es zwei bis drei Stunden mit laufendem Motor, etwas näher lag Fort Lauderdale, und bis zu den nächstgelegenen Inseln der Bahamas dauerte es nur eine knappe Stunde.

Sie atmete ein und wieder aus. Ganz langsam.

Wie schnell sich die Dinge änderten. Vor ein paar Minuten noch war sie von der Einsamkeit der abgelegenen Insel ganz begeistert gewesen. Ihr gefiel, dass es hier keine Kioske gab, keine Autos oder irgendwelche anderen Boten der Zivilisation.

Aber jetzt …

“Könnte ein Schädel sein”, gab Beth zu und zwang sich zu einem Grinsen. Sie hob die Hände. “Vielleicht auch nicht”, log sie dann. “Deinem Vater wird das nicht gefallen, Amber, wo er diesen Urlaub so lange geplant hat, aber …”

Plötzlich verstummte sie. Obwohl sie weder Schritte noch Blätter rascheln gehört hatte, tauchte auf einmal ein Mann vor ihnen auf.

Er kam aus einem schmalen Pfad, den die typischen Büsche und Palmen der Insel völlig überwucherten.

Gerade diese unberührte Natur machte für viele Segler die Attraktion der Insel aus. Man war fernab von der Welt.

Warum nur alarmierte sie dieser Mann so?

Beth rief sich zur Vernunft und beschloss, dass er genau im richtigen Moment kam. Er hatte ausgeblichenes Haar und war tief gebräunt. Nein, nicht nur gebräunt, sondern geradezu verbrannt. Seine Haut hatte diese tief eingefärbte Farbe, die Segler so oft bekamen. Gut gebaut, aber nicht übermäßig muskulös, trug er ausgewaschene abgeschnittene Jeans und Mokassins ohne Socken. Da seine Füße genauso braun wie der Rest seines Körpers waren, musste er viel Zeit barfuß verbracht haben.

Wie einer dieser Typen, die auf einem Boot von Insel zu Insel fuhren. Einer, der sich auskannte. Der an Orten campte, wo es keinerlei Annehmlichkeiten gab.

Und er trug eine Sonnenbrille.

Warum auch nicht, sagte sie sich. Sie trug eine Sonnenbrille und die Mädchen auch. Warum also kam ihr das verdächtig vor, als hätte er etwas zu verbergen?

Diese komischen Gedanken hatte sie nur, weil sie gerade einen Schädel gefunden hatten. Da war ein wenig Panik ganz normal. So arbeitete die menschliche Psyche nun einmal. Wenn sie unter anderen Umständen auf der Insel jemandem begegnet wäre, hätte sie sich nichts weiter dabei gedacht.

Aber sie hatte vor einer Minute einen Totenschädel entdeckt und sich an das nie aufgeklärte Schicksal von Ted und Molly Monoco erinnert, die auch hier gewesen waren und dann plötzlich verschwunden waren …

Dem Sonnenuntergang entgegensegelten?

Ein Freund hatte die beiden als vermisst gemeldet, nachdem sie ihn nicht wie sonst immer angefunkt hatten.

Und jetzt hatten sie den Schädel genau da gefunden, wo die beiden zuletzt gesehen worden waren.

Deshalb war sie alarmiert und schaute den Mann einfach nur an.

Mit ihren vierzehn Jahren verspürte Amber in einer solchen Situation kein Gefühl von Gefahr. Ihr Vater war einer dieser Segler, daher kannte sie diese Leute und war ihnen gegenüber aufgeschlossen. Sie war nicht dumm oder naiv und bestimmt nicht vertrauensselig – immerhin ging sie in Miami zur Schule. Wenn sie es für notwendig hielt, konnte sie sehr vorsichtig sein.

Aber im Moment hielt sie das nicht für notwendig.

Sie lächelte den Mann an und sagte: “Hi.”

“Hi”, antwortete er.

“Hi”, begrüßte ihn auch Kim.

Amber stupste Beth an. “Äh … hi.”

“Keith Henson”, sagte der Mann und sah sie an, auch wenn sie seine Augen hinter der Sonnenbrille nicht erkannte. Doch sein Gesicht hatte angenehme Züge. Markant, mit hohen Wangenknochen. Und seine Stimme war tief und kraftvoll.

Er hätte ein Sprecher für Werbespots oder ein Model sein können.

“Ich bin Amber Anderson”, sagte ihre Nichte. “Das ist meine Freundin Kim Smith und das ist meine Tante Beth.” Da sie offensichtlich neugierig war, fuhr sie fort: “Wir sind zum Campen hier.”

“Vielleicht”, sagte Beth schnell.

Amber schnitt eine Grimasse. “Ach, komm! Nur weil wir …”

“Wie geht es Ihnen, Mr. Henson?”, fragte Beth und schnitt ihrer Nichte damit das Wort ab. Außerdem machte sie einen Schritt nach vorn, weg von ihrem Fund. “Schön, Sie kennenzulernen. Machen Sie hier Ferien? Wo kommen Sie denn her?”

Prima, das klang ganz harmlos. Als hätte sie keinerlei Hintergedanken.

“Neuankömmling. Bin eigentlich eine Art Rumtreiber”, sagte er lächelnd und reichte ihr seine Hand. Eine schöne Hand, mit langen Fingern, und ebenso braun wie der Rest von ihm. Ordentlich geschnittene saubere Fingernägel. Schwielen auf der Handfläche. Er arbeitete mit seinen Händen. Bestimmt ein echter Segler oder etwas Ähnliches.

Als Beth seine Hand berührte, hatte sie plötzlich die lächerliche Vorstellung, er würde im nächsten Moment ihr Gelenk verrenken und seine Finger eng um ihre Kehle schließen. Diese Angst war so real, dass sie am liebsten den Mädchen befohlen hätte, wegzulaufen.

Er drückte ihre Hand fest, aber nicht zu kräftig. “Amber, Kim”, sagte er dann und schüttelte auch ihnen die Hand.

“Seid ihr hier aus der Gegend?”, fragte er und lächelte die Mädchen an. Anscheinend hatte er Beth schon abgeschrieben.

Schützend schob sie sich zwischen die beiden Mädchen und legte ihre Arme links und rechts um die beiden. Auch wenn sie sich wie ein übervorsichtiger Wachhund vorkam.

“Genau”, sagte Amber.

“Mehr oder weniger jedenfalls”, ergänzte Kim.

“Ich meine, wir sind nicht von der Insel hier, aber wir kommen aus der Gegend”, schloss Amber.

Hensons Lächeln vertiefte sich.

Beth versuchte ruhig zu atmen und sagte sich, dass sie einfach zu viele Fernsehkrimis sah. Es gab keinen Grund für ihren plötzlichen Drang, die Mädchen vor diesem Mann zu beschützen.

Aber es gab auch keinen Grund, ihm einfach so zu vertrauen.

“Wollen Sie auch hier auf der Insel campen?”, fragte Beth.

“Ich weiß noch nicht genau. Ich bin mit ein paar Freunden unterwegs … Wir tauchen und angeln ein bisschen. Wir haben noch nicht entschieden, ob wir Lust auf Campen haben oder nicht.”

“Wo sind denn Ihre Freunde?”, fragte Beth. Klang das zu scharf, überlegte sie sofort.

“Im Moment bin ich allein unterwegs.”

“Ich habe Ihr Schlauchboot gar nicht gesehen”, zog Beth nach. “Eigentlich habe ich überhaupt kein anderes Boot in der Gegend gesehen.”

“Es liegt da draußen”, antwortete er. “Die ‘Sea Serpent’. Sie gehört meinem Freund Lee, und er hält sich für einen echten Abenteurer. Seid ihr ganz allein hierher gesegelt?”

Natürlich konnte das eine ganz harmlose Frage sein, aber nicht für Beths Ohren. Nicht in dieser Situation.

Seit Jahren schwor sie sich, endlich Karateunterricht zu nehmen, hatte bisher aber noch nicht damit angefangen.

In ihrer Handtasche lag immer Pfefferspray. Aber für den Spaziergang mit den Mädchen hatte sie die Tasche natürlich nicht mitgenommen. Sie hatte überhaupt nichts bei sich. Wie die Mädchen trug sie nur ihren Badezeug und Sandalen.

“Seid ihr allein?”, wiederholte Keith Henson höflich.

Höflich oder drohend?

“Aber nein. Wir sind mit meinem Bruder hier. Und einer ganzen Gruppe Leute.”

“Eine ganze …”, begann Amber.

Beth zwickte sie in die Schulter.

“Aua”, entfuhr es Amber.

“Eine ganze Reihe Freunde meines Bruders sind auf dem Weg hierher. Segler, wissen Sie, handfeste Kerle, die Bierflaschen mit den Zähnen aufmachen”, sagte Beth und versuchte dabei, so locker wie möglich zu klingen.

Amber und Kim schauten sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

“Ja, stimmt, die Freunde meines Vaters sind alle solche großen Naturburschen”, sagte Amber und starrte Beth weiter an. “Genau die Art, die ihre Bierflasche mit den Zähnen aufmacht.”

“Ach so”, sagte Kim und klang ziemlich verwirrt.

“Auf jeden Fall werden wir eine größere Gruppe sein. Da sind sogar ein paar Polizisten dabei”, ergänzte Beth und merkte sofort, wie lächerlich das klang.

Höchste Zeit, sich zu verabschieden.

Sie zog ein bisschen an den Schultern der Mädchen und fügte hinzu: “War uns eine Freude, Sie zu treffen. Wir sollten jetzt aber besser zu meinem Bruder zurückgehen, sonst vermisst er uns noch. Außerdem müssen wir ihm helfen, das Camp aufzubauen.”

“Wir laufen uns hier sicher wieder über den Weg”, sagte Kim freundlich zum Abschied.

“Ja, bis später”, meinte Amber.

“Okay, bis dann”, nickte Keith Henson.

Mit einem gezwungenen Lächeln drängte Beth die Mädchen von dem Mann weg in Richtung Strand, wo sie mit ihrem Schlauchboot angelegt hatten. Und wo sie auf ihren Bruder treffen würden, betete sie.

“Tante Beth”, flüsterte Amber. “Was um Himmels willen ist denn los mit dir? Du hast dich diesem Mann gegenüber so merkwürdig verhalten.”

Kimberly räusperte sich. “Also, ehrlich gesagt, waren Sie ganz schön unhöflich”, meinte sie zögernd.

“Er war allein und tauchte urplötzlich auf, als wir gerade einen Schädel entdeckt hatten”, erwiderte Beth – aber erst, nachdem sie sich umgedreht hatte, um sicherzugehen, dass sie außer Hörweite waren.

“Sie haben doch gesagt, Sie wären nicht sicher, ob es wirklich ein Schädel ist”, warf Kim ein.

“Das bin ich auch nicht.”

“Aber es sah doch so aus, als wäre er auch gerade erst hier angekommen”, meinte Amber. “Und der Schädel – es ist einer, stimmt’s? – liegt doch schon eine ganze Weile dort.”

“Verbrecher kommen fast immer zum Tatort zurück”, zitierte Beth aus irgendeiner Krimiserie und beschleunigte ihren Gang.

Amber fing an zu lachen. “Tante Beth! Gut, du hast plötzlich Angst bekommen. Aber hast du eine Waffe bei ihm gesehen?”

2. KAPITEL

“Da drüben ist dein Kerl”, meinte Ben, als sie den Strand erreichten. Er zeigte auf ein Fleckchen Sand.

Und tatsächlich. Zusammen mit zwei anderen Männern, der eine dunkel und südamerikanisch aussehend, der andere mit leuchtend roten Haaren, baute er ein großes Zelt auf. Sie hielten den unausgesprochenen Diskretionsabstand ein, der unter Seglern üblich war, und bauten ihr Lager in einem gewissen Abstand von den anderen auf. Aus dieser Entfernung konnte Beth den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht erkennen.

Trotzdem unterbrach der Rothaarige seine Arbeit, stieß Keith an und zeigte anschließend in ihre Richtung. Dann winkte er herüber.

Ben winkte zurück.

“Willst du deinem neuen Schwarm nicht auch zuwinken?”, unkte Ben.

“Er ist kein Schwarm oder sonst irgendwas”, gab Beth patzig zurück.

“Die Mädels fanden ihn toll.”

“Die Mädchen sind nun mal leicht zu beeindrucken”, meinte sie schnippisch.

Ihr Bruder sah sie neugierig an. “Was ist eigentlich mit dir los?”

“Gar nichts. Aber trotz allem bin ich sicher, dass ich diesen Schädel gesehen habe.”

“Den wir aber nicht haben finden können.”

“Nein”, gab sie zu. “Aber ich schwör dir, da war wirklich etwas. Und dieser Kerl war auch da. Und jetzt ist auf der Lichtung nichts mehr, und dieser Typ ist hier am Strand!”

“Ich kann ja mal rübergehen und ihn fragen, ob er in der Zwischenzeit deinen Schädel ausgegraben hat”, schlug Ben mit ironischem Unterton vor.

Entsetzt starrte sie ihn an. “Und du glaubst ernsthaft, er würde das zugeben?”

“Beth, was soll ich denn deiner Ansicht nach machen?”, fragte Ben.

“Vorsichtig sein.”

“Okay, ich werde vorsichtig sein. Sehr vorsichtig sogar.”

“Ben …”

“Beth, ehrlich, ich habe nicht vergessen, was du gesagt hast. Aber denk du auch an das, was ich gesagt habe. Ich bin durchaus in der Lage, auf meine Familie aufzupassen. Ich bin mir immer bewusst, dass ich für zwei Teenager verantwortlich bin, wenn ich die Mädels irgendwohin mitnehme. Okay, du bist verängstigt und dir ist dieses verschwundene Ehepaar eingefallen. Aber ich lese auch Zeitung. Sie wollten um die ganze Welt segeln, ganz auf sich allein gestellt. Sie haben das als Lebensreise angelegt und wollten einfach planlos durch die Meere schippern.”

“Aber trotzdem … sie sind verschwunden”, beharrte Beth störrisch.

“Es ist erwachsenen Menschen schließlich nicht verboten zu verschwinden, wenn sie das wollen.”

“Aber ihre Freunde machen sich Sorgen.”

“Vielleicht wollten sie ja ihre Freunde loswerden”, gab Ben zu bedenken.

“Wer sollte denn so etwas wollen?”, fragte Beth.

“Beth, bitte. Wir haben ein freies Wochenende. Wir wollen hier ein bisschen Spaß haben. Denk einfach nicht mehr dran, okay?”

Ohne ein weiteres Wort ging sie zu den Mädchen. Sie lasen gerade in einem Hollywood-Klatschmagazin und schienen völlig vergessen zu haben, dass sie vor Kurzem auf menschliche Überreste gestoßen waren.

Aber Amber sah auf, als Beth ins Zelt kroch, und kam in den kleinen “Vorraum” ihres Lagers.

“Und? War es ein Schädel?”

“Keine Ahnung. Es war nicht mehr da.”

Woraufhin Amber ein verständnisloses Gesicht machte.

“Glaubst du, dass er ihn genommen hat?”, wollte Kim wissen.

“Psst”, befahl Amber. “Er ist hier.”

Vor Überraschung fuhr Beth herum. Direkt vor ihrem Zelt stand der Mann, der sich als Keith Henson vorgestellt hatte. Neben Ben, der gerade die Feuerstelle vorbereitete, um ein Abendessen zu kochen.

Auch die anderen beiden waren dabei: der große schlanke Rothaarige und der stämmigere muskulöse Dunkelhaarige.

Beth hörte, wie sie sich einander vorstellten und wie ihr Bruder Keith erzählte, dass sie schon von ihm erzählt hatte.

An dieser Stelle machte Beth, dass sie schleunigst aus dem Zelt kam. Auch die Mädchen kamen sofort hinterher. Es gab weitere Begrüßungen, und sie erfuhren die Namen der beiden anderen Männer: Lee Gomez und Matt Albright.

Keith trug immer noch seine Sonnenbrille, sodass von seinem Gesicht nicht abzulesen war, was er dachte. Aber er lächelte, und Beth musste zugeben, dass er wirklich toll aussah. Auch Lee Gomez sah sehr gut aus, und Matt mit seinen vielen Sommersprossen machte den Eindruck eines wirklich netten Kerls.

“Keith sagte gerade, dass sie einen transportablen Grill und genug Fisch für eine ganze Armee haben”, erklärte Ben.

Wollte Ben den Abend etwa mit diesen Fremden verbringen?

“Ich habe sogar einen Kartoffelsalat gemacht”, erklärte Lee.

“Wir haben doch sicher auch etwas zum Anbieten, oder?”, fragte Ben.

“Den Salat”, kam Amber Beth zuvor. “Und Chips haben wir auch und tonnenweise Mineralwasser und ein bisschen Bier.”

“Hört sich gut an. Wir sind ja nicht weit. Ich hoffe, ein verführerischer Duft wird euch rüberlocken”, meinte Matt.

“Na?”, fragte Ben.

“Aber gern”, antwortete Beth, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen können.

“Wir haben noch mehr Leute getroffen, drüben am anderen Ende vom Strand”, sagte Keith. “Sie meinten, dass sie euch kennen, und wollten auch zu uns stoßen.”

“Ach ja, die Masons”, sagte Ben.

“Genau, stimmt. Die Masons sind auch hier”, murmelte Beth. Draußen auf dem Wasser sah sie Hanks Jacht, die “Southern Light”. Ein schönes Schiff, vierzehn Meter lang und vierzig Jahre alt, aber mit einem brandneuen Motor und neuem Innenausbau. Im Club nannten es alle “die alte Dame”.

“Ich weiß noch gar nicht genau, wer wer ist”, meinte Keith. “Abgesehen von Amanda.”

Die hat er sich natürlich gleich gemerkt. Amanda war knapp einssiebzig, mit Wespentaille, blonden Haaren und blauen Augen. Kein Mann vergaß ihren Namen.

“Da war noch ein älterer Mann”, sagte Lee.

“Roger Mason, ihr Vater”, erklärte Beth.

“Hank muss auch dabei sein”, meinte Ben. “Amandas Cousin. Ihm gehört das Boot.”

“Ja, stimmt. Hank. Und der andere Kerl ist …”

“Wahrscheinlich Gerald, noch ein Cousin”, mutmaßte Beth. “Er wohnt ein Stück vom Rest der Familie entfernt, die Küste aufwärts, in Boca Raton.”

“Und die sind alle miteinander verwandt?”, fragte Matt mit einem Funken Hoffnung in der Stimme.

“Hank, Amanda und Gerald sind Cousins und Cousine – zweiten Grades, glaube ich”, sagte Ben.

Er schien den Unterton in Matts Stimme gar nicht bemerkt zu haben. Natürlich nicht, dachte Beth. Er war immer viel zu sehr mit seiner Vaterrolle beschäftigt.

“Ein Stückchen weiter von ihnen campt noch ein junges Pärchen”, erzählte Keith. Auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte, wusste Beth, dass er sie fixierte. “Vielleicht kennen Sie die ja auch. Brad Shaw und eine Frau namens Sandy Allison.”

Sie schüttelte den Kopf. “Die Namen sagen mir nichts.” Wieder schaute sie aufs Wasser hinaus.

Das vierte Boot war ihr entgangen, weil es direkt hinter der Southern Light vor Anker gegangen war.

Bei dem letzten Boot handelte es sich um ein kleines Sportboot. Es schien einen neuen Anstrich gebrauchen zu können. Wahrscheinlich gab es an Bord nicht mehr als eine kleine Brücke, eine Kombüse und vorn vielleicht genug Platz zum Schlafen für zwei. Im Club gab es eine Menge kleiner Boote, und einige davon – vor allem die Motorboote – waren unglaublich teuer.

Andere wiederum nicht. Eine Sache, die Beth bei ihrer Arbeit im Club schon immer gemocht hatte, waren die Leute dort. Allesamt Wasserratten und aus den unterschiedlichsten Ecken, genau wie ihre Boote. Zwar kostete die Eintrittsgebühr für den Club ziemlich viel, aber die Mitgliedsbeiträge waren relativ günstig. Deshalb konnten sich Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft die Mitgliedschaft leisten, wenn sie erst einmal das Eintrittsgeld zusammen hatten. Außerdem bot der Club auch Kurse an: Segeln, Schwimmen, Tauchen und Sicherheit auf dem Wasser.

Und die Clubmitglieder hegten und pflegten ihre Boote, egal wie billig sie waren, selbst die abgetakelten unter ihnen – ganz im Unterschied zu den Besitzern des traurigen Boots hinter der Southern Light.

“Vier Boote”, murmelte Beth.

“Jedenfalls haben wir alle eingeladen zu kommen”, sagte Keith.

“Prima”, erwiderte Ben.

“Kommt einfach, wenn ihr Lust habt. Wir sind ja nicht weit”, meinte Keith und zeigte zu ihrem Lager.

“Brauchen Sie Hilfe?”, fragte Amber eifrig.

Am liebsten hätte Beth ihre Nichte am Arm gepackt.

“Ich glaube, wir haben alles im Griff”, lächelte Keith. “Aber wenn ihr Hilfe braucht, um Chips und Salat rüberzutragen, dann lasst es uns wissen.”

Er hatte Grübchen und eine nette Art, mit den Mädchen umzugehen. Und er versuchte nicht zu flirten oder benahm sich sonst irgendwie unpassend, wie es ältere Männer manchmal taten. Im Grunde sollte sie ihn nett finden, das wusste Beth, aber dafür war sie einfach zu misstrauisch.

“Na dann bis später”, meinte Lee.

Zum Abschied winkten die drei Männer noch einmal und gingen dann über den Sand zurück. Mit einem Strahlen wandte Ben sich an Beth. “Geht’s dir jetzt besser?”

Sie sah ihren Bruder an und schüttelte den Kopf.

“Was? Hast du immer noch Angst? Es wird nichts passieren. Schließlich kommen noch andere Leute vom Club”, erinnerte er sie.

Ihre Arbeit als Clubmanagerin liebte Beth genauso, wie sie die meisten Mitglieder mochte, weil sie überwiegend offen und freundlich waren.

Bis auf Amanda.

Glücklicherweise kam sie nicht jeden Tag in den Club – nicht einmal jede Woche. Der Bootsnarr war Hank. Schon sein Vater war in dem 1910 gegründeten Segelclub aktiv gewesen. Angefangen hatte alles damit, dass zwei dicke Freunde, Clubpräsident Isaak und Vizepräsident Gleason, sich im Ruhestand regelmäßig auf ein Bier getroffen hatten. In den Zwanzigerjahren gab es dann schon zehn Mitglieder, und bis zum Zweiten Weltkrieg wurden es an die hundert. Eine Weile war das Clubhaus der Treffpunkt von Kriegsheimkehrern der Navy gewesen. In den Fünfzigerjahren stieg die Mitgliederzahl wieder, und in den Siebzigern galt der Club als beliebter Treffpunkt. Als aus den Hippies Yuppies wurden, schnellten die Eintrittsgebühren nach oben. Inzwischen zählte der Club um die zweihundert Mitglieder, von denen einhundert einen eigenen Liegeplatz besaßen. Mindestens fünfzig Mitglieder bildeten den aktiven Kern des Vereins. Der Vater von Ben und Beth war ebenfalls Clubpräsident gewesen, und mit seinem Tod ging die Mitgliedschaft an Ben.

Und Beth hatte nach ihrem Marketingstudium einen Job im Club angenommen.

Wäre ihr damals klar gewesen, dass sie es mit den Amandas dieser Welt aufnehmen musste, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt. Amanda war der Typ Frau, der ihr einen Brief auf den Schreibtisch legte und ohne sie auch nur anzusehen erklärte, sie bräuchte Kopien davon. Sobald irgendein Clubangestellter auch nur den kleinsten Fehler machte, beschwerte sie sich. Zwei Kellnerinnen aus dem Clubrestaurant hatten gekündigt, nachdem Amanda sie zum Weinen gebracht hatte.

Ben reagierte nicht auf Amanda, er schien gegen ihren verrucht-sinnlichen Charme immun und taub für ihre dauernden gemeinen Sticheleien zu sein.

Ihn über Amanda aufzuklären, hätte jedoch wenig Sinn. Er würde es einfach nur für den üblichen Zickenkrieg halten.

“Wenn sie auch dabei sind, könnte es gar nicht besser sein”, versicherte sie daher lahm.

“Amanda”, maulte Amber und schnitt eine Grimasse.

Genervt verdrehte Ben die Augen. “Stimmt etwas nicht mit ihr?”, fragte er.

“Dad, sie ist eine alte Hexe.”

“Amber!”

“Das war kein schlimmes Wort”, sagte Amber.

“Kein Fluch oder so was”, pflichtete Kim ihr bei.

“Beth”, meinte Ben, “willst du nicht etwas dazu sagen?”

“Sie nennen sie eben so, wie sie sie sehen”, erklärte sie.

“Aber mir gefällt die Wortwahl nicht.”

“Amber, deinem Vater gefällt die Wortwahl nicht. Bitte benutze dieses Wort nicht.”

“Ist gut”, meinte Amber. “Miss Mason ist eine rücksichtslose egoistische Schlange, wie wär’s damit?”

“Mit richtig großen Titten”, fügte Kim hinzu.

“Kim!”, protestierte Ben.

“Entschuldigung”, antwortete Kim wenig überzeugend.

Eindringlich sah Ben sie an. “Dass du dich bloß benimmst!”

“Aber klar”, witzelte Beth. “Schließlich ist Amanda auch immer unheimlich höflich.”

Da gab Ben auf, kehrte ihnen den Rücken und ging zu seinem Zelt. “Vielleicht gefallen euch unsere neuen Bekannten ja besser”, meinte er über die Schulter.

Im Moment gab es niemanden, den sie weniger gemocht hätte, dachte Beth.

Obwohl es nicht gerade eine Abendeinladung war, beschloss Beth, sich etwas überzuziehen, und die Mädchen machten es genauso. Dann nahmen sie ihre Kühlboxen mit Bier und Mineralwasser, den Salat und die Chips und gingen los. Zum Glück kamen sie vor den Masons an. Nur das Pärchen war bereits da, Sandy Allison und Brad Shaw.

Passend zu ihrem Namen hatte Sandy sandfarbenes Haar und hübsche bernsteinfarbene Augen. Sie war mittelgroß und trug ein Oberteil über ihrem Bikini, während Brad zu seinen Schwimmshorts ein Surfershirt angezogen hatte. Die beiden waren sehr nett und kamen von der Westküste, wie Brad erzählte.

“Aber mir gefällt’s hier”, versicherte er. “Seit unserem ersten Tauchgang will ich hier gar nicht mehr weg.”

“Es ist wirklich wunderbar”, stimmte Sandy zu und legte ihren Arm um seine Hüften. “Hier gibt es Stellen, da kann man praktisch direkt vom Strand ins Korallenriff laufen.”

“Das ist schon manchem Schiff zum Verhängnis geworden”, gab Keith zu bedenken. “Früher jedenfalls. Mittlerweile ist die Gegend gut kartiert.”

“Es ist ja auch schon ein paar Jahre her, seit die ersten Europäer hier waren”, sagte Beth.

Daraufhin sah Keith sie unvermittelt an. Seine Augen waren dunkelbraun mit dichten schwarzen Wimpern, die sich effektvoll vor seinem hellen Haar und der tiefbraunen Haut abzeichneten.

“Ein paar Schiffe haben die Riffs auch überstanden”, warf er ein und wandte sich wieder den Männern zu. “Lee hat eine Ausrüstung an Bord, die die Navy vor Neid erblassen ließe.”

“Sie sind also kein Segler, Mr. Henson?”, fragte Beth. Das sollte eigentlich nicht wie der Beginn eines Verhörs klingen, tat es aber.

“Doch, das bin ich”, antwortete er. “Aber wir sind mit Lees Boot gekommen.”

Und von woher, überlegte sie.

Natürlich könnte sie einfach fragen, und bevor sie es sich besser überlegte, machte sie das auch.

“Wo kommen Sie drei denn her?”, fragte sie und hoffte, dass es nicht so misstrauisch klang, wie es gemeint war.

Lee sah Matt und Keith an und zuckte dann die Schultern. “Von überall her, eigentlich. Ich beispielsweise bin hier geboren.”

“Auf der Insel?”, scherzte sie.

“Vero Beach”, erwiderte er.

“Und ich bin ein echter Yankee aus Boston”, machte Matt weiter.

“Tolle Stadt”, sagte Beth und sah Keith an.

Einen Moment passierte gar nichts.

“Virginia”, rückte er dann heraus.

“Aber offenbar wissen Sie ein wenig Bescheid über diese Gegend”, bohrte Beth. “Denn diese Insel liegt ja nicht gerade an der üblichen Touristenroute.”

“Ich sagte ja, ich komme ursprünglich aus Vero Beach”, erinnerte sie Lee. “Die Einheimischen kommen oft hierher.”

“Aber wir sind zum ersten Mal zum Campen hier”, erklärte Keith.

“Und woher kennen Sie sich?”, setzte Beth ihr Interview fort, weil sie einfach nicht aufhören konnte. “Sind Sie Kollegen oder Geschäftspartner?”

“Tauchkumpel”, erklärte Keith. “Ah, da kommen Ihre Freunde.”

Was auch immer sie von Amanda hielt, Beth musste zugeben, dass die Masons eine attraktive Familie waren. Obwohl Roger schon in den Fünfzigern war, konnte er es mit den jungen Männern in den Beachbars locker aufnehmen, wie sie gehört hatte. Hank war blond und hatte blaue Augen wie sein Cousin, aber er war sehr viel maskuliner, mit sonnengebräunter Brust und breiten Schultern. Im Gegensatz zu den anderen war Gerald einen Hauch dunkler, gehörte aber unverkennbar zur Familie.

“Ben!”, rief Amanda so enthusiastisch, als hätte sie ein verloren geglaubtes Familienmitglied wiedergefunden. Anders als die anderen Frauen hatte sie sich gegen ein Oberteil entschieden und trug nur einen kleinen Bikini.

Einen String-Bikini.

Auch ihr Haar trug sie offen und es schwang wie eine vollendete Wolke aus Gold um ihren Kopf.

“Sie ist ja völlig unpassend angezogen”, flüsterte Amber, die hinter Beth stand.

“Aber total”, stimmte Kim ihr zu.

“Das kann sie besonders gut”, wisperte Beth ihnen zu und beobachtete, wie Amanda näher kam.

Während Amanda Ben begrüßte, sah Hank über ihren Kopf und erkannte Beth und die Mädchen. Ein aufrichtiges und freundliches Lächeln erhellte sein Gesicht.

“Hallo, ihr drei.”

“Hallo Hank”, rief Beth.

“Ihr erinnert euch doch an meinen Cousin Gerald, oder?”, fragte Amanda.

“Aber klar.” Inzwischen standen die beiden Männer vor Beth und den Mädchen. Hank gab Beth einen Kuss auf die Wange und begrüßte die beiden Mädchen. Gerald reichte ihr die Hand. “Die Welt ist klein, was?”

“Eigentlich nicht, wenn man bedenkt, dass wir ja nicht sehr weit von zu Hause weg sind”, antwortete sie.

“Stimmt”, meinte er mit einem Lachen und wandte sich den Mädchen zu.

“Amber, wenn du noch mehr wächst, hast du mich bald überholt. Und du musst Kinny sein, oder?”

“Kim”, verbesserte das Mädchen.

“Kim”, stimmte er zu. Sie wurde ein bisschen rot. Denn er war nett und kein bisschen herablassend, und das gefiel ihr ganz offenbar.

“Mögen alle Fisch?”, rief Keith. “Wir haben auch Hotdogs und Hamburger für die Landratten unter uns.”

“Ich nehme einen Hotdog”, rief Kim und lief schnell zum Grill. Von der Feuerstelle drang bereits ein verführerischer Duft herüber. Amber folgte ihrer Freundin und ließ Beth mit den anderen Erwachsenen zurück.

3. KAPITEL

Nächtliches Treiben.

Damit hatte er gerechnet.

Irgendjemand auf der Insel spielte sein Spiel.

Ein harmloses Spiel? Auf den Spuren einer Legende?

Oder ein gefährliches Spiel ohne Rücksicht auf Verluste?

Keith erhob sich geräuschlos, wartete einen Moment in seinem Zelt und lauschte, um herauszufinden, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Eine leichte Brise wehte, und in den Bäumen raschelte es ein wenig. Aber was er gehört hatte, war mehr gewesen als das sanfte Zittern der Palmblätter im nächtlichen Wind.

Wer es auch war, er oder sie waren über den Sand gelaufen und im dichten Gestrüpp der Insel verschwunden.

Auf der Suche nach einem Schädel?

Oder ging es um mehr, um etwas vollkommen anderes? Vielleicht hätte er diese Gruselgeschichte nicht erzählen sollen. Aber er hatte sie absichtlich zum Besten gegeben und seine Zuhörer dabei genau beobachtet, um ihre Reaktion zu testen. Doch am Ende hatte er nicht mehr erfahren, als dass sich alle ausgesprochen leicht ins Bockshorn jagen ließen.

Ob er mit seiner Geschichte diese nächtlichen Aktivitäten herausgefordert hatte?

Langsam und leise verließ er sein Zelt und lief über den weißen Sand. Direkt vor ihm hörte er wieder das Geräusch, dieses Mal ganz leise.

Und plötzlich sah er ein Licht etwas weiter vor sich, als glaubte jemand, sich weit genug vom Strand entfernt zu haben und nicht mehr bemerkt zu werden.

Das Licht bewies, dass er kein nachtaktives Tier im Dickicht verfolgte.

Mit geschärften Sinnen ging Keith dem Licht nach und beschleunigte seinen Schritt, als der Strand hinter ihm lag.

Die Angst verschlug Beth sekundenlang die Sprache, bevor ihr Instinkt ihr befahl, die Mädchen zu schützen.

Sie stürzte aus ihrem Zelt und fand …

Nichts. Nichts als das nächtliche Meer und die sanften Geräusche der Wellen, die an den Strand schlugen, sowie eine Palme in der Nähe, die sich ein wenig in der lauen Nacht bog.

Eine Weile verharrte sie ganz still, sah sich um und lauschte.

Noch immer nichts. Verdammt, sie musste sich zusammenreißen. Eigentlich war sie nicht der ängstliche Typ, und Geschichten sollte man nicht zu viel Bedeutung beimessen. Es gab wirkliche Gefahren im Leben, aber mit denen kam sie zurecht. Sie durchstreifte keine gefährlichen Gegenden bei Nacht. Sie trug immer Pfefferspray bei sich und wusste, wie man damit umging. Sie konnte sogar eine Waffe bedienen. Aber sie besaß keine Waffe, weil sie zu Hause eine Alarmanlage hatte.

Warum reagierte sie heute nur dermaßen panisch?

Weil sie im Innersten ihres Herzens wusste, dass sie einen Schädel gesehen hatte – mochten die anderen auch sagen, was sie wollten. Und dieser Schädel war kein Überbleibsel eines Piraten gewesen, der schon vor einer halben Ewigkeit das Zeitliche gesegnet hatte.

Kein Mensch in der Nähe, keine Geräusche mehr. Trotzdem musste sie nach den Mädchen sehen.

Aber zuerst sah sie sich am Strand um. Alle Feuerstellen waren gelöscht, und die Umrisse der Zelte ragten friedlich in die Nacht. Keith und seine Freunde hatten eine Hängematte zwischen zwei Palmen aufgehängt, die sich in der Brise leicht bewegte. Ein Stückchen weiter standen noch ein paar Zelte und etwas entfernt davon noch ein einzelnes, und an keinem sah etwas verdächtig aus.

Beth lief zum Zelt der Mädchen und schaute hinein, mit einem vor Sorge zugeschnürten Hals. Aber sie schlummerten beide tief und fest. Da sie das Licht angelassen hatten, verwandelte es ihr kleines Schlafzimmer in eine kleine Oase inmitten des undurchdringlichen Dunkels.

Erst jetzt atmete sie erleichtert aus und ging wieder hinaus – wo sie geradewegs in etwas Großes, Festes lief.

Von Panik ergriffen, schrie sie.

Als Keith den Schrei hörte, blieb er stehen. Das schrille Geräusch ließ das Blut in seinen Adern gefrieren.

Nach dem Bruchteil einer Sekunde handelte er.

Der Schrei war vom Strand gekommen.

Beth!

Dass das Licht vor ihm ausging, kümmerte ihn nicht, er wandte sich um und rannte durchs Dickicht, um ihr zu helfen.

Noch ein zweiter markerschütternder Schrei löste sich aus Beths Kehle, dann fuhr sie herum – wild entschlossen, die Mädchen bis zum Äußersten zu verteidigen.

Aber dafür gab es keine Veranlassung.

“Verflucht, Beth!”, tönte eine Stimme in der Dunkelheit. “Was zum Teufel machst du denn?”

“Ben?”

“Wen zum Teufel hast du denn sonst erwartet?”

“Du hast mich zu Tode erschreckt”, verteidigte sie sich.

“Was ist denn los?”, fragte Amber unsicher, als sie aus dem Zelt kroch. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen.

Hinter ihr kam Kim hervor, bis die vier eng gedrängt in dem kleinen Vorzelt standen.

“Nichts”, meinte Ben gereizt.

Als Amber sich ganz aufrichtete und gegen einen Pfosten stieß, brach das Zelt über ihnen zusammen.

Normalerweise fluchte Ben nicht, wenn seine Tochter in der Nähe war, aber als er versuchte, sich aus der Zeltplane zu befreien, und dabei lauter Sand in den Mund bekam, vergaß er diese Regel vorübergehend.

“Nichts ist passiert. Das Zelt ist nur eingestürzt”, hörte sie sich sagen.

Aber als sie sich befreien wollte, verwickelte sie sich nur noch mehr in den Stoff.

Dann kam ihr jemand zu Hilfe. Als sie wieder aus dem Stoff herausfand, tauchte Keith Hensens Gesicht über ihr auf, der sie ernst und alarmiert musterte.

“Was zum Teufel ist denn hier los?”, wollte er wissen.

“Nichts”, gab sie knapp zurück.

“Ich habe Sie schreien hören.”

Inzwischen hatte auch Ben es geschafft, sich aus dem Gewirr von Stangen und Stoff zu befreien und aufzustehen. Er schüttelte verärgert den Kopf.

“Tut mir leid.”

Als Beth sich, immer noch auf dem Rücken liegend, umsah, stellte sie fest, dass sich alle um sie versammelt hatten, mit Taschenlampen bewaffnet. Hatte sie wirklich dermaßen laut geschrien?

Natürlich hatte sie das.

Da lag sie nun auf dem Rücken, in ihrem Oversize-T-Shirt, das bis zu den Hüften nach oben gerutscht war, und schaute betreten in die Runde. Keith reichte ihr die Hand. In diesem Moment nahm sie das Angebot dankbar an.

Er hatte einen festen Griff, und sie war blitzschnell wieder auf den Beinen.

“Was ist denn los?”, fragte Amanda und strich sich eine blonde Strähne zurück. Selbst jetzt, mitten in der Nacht, sah Amanda glänzend aus, wie Beth widerwillig zugeben musste. Wie der Star aus einer Soap, der am Morgen mit perfekt frisiertem Haar und glänzenden Zähnen aufwacht.

“Sind Sie in Ordnung?”, fragte Hank, höflich wie immer.

Roger, zweifellos der Älteste in der Runde, legte einen Arm um die Schulter seiner Tochter und lächelte Beth an. “Vielleicht sollten wir uns heute Abend mal keine Gruselgeschichten erzählen”, sagte er einfach.

5. KAPITEL

Beth saß auf dem Stamm einer krummen Palme, aß Doritos und beobachtete die anderen.

Es sah fast nach einem Familientreffen aus.

Inzwischen war die Sonne untergegangen, aber drei verschiedene Lagerfeuer verbreiteten ihren Schein. Im Grunde dienten die Lagerfeuer hauptsächlich dem romantischen Effekt und weniger der Wärme und dem Licht. Zu allem Überfluss war auch noch Vollmond und der Himmel klar und voller Sterne. Die Feuer waren trotzdem schön, dachte Beth.

Ben unterhielt sich am Grill mit Keith und Matt und erklärte ihnen vermutlich das Geheimnis seines perfekten Rezepts für Mahi Mahi. Über einem der Lagerfeuer hing eine Kanne Kaffee, den Brad gekocht hatte. Bei ihm standen Hank und Gerald, die ihm sicher von ihrem Tag auf dem Wasser erzählten.

Während sie die anderen beobachtete, kam Amanda dazu, kichernd und lachend und nach ihren Gesten zu urteilen mit einer Geschichte darüber, wie einer seinen Fisch erlegt hatte. Die Männer lachten, offensichtlich ebenso amüsiert wie fasziniert.

Als Sandy plötzlich neben ihr auftauchte, erschrak Beth.

Sie hielt ein Bier in der Hand und beobachtete ebenfalls das Treiben am Feuer.

“Sie hat es richtig gut drauf, oder?”, bemerkte Sandy ein bisschen abfällig.

“Sie ist sehr hübsch”, antwortete Beth vorsichtig.

Sandy drehte sich zu ihr und lächelte ein bisschen. “Sie sehen doch viel besser aus. Und ich eigentlich auch. Sie versteht es nur viel besser, ihre Reize einzusetzen.”

“Zwei der Männer sind ihre Cousins”, gab Beth zu bedenken. Im Moment erschien ihr Sandy so völlig natürlich, aber sie konnte nicht vergessen, was sie auf der Lichtung gesehen und gehört hatte.

“Und zwei von ihnen sind es nicht”, meinte Sandy trocken. Sie zuckte mit den Schultern. “Vermutlich sind manche Frauen einfach so. Sie können ihre Finger von nichts lassen, was Hosen anhat.”

“Sie kommt aus … ziemlich privilegierten Verhältnissen”, murmelte Beth und fragte sich, wieso sie Amanda eigentlich in Schutz nahm. Immerhin konnte sie sie auch nicht leiden. Und trotzdem legte sie Wert darauf, niemals über eines der Clubmitglieder schlecht zu reden. Sie hielt Sandy die Tüte Doritos hin.

Die andere Frau schniefte abfällig. “Glauben Sie, ihre Brüste sind echt?”

“Äh … keine Ahnung.”

“Vergrößert”, versicherte Sandy.

“Na ja, viele lassen das machen.”

“Stimmt. Aber trotzdem … Ich meine, sie setzt die Dinger ja ein wie andere Leute ihre Visitenkarte. Und Männer sind so leicht zu beeindrucken.”

Beth lachte. “Ja, das sind sie in der Tat manchmal.”

6. KAPITEL

“Hey Dad, wo steckt eigentlich Tante Beth?”

Ben verstaute gerade die Campingausrüstung und sah von den Zeltstangen auf, die er einpackte, als seine Tochter ihn aus verschlafenen Augen ansah.

“Weg”, sagte er bedeutungsschwanger.

Sie schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. “Wo ist sie?”

“Im Ernst. Sie ist mit Keith Henson rausgefahren, um sich die Jacht anzusehen.”

“Was?”

Weil seine Tochter so grenzenlos erstaunt klang, horchte er auf. “Ich sagte”, erklärte er betont langsam, “dass deine Tante mit Keith Henson rausgefahren ist, um sich die Jacht anzusehen.”

“Ach, Dad. Ich habe dich durchaus verstanden.”

“Na dann …”

“Aber das ist einfach cool!” Inzwischen kroch auch Kimberly hinter ihr aus dem Zelt. “Hast du das gehört? Sie ist mit Keith rausgefahren, um sich das Boot anzusehen.”

“Wow”, machte Kim.

“Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.”

“Wo sie doch so misstrauisch ist.”

“Das ist ganz schön merkwürdig.”

“Schräg.”

“Abgefahren.”

Nach diesem Wortwechsel sah Ben die beiden Mädchen verständnislos an. “Wovon redet ihr zwei überhaupt?”

“Ach komm, Dad. Er ist echt ‘ne Schau.”

“Spitzenklasse”, stimmte Kim gewichtig zu.

“Ich meine, schließlich hat es ganz schön gefunkt zwischen den beiden.”

“Sprühende Funken.”

“Von ihm zu ihr”, vollendete Amber.

“Wir hatten schon überlegt, wie wir die beiden zusammenbringen können”, erklärte Kim.

Jetzt sah Ben ernsthaft verärgert aus. “Ihr haltet euch da raus, okay? Sie ist ein erwachsenes Mädchen und fällt auf keinen Kerl rein, nur weil er einen Waschbrettbauch hat. Ist das klar? Lasst euch bloß nicht einfallen, irgendwas zu unternehmen. Sie wollte die Jacht sehen, weil ich so davon geschwärmt habe, nichts weiter. Verstanden?”

“Schon gut”, grummelte Amber.

“Na klar”, meinte Kim.

Dann sahen sie sich an und machten alle Beteuerungen zunichte, weil sie in lautes Gelächter ausbrachen.

“Amber Anderson”, sagte ihr Vater drohend. “Ich meine es ernst. Lass deine Tante in Ruhe.”

“Er reagiert typisch männlich”, flüsterte Kim Amber zu.

“Total empfindlich”, stimmte Amber zu.

“Er steht hier und kann jedes Wort hören”, sagte Ben.

“Tut mir leid, Dad”, sagte Amber schnell.

“Ich meine es sehr ernst, Amber.”

“Ist schon klar.” Amber gab Kim einen Stups. “Hey, lass uns ein bisschen spazieren gehen.”

In Ben zog sich alles zusammen. “Kein Spaziergang”, verkündete er.

“Was?”, protestierte Amber.

“Ihr bleibt hier am Strand.”

“Aber wieso denn?”

Wieso? Er wusste es selbst nicht so recht.

“Weil ich es sage.”

“Aber …”

“Weil ich es sage”, wiederholte er.

Weil er seiner Tochter wirklich keine vernünftige Erklärung bieten konnte, wandte er sich ab. Als er über den Strand schaute, wuchs seine Unruhe, und er versuchte sich einzureden, dass es überhaupt keinen Grund zur Sorge gab.

Aber es schien, als sähen alle aufs Meer.

Nicht weit weg von ihm entfernt stand Matt an einer Palme. Mit vor der Brust verschränkten Armen schaute er zur Jacht hinüber.

Etwas weiter stand Amanda in fast derselben Haltung und sah über das Wasser, die Arme schützend um ihren Oberkörper gelegt.

Und noch ein Stückchen weiter …

Das war Brad. Auch er starrte hinaus zu dem kleinen Boot, das sich der majestätischen Jacht näherte.

Bens Unruhe verstärkte sich zu einem Ziehen in seinen Eingeweiden.

Mit einem leisen Knurren wandte er sich wieder ab. Du lieber Himmel, was war nur los mit ihm? Keiths Freunde waren hier, darunter der Bootseigentümer. Die Masons campten am Strand. Brad und Sandy kannte er zwar kaum, aber auch sie lagerten direkt vor seiner Nase … zum Teufel.

Und Beth konnte so abweisend sein wie eine alte Jungfer, viel schlimmer als er selbst.

Alles in bester Ordnung.

“Hallo, da drüben!”

Er drehte sich um. Lee winkte ihm zu, schon auf dem Weg ins Innere der Insel.

“Ich geh mal ein paar Kokosnüsse holen”, rief Lee ihm zu. “Wollt ihr auch ein paar?”

“Nein, vielen Dank”, rief er zurück.

Weiter hinten am Strand hatte Sandy sich hinter Brad gestellt. Sie schlang ihre Arme um seine Hüften und legte ihr Kinn auf seine Schulter.

Doch Brad schien sie gar nicht wahrzunehmen, weil er so angestrengt zur Jacht hinübersah. Dann bewegte er sich plötzlich, als fühlte er sich ertappt, und sah zu Ben, der ihn beobachtete.

Ben winkte.

Brad winkte zurück, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Sandy zu.

Alles in bester Ordnung, sagte Ben sich noch einmal.

Und das war es auch. Bald würden sie zurückfahren.

Erstaunlich, wie froh er war, dass das Wochenende fast vorüber war. Normalerweise verspürte er nach einem freien Wochenende kein bisschen Lust, wieder zu arbeiten. Es gab eben doch einen Unterschied zwischen Mistkerlen, die man kannte, und denen, die man nicht genau einordnen konnte.

Keith machte sich gut beim Rudern, fand Beth.

Trotzdem zwang sie sich zu einem Blick auf die Jacht. Denn es ärgerte sie, dass sie bisher nur Augen für die körperlichen Qualitäten des Mannes vor ihr gehabt hatte.

Wenn Boote in der Nähe waren, trugen Männer nun mal Shorts oder abgeschnittene Jeans und T-Shirts – oder sie liefen mit freiem Oberkörper herum. Meistens waren sie tief gebräunt. Allein in ihrem Club gab es eine stattliche Anzahl gut gebauter, gesunder, durchtrainierter Exemplare der männlichen Spezies.

Auch Keith Henson hatte all das zu bieten – und von jeder Eigenschaft noch ein bisschen mehr.

An diesem Morgen trug er schwarzblaue Schwimmshorts, die Millionen Surfer ebenfalls trugen und die eigentlich keine besonderen erotischen Qualitäten besaßen. Auf ein Hemd hatte er verzichtet, da der Tag sehr heiß war – auch das war am Wasser das Normalste der Welt. Aber seine Haut wirkte auf eine fast unwirkliche Art männlich braun, und bei jedem Zug an den Rudern spielten seine Muskeln darunter. Unter der Sonnenbrille konnte Beth seine Augen nicht erkennen, und sie hoffte, ihre Brille leistete ähnlich gute Dienste. Plötzlich wurde sie rot, weil ihr einfiel, dass auch sie nur einen Badeanzug und darüber einen Sarong trug. Über diesen Aufzug hätte sie sich bei keinem anderen Gedanken gemacht.

Aber zwischen ihnen lief etwas.

Noch hielt sie das Ganze lediglich für eine Sache der Chemie, aber sie bezweifelte, dass es ohne sein Lächeln dasselbe gewesen wäre. Oder ohne das besondere Dunkel seiner Augen. Oder den wachen Geist, der jedes seiner Worte Lügen strafte.

Jedes einzelne.

“Und, wie gefällt sie dir?”

Sie hatten die Jacht erreicht. Beth stand in dem kleinen Schlauchboot und machte es fest. Achtern hing eine Leiter herunter. Keith sprang hinüber und reichte ihr die Hand. Ihr fiel auf, wie mühelos er sie nach oben zog. Der Mann hatte wirklich Kraft. Aber musste er deswegen gleich ein Verbrecher sein? Und wenn er das war, wieso war sie so dumm, mit ihm hierherzukommen?

Auf Deck sah Beth sich um. Diese Jacht musste locker eine sechsstellige Summe gekostet haben.

“Wirklich sehr schön”, sagte sie.

“Komm. Ich zeig dir alles.”

Er führte sie auf dem Oberdeck herum, dann zur Flybridge und schließlich nach unten. Beth pfiff anerkennend.

“Das ist ja wie die Suite in einem Luxushotel”, meinte sie.

“Das Tolle ist, dass sie einfach alles kann. Trotz ihrer Größe ist sie wirklich schnell, und sie ist fürs Angeln ebenso ausgerüstet wie fürs Cruisen.”

“Und dafür braucht man ein Navigationssystem, Echolot, Radar, Funkgeräte – und all die anderen Spielereien, die ich gerade gesehen habe?”

“Männer werden halt nie erwachsen”, meinte er mit einem Schulterzucken. “Kann ich dir etwas anbieten? Saft, Mineralwasser? Oder einen Kaffee? Geht auch ganz schnell.”

“Ein Kaffee wäre toll”, sagte sie.

Obwohl Keith sich mit dem Kaffee beschäftigte, wurde Beth das Gefühl nicht los, dass er sie die ganze Zeit beobachtete. Um zu sehen, wie sie reagierte?

Oder um sicherzugehen, dass ihr nicht irgendetwas auffiel, was ihr eigentlich entgehen sollte?

“Fühl dich wie zu Hause”, sagte er.

“Danke.” Sie setzte sich auf das Sofa in der großen Kabine. Es hätte auch der Salon in einem Ferienclub sein können. Durch die Fenster sah sie das Meer, den Himmel und sogar ein Stück der Insel.

“Wie lange werdet ihr denn voraussichtlich in der Gegend bleiben?”, fragte sie.

“Eine Weile schon.”

Sie lachte. “Gibst du auch manchmal direkte Antworten?”

“Wie meinst du das?”

“Eine Weile kann alles Mögliche bedeuten. Wenn mich jemand nach meinem Wochenende fragen würde, erhielte er eine klare und eindeutige Antwort. Ich fahre heute Abend zurück.”

“Ich weiß nun mal nicht, wie lange ich noch in der Gegend sein werde. Wenn wir genug geangelt haben und ausgiebig tauchen waren und so weiter, fahre ich wieder zurück.”

Sie seufzte vernehmlich. “Zurück nach Virginia?”

Sogar jetzt hatte sie das Gefühl, dass er einen Moment zögerte. “Genau.”

“Hast du da ein Haus?”

“Ja, habe ich. War das direkt genug?”

“Welche Ecke?”

“Nordvirginia.”

“Hat deine Stadt auch einen Namen?”, wollte sie wissen.

Er kam zu ihr und reichte ihr einen Becher. “Ups, entschuldige, wolltest du Milch oder Zucker?”

“Lieber schwarz, danke. Und?”

“Einen recht bekannten Namen sogar. Alexandria.”

“Na bitte, das war doch gar nicht so schwer. Du hat ein Haus in Virginia, und zwar in Alexandria.”

“Hast du auch ein Haus?”, fragte er zurück und ließ sich neben ihr auf der Sofalehne nieder. Wieder sehr nah. So nah, dass sie sich fragte, wieso sie eigentlich immer alles analysieren wollte. Warum es nicht einfach mal drauf ankommen lassen? Was machte es schon aus, wer oder was genau er war?

Genieß doch einfach die schönen Dinge im Leben, sagte sie sich. Nichts ist für die Ewigkeit. Und sie hatte noch nie einen Mann getroffen, dem sie sonst wohin gefolgt wäre. Außerdem war sie innerlich noch nie so durcheinander gewesen. In der letzten Nacht hatte sie den Rest der Nacht schlaflos damit verbracht, sich den Kopf zu zerbrechen. Warum nicht … auf keinen Fall, aber warum eigentlich nicht … einfach mal sehen, nein unter keinen Umständen. Diese Unentschlossenheit kannte sie gar nicht an sich. Diese Sehnsucht, dieses Verlangen … Bisher war sie noch nie völlig spontan ihrem Instinkt gefolgt. Und dabei war sie unabhängig, alleinstehend und volljährig.

Natürlich hatte jeder das Recht, einmal unvernünftig zu handeln und eine Fantasie auszuleben. Heute war Sonntag, und nachher würde sie nach Hause zurückfahren, zurück in ihr wirkliches Leben, und mit großer Wahrscheinlichkeit würde sie ihn nie wieder sehen.

“Hallo, ist da noch jemand?”, fragte er amüsiert.

“Ich, äh … aber sicher.”

“Und?”

“Und was?”

Er hob eine Augenbraue. “Haus. Hast du ein eigenes Haus?”

“Oh! Ja, ich habe ein kleines Haus in der Stadt.”

“Und das wäre wo?”

“Coconut Grove, nicht weit vom Jachtclub.”

“Hört sich gut an.”

“Mir gefällt’s.”

“Andererseits …”

“Ja?”

“Ich habe gehört, dass Coconut Grove eine ziemlich gefährliche Gegend sein kann.”

“Überall, wo viele Menschen leben, kann es gefährlich sein. Und du hast ja selbst gesagt, dass sogar ein Trip über die Inseln gefährlich sein kann. Miami hat nun mal einen schlechten Ruf. Aber die Leute dort sind wirklich nett. Es ist auch nicht anders als in anderen Städten. Man macht keine unangenehme Bekanntschaft mit Drogendealern, wenn man nicht selbst etwas mit Drogen zu tun hat.” Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf. “Du stellst eine einfache Frage, und ich antwortete minutenlang. Ich frage und bekomme einen knappen Satz. Vielleicht liegt das Problem ja doch auf meiner Seite.”

Überraschenderweise lachte er nicht, nicht einmal ein Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Stattdessen sah er sie nachdenklich an. Er streckte die Hand aus und berührte sie. Wie zufällig. Nur ganz leicht berührte er ihre Haut mit der Spitze seines Zeigefingers.

“Ich glaube nicht, dass du irgendein Problem hast”, sagte er sehr sanft.

Das war er. Der Moment, in dem sie hätte aufstehen müssen und sagen: “Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.”

Aber sie tat es nicht. Er rutschte von der Sofalehne neben sie, und sie roch seinen Geruch nach Wind, Meer und Salz und seine Haut, die nach Sonne roch. Reglos saß sie da. Wartete.

Dann verschwand seine Sonnenbrille, und seine Augen schienen so schwarz wie Ebenholz, so unergründlich wie der Meeresgrund. Ohne ein Wort sah Keith sie nur an, ausgiebig und unendlich lange. Wieder dachte Beth, sie sollte sich zurückziehen, da er dann ebenfalls aufstünde und der Moment vorbei wäre.