Akkumulation – Überausbeutung – Migration - Janina Puder - E-Book

Akkumulation – Überausbeutung – Migration E-Book

Janina Puder

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Beschreibung

Palmöl ist nicht nur Bestandteil zahlreicher Nahrungsmittel und Kosmetikprodukte; es spielt aufgrund seiner besonderen energetischen Merkmale auch eine bedeutende Rolle in der Produktion von vermeintlich nachhaltigen Biokraftstoffen. Umweltorganisationen und Wissenschaft verweisen seit Jahren auf die ökologischen Risiken und Widersprüche der Palmölproduktion. Weniger bekannt sind hingegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen, unter denen migrantische Arbeiter_innen in Malaysia Palmöl für den Weltmarkt produzieren. Janina Puder zeigt, dass es sich bei der Ausbeutung dieser niedrigqualifizierten Arbeitskräfte um eine systematische Überausbeutung handelt, die aus den strukturellen Bedingungen des globalen Kapitalismus resultiert.

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Janina Puder

Akkumulation – Überausbeutung – Migration

Arbeit im malaysischen Palmöl-Industriellen-Komplex

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Palmöl ist nicht nur Bestandteil zahlreicher Nahrungsmittel und Kosmetikprodukte; es spielt aufgrund seiner besonderen energetischen Merkmale auch eine bedeutende Rolle in der Produktion von vermeintlich nachhaltigen Biokraftstoffen. Umweltorganisationen und Wissenschaft verweisen seit Jahren auf die ökologischen Risiken und Widersprüche der Palmölproduktion. Weniger bekannt sind hingegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen, unter denen migrantische Arbeiter_innen in Malaysia Palmöl für den Weltmarkt produzieren. Janina Puder zeigt, dass es sich bei der Ausbeutung dieser niedrigqualifizierten Arbeitskräfte um eine systematische Überausbeutung handelt, die aus den strukturellen Bedingungen des globalen Kapitalismus resultiert.

Vita

Janina Puder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Dank

1.

Einleitung

1.1

Gegenstand, These und Fragestellung

1.2

Stand der Forschung: der Nexus Überausbeutung und Arbeitsmigration in (Semi‑)Peripherien

1.3

Methodik: Ausbeutung als Verhältnis sozialer Ungleichheit qualitativ erforschen

1.4

Aufbau der Arbeit

2.

Analytischer Zugang: Ein Theorem und seine soziologische Anwendung

2.1

Ausbeutung als Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit

2.1.1

Die historische Genese kapitalistischer Ausbeutung

2.1.2

Mehr Arbeit, mehr Wert: die Arbeitswertlehre als Grundlogik kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse

2.1.3

Die Illusion von Gleichwertigkeit: der Äquivalententausch und die Reproduktion der Arbeitskraft

2.1.4

Analytische Anhaltspunkte für ein eigenes Verständnis von Überausbeutung bei Marx

2.1.4.1

Das Verhältnis zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit im Anschluss an Marx

2.1.4.2

Dies- und jenseits des Äquivalententauschs: primäre und sekundäre Ausbeutung

2.1.5

Zwischenfazit I: Die ökonomische Dimension kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse

2.2

Ein Weltsystem, vielfältige Ausbeutungsverhältnisse: eine global-historische Perspektive auf Ausbeutung

2.2.1

Die Transformation der Agrikultur: Kapitalismus und Landarbeit in (Semi-)Peripherien

2.2.2

Der Haushalt als Institution sozioökonomischer Reproduktion

2.2.2.1

Die vermeintlich Überflüssigen: relative Überbevölkerung und Reservearmee

2.2.2.2

Semiproletarisch und (semi-)peripher: die Symbiose verschiedener Produktionsverhältnisse auf Haushaltsebene

2.2.3

Analytische Eckpunkte zur Untersuchung von Überausbeutung aus Perspektive der strukturellen Abhängigkeit

2.2.3.1

Abhängigkeit und strukturelle Asymmetrie als Existenzbedingung für Überausbeutung

2.2.3.2

Die Überausbeutung von Arbeit als neuer Imperialismus

2.2.4

Zwischenfazit II: Die global-historische Dimension kapitalistischer (Über-)Ausbeutungsverhältnisse

2.3

Mit Marx weiterdenken: gegenstandsorientiert oder ökonomisch reduktionistisch?

2.4

Marxistisch und intersektional: Ausbeutung und Unterdrückung als analytisches Einfallstor zu einem soziologischen Verständnis von Überausbeutung

2.4.1

Intersektionalität als Paradigma der soziologischen Ungleichheitsforschung?

2.4.2

Eine kritische Abgrenzung innerhalb der Intersektionalitätsdebatte

2.4.3

Marxistische Zugänge zu Intersektionalität

2.4.3.1

Kapitalistische Vergesellschaftung der Arbeit und Produktion aus marxistisch-intersektionaler Perspektive

2.4.3.2

Die Koexistenz und das Zusammenwirken von Ausbeutung und Unterdrückung

2.4.4

Zwischenfazit III: Die intersektionale Dimension von Überausbeutungsverhältnissen

2.5

Forschungsheuristik zur Untersuchung von Überausbeutungsverhältnissen

3.

Die Entstehung des malaysischen Arbeitsmigrationsregimes

3.1

Die Verstetigung der Arbeitsmigration unter britischer Kolonialherrschaft

3.2

Die Restrukturierung des Arbeitsmarktes und der Klassenstruktur im Zuge der Dekolonialisierung

3.3

Die Restriktion der Arbeitsmigration unter dem Eindruck der Asienkrise

3.4

Arbeitsmigrant*innen als mobile Reservearmee

4.

Überausbeutung empirisch untersuchen: niedrigqualifizierte Arbeitsmigrant*innen in der malaysischen Palmölindustrie

4.1

Kontextualisierung und Charakterisierung der malaysischen Palmölproduktion

4.2

Die Fallstudienregion: Palmölindustrie und Arbeitsmigration in Sabah, Ostmalaysia

4.3

Sampling: Beschäftigungsgruppen, Betriebstypen und Produktionsverhältnisse

5.

Arbeitsverhältnisse als Lebensverhältnisse

5.1

Wohnsituation, technische und soziale Infrastruktur

5.2

Arbeitsschutz und technische Sicherheitsschulungen

5.3

Kontrolle und Autonomie während und abseits des Produktionsprozesses

5.3.1

»Es ist mein Pass, ohne ihn kann ich nirgendwo hingehen«: Die Beschränkung individueller (Arbeits‑)Mobilität

5.3.2

Arbeitsteilung und -kontrolle vs. Autonomie im Produktionsprozess

5.4

Der Zwei-Ebenen-Haushalt als sozioökonomischer Referenzpunkt

5.4.1

Migrationsentscheidung als ökonomisch motivierte Haushaltsentscheidung

5.4.2

Die ökonomische und soziale Funktion des erweiterten, transnationalen Familienhaushalts

5.5

Variationen in der Entlohnung von Plantagen- und Mühlenarbeiter*innen

5.5.1

Einkommensschwankungen und Arbeitsausfälle

5.5.2

Herausforderungen für die ökonomische Reproduktion des Familienhaushalts

5.5.2.1

Einkommensdruck und Diversifikation des Haushaltseinkommens

5.5.2.2

Überstunden als Normalzustand, Unterbeschäftigung als Problem

5.5.2.3

Bedeutung der Subsistenzwirtschaft: die Absicherung der Reproduktion des Zwei-Ebenen- Haushalts in der Gegenwart und Zukunft

5.5.2.4

Überbrückung finanzieller Engpässe: innerfamiliäre Umverteilung und die Praxis des »Anschreibens«

5.6

Soziale (Im-)Mobilität und Zukunftsperspektiven

5.6.1

Chancen und Barrieren sozialer Mobilität: temporärer vs. dauerhafter Aufenthaltsstatus

5.6.2

Illegalisierung als Sackgasse vs. Strategie sozialer Mobilität

5.7

Interfamiliäre und intergenerationale soziale Mobilität

5.7.1

(Weiter-)Qualifizierung und Bildung als Ausweg aus stagnierenden Arbeits- und Lebensverhältnissen

5.8

Politische und soziale Hürden gewerkschaftlicher Organisation

5.8.1

Die Bedeutung von Wissen und Unwissen

5.8.2

Die Rolle informeller Netzwerke

5.9

Exkurs: die Entwicklungen der Arbeitsmigration im malaysischen Palmölsektor im Kontext der Covid-19-Pandemie

6.

Diskussion: Ausbeutungsverhältnisse als Überausbeutungsverhältnisse

6.1

Die Reproduktionsmöglichkeiten der Arbeitskraft im Kontext des Haushalts in und jenseits der Lohnarbeitssphäre

6.1.1

Überarbeitet, un(ter)bezahlt und un(ter)beschäftigt

6.1.2

Sozioökonomische Reproduktion unterhalb der Schwelle gesellschaftlich definierter Grundbedürfnisse?

6.1.3

Planungs(un)sicherheit und verstellte Lebensorientierung: die Verknüpfung von Beschäftigungsverhältnissen und Aufenthaltsstatus

6.1.4

Die Kontrolle und Disziplinierung migrantischer Palmölarbeiter*innen

6.2

Die Reproduktionsmöglichkeiten der Arbeitskraft in der globalen Arbeitsteilung

6.2.1

Eine mobile agrarindustrielle Reservearmee für die malaysische Palmölindustrie

6.2.2

Semiproletarisierung und das Nebeneinander verschiedener Produktionsverhältnisse

6.3

Krise als Manifestation überausbeuterischer Arbeitsverhältnisse

6.4

Der Widerstand überausgebeuteter migrantischer Arbeiter*innen

6.4.1

Die Segmentierung und Spaltung der Arbeiter*innenklasse in Malaysia

6.4.2

Die Kämpfe migrantischer Arbeitskräfte gegen überausbeuterische Arbeitsverhältnisse

7.

Fazit: Überausbeutung als ein eigenes Konzept für die soziologische Ungleichheitsforschung

Abkürzungen

Interviews

Gruppendiskussionen und Workshops

Literatur

Dank

Eine Dissertation ist von den Anfängen der Recherche bis zu ihrer Veröffentlichung stets eine Kollektivleistung, auch wenn ich selbstverständlich die alleinige Verantwortung für das Endergebnis trage. Ohne die zahlreichen Personen im »Hintergrund«, von denen ich hier nur einige benennen kann, wäre diese Arbeit niemals zustande gekommen. Zunächst möchte mich herzlich bei Mareike Biesel und Karen Matzke für das großartige Lektorat meiner Arbeit bedanken. Ebenfalls bedanke ich mich für die freundliche und entgegenkommende Betreuung des Verlags, insbesondere bei Judith Wilke-Primavesi und Eva Janetzko. Für die finanzielle Unterstützung meiner Forschung im Rahmen der Nachwuchsgruppe »Bioökonomie und soziale Ungleichheiten« herzlichen Dank an das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Ich danke auch allen wissenschaftlichen und studentischen Mitgliedern der Nachwuchsgruppe für die jahrelange großartige und kollegiale Zusammenarbeit. Ich habe sehr viel von jedem und jeder Einzelnen lernen können. Mein besonderer Dank gilt meinen Kolleg*innen Rosa Lehman, Fabricio Rodríguez und Kristina Lorenzen sowie Kim Lucht und Anna Landherr für ihre kritischen inhaltlichen Anmerkungen und den stetigen Austausch über Themen, die mich nicht losgelassen haben. Die Debatten mit euch sind dieser Forschungsarbeit stets zugutegekommen. Ryan Munkit, Oliver Pye, Murni, Ramlah Binti Daud und ihrer Familie möchte ich ebenfalls meinem besonderen Dank aussprechen. Ihre tatkräftige und kreative Unterstützung während meiner Feldaufenthalte haben die empirische Untersuchung überhaupt erst ermöglicht. Ich danke zudem meinem Erstbetreuer Klaus Dörre für seinen Vertrauensvorschuss in mich und meine Arbeit sowie seine kritisch-wertschätzende Auseinandersetzung mit meiner Forschung. Meiner Zweitbetreuerin und Mentorin Maria Backhouse gilt ein außerordentlicher Dank für ihre Geduld, ihre stete Zuversicht, ihren positiv-bestärkenden Arbeitsumgang und ihr Vertrauen in meine Arbeit. Die zahlreichen Diskussionen, die ich jederzeit mit dir führen konnte, haben mich in meinem Denken nachhaltig beeinflusst und mich in meiner Forschungsperspektive geschult. Ich möchte mich auch bei allen Mitgliedern des Graduiertenseminars bedanken, durch deren Forschungsbegleitung ich viel lernen konnte. Meiner »Jenaer Wahlfamilie« Sonja, Sophie, Svenja, Angela, Genevieve und Georg gebührt besonderer Dank für ihre bedingungslose Unterstützung sowohl in Hoch‑ als auch Tiefphasen während der Promotion. Ich möchte mich zudem bei meinen Eltern Kerstin und Jens Puder sowie meinen Großeltern Renate und Klaus Puder bedanken: dafür, dass ihr mich immer motoviert habt weiterzumachen und mit großer Zuversicht auf den erfolgreichen Abschluss meiner Dissertation vertraut habt. Mein tiefster Dank gilt Hans Rackwitz, der jedes Thema mit mir »totdiskutiert« hat, mich immer unterstützt, alle Entwürfe gelesen und immer an mich geglaubt hat. Deine intellektuelle, kritische und emotionale Unterstützung hat mich und mein wissenschaftliches Denken nachhaltig geprägt. Zum Abschluss gilt mein besonderer Dank, mein größter Respekt und meine tiefe Solidarität den migrantischen Arbeiter*innen in Malaysia sowie den Aktivist*innen, die sich jeden Tag für deren vergessene Interessen und Probleme einsetzen.

1.Einleitung

Öffentliche Debatten um Arbeitsmigration werden meist von einem Narrativ dominiert: Die Mobilität von Arbeitskräften muss an erster Stelle von ökonomischem Nutzen für sogenannte »Sende‑ und Empfängerländer« sein. Fragen nach der Arbeitsmarktintegration und ‑steuerung sowie der gesellschaftlichen Vermittlung der Entsendung und Anwerbung von Arbeiter*innen1 werden dementsprechend vorwiegend aus einer funktionalen Perspektive verhandelt. Die folgenden Zitate bringen dieses Prinzip aus verschiedenen Blickwinkeln auf den Punkt:

»[L]ow-skilled immigrants can create additional jobs by filling workforce gaps not filled by Malaysian workers, reduce production costs, help expand output and exports, and raise the demand for both unskilled employment and higher‑skilled Malaysians.« (World Bank 2015)

»Wenn du hier in Malaysia als Migrant*in keine Arbeit mehr hast, dann musst du eben gehen.« (Diskutant Gruppendiskussion Workshop 1)

»Sie haben gesagt, du bist nur eine [Arbeitsmigrantin, J. P.]. Deine Aufgabe ist es zu arbeiten und nicht, dich zu beschweren. Aber sie lassen mich nicht alle Aufgaben ausführen. Warum? Ich kann alles machen, auch die schwere Arbeit. Ich will nur meine Familie unterstützen. Das ist alles.« (Interview 22)

Demnach hängt die politische Bewertung der Arbeitsmigration in erster Linie von der antizipierten Wirtschaftlichkeit des Einsatzes migrantischer Arbeitskräfte ab. Sobald ihre Arbeitskraft ökonomisch nicht mehr optimal verwertet werden kann, scheint es unabhängig von der sozialen und sozioökonomischen Lage der migrantischen Arbeiter*innen auch keinen Grund mehr für ihren Verbleib im jeweiligen Zuwanderungsland zu geben. Bis dahin sollen Arbeitsmigrant*innen schlichtweg ihre Arbeit erfüllen.

Ob Arbeitsmigrant*innen als niedrig‑ oder hochqualifiziert2 klassifiziert werden, hängt dabei nicht nur von ihrem tatsächlichen Qualifikationsniveau ab, sondern ebenso von der Position, die ihnen auf nationalen bzw. transnationalen3 Arbeitsmärkten zugewiesen wird. In den »Empfängerländern« sollen Arbeitsmigrant*innen meist einen Fachkräftemangel ausgleichen oder Tätigkeiten ausführen, die einheimische Arbeiter*innen aufgrund niedriger Löhne, schlechter Arbeitsbedingungen oder einer geringen sozialen Anerkennung nicht bereit sind zu übernehmen. Gleichzeitig sollen die Transferleistungen für migrantische Arbeiter*innen möglichst niedrig gehalten werden. »Entsendeländer« positionieren sich je nach der vorherrschenden Form arbeitsbedingter Migration unterschiedlich zur Abwanderung eines Teils ihrer Arbeitsbevölkerung. Handelt es sich um die Abwanderung höherqualifizierter Arbeitskräfte, werten Staaten dies als einen Verlust von »Humanressourcen« (Delgado-Wise 2009). Migrieren stattdessen ungelernte Arbeiter*innen, geschieht dies aus politischer Sicht nicht unbedingt zum Nachteil für die Auswanderungsländer, da es sich hierbei in der Regel um »überzählige« Arbeiter*innen handelt, die vom heimischen Arbeitsmarkt nicht absorbiert werden. Staaten können zudem unter Umständen ökonomisch von der temporären oder dauerhaften Migration eines Teils ihrer Arbeitsbevölkerung profitieren, da die von Arbeitsmigrant*innen getätigten Rücküberweisungen häufig einen bedeutenden Beitrag zum heimischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) leisten.4

Gegenperspektiven, die kritisch auf diesen hochgradig funktionalistischen Umgang mit Arbeitsmigrant*innen blicken und neben individuellen und gruppenspezifischen Gründen insbesondere die ökonomischen Ursachen und strukturellen Bedingungen arbeitsbedingter Migration im Kontext kapitalistischer Ungleichheitsverhältnisse beleuchten, bleiben im öffentlichen Diskurs hingegen marginalisiert. Doch gerade mit Blick auf die Arbeits‑ und Lebensbedingungen der zahlreichen niedrigqualifizierten Arbeitsmigrant*innen aus kapitalistisch weniger entwickelten Regionen ist dieser Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

Arbeitsmigrationsdynamiken entfalten sich je nach ökonomischem und sozialräumlichem Kontext in Abhängigkeit von den vorherrschenden Produktionsstrukturen, dem globalen Wettbewerb, der Strukturierung nationaler Arbeitsmärkte, der Arbeitsteilung auf betrieblicher und globaler Ebene sowie einer jeweils spezifischen sozialen Eigenlogik. Die politische Regulierung der Arbeitsmigration ist dabei häufig mit dem ökonomischen Interesse kapitalistischer Unternehmen verknüpft, einen möglichst unbegrenzten und flexiblen Zugriff auf billige Arbeitskraft zu erhalten, mit dem Ziel, gegenüber Marktkonkurrent*innen höhere Profite erwirtschaften zu können (Gleiss 2018). »[P]olitische Strategien im Umgang mit Arbeitsmigration« sind in der Praxis jedoch nicht auf eine allgemein gültige ökonomische Rationalität »des Kapitals« zurückzuführen, da »die widersprüchlichen Interessen verschiedener Kapitalgruppen mit ihren unterschiedlichen Anforderungen an den Arbeitsmarkt die Durchsetzung einer konstanten staatlichen Migrationspolitik« erschweren (Hardy 2016: 35).

Die Unterteilung von Lohnarbeiter*innen auf Grundlage ihrer Staatsangehörigkeit und ihres (tatsächlichen oder zugeschriebenen) Qualifikationsniveaus prägt auf entscheidende Art und Weise den Zugang zum Arbeitsmarkt und bestimmt über die materiellen Lebensumstände unterschiedlicher Kategorien von Arbeiter*innen. Das Verhältnis zwischen der Herkunft und Qualifikation von Lohnarbeiter*innen bestimmt folglich über die Inklusion und Exklusion von Arbeiter*innen auf dem Arbeitsmarkt, die selektive Auf‑ und Abwertung von Arbeitsvermögen und die Verwertbarkeit von Arbeitskraft im Allgemeinen. Insbesondere niedrigqualifizierten Arbeitsmigrant*innen wird über diese Mechanismen ein »Sonderstatus« zugeschrieben, der sich im Zuwanderungsland in einer »relativen Entrechtung und Entwurzelung« der Arbeiter*innen niederschlägt. Dies führt in der Konsequenz dazu, dass die »kostengünstige Arbeitskraft« weniger qualifizierter migrantischer Arbeiter*innen dauerhaft »für die unattraktiven Segmente des Arbeitsmarktes« mobilisierbar bleiben (Dörre 2012c: 109). Migrantische Arbeitskräfte sind somit immer mit dem Problem einer »doppelten Unterwerfung« konfrontiert:

»[U]nter die kapitalistisch bestimmten Ausbeutungsbedingungen [und, J. P.] […] unter die Arbeits‑, Grenz‑ und Aufenthaltsregime der Nationalstaaten, die die Wanderungsbewegung zum Vorteil [eines Teils, J. P.] des innerhalb ihrer Grenzen operierenden Kapitals zu regulieren suchen.« (Heltfleisch 2018: 871)

Auf globaler Ebene hat die Expansion des Kapitalismus ein hierarchisches System von Arbeitsmobilität und Staatsangehörigkeiten geschaffen, aus dem eine komplexe Arbeitsteilung (Castells 2003; Kofman 2008: 110) und Ungleichheitsstruktur (Boatcă 2016: 140) erwachsen sind. Je niedriger der Platz ist, der Arbeitsmigrant*innen innerhalb dieses Systems zugewiesen wird, umso restriktiver wird ihre Mobilität reguliert und umso eher sind sie mit schlechten Arbeits‑ und Lebensverhältnissen konfrontiert (Hardy 2016: 32). Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass zwischen nationalstaatlichen bzw. regionalen Arbeitsmigrationsregimen und der kapitalistischen Verwertung von Arbeitskraft ein direkter Zusammenhang besteht, der sich nicht selten auch in institutionellen und strukturellen Hürden der Organisierung migrantischer Arbeiter*innen äußert (z. B. Assalam 2019).

Richtet man den Blick auf kapitalistisch weniger entwickelte Staaten, lassen sich Arbeitsmigrationsdynamiken im Kontext des komplexen Zusammenspiels von Globalisierung (Geisen 2018: 881), (De-)Kolonialisierung, der Verlagerung von industriellen Produktionsstätten von »Nord« nach »Süd« (Smith 2016) und einem dem Vorbild der kapitalistischen Zentrumsstaaten entsprechenden nachholenden Entwicklungsstreben nachvollziehen (Delgado-Wise/Veltmeyer 2016: Kap. 1). In peripheren Regionen besteht dabei ein enger Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitsmigration (Choudry/Hlatshwayo 2016b: 4). Niedrigqualifizierte Arbeiter*innen, die aufgrund von fehlenden Erwerbs‑ und (Aus‑)Bildungsmöglichkeiten aus entsprechenden Staaten abwandern, tun dies aus dem unmittelbaren sozioökonomischen Zwang heraus, Einkommen generieren zu müssen, das nicht selten für ganze Haushalte ausreichen muss. Besonders in agrarisch geprägten Regionen sind weite Teile der Landbevölkerung infolge von Strukturwandlungsprozessen und dem Verlust von Land zur Migration gezwungen (Delgado-Wise/Veltmeyer 2016). Ohne die Möglichkeit, Subsistenz zu betreiben, selbstständig zu arbeiten oder stabile Einkommensquellen in ihrem Herkunftsland zu generieren, wird Arbeitsmigration zu einer Überlebensstrategie.

Vor dem Hintergrund dieser Problemkonstellation stellt sich die Frage, welche strukturellen Faktoren die Einkommens‑ und Arbeitsbedingungen gerade jener Segmente prägen, in denen niedrigqualifizierte Arbeitsmigrant*innen zum Einsatz kommen. Davon abgeleitet ist es von zentralem Interesse zu verstehen, wie es diesen Arbeiter*innen trotz Löhnen, die immer wieder das Existenzminimum zu unterschreiten scheinen, möglich ist, ihr Überleben zu sichern. Ein Schlüssel zur soziologischen Untersuchung dieser und damit einhergehender Fragestellungen findet sich in der Analyse der Ausbeutung niedrigqualifizierter migrantischer Arbeitskräfte.

1.1Gegenstand, These und Fragestellung

Aus historischer ebenso wie aus sozialräumlicher Perspektive können unterschiedliche Formen und Logiken von Arbeitsmigration soziologisch untersucht werden (Geisen 2005a). Der Themenkomplex umfasst beispielsweise traditionelle Wanderungsdynamiken, Pendelmigration, Saisonarbeit (u. a. Lucassen 2005) und dauerhafte Einwanderungsbewegungen im Rahmen von Anwerbeprogrammen (u. a. Nikolinakos 1973b) sowohl innerhalb von Staaten und Regionen (u. a. Birke/Bluhm 2019) als auch auf globaler Ebene (u. a. Palmer 2016). Die vorliegende Forschungsarbeit beschäftigt sich im Speziellen mit der Überausbeutung niedrigqualifizierter Arbeitsmigrant*innen am Beispiel des malaysischen Palmölsektors. Hierbei handelt es sich um eine über Jahrhunderte hinweg verstetigte Dynamik überwiegend zeitlich begrenzter Land‑zu‑Land‑Migration regionaler Arbeitskräfte.

Nachfolgend skizziere ich zunächst den Gegenstand der Forschung, die damit einhergehende Fragestellung und die forschungsleitenden Thesen, bevor ich den Forschungsstand des sozialwissenschaftlichen Feldes abbilde, in dem sich meine Untersuchung verortet, und mein methodisches Vorgehen darlege.

Malaysisches Palmöl für den Weltmarkt: ein ökologisches und sozioökonomisches Konfliktfeld

Palmöl ist eines der wichtigsten Pflanzenöle auf dem Weltmarkt. Der Rohstoff ist nicht nur Bestandteil zahlreicher Nahrungsmittel und Kosmetikprodukte; in den letzten Jahren spielte Palmöl aufgrund seiner besonderen energetischen Merkmale zudem eine immer bedeutendere Rolle in der Produktion von vermeintlich ökologisch nachhaltigen Biokraftstoffen (Backhouse 2013; Chiavari 2013; Dietz u. a. 2014; Pichler 2015; Pye 2008). Malaysia ist nach Indonesien der zweitgrößte Palmölproduzent weltweit.5 Vor dem Hintergrund globaler politischer Anstrengungen zur Förderung vermeintlich »grüner Wirtschaftsmodelle«, wie jenem einer wissensbasierten Bioökonomie (BiotechCorp/MOSTI 2013; OECD 2019a), gewann die Palmölproduktion für Malaysia an neuer wirtschaftsstrategischer Bedeutung. Der südostasiatische Staat erhofft sich dabei durch eine fortlaufende Industrialisierung des einheimischen Palmölsektors nicht nur eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt. Die Aufwertung der malaysischen Palmölwertschöpfungskette soll zudem Entwicklungspotenziale entfesseln, die sich langfristig sowohl ökonomisch als auch sozioökonomisch positiv auswirken sollen (Puder 2019a; Puder/Tittor 2020). Nicht zuletzt seit der 2017 veröffentlichten Erklärung des EU-Parlaments steht jedoch fest, dass der gegenwärtig dominierende agrarindustrielle Ölpalmenanbau alles andere als ökologisch nachhaltig ist (Kunz/Puder 2018: 17).

Wissenschaftliche Studien und Berichte von Nichtregierungs‑ und Umweltorganisationen verweisen bereits seit Jahren auf die Zerstörung sensibler Ökosysteme und die negative Klimabilanz des monokulturellen Ölpalmenanbaus (u. a. Greenpeace 2007; Obidzinski u. a. 2012). Weniger bekannt als die ökologischen Widersprüche der agrarindustriellen Palmölproduktion sind hingegen die schlechten Arbeits‑ und Lebensbedingungen, unter denen zahlreiche migrantische Arbeiter*innen in Malaysia Palmöl für den Weltmarkt produzieren. Der 2004 gegründete Roundtable on Sustainable Palm Oil (RSPO) und das damit einhergehende Zertifizierungssystem kann als Versuch gewertet werden, einen ökologisch nachhaltigeren Palmölanbau zu fördern (kritisch dazu u. a. Pye 2016). Die mit der agrarindustriellen Palmölproduktion verbundenen sozialen und sozioökonomischen Probleme bleiben darin jedoch weitestgehend unberücksichtigt. So prangert der RSPO‑Standard zwar den weitverbreiteten Einsatz von Kinderarbeit an und spricht sich für die staatliche Unterstützung einer global konkurrenzfähigen kleinbäuerlichen Palmölproduktion aus; auf die anhaltend prekäre Situation der verwundbarsten Beschäftigungsgruppe der malaysischen Palmölindustrie – der Arbeitsmigrant*innen – geht der Standard hingegen nicht dezidiert ein.

Im Verhältnis zur einheimischen lohnabhängigen Bevölkerung besitzt Malaysia die viertgrößte migrantische Arbeiter*innenschaft der Welt (Kotecha 2018). In Südostasien gilt das Land sogar als wichtigstes Zielland migrantischer Arbeitskräfte (Ford 2014: 311). Ein Großteil der aus der Region stammenden Arbeiter*innen werden in Malaysia in sogenannten dirty, dangerous und degrading Jobs (3D-Jobs) beschäftigt (ILO 2016b) – so auch im lokalen Palmölsektor. Der Einsatz niedrigqualifizierter migrantischer Arbeitskräfte in der Plantagenwirtschaft reicht dabei weit in die Geschichte des ehemaligen britischen Protektorats zurück und ist seit der Unabhängigkeit Malaysias und der Konsolidierung des vorherrschenden Arbeitsmigrationsregimes zu einem zentralen Einflussfaktor der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes geworden. Rund 80 Prozent der auf malaysischen Ölpalmplantagen beschäftigten Arbeiter*innen stammen u. a. aus Indonesien, Indien, Bangladesch oder den Philippinen. Ohne den Einsatz migrantischer Arbeitskräfte würde die Palmölproduktion in Malaysia innerhalb nur eines Tages zum Erliegen kommen. Trotz der zentralen Bedeutung migrantischer Arbeitskräfte für den exportorientierten Palmölsektor und ihrer potenziell vorhandenen strukturellen Machtressourcen (Schmalz/Dörre 2014: 222 f.) ist die Arbeits‑ und Lebensrealität migrantischer Palmölarbeiter*innen weiterhin durch extrem niedrige Löhne, unsichere Arbeitsverhältnisse und die zunehmende staatliche Flexibilisierung der Arbeitsmigration gekennzeichnet.

Fragen nach der ökologischen Nachhaltigkeit und den sozioökonomischen Effekten der expandierenden Palmölindustrie sowie nach dem politischen Umgang mit der Arbeitsmigration verweisen auf ein stark umkämpftes Spannungsfeld innerhalb Malaysias. Die vorliegende Forschungsarbeit verortet sich innerhalb dieser Konfliktkonstellation. Dennoch liegt der Schwerpunkt meiner Untersuchung trotz der hohen gesellschaftlichen Relevanz der wissenschaftlichen Forschung zu den ökologischen Auswirkungen der industriellen Palmölproduktion auf der Untersuchung der bisher wenig beachteten spezifischen Ausbeutung niedrigqualifizierter migrantischer Arbeitskräfte in dem Sektor. In diesem Sinne soll meine Forschung auch ein Beitrag dazu leisten, neben der kritischen Debatte um die Ausbeutung komplexer Ökosysteme durch den expandierenden, monokulturellen Palmölanbau auch die Frage der damit verbundenen Ausbeutung von migrantischer Arbeitskraft stärker in den Fokus zu rücken.

Das Paradox der Überausbeutung: Thesen und Fragestellungen der Forschung

Einige Studien und wissenschaftliche Arbeiten, die sich kritisch mit den sozioökonomischen Implikationen der malaysischen Palmölindustrie auseinandersetzen, konnten die schlechten Arbeits‑ und Lebensverhältnisse migrantischer Arbeitskräfte bereits teilweise aufzeigen. Wie im Rahmen der Arbeit gezeigt wird, sind es nicht nur niedrige Löhne, sondern auch Prekarität, Informalität und gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, mit denen migrantische Arbeitskräfte im malaysischen Palmölsektor konfrontiert sind. Wiederkehrende Probleme der sozioökonomischen Reproduktion sind häufig die Folge. Dabei wird bisweilen eine Verbindung zwischen der Profitabilität der Palmölindustrie und dem weitverbreiteten Einsatz günstiger, migrantischer Arbeitskraft hergestellt (Nielsen/Sendjaya 2014: 925; Pye u. a. 2012: 331), ohne dabei jedoch analytisch fokussiert auf die spezifische Form der Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen einzugehen. Geht man von den Grundannahmen des marxistischen Ausbeutungstheorems aus, wonach die kapitalistische Produktionsweise strukturell auf der Ausbeutung von Lohnarbeit beruht, die Ausbeutung von Arbeitskraft jedoch eine natürliche Schranke besitzt, die an jener Stelle erreicht ist, an der sich die Arbeitskraft gerade noch auf einem Mindestniveau reproduzieren kann, stellen die Ausbeutungsverhältnisse von Arbeitsmigrant*innen im malaysischen Palmölsektor auf den ersten Blick ein Paradox dar. Es scheint, als würde die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft über ein »normales« Maß der Ausbeutung hinausgehen. Daraus erwächst zugespitzt formuliert die These, dass Arbeitsmigrant*innen in der malaysischen Palmölindustrie systematisch überausgebeutet werden. Diese These bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Davon abgeleitet stellt sich die Frage, wie es überausgebeuteten Arbeiter*innen gelingt, ihre Arbeitskraft zu reproduzieren.

Anstelle des Versuchs, Ausbeutungsraten zu quantifizieren oder den exakten Zeitpunkt zu identifizieren, bei dem aus Arbeit zur Reproduktion der Arbeitskraft Mehrarbeit wird, geht es mir darum zu verstehen, wie (Über-)Ausbeutung6 über ökonomische und außerökonomische Mechanismen ermöglicht wird und sich in der Produktions‑ und Reproduktionssphäre konkret entfaltet. Diese Perspektive fokussiert auf die sozialen Verhältnisse und Dynamiken, die unterschiedliche Ausbeutungsregime hervorbringen, stabilisieren und reproduzieren. Ich gehe im Anschluss daran davon aus, dass jenseits von auf dem Äquivalententausch beruhenden Ausbeutungsverhältnissen ebenfalls Formen intensivierter Ausbeutung von Lohnarbeit existieren können, die sich als Überausbeutung bezeichnen lassen. In diesem Sinne geht es auch darum, ein Verständnis davon zu entwickeln, worin und weshalb sich die Ausbeutung einer Beschäftigungsgruppe gegenüber einer anderen unterscheidet. Die Vorstellung der systematischen Überausbeutung von Lohnarbeit deutet dabei auf eine Übernutzung von Arbeitskraft und eine unzureichende Ressourcenausstattung hin, in deren Folge die Reproduktion der Arbeitskraft nicht durch die Verrichtung von Lohnarbeit aufrechterhalten werden kann. Worin sich diese äußert, muss sowohl theoretisch hergeleitet als auch konkret empirisch untersucht werden.

Um sich der These überausbeuterischer Arbeitsverhältnisse strukturiert zuwenden zu können, ist die Forschung in zwei Fragenkomplexe unterteilt. Der erste Komplex bezieht sich auf die theoretische Dimension der übergeordneten Forschungsthese und ‑frage. Demnach gilt es, Folgendes zu untersuchen:

Wodurch werden Überausbeutungsverhältnisse in kapitalistischen Gesellschaften bedingt? Was zeichnet sie gegebenenfalls idealtypisch in Abgrenzung zu Formen »einfacher« Ausbeutung aus?

Durch welche Mechanismen werden Überausbeutungsverhältnisse gesellschaftlich organisiert, (re‑)produziert und stabilisiert?

Welche Rolle spielt hierbei die Staatsangehörigkeit von Arbeiter*innen? Und wie wirken Staatsangehörigkeit und Klassenzugehörigkeit zusammen?

Der zweite Fragenkomplex setzt auf der empirischen Ebene der Forschung an und beschäftigt sich mit den anschließenden Problemen:

Was kennzeichnet die konkreten Ausbeutungsverhältnisse niedrigqualifizierter migrantischer Palmölarbeiter*innen in Malaysia?

Kann im Falle der Ausbeutung dieser Gruppe von Lohnarbeiter*innen von einer Form der Überausbeutung gesprochen werden?

Welche ökonomischen und außerökonomischen Mechanismen werden in diesem Kontext wirksam?

Beide Fragenkomplexe und die darin formulierten Teilfragen überlappen einander wechselseitig. Demnach sind die theoretisch-konzeptionellen Fragen untrennbar mit jenen verbunden, die empirisch beobachtbar auf der konkreten Fallebene angesiedelt sind. Nur in ihrer Verschränkung lässt sich die Ausgangsfrage nach der Überausbeutung niedrigqualifizierter, migrantischer Arbeitskraft bearbeiten. Der Forschungsgegenstand, wie er nachfolgend dargelegt wird, setzt dementsprechend sowohl an einem theoretischen Problem als auch an einer empirischen Forschungslücke an.

1.2Stand der Forschung: der Nexus Überausbeutung und Arbeitsmigration in (Semi‑)Peripherien

Der Beitrag meiner soziologischen Forschungsarbeit bewegt sich auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Forschungsfeldern. Thematisch berührt die Arbeit im Wesentlichen die Frage nach der Überausbeutung von lohnförmiger Arbeitskraft, den Komplex der Arbeitsmigration sowie die Spezifik der Arbeitsverhältnisse migrantischer Arbeiter*innen in der malaysischen Palmölindustrie. Im Folgenden werden diese drei sozialwissenschaftlichen Themenbereiche im Hinblick auf die zugrunde liegende Fragestellung meiner Forschungsarbeit skizziert.

Überausbeutung als soziologisches Untersuchungsfeld

Eine Frage stellt sich vorweg: Gibt es gegenwärtig überhaupt Bedarf an einem theoretisch fundierten Überausbeutungsbegriff angesichts des Umstandes, dass die Soziologie heute eine Vielzahl an Ungleichheits‑ und Herrschaftsverhältnissen in und jenseits der Arbeitssphäre abzubilden vermag (u. a. Bude/Staab 2016; Bude/Willisch 2006; Kreckel 2004; 2008, Solga u. a. 2009a)? Lohnarbeit und die Arbeitssphäre als die Epizentren gesellschaftlicher Konflikte schienen zumindest in den westlichen Kernindustriestaaten für lange Zeit an Relevanz verloren zu haben (u. a. Beck 2016; Gorz 1985; Offe 1983). Der in den 1980er-Jahren angenommene Bedeutungsverlust der Lohnarbeit als identitätsstiftender Bezugspunkt hat dem Sozialwissenschaftler Claus Offe zufolge dazu geführt, dass Erwerbsarbeit als determinierender Faktor im Hinblick auf die »kollektive Betroffenheit« und das »gesellschaftlich[e] Bewusstsein und Handeln« sukzessive an Einfluss verloren hat (Offe 1983: 41). Im Zuge dieser Entwicklungen wurden Ausbeutungstheorien weitestgehend aus der soziologischen Ungleichheitsforschung verdrängt (Boltanski/Chiapello 2006: 380 f.). Gegenwärtig scheint es, als seien Auseinandersetzungen um die Ausbeutung von (Lohn‑)Arbeit7 von anderen sozialen Konflikten wie dem Zugang zu Ressourcen (u. a. Engels 2010; Weizäcker 2008), der Kostenverteilung der globalen Umweltkrise (u. a. Brand/Wissen 2017; Lessenich 2014) oder dem Kampf gegen Diskriminierung auf der Basis von beispielsweise Geschlecht oder Herkunft (u. a. Lutz/Amelina 2017; Walgenbach u. a. 2007) überlagert. Blickt man jedoch auf die globale Entwicklungsdynamik von Kämpfen um und in der Sphäre der Arbeit (Silver 2005) und legt gleichzeitig analytisch ein erweitertes Arbeits‑ und Ausbeutungsverständnis an (Haug 1994a; Komlosy 2014; van der Linden 2018), zeichnet sich ein anderes Bild ab. Sowohl aus einer marxistisch‑feministischen (u. a. Neusüß 2013; Werlhof 1991) als auch einer globalen Perspektive lässt sich der Ausbeutungsbegriff längst nicht mehr auf die formale Lohnarbeitssphäre beschränken (Amin/van der Linden 1997b; Balibar 1990; Fischer 2020; van der Linden 2018). Im Kontext globalisierter Produktionsnetzwerke und Arbeitsmärkte (u. a. Butollo 2016; Fischer 2020) konnte zudem gezeigt werden, dass sich Arbeitskämpfe nicht mehr nur auf den sozialräumlichen Horizont des Nationalstaates beschränken. Berücksichtigt werden müssen beispielsweise die seit Jahren zunehmende transnationale Bewegung migrantischer Arbeiter*innen (Pries 2008; Pries/Kurtenbach 2016) und damit verbundene Konflikte (z. B. Pye 2014). Arbeitsverhältnisse, sowohl innerhalb als auch außerhalb der formalen Lohnarbeitssphäre, sind und bleiben in kapitalistischen Gesellschaften folglich eine zentrale Konfliktachse im Ringen um den Zugang zu und die Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen und sozialen Positionen. Eine zeitgemäße analytische Betrachtung dieser setzt auch die Frage nach den zugrundeliegenden Ausbeutungsverhältnissen wieder auf den Plan einer kritischen Soziologie (Dörre u. a. 2012; Lessenich 2014) und liefert dem Nachdenken über die systematische Überausbeutung von Lohnarbeit diverse Anknüpfungspunkte.

Auch heute noch gilt Karl Marx als zentraler Vordenker eines kritischen Verständnisses der Ausbeutung von Lohnarbeit. In seinem Werk benannte Marx zwar die Möglichkeit und das vereinzelte Auftreten überausbeuterischer Arbeitsverhältnisse (z. B. MEW 23 1962: 332 f., 626), jedoch mündeten seine Überlegungen dazu nicht in einer analytischen Betrachtung von Überausbeutungsverhältnissen als eigenständigem Phänomen, das in der kapitalistischen Produktionsweise strukturell angelegt ist. Auch in der von Rosa Luxemburg aufgestellten Imperialismustheorie deuten sich analytische Ansätze an, die auf einen logischen Zusammenhang zwischen kapitalistischem Wachstumszwang und überausbeuterischen Arbeitsverhältnissen hinweisen (z. B. Luxemburg 2015 [1913]: 981). Doch auch in ihrem Denken findet sich keine dezidierte Auseinandersetzung mit der Überausbeutung von lohnförmiger Arbeit.

In öffentlichen Debatten findet der Überausbeutungsbegriff von Zeit zu Zeit Verwendung, um auf skandalisierende Art und Weise auf besonders schwere, inhumane Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen (z. B. Andujo 2020; Friedrich 2020; Friedrich/Redaktion analyse&kritik 2018; Friedrich/Zimmermann 2015). In diesem Kontext erhält der Ausdruck tendenziell eine moralische Wendung, ohne dabei Rückbezug auf eine feststehende analytische Kategorie zu nehmen. In der deutschsprachigen Sozialwissenschaft wurde die Frage der Überausbeutung von Arbeitskraft bisher nur vereinzelt und wenig systematisch behandelt. Im Rahmen der Wandlungsprozesse und globalen Expansion des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg wurde u. a. aus marxistischer Perspektive die Tendenz einer verschärften Ausbeutung von Lohnarbeit diskutiert. Die zunehmende Monopolisierung des Kapitals (Bordag 1951) und die sich in den 1970er-Jahren zuspitzende Krisendynamik des globalen Kapitalismus (Gross 1973) hätten dieser Debatte zufolge strukturell dazu geführt, dass sich der Ausbeutungsgrad der Lohnarbeit sukzessive intensiviert. In aktuelleren Debatten wird der Begriff der Überausbeutung (z. T. auch indirekt siehe Dörre/Haubner 2012; Dörre/Liebig 2011; Haubner 2017) in erster Linie in drei Zusammenhängen verwendet: Im Rahmen einer grundlegenden Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise wird beispielsweise auf den Zusammenhang der Überausbeutung von Umwelt und menschlicher Arbeitskraft (Stache 2018) in der (Semi‑)Peripherie verwiesen, der strukturell im Wachstumszwang kapitalistischer Ökonomie angelegt ist (Lessenich/Dörre 2014). Wachstumsgrenzen und die sich zuspitzenden inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise führten nicht nur zu einer Überlastung der natürlichen Stoffkreisläufe, sondern bedingten auch den intensivierten Zugriff auf und Verbrauch von Arbeitskraft im »Globalen Süden«. In sogenannten »äußeren Märkten« des kapitalistischen Weltsystems sorgten demnach »Überausbeutung, ungleicher Tausch und politische Disziplinierung für die Existenz abgewerteter Ressourcen und Bevölkerungsgruppen« (Dörre 2019: 10). Umweltzerstörung, Armut, Ungleichheit und Prekarität sind in diesem Sinne Ausdruck einer Form intensivierter Ausbeutung (Müller u. a. 2018).

Auch im Rahmen der Diskussion um die sozioökonomischen Effekte sich transformierender globaler Produktionsnetzwerke und Wertschöpfungsketten (Castells 2003; Fischer 2020; Smith 2016; Sproll 2016) sowie des Siegeszugs des Neoliberalismus und einer damit einhergehenden fortschreitenden Prekarisierungstendenz (z. B. Candeias 2008) wird vereinzelt die Überausbeutung von Arbeitskraft thematisiert. Überausbeutung beschreibt hierbei meist »menschenunwürdige« Arbeitsbedingungen und schlechte Arbeitsverhältnisse in den »neuen Produktionsstätten der Welt« (Scherrer 2013: 215). Christoph Scherrer zufolge mangelt es gegenwärtig an international verankerten Sanktionsinstrumenten, die eine global verbindliche Arbeitsnorm zur Vermeidung von überausbeuterischen Arbeitsverhältnissen in (Semi‑)Peripherien etablieren könnten (ebd.: 218).

Ein weiterer, für das hier dargelegte Forschungsvorhaben besonders relevanter Debattenstrang bezieht sich auf die Frage der spezifischen Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte. So wird beispielsweise von Wilcke und Lambert auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen legalem Status und Ausbeutungsgrad migrantischer Arbeiter*innen verwiesen (2015). Fehlende gewerkschaftliche Einbindung migrantischer Arbeiter*innen (Behr 2013), mangelnde Rechtssicherheit und der eingeschränkte Zugriff auf Rechtsmittel bilden demnach die Grundlage, auf der migrantische Arbeitskraft überausgebeutet werden kann (Wilcke/Lambert 2015: 14 ff.).

Trotz dieser Verweise auf die Existenz überausbeuterischer Arbeitsverhältnisse mangelt es innerhalb der deutschsprachigen Soziologie bisher an einer konzeptionellen Ausarbeitung dessen, was Überausbeutungsverhältnisse im Allgemeinen als strukturelles Verhältnis sozialer Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften charakterisiert. Auch die wechselseitige Beziehung zwischen Staatsangehörigkeit als eines Kriteriums sozialer Auf‑ bzw. Abwertung und der Ausbeutung von Arbeiter*innen in der konkreten Produktionsstätte ist bisher theoretisch und empirisch weitestgehend ungeklärt (Birke 2018; Birke/Bluhm 2019).

In der marxistisch geprägten Weltsystem‑ und Dependenzdebatte verhält es sich in Teilen anders. So wies vor allem Immanuel Wallerstein in verschiedenen Arbeiten auf die strukturelle Logik einer intensivierten Ausbeutung von Arbeitskraft in (semi‑)peripheren Zonen des Weltsystems hin (Smith u. a. 1984; Wallerstein 2004b; 2019; Wallerstein/Smith 1992). Auch die Historikerin Andrea Komlosy reflektiert in ihren Studien über nicht reproduktionssichernde (Lohn‑)Arbeitsverhältnisse. Damit zusammenhängend beschäftigt sie sich zwar analytisch mit dem aus unbezahlter Arbeit und der Kombination verschiedener Arbeitsverhältnisse innerhalb eines Haushalts hervorgehenden Transferwert, welcher der Kapitalseite quasi über das »normale« Maß der Wertübertragung hinaus zufließt (Komlosy 2012: 38, 78), eine Auseinandersetzung mit der konkreten Form der Überausbeutung von Arbeitskraft klammert sie dabei jedoch aus. Im Rahmen der Debatte um die strukturelle Unterentwicklung des Kapitalismus in (semi‑)peripheren Regionen und der These des ungleichen Tauschs wurde von einer indirekten Ausbeutung der Subsistenzarbeit in kapitalistisch »weniger entwickelten« Staaten zugunsten der kapitalistischen Expansion der westlichen Industriestaaten ausgegangen. Die daraus resultierende Überausbeutung betreffe vor allem weibliche Arbeiterinnen, die zur Aufrechterhaltung der sozioökonomischen Reproduktion des Haushalts subsistenzsichernde Aufgaben ausführen, während männliche Haushaltsmitglieder im »kapitalistischen Sektor Eingang finden.« (Donner-Reichle u. a. 1978: 118) Diese Arbeitsteilung führe dazu, dass männliche Arbeit unterbezahlt und damit überausgebeutet werden kann, wodurch sich der Kapitalismus in der (Semi‑)Peripherie in seiner »unterentwickelten« Form reproduzieren kann. Zwar konnte innerhalb dieses Debattenstrangs bereits auf die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Formen der Ausbeutung und der Position hingewiesen werden, die Länder in der internationalen Arbeitsteilung einnehmen, jedoch mangelte es an einer eigenständigen Heuristik zur soziologischen Untersuchung von Überausbeutungsverhältnissen (Meillassoux 1972: 102).

In der kritischen weltsystem‑ bzw. dependenztheoretischen Debatte, wie sie vor allem im lateinamerikanischen Kontext geführt wird, fand der Überausbeutungsgedanke durch Ruy Mauro Marini bislang eine eigene theoretisch-konzeptionelle Anwendung (Marini 1974). Marini leitet seine These der Überausbeutung peripherer Arbeiter*innen werttheoretisch aus der strukturellen Unterentwicklung und Abhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten von den industriellen Kernindustrieländern ab. Überausbeutung wird hier als ein spezielles Akkumulationsregime verstanden (Sproll 2016: 252). Seither blieb jedoch auch dieses Diskussionsfeld eher übersichtlich (u. a. Ebenau u. a. 2013; Higginbottom 2010; Santana/Balanco 2013). In einer neueren Arbeit des Sozialwissenschaftlers John Smith erfuhr die von Marini aufgestellte These der strukturellen Überausbeutung von Arbeiter*innen in der Peripherie eine Aktualisierung (Smith 2016). Smith analysiert die Überausbeutung von Arbeiter*innen in der (Semi‑)Peripherie dabei im Kontext der Entstehung einer neuen Form des Imperialismus, der Verlagerung von Produktionsnetzwerken aus dem Zentrum in die (Semi‑)Peripherie und der gegenwärtigen Krisendynamik der kapitalistischen Produktionsweise. Jedoch fehlt es auch hier an einem empirisch begründeten Verständnis von Überausbeutung auf Mikro‑ bzw. Mesoebene, das die Reproduktion der Arbeitskraft und der Arbeiter*innenklasse als ganzer in den Fokus der Analyse rückt (Meillassoux 1972; Selwyn 2012). Bisher ist keine soziologische Forschungsarbeit bekannt, die auf der Grundlage von theoretisch-analytisch hergeleiteten Kriterien die Überausbeutung migrantischer Arbeitskräfte innerhalb der Produktionssphäre empirisch untersucht hat.

Der Fokus Arbeitsmigration: eine Verortung innerhalb der Migrationssoziologie

Die transdisziplinär ausgerichtete Migrationsforschung unterscheidet zwischen verschiedenen Migrationsarten (u. a. Binnenmigration, Fluchtmigration, Menschenschmuggel bzw. -handel, formelle und informelle, dauerhafte und temporäre Migration) (Aigner 2017). Arbeitsmigration wird darin gesondert, als eine primär sozioökonomisch motivierte Form der Wanderung behandelt. Als Arbeitsmigrant*innen werden jene Arbeiter*innen bezeichnet, die dauerhaft oder temporär auf der Suche nach einer Lohnarbeit von ihrem Herkunftsort abwandern (ILO 2015: 28). Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird der Begriff der Arbeitsmigration verwendet, um »einen besonderen Migrationstypus zu beschreiben«, der »nicht als Normalfall der Migration angesehen« wird, »sondern als Ausnahme bzw. Sonderfall, der sich vermeintlich von anderen Migrationstypen durch seinen Zweck grundlegend unterscheidet.« (Geisen 2005b: 19) Während sich die klassische Migrationsforschung mit Fragen von Fremdheit, sozialer Integration und Assimilation von Migrant*innen beschäftigt (u. a. Park 1928; Schütz 1972; Simmel 1908), fokussiert die sozialwissenschaftliche Debatte um Arbeitsmigration, wie sie sich u. a. in der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren etablierte (Oltmer 2012: 12), auf die ökonomischen und sozioökonomischen Bedingungen von Arbeitsmigrationsbewegungen (Geisen 2005b; Nikolinakos 1973a). Im Jahr 2013 gab es Schätzungen zufolge weltweit rund 150 Millionen Arbeitsmigrant*innen (ILO 2017: 7).8 Die soziologische Auseinandersetzung mit Arbeitsmigration ist dabei sowohl im Hinblick auf den grundlegenden thematischen als auch den sozialräumlichen Forschungszuschnitt vielfältig (u. a. Oltmer u. a. 2012; Parnreiter 2000; Sassen 2001a). Um den Stand der Forschung zur Frage der Arbeitsmigration umrisshaft abbilden zu können, muss dementsprechend das wissenschaftliche Feld hierzu zunächst in verschiedene Teildebatten unterteilt werden.

Die politische Auseinandersetzung mit Arbeit und Migration hat eine Reihe an policy-orientierten Studien hervorgebracht (u. a. Angenendt 2008; EMN/OECD 2020; ILO 2016a; IOM 2019). Entsprechenden Arbeiten liegt in der Regel ein funktionales Kalkül zugrunde, wonach die Mobilität von Arbeitskräften von ökonomischem Nutzen für die Volkswirtschaften sogenannter Aus‑ und Einwanderungsländer sein müssen. Ein damit verwandter Debattenstrang, der im Zusammenhang mit der Untersuchung von Mobilitätsdynamiken in den 1980er-Jahren innerhalb der Migrationssoziologie dominierte, bezieht sich auf die Untersuchung sogenannter Pull‑ und Push‑Faktoren arbeitsbedingter Migration (Lee 1966). Makroökonomische Analysen, die auf damit verbundenen neoklassischen Modellen aufbauen, gehen von der Annahme aus, dass Arbeitsmigration vorrangig durch ein strukturelles Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage reguliert wird. Die Abwanderung von Arbeitskräften aus einem Land und die Einwanderung in ein anderes wird dabei vor allem durch Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Volkswirtschaften begünstigt (u. a. Borjas 1989; kritisch dazu Parnreiter 2000). Demnach sind Migrationsentscheidungen von Arbeiter*innen vorrangig durch eine antizipierte Einkommensmaximierung motiviert (u. a. Todaro 1980). Die mikroökonomische Studie des Ökonomen Oded Starks denkt hingegen in weiten Teilen über neoklassische Erklärungsansätze zur Untersuchung von Arbeitsmigrationsbewegungen hinaus, indem er beispielsweise die Rolle von Migrationsnetzwerken empirisch beleuchtet und Migrationsentscheidungen im Sinne einer Haushaltsentscheidungen versteht (1991). Anstelle von Push‑ und Pull‑Faktoren sind Stark zufolge vor allem finanzielle Unsicherheiten und der Versuch, das Haushaltseinkommen zu diversifizieren, wesentliche Treiber für die Mobilität migrantischer Arbeitskräfte (ebd.: 11–16).

Ein weiteres Forschungsfeld beschäftigt sich aus nationalstaatlicher Perspektive mit der Entstehung dualer bzw. segmentierter Arbeitsmärkte infolge der Zuwanderung von Arbeitskräften (Piore 1979). Ansätze, die an diese von Michael J. Piore aufgestellte These der Arbeitsmarktsegmentierung anknüpfen (u. a. Gordon 1995), gehen davon aus, dass mit der Fortentwicklung des Kapitalismus in industrialisierten Empfängerländern am »unteren Ende der Jobhierarchie« häufig ein »Arbeitsmangel« entsteht, der gezielt durch mobile Arbeitskräfte befriedigt werden soll (Parnreiter 2000: 29). Das Konzept baut dabei »auf der Erkenntnis auf, daß Arbeitsmärkte in den industrialisierten Gesellschaften« in »gute und schlechte Arbeitsplätze gespalten sind.« (ebd.) Nach Piore akzeptieren niedrigqualifizierte Arbeitsmigrant*innen in industriellen Empfängerländern schlechte Beschäftigungsverhältnisse aufgrund mangelnder Alternativen und eines funktionalen Verhältnisses, das sie zur Verrichtung von Lohnarbeit haben (1979: 54). Piore verschiebt dabei den analytischen Fokus tendenziell von der Migrationsentscheidung der Subjekte auf die strukturellen, ökonomischen Bedingungen (und damit auf den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit), die Arbeitsmigrationsdynamiken bedingen:

»The massive migrations from underdeveloped to developed areas seem to be initiated by active recruitment on the part of employers in the developed region for labor to fill a quite specific set of jobs. Thus, it is the employer, not the workers, and the jobs, not the incomes, that are strategic. […] [T]he active agent seems to be the evolution of the developed country and the forces emanating from it.« (ebd.: 19)

Ähnlich argumentieren auch Ansätze, die sich auf das Phänomen des sogenannten brain drain bzw. brain gain beziehen (u. a. Sassen 2007: 70). In diesem Fall sind es jedoch höher‑ bzw. hochqualifizierte Arbeiter*innen, die abwandern und durch Anwerbeprogramme westlicher Industrieländer angezogen werden. Während die systematische Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte in ihrem Herkunftsland eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen kann, profitieren Empfängerländer von der Ausbildung und dem Qualifikationsniveau der migrierten Arbeiter*innen, ohne zuvor in diese investiert haben zu müssen. Der damit verbundene Abfluss von »Humankapital« trägt dependenztheoretischen Ansätzen zufolge zur strukturellen Unterentwicklung peripherer Regionen bei (Schwenken 2016: 215). In verschiedenen daran anknüpfenden Studien zu Migrationsdynamiken und ‑effekten betrachtet die Soziologin Saskia Sassen die Mobilität von Arbeitskräften vor dem Hintergrund eines strukturellen sozialen Ungleichheitsgefälles, welches zwischen unterschiedlichen Staaten und Regionen sowie zwischen urbanen und ländlichen Räumen besteht (u. a. 2001b; 2006; 2007). Sassen zufolge konstituieren Migrationsbewegungen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems ein eigenes Subsystem (2001a). Dieses resultiert aus dem strukturell ungleichen Entwicklungsniveau kapitalistischer Gesellschaften innerhalb des globalen Kapitalismus. In ihren empirischen Studien konzentriert sie sich insbesondere auf den global integrierten Sekundär- und Tertiärsektor, wie beispielsweise den Bereich der Telekommunikation oder der Schwerindustrie. Arbeitsmigration in ländlichen Gebieten klammert sie hingegen weitestgehend aus (siehe dazu u. a. Delgado-Wise/Veltmeyer 2016; Li 2009).

Neben Sassens Arbeiten finden sich weitere weltsystemtheoretische Ansätze zur Untersuchung von Arbeitsmigration. Innerhalb der Weltsystemdebatte gelten Arbeitsmigrationsdynamiken grundsätzlich als Ausdruck einer regionalen Ungleichentwicklung des Kapitalismus und der damit verbundenen globalen Arbeitsteilung, die durch die Kapitalakkumulation angetrieben und strukturiert wird (u. a. Massey u. a. 1993; Potts 1988; Wallerstein 1974; 1990). Damit einher geht die Frage nach der regulierenden Rolle von Nationalstaaten, Grenzregimen und internationalen Institutionen (Choudry/Hlatshwayo 2016a; Sharma 1997), die in ihrer materiellen, juristischen und symbolischen Form einen elementaren Faktor sozialer Ungleichheit darstellen (Weiß 2010: 374).

Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre fanden Netzwerktheorien vermehrt Eingang in die Migrationssoziologie (Kraler/Parnreiter 2005: 339). In diesem Kontext entstanden später verschiedene Forschungsstränge, die sich mit der Globalisierung und Transnationalisierung von Arbeit auseinandersetzen (u. a. Pries 2018; Pries/Kurtenbach 2016; Weiß/Berger 2008). Ein Hauptanliegen transnationaler Ansätze liegt dabei in der epistemologischen Überwindung des methodologischen Nationalismus (Beck 2010). Einige Vertreter*innen dieser Debatte teilen die Annahmen des Weltsystemansatzes, wonach die Globalisierung eine Hierarchie mobiler Arbeitskräfte und Staatsangehörigkeiten hervorgebracht hat, die auf eine globale Hierarchie von Nationalstaaten zurückzuführen ist. Jedoch wird häufig kritisiert, dass derlei Erklärungsansätze die individuellen Motive und Praxen der Subjekte unberücksichtigt lassen (Castles 2003; Castles u. a. 2014; siehe auch Bojadžijev/Karakayalı 2007). Migrationssoziologische Theorien der Transnationalisierung gehen stattdessen von einer relativen Stabilität überstaatlicher Sozialräume aus, die durch die Subjekte selbst hervorgebracht werden. Folglich sind es nicht mehr nationalstaatliche, sondern pluri-lokale, transnationale Räume und Netzwerke, auf die sich migrantische Arbeiter*innen zur sozioökonomischen Reproduktion des Haushalts beziehen (Pries 2008: 47, 58). Diese sozialräumliche Restrukturierung führt den Soziolog*innen Ludgar Pries und Anja Weiß zufolge dazu, dass die Klassenlage migrantischer Arbeiter*innen im Kontext eines Transnationalisierungsprozesses verstanden werden muss, anstatt diese ausschließlich über ihren nationalen Bezugsrahmen zu bestimmen (Pries 2008: 41; Weiß 2006). Welche konkreten transnationalen Dynamiken und Mechanismen klassenbildend wirken, welche Rolle dabei die Ausbeutung von Arbeitskraft spielt und welcher Klassenbegriff hierbei konkret zur Anwendung kommt, bleibt bei beiden jedoch nur fragmentarisch ausgeführt.

Weitere Diskussionen, die sich ebenfalls implizit oder explizit mit der Klassenfrage und damit verbundenen Konflikten migrantischer Arbeiter*innen auseinandersetzen (u. a. Aguilar 2014; Kofman 2008), gehen beispielsweise von der Entstehung einer globalen Unterklasse niedrigqualifizierter mobiler Arbeiter*innen aus (Schmitter Heisler 1991). Informalisierung (u. a. Sassen 1998), Prekarisierung (u. a. Perocco 2018), Illegalisierung und schlechte, zum Teil sklavenähnliche Arbeitsbedingungen (u. a. Lewis/Waite 2019) führen demnach dazu, dass niedrigqualifizierte migrantische Arbeitskräfte global betrachtet ganz unten in der Klassenhierarchie angesiedelt sind. Dies trifft in besonderem Maße auf weibliche Arbeitsmigrantinnen zu (z. B. Custer 2012: Kap. 6). Auch wenn niedrigqualifizierte Arbeiter*innen durch die Migration in ein anderes Land ihren finanziellen Status aufwerten können, kommt es in den Empfängerländern häufig zu einer gesellschaftlichen Abwertung dieser Gruppe von Arbeiter*innen (Parreñas 2015b). Dabei sind migrantische Arbeiter*innen meist mit hohen legalen und sozialen Hürden im Hinblick auf gewerkschaftliche Organisierung und Arbeiter*innenkämpfe konfrontiert (Choudry/Hlatshwayo 2016a).

Dieser umrisshaft dargestellte Stand der Forschung zur Frage der Arbeitsmigration liefert zahlreiche theoretische und analytische Anknüpfungspunkte, die sich für die hier angestrebte Untersuchung auf vielfache Art und Weise fruchtbar machen lassen. Dennoch mangelt es bisher an einer Auseinandersetzung mit der Überausbeutung von Arbeitsmigrant*innen, die sowohl theoretisch über die strukturellen Bedingungen von Arbeitsmigrationsdynamiken reflektiert als auch konkret empirisch auf Mikroebene die Rolle der sozioökonomischen Reproduktion migrantischer Haushalte in das Zentrum der soziologischen Untersuchung rückt.

Die empirische Untersuchung migrantischer Arbeit im südostasiatischen Palmöl-Industriellen-Komplex

Kritische Diskussionen und Studien, die sich mit den ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen der südostasiatischen Palmölindustrie auseinandersetzen, werden in der wissenschaftlichen Literatur häufig in der Debatte um den sogenannten Palmöl-Industriellen-Komplex zusammengefasst (Bhattacharya/Pye 2013; Cramb/McCarthy 2016c; Pye 2008). Das Themenspektrum der darin geführten Diskussionen reicht u. a. von der Darstellung von Akteurs‑ und Konfliktkonstellationen (Cramb/McCarthy 2016b) über die Analyse der politökonomischen Strukturen des Sektors (u. a. Hai 2013) bis hin zur Betrachtung von antizipierten Entwicklungstendenzen der Palmölindustrie vor dem Hintergrund einer steigenden globalen Nachfrage nach Agrartreibstoffen (u. a. Bernard/Bissonnette 2011; Pichler 2015; Pye 2008). Der regionale Fokus empirischer Arbeiten liegt dabei vor allem auf den größten Palmölproduzenten in der Region: Indonesien und Malaysia. Der sozialwissenschaftliche Forschungsstrang, der sich auf die sozioökonomischen Aspekte der agrarindustriellen Palmölproduktion in beiden Ländern konzentriert, ist dabei von übergeordnetem Interesse für die vorliegende Forschungsarbeit. Aufgrund der Bedeutung indonesischer Arbeitsmigrant*innen für die malaysische Palmölindustrie bedarf es eines Überblicks über den Stand der Forschung, der neben der Konzentration auf die hier durchgeführte empirische Fallstudie in Malaysia auch Bezüge zur sozioökonomischen Palmölforschung in Indonesien herstellt. Den historischen Ausgangspunkt dieses Debattenstrangs bildet die Untersuchung der Enteignung der Landbevölkerung im Zuge der Ausbreitung der industriellen Palmölproduktion in der Region (u. a. Li 2014; 2016; Neilson 2016; Peluso/Lund 2013).

Im Rahmen unterschiedlicher Forschungsstudien hat die Anthropologin Tania Li die sozialen Auswirkungen der Trennung ländlicher Produzent*innen von ihrem Land während der Expansion der monokulturellen Plantagenwirtschaft in (Südost-)Asien untersucht (u. a. Hall u. a. 2011; Li 2009). In ihrer empirischen Forschung legt Li dar, wie im Zuge der Restrukturierung der ländlichen Produktionsweise ein Teil der freigesetzten Landbevölkerung in Form von doppelt freien Lohnarbeiter*innen, Landpächter*innen oder kapitalistischen Kleinbauern und -bäuerinnen in die sich herausbildende kolonialkapitalistische Agrarproduktion integriert wurde, während ein anderer Teil seine Arbeitskraft weder in der entstehenden Plantagenwirtschaft noch in anderen industriellen Produktionszweigen reproduzieren konnte (Li 2014; 2009). Weitere wissenschaftliche Arbeiten, die gegenwärtige Expansionsdynamiken der südostasiatischen Palmölindustrie im Zusammenhang mit der konflikthaften sozialräumlichen Restrukturierung vorherrschender Landverhältnisse untersuchen, befassen sich u. a. mit Fragen der Kontrolle, der Verfügung und dem Zugang zu Land (u. a. Brad 2019; Pichler 2014; 2015).

Mit der steigenden ökonomischen Bedeutung der Palmölindustrie auf globaler Ebene entstanden diverse empirische Forschungsstränge, die sich mit der Frage sich verändernder sozialer Ungleichheitsverhältnisse im Zuge der Expansion des Ölpalmenanbaus in Südostasien beschäftigen (u. a. Anderson 2013; Cramb 2016; Sinaga 2021). Neben der grundlegenden Bedeutung der Landfrage für die Landbevölkerung (McCarthy/Robinson 2016; Neilson 2016) stehen meist zwei soziale Gruppen im Zentrum kritischer Ungleichheitsstudien: Kleinbauern und -bäuerinnen (u. a. McCarthy/Zen 2016; Potter 2016) sowie niedrigqualifizierte Arbeitsmigrant*innen (u. a. Pye u. a. 2012; Pye 2017). Während in Bezug auf die erste Gruppe Probleme der Integration kleinbäuerlicher Ölpalmplantagen in übergeordnete Produktionszusammenhänge, finanzielle Hürden des Ölpalmenanbaus und die ökonomische Resilienz kleinbäuerlicher Produktion diskutiert werden (Zen u. a. 2016), konzentrieren sich empirische Studien, die sich mit migrantischen Palmölarbeiter*innen auseinandersetzen, auf die Untersuchung der Arbeits- und Lebensverhältnisse dieser Beschäftigungsgruppe (Pye u. a. 2016). Häufig durch skandalisierende Kampagnen regional verwurzelter Nichtregierungsorganisationen (Arumugam 1992; Colchester/Chao) angestoßen, spielen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der sozioökonomischen Problemlagen im malaysischen Palmölsektor vor allem der illegale Einsatz von Kinderarbeit (Gottwald 2018; Wahab 2019), die schlecht bzw. nicht entlohnte Arbeit von Frauen (Sinaga 2021), die strukturelle, staatliche Diskriminierung von Arbeitsmigrant*innen (Garcés-Mascareñas 2012; Puder 2020) und der weitverbreitete Einsatz von migrantischen Arbeiter*innen ohne offizielle Arbeitsgenehmigung eine wichtige Rolle (Pye u. a. 2016; siehe auch ILO 2016b). Arbeitsmigrant*innen werden dabei je nach sozialräumlichem Fokus vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Verwundbarkeit gegenüber Lohndumping (Pye u. a. 2016), ethnischer Diskriminierung (Cooke/Mulia 2013), arbeitsbezogener Gesundheitsprobleme (Arumugam 1992), der Illegalisierung von Arbeiter*innen und ihren Angehörigen (Saravanamuttu 2013) sowie der damit einhergehenden Herauslösung von Arbeiter*innen aus ihren familiären und sozialen Netzwerken betrachtet (Li 2015; Sanderson 2016). Wie Oliver Pye anhand seiner empirischen Forschung zeigt, resultiert die besondere Prekarität migrantischer Arbeitskräfte in der malaysischen Palmölindustrie aus dem rechtlichen, politischen und sozioökonomischen Status der Arbeiter*innen in Malaysia (2017; 2012). Prekäre Arbeits‑ und Lebensverhältnisse und die sozialräumliche Isolation der migrantischen Palmölarbeiter*innen bringen Pye zufolge Widerstandspraktiken hervor, die sich in der Formierung informeller Unterstützungsnetzwerke und den individuellen Bewältigungsmechanismen migrantischer Arbeitskräfte äußern (Pye 2014; 2017).

In der wissenschaftlichen Literatur zum südostasiatischen Palmöl‑Industriellen‑Komplex fehlt es gegenwärtig an einer empirischen Untersuchung der Überausbeutung migrantischer Plantagenarbeiter*innen, welche die historisch gewachsene strukturelle Benachteiligung dieser Beschäftigungsgruppe innerhalb der Produktionssphäre der malaysischen Palmölindustrie in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Meine eigene empirische Forschung zieht dabei Querverbindungen zwischen den historischen Studien zur Entwicklung der Arbeitsmigration in Malaysia und dem sozioökonomischen Forschungsstrang, der sich mit den verschiedenen Dimensionen der Arbeits‑ und Lebensverhältnisse migrantischer Palmölarbeiter*innen beschäftigt. Durch die Einbettung meiner Studie in den bestehenden Forschungskorpus soll mit dem Fokus auf Ausbeutungsverhältnisse eine neue Perspektive auf die sozioökonomische Dimension des Palmöl‑Industriellen‑Komplexes geworfen werden.

1.3Methodik: Ausbeutung als Verhältnis sozialer Ungleichheit qualitativ erforschen

Zu Beginn jeder soziologischen Forschung stellt sich die Frage nach der methodischen Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand. Ob Soziolog*innen sich für ein quantitatives oder qualitatives Vorgehen entscheiden, dabei induktiv oder deduktiv arbeiten oder diverse Verfahren miteinander kombinieren, wirkt sich nicht nur auf die Konstruktion des Forschungsgegenstands aus, sondern beeinflusst letztlich, welche Erkenntnisse die Wissenschaftler*innen aus ihren Untersuchungen gewinnen können.

In der Vergangenheit gab es unterschiedliche Versuche, Ausbeutung zu quantifizieren (u. a. Bordag 1951; Morishima 2009). Derartige Ansätze betonen in der Regel die strukturellen ökonomischen Aspekte, welche ausbeuterischen Lohnarbeitsverhältnissen ihre konkrete Gestalt verleihen, zulasten politischer, sozialer und kultureller Einflussfaktoren. Quantitative Forschungsprogramme zur soziologischen Untersuchung der Ausbeutung von Arbeit können somit nur bedingt Aussagen über die komplexe soziale Beziehung zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutenden sowohl innerhalb als auch außerhalb der Produktionssphäre treffen. Ihre Erklärungskraft ist zudem begrenzt im Hinblick auf die subjektive Verarbeitung der mit der Ausbeutung von Lohnarbeit verbundenen Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse. Unabhängig davon, ob mathematische Modelle zur Darstellung von Ausbeutungsverhältnissen als adäquates Instrument verstanden werden, um die (krisenhaften) Dynamiken des Kapitalismus zu beschreiben – für eine kritische soziologische Untersuchung der jeweiligen gesellschaftlichen Form von Ausbeutungsverhältnissen und ihrer sozialen Reproduktion erscheinen sie ungeeignet (Stützle 2007; siehe auch Carver 2007; Cohen 1979; Haubner 2017; Roemer 1982; Streckeisen 2014).

Qualitative Untersuchungen von Ausbeutungsbeziehungen sehen sich wiederum mit der Herausforderung konfrontiert, dass Arbeiter*innen ihre Beschäftigungsverhältnisse häufig selbst nicht bzw. nicht unmittelbar als ausbeuterisch wahrnehmen. Demnach kann Ausbeutung mit qualitativen Methoden nur über Vermittlungsebenen erforscht werden. Jedoch besteht der entscheidende Vorteil qualitativer Forschungen – insofern sie gegenstandorientiert, geplant und wissenschaftlich nachvollziehbar durchgeführt werden – in der Wesenseigenschaft qualitativer Daten. Je nach verwendeter Methode bleibt der grundlegende Sinngehalt und die Dynamik gesellschaftlicher Verhältnisse in qualitativ erhobenen Daten trotz einer gewissen Verallgemeinerung empirischer Ergebnisse stets erkennbar (Kleining 1995: 152). Qualitative Forschungsmethoden eigenen sich zudem im besonderen Maße »zur Analyse komplexer und (teilweise) unbekannter Verhältnisse«, da sie weniger abstrahiert an die Datenerhebung und ‑auswertung herangehen als quantitative Methoden (ebd.). Aufgrund des spezifischen Erkenntnisgewinns qualitativer Methoden und der konzeptionellen Rahmung der Forschungsfrage verortet sich die vorliegende Arbeit auf dem Feld der qualitativen Sozialforschung.

Eine qualitative soziologische Untersuchung von (Über-)Ausbeutung muss im Hinblick auf den Forschungsfokus dabei vor allem zweierlei leisten: Einerseits muss theoretisch hergeleitet und argumentiert werden, was formanalytisch unter Ausbeutung und Überausbeutung zu verstehen ist, wo und wie sie jeweils auftreten und welche Formen sie annehmen können. Andererseits müssen Ausbeutung und Überausbeutung, damit sie als reale Phänomene sozialer Ungleichheit durchdrungen werden können, sowohl deskriptiv empirisch als auch historisch konkret untersucht werden (Dörre/Liebig 2011: 27 f.). Um diesem Anliegen gerecht zu werden, bedarf es entsprechender Methoden und Analysewerkzeuge.

Extended Case Method als Wegbereiter einer konzeptionellen Neuerung in der soziologischen Ausbeutungsforschung?

Die hier durchgeführte Studie stützt sich methodisch auf die von Michael Burawoy entwickelte Extended Case Method (ECM) (Burawoy 1998; 2009). Burawoys Wissenschaftsverständnis zufolge ist es entgegen streng induktiv angelegten Forschungsdesigns sinnvoll, qualitative sozialwissenschaftliche Studien von einem theoretischen Ausgangspunkt her zu beginnen. Statt theoretische Vorannahmen als erkenntnishemmend zu verstehen, begreift Burawoy eine theoretische Rahmung empirischer Fallstudien als eine besondere Form der soziologischen Wissensgenerierung (Tavory/Timmermans 2009). Die theoretische Prädisposition der Forschenden sollte dabei durch die im Feld gewonnen Erkenntnisse ergänzt, reformuliert, verfeinert oder in Teilen verworfen werden. Ziel dessen ist es, theoretisches Wissen über soziale Verhältnisse zu generieren, das durch empirische Studien in einem andauernden Forschungsprozess informiert und erweitert wird. Der Vorteil der Methode liegt in ihrer reflexiven Verbindung von theoretischer und empirischer Forschungsarbeit. Anders als die eher positivistisch orientierte Grounded Theory (u. a. Glaser/Strauss 2006), die in ihrer klassischen Anwendung auf die Generierung von aus der Empirie gewonnenen, verallgemeinerbaren wissenschaftlichen Kategorien zielt (Charmaz 2006: 25), bestärkt die ECM Forscher*innen aktiv darin, sich ihr theoretisches Programm zu vergegenwärtigen (Burawoy 2009: 9). Diesem Verständnis zufolge dient die empirische Feldforschung der Verbesserung bewusster (und latenter) theoretischer Grundannahmen der Forschenden.

»Here lies the secret of the extended case method – theory is not discovered but revised, not induced but improved, not deconstructed but reconstructed. […] In short, theory exists to be extended in the face of external anomalies and internal contradictions. We don’t start with data, we start with theory. Without theory we are blind – we cannot see the world.« (ebd.: 13)

Das methodische Anliegen der ECM gründet nicht auf einer unweigerlichen Bestätigung theoretischer Ausgangsprämissen. Vielmehr geht es um die Erweiterung und Weiterentwicklung dieser, ohne den argumentativen Kern der Ausgangstheorie auszuhöhlen (ebd.: 13; siehe dazu auch Hall 2004: 15; Marini 1974: 98 ff.). Mit dem hier formulierten theoretischen Erkenntnisinteresse, soll das marxsche Ausbeutungstheorem im Rahmen der empirischen Studie konkret zur Anwendung gebracht werden, um es kritisch zu be- und hinterfragen, wodurch es aus einer neuen Perspektive beleuchtet werden kann. Mit der Frage, ob kapitalistische Gesellschaften neben der Ausbeutung von Lohnarbeit auch strukturbedingte Formen überausbeuterischer Lohnarbeitsverhältnisse hervorbringen, knüpfe ich an eine lange Traditionslinie gesellschaftstheoretischen, marxistischen Denkens an, das Ausbeutungsverhältnisse als ein Grundmerkmal kapitalistischer Gesellschaften begreift. Marx’ Politische Ökonomie sowie sein Ausbeutungstheorem, wie es vor allem im ersten Band des Kapitals entfaltet wird, bilden hierfür das erkenntnistheoretische Grundgerüst. Jedoch kann es die Frage nach einer systematisch über das »normale« Maß hinausgehenden Ausbeutung von Arbeitskraft für den hier betrachteten Forschungsgegenstand nicht vollständig auflösen. Vor dem Hintergrund dieser analytischen Leerstelle gilt es, im Wechselspiel zwischen der theoretischen Diskussion und der empirischen Untersuchung ein an Marx anschließendes Konzept überausbeuterischer Arbeitsverhältnisse zu entwerfen. Die kritische Konsultation Marx’ zur Untersuchung aktueller gesellschaftlicher Fragen leistet einen Beitrag dazu, marxistische Theorieansätze (wieder) empirisch greifbarer zu machen. Mit nur Teilen des marxschen Werks zu arbeiten, birgt jedoch stets die Gefahr eines epistemologischen Verlusts (Althusser 2005: 14). Diese Problematik gilt es zu berücksichtigen, indem die spezifische Rekonstruktion des marxschen Ausbeutungstheorems begründet und theoretisch kontextualisiert durchgeführt wird. Zudem sollte der auf Grundlage meiner eigenen Forschung formulierte Überausbeutungsbegriff anschlussfähig für theoretische Weiterentwicklungen bleiben.

Das für die ECM charakteristische dialogisch reflexive Prinzip ist auch in der Interaktion im Feld von besonderer Relevanz (Burawoy 2009: 39 f.). Der Einfluss, den die Intervention der Forschenden im Feld auf den Forschungsprozess und die empirischen Ergebnisse hat, können mittels der ECM produktiv genutzt werden. Statt die Gegenwart der Forscherin/des Forschers ausschließlich als Störfaktor zu begreifen, gilt es, sich mit der Methode die Position und die Rolle der Wissenschaftler*innen im gesamten Forschungsprozess bewusst zu machen und diese möglichst in der Untersuchung zu berücksichtigen. Der aktive Umgang mit den jeweils konkret vorherrschenden Macht- und Herrschaftsstrukturen ist hierbei von grundlegender Bedeutung.

»As participants in sites invested with hierarchies, competing ideologies, and struggles over resources, we are trapped in networks of power. On whomever’s side we are, managers or workers, white or black, men or women, we are automatically implicated in relations of domination.« (ebd. 57)

Im Hinblick auf meine empirische Fallstudie zeigte sich bereits zu Beginn, dass die malaysische Gesellschaft durch eine Sozialstruktur gekennzeichnet ist, die quer zur Klassenzugehörigkeit vorwiegend entlang von Ethnie, Religionszugehörigkeit, Herkunft und Geschlecht hierarchisiert ist. Die Komplexität der damit einhergehenden Herrschaftsverhältnisse wird zusätzlich durch den postkolonialen Kontext der Entwicklung der malaysischen Gesellschaft erhöht. Als westliche, weiße Forscherin nahm ich im Feld eine spezifische soziale Position ein, die verschiedene forschungspraktische Herausforderungen mit sich brachte (Hammersley/Atkinson 1983: Kap. 3) und wichtige Erkenntnisse über die soziale Hierarchie der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Malaysia lieferte. Ähnlich wie Michael Burawoy es in seiner Studie The Colour of Class on the Copper Mines: From African Advancement to Zambianization (Burawoy 1972) beschreibt, war es mir aufgrund meines zum Teil tatsächlichen und zum Teil zugeschriebenen sozialen Status in vielen Fällen möglich, eigenständig Expert*inneninterviews zu führen, moderne Betriebe und Plantagen zu besichtigen, mit Wissenschaftler*innen zu diskutieren sowie mit höherqualifizierten Angestellten und Gewerkschafter*innen ins Gespräch zu kommen. Migrantische Arbeiter*innen, die das Herzstück der Empirie bilden, traten mir wiederum anfänglich meist reserviert gegenüber. Nicht nur sprachliche Barrieren, sondern auch kulturelle, religiöse und lebensweltliche Aspekte waren hierfür ausschlaggebend. Zudem trennten mich von den Arbeitsmigrant*innen unterschwellig wahrnehmbare Machtstrukturen, vor deren Hintergrund viele der interviewten Arbeiter*innen zunächst sehr zurückhaltend auf Fragen zu ihren Arbeits- und Lebensverhältnisses antworteten, aus Angst, ich könnte diese Informationen an Vorgesetzte oder staatliche Behörden weitergeben. Mit Fingerspitzengefühl, etwas Einfallsreichtum, einem geduldigen wechselseitigen Vertrauensaufbau und der Unterstützung durch Aktivist*innen und Kolleg*innen vor Ort konnte diese zwar nicht gänzlich überwunden, aber doch deutlich abgebaut werden. Der Anspruch, zu verstehen, wie migrantische Arbeiter*innen ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse wahrnehmen, und die eigene Erfahrung des Alltages auf Plantagen und Mühlen ermöglichten es mir, nicht nur zu dokumentieren, was Arbeiter*innen sagten, sondern ihre Aussagen auch durch eigene Beobachtungen zu kontextualisieren, insofern sie mich für eine kurze Zeit an ihrem Leben teilnehmen ließen. Nichtsdestotrotz bleibt (selbstkritisch) festzuhalten:

»We can never be complete insiders or natives, outsiders or non-natives; rather, we keep jumping between these roles […]. Subjectivity and reflexivity play an important role here. Our focus […] should be on the quality of the relations that we build with our participants and accept them with their subjective voices, views and dilemmas.« (Dewan 2018: 200)

Indem Forscher*innen sich ihrer eigenen sozialen Position im Feld bewusst werden und diese innerhalb des Forschungsprozesses reflektieren, so Burawoy, wird es möglich, die Beziehung zwischen Forschenden und »Erforschten« zu objektivieren (Burawoy 2009: 39). Jedoch reichte das durch die Feldforschung generierte Kontextwissen bei Weitem nicht aus, um die besonderen Bedingungen angemessen nachzuvollziehen, unter denen migrantische Arbeitskräfte im malaysischen Palmölsektor ausgebeutet werden. Hierfür bedurfte es zusätzlich einer historisch-analytischen Einbettung des erhobenen Datenmaterials in das malaysische Arbeitsmigrationsregime. Folglich schließt diese Herangehensweise an die empirische Studie meiner Forschung neben der Durchführung qualitativer Interviews die intensive Auseinandersetzung mit empirischen Sekundärdaten sowie eine umfassende Literaturstudie ein. Als unerlässlicher Bestandteil der empirischen Forschung dient dieses Vorgehen der Verdichtung und Ergänzung der aus der konkreten Feldstudie gewonnenen Erkenntnisse.

Im Sinne der ECM sollte stets eine Verbindung zwischen der zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort vorgenommenen Fallstudie und den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Machtstrukturen und Kräfteverhältnissen hergestellt werden (ebd.: 49–52). Diese Verknüpfung gibt zum Zweck der Theorieentwicklung Aufschluss über die wechselseitige Beeinflussung unterschiedlicher gesellschaftlicher Ebenen und Dimensionen. Die Prozesse und Herrschaftsverhältnisse auf der Makroebene wirken Burawoy zufolge strukturierend auf die Mikroebene. Auf der Mikroebene werden jene Prozesse und Verhältnisse beständig reproduziert, die auf der Makroebene angesiedelt sind. Gleichzeitig zeigt sich in der Untersuchung eines bestimmten Ausschnitts eines übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhangs, wie ebenjene Prozesse und Herrschaftsverhältnisse auf unterschiedlichen sozialen Ebenen auf gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge zurückwirken (ebd.: 51). Im Rahmen der hier unternommenen Forschung wurde die Untersuchung der Überausbeutung migrantischer Palmölarbeiter*innen in einer spezifischen Provinz Malaysias in Kontext mit der sich historisch verändernden Migrationsdynamik mobiler Arbeitskräfte im Land gesetzt.

Grundsätzlich bewegt sich die ECM, wie sie von Burawoy konzeptioniert wurde, im Kontinuum zwischen historisch gewachsenen Gesellschaftsstrukturen und Prozessen der Gegenwart, zwischen sozialen Mikro- und Makroprozessen (ebd.: 9), zwischen Forschenden und »Erforschten« (ebd.: 17), zwischen theoretischer Abstraktion und empirischer Konkretisierung sowie zwischen großtheoretischen Konstrukten zur Erklärung grundlegender gesellschaftlicher Beziehungen, Dynamiken und Interessen (Tavory/Timmermans 2009) und ihrer Erweiterung und Reformulierung durch neu verfasste theoretische Konzepte (Burawoy 2009: 53).

Die nachfolgende Tabelle fasst die Dimensionen und Prämissen der ECM, wie sie im Rahmen der hier durchgeführten Forschung zur Anwendung kommen, nochmals komprimiert zusammen:

Reflexive Science

Reflexive Principles

Extended Case Method

Power Effects

Intervention

Extending observer to participant

Domination

Process

Extending observations over time and space

Silencing

Structuration

Extending from process to forces

Objectification

Reconstruction

Extending of theory

Normalization

Tabelle 1:Leicht vereinfachte Darstellung von Burawoys Wissenschaftsmodell und Methodik

Quelle: Burawoy 2009: 63

Zwar gibt die ECM das methodologische Grundgerüst vor, das die Durchführung des gesamten Forschungsprozesses strukturiert – über die Praxis im Feld zur Erhebung des empirischen Datenmaterials ist damit jedoch noch nicht viel gesagt. Im Einklang mit der Forschungslogik der ECM und dem damit einhergehenden Wissenschaftsverständnis liefert das Vorgehen ethnografischer Studien (Dewan 2018; Falzon 2016; Hammersley/Atkinson 1983) das forschungspraktische Handwerkszeug zur Berücksichtigung der von Burawoy aufgestellten methodologischen Prinzipien.

Mittendrin statt nur dabei: die qualitative Fallstudie in Anlehnung an das methodische Vorgehen der Ethnografie

Während ich die ECM auf die gesamte Forschung anwende und damit den Leitlinien von Burawoys Methodik folge, die erklären, wie sozialwissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen und theoretisiert werden können, bringe ich ethnografische Forschungsinstrumente konzentriert im empirischen Teil der Arbeit zur Anwendung. Ich benutze die Methodenwerkzeuge dabei nicht nur bei der Fallkonstruktion, sondern ebenso in der Durchführung und Auswertung der empirischen Ergebnisse. Dementsprechend verstehe ich die ECM als Instrument zur Organisation des theoretischen Denkprozesses, welcher der durchgeführten Forschung zugrunde liegt, sowie als Anleitung des Interpretationsprozesses des empirischen Datenmaterials. Ein von klassischen ethnografischen Fallstudien inspiriertes Vorgehen im Forschungsfeld dient hingegen der geplanten Datenerhebung, ‑organisation und -deskription.

Unterschiedlichen Formen ethnografischer Studien ist grundsätzlich gemein, dass sie Forscher*innen dazu auffordern, ein umfangreiches Bild des Gegenstands ihrer Untersuchung zu gewinnen (Dewan 2018: 188). So soll die qualitative sozialwissenschaftliche Forschung über das gesprochene Wort, die Momentaufnahme und eine wissenschaftliche Außenperspektive hinausgehen, indem Forscher*innen möglichst viele ihnen zugängliche soziale Geschehnisse und Prozesse im Feld wahrnehmen und die gemachten Beobachtungen in die empirische Datensammlung aufnehmen (Hammersley/Atkinson 1983: 1). Anstelle einer Vogelperspektive stellen ethnografische Forschungen auf die Partizipation der Forscher*innen im Feld ab. Dadurch eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten der Datengenerierung, solange sie den Prinzipien der Interaktion und kontextualisierten Beschreibung folgen.

Während der Feldforschung erforderten Visabeschränkungen und zeitlich begrenzte Forschungsgenehmigungen die Planung und Durchführung von mehreren kürzeren Forschungsaufenthalten am Fallstudienort. Dieser Umstand scheint im Widerspruch zu einem elementaren Grundprinzip klassisch durchgeführter Ethnografien zu stehen, das einen längeren, zusammenhängenden Aufenthalt an vorab klar definierten Lokalitäten vorsieht. Die methodologischen Prämissen der ECM und die Leitlinien der Ethnografie sind jedoch ebenso vereinbar mit einzelnen, verkürzten Feldforschungsphasen, insofern die ethnografischen Werkzeuge weiterhin nachvollziehbar angewendet werden. In jüngeren Diskussionen plädieren einige Sozialwissenschaftler*innen für die Erweiterung des ethnografischen Methodenspektrums um eine Unterform, die sie als Short-Term bzw. Rapid Ethnography