Albanien - Christiane Jaenicke - E-Book

Albanien E-Book

Christiane Jaenicke

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Beschreibung

Während des Kalten Kriegs galt Albanien als »das Nordkorea Europas«. Unter Diktator Enver Hoxha herrschte ein bisweilen bizarres Regime, das sich selbst von den meisten sozialistischen »Bruderländern« isoliert hatte und das Land mit einem Netz von 200 000 Bunkern überzog. Nach dem Sturz des Kommunismus flohen Hunderttausende Albaner vor den miserablen Lebensumständen in ihrer Heimat. Arm ist das Land auf dem Westbalkan nach wie vor, doch es lockt immer mehr Touristen an: 450 km Mittelmeerküste mit vielen noch unverbauten Stränden, malerische Gebirgsregionen, UNESCO-Welterbestätten und überaus gastfreundliche Einwohner sorgen dafür.
Christiane Jaenicke hat Albanien noch unter Hoxha kennengelernt und seitdem immer wieder dort gelebt und gearbeitet. In ihrem Buch zeichnet sie das Porträt eines Landes im Umbruch, in dem einerseits noch archaische Traditionen wie die Blutrache gepflegt werden, andererseits der Weg nach Westen eingeleitet ist. Dabei wirft sie auch einen Blick auf die albanische Bevölkerung in den Nachbarstaaten, vor allem im Kosovo.

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Christiane Jaenicke

Albanien

Ein Länderporträt

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Mai 2019

entspricht der 1. Druckauflage von Mai 2019

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Reihengestaltung: Stephanie Raubach, Berlin

Karte: Peter Palm, Berlin

Satz: Eugen Bohnstedt, Ch. Links Verlag

Umschlagfoto: Die Burg von Gjirokastra mit Blick auf die Altstadt, 2018; © thinkstock

ISBN 978-3-96289-043-8

eISBN 978-3-86284-451-7

Inhalt

Vorwort

Albaner und Albanien heute – wer lebt wo, wie und warum

Wo die Albaner heute leben

Gegen und Tosken

Albanische Mentalität – oder was wir dafür halten

Die Sprache

Die Küche

Böse Geister, gute Feen und albanische Mythen

Blutrache und der Kanun

Von Skanderbeg bis Hoxha – ein Sprint durch die albanische Geschichte

Von den Illyrern bis Skanderbeg

Unter den Osmanen

Unabhängigkeit, Republik und Monarchie

Onkel Enver – der »geliebte« Diktator

Gibt es den kritischen Blick zurück?

Traum und Albtraum – Groß-Albanien

Identität(en)

Sind die Kosovo-Albaner eher kosovarisch als albanisch oder umgekehrt?

Groß-Albanien, der Traum

Groß-Albanien, der Albtraum

Die Diaspora und wem sie gehört

Die Politik – der lange Weg nach Europa

Berisha und Nano – die ewigen Rivalen

Die jungen Wilden und Politikwechsel light

Der lange Weg nach Europa und das »Sultan-Syndrom«

Jugend ohne Zukunft

Hindernisse auf dem Weg in die EU

Die Wirtschaft – von Erdöl bis Tourismus

Me forcat e vete – aus eigener Kraft

Albaniens Wirtschaft heute

Die Geschichte vom Erdöl

Verkehr – Chaos und Ordnung

Tourismus – der Wirtschaftszweig der Zukunft

Tirana – eine etwas andere Hauptstadt

Alles kann passieren, wir leben in Tirana

Erion – Superman

Wie man heute in Tirana lebt

Ein Tagesprogramm für Stadtentdecker

Stark müssen sie sein. Über albanische Frauen

Nexhmije Hoxha – die schwarze Frau

Die neue Albanerin

Burrnesha – die eingeschworene Jungfrau

Auf der Schattenseite. Über den Umgang mit Minderheiten

Die Griechen und der Friedhofsstreit

Das Roma-Problem

Ist Albanien homophob?

Religion im »ersten atheistischen Staat« der Welt

Albaner und Religion

Katholiken in Lezha

Orthodoxe in Korça

Muslime in Tirana

Bektashi

Kunst und Kultur – von Rita Ora und einem beinahe Literatur-Nobelpreisträger

Die Sänger

Theater und Film

Die bildenden Künstler

Die Dichter

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Schlüsseldaten zu Albaniens angestrebter EU-Mitgliedschaft

Abkürzungen

Literaturempfehlungen zum Weiterlesen

Karte

Basisdaten

Vorwort

Als mein Mann Axel und ich 1982 zu unserem ersten Auslandseinsatz an die DDR-Botschaft in Tirana kamen, war Albanien so exotisch wie Nordkorea – und in etwa so schwer zu erreichen. Ein Einreisevisum zu erhalten, war schwierig und zeitaufwendig, selbst wenn man einen Diplomatenpass hatte. Grenzkontrollen konnten ewig dauern, auch wenn am Grenzübergang kein anderes Auto weit und breit zu sehen war. Das Land lebte in fast völliger Selbstisolation und wurde von Enver Hoxha mit harter Hand regiert.

Dennoch interessierte ich mich bereits seit meinem Studium an der Humboldt-Universität für Albanien. Eigentlich hatte ich etwas anderes studieren wollen, begegnete dann aber der großen Liebe und entschied mich für Geschichte mit Schwerpunkt auf der Region, in der mein späterer Mann als Diplomat einmal arbeiten sollte – den Balkan. Genau wie er lernte ich Albanisch, und meine Diplomarbeit schrieb ich über die Beziehungen der Partei der Arbeit Albaniens (der kommunistischen und einzigen Partei des Landes) zur Bauernschaft. Bis wir beide nach Tirana aufbrachen, hatte ich allerdings noch keinen lebenden Albaner gesehen, und vom Alltagsleben dort wusste ich auch nicht viel.

Die Realität war sehr schnell sehr ernüchternd. Albanien war stolz darauf, sich aus eigener Kraft mit Brotgetreide versorgen zu können. Außer Brot konnte man allerdings nicht viel kaufen. Mit unseren Botschaftskollegen fühlten wir uns manchmal wie auf einer langen Schiffsreise: Was man nicht aus der Heimat mitgenommen hatte, gab es unterwegs nicht. Als ich in Tirana meine Fahrerlaubnis auf unserem Wartburg machte, waren private Autos ebenso verboten wie private Landwirtschaft. Auch die Ausübung von Religion war untersagt, und dass das Kino »Rinija« (Jugend) einmal eine katholische Kirche gewesen war, sahen wir erst in den 1990er Jahren nach der Rückübertragung. Da gab es im ganzen Land plötzlich keine Kinos mehr.

Dies alles ist schwer vorstellbar, wenn man heute nach Tirana kommt. Einer der beliebtesten Reiseführer weltweit, der Lonely Planet, hat Albanien für 2018 in die Liste der zehn besten Urlaubsziele in Europa aufgenommen. Tirana wird als »eine lebhafte Metropole« mit einer »großartigen Lage zwischen der Adriaküste und den Albanischen Alpen« beschrieben. Wem das lärmige bunte Treiben auf den ersten Blick nicht so viel anders erscheint als in benachbarten Hauptstädten, der wird sich schwer vorstellen können, dass der Straßenverkehr in Tirana vor knapp 30 Jahren noch von Pferdefuhrwerken und Fahrrädern bestimmt wurde.

Albaniens Ausgangssituation war nach dem Fall der Diktatur noch schwieriger als die der Nachbarländer, die einmal zur Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien gehört hatten. Im Jahre 2005 sagte der damalige albanische Außenminister Ilir Meta (seit Juli 2017 Präsident), man dürfe nicht vergessen, dass Albanien seit dem Sturz der Diktatur eine in Europa beispiellose Rückständigkeit zu überwinden hatte. Nur daran ließen sich die großen Fortschritte ermessen, die man errungen habe. Ich hatte dieses Zitat damals in einer Publikation verwendet, und wie die Realität zeigt, trifft es noch immer zu. Noch heute stehen große Fortschritte neben der traurigen Realität, dass Albanien weiter zu den ärmsten Ländern Europas gehört. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag im Jahre 2016 nach Angaben des Finanzministeriums bei rund 3780 Euro (zum Vergleich: In Deutschland betrug es im Jahre 2017 mehr als das Zehnfache, nämlich 39 226 Euro). Der Durchschnittslohn im staatlichen Sektor beträgt 260 Euro (2016). Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 15,7 Prozent.

So nimmt es nicht wunder, dass die Menschen 2015 aus den letzten Winkeln Albaniens und des Kosovo nach Deutschland strömten. Ein Jahr später stellten sie die größte Gruppe unter den abgelehnten und zurückgeführten Asylbewerbern. Auch heute suchen viele gut ausgebildete junge Leute ihr Glück im Ausland. Nach dem Transitions-Report 2019 der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) nimmt Albanien gegenwärtig unter allen Transitionsländern, also den Ländern des ehemaligen Ostblocks, die sich seit 1990 auf dem Weg zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft befinden, den dritten Platz in der Migrationsstatistik ein – allerdings nach Bosnien und Herzegowina. Bis zu 40 Prozent der registrierten Bevölkerung haben nach Schätzungen der EBWE das Land verlassen oder leben zumindest zeitweilig im Ausland.1

Seit meinem ersten Aufenthalt in Albanien ist meine Sympathie für dieses kleine Land geblieben. Vieles blieb mir seinerzeit noch verborgen, denn große Teile des Landes waren für Ausländer tabu, nicht zuletzt die Albanischen Alpen. Genehmigungen, dorthin zu reisen, wurden nicht erteilt. Auch die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Menschen, von der man schon in Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert lesen kann, lernte ich erst nach dem Sturz der Diktatur und der Öffnung des Landes kennen.

Dieses Buch will Einblicke in die Geschichte und die Gegenwart Albaniens geben. Die Zahl der handelnden Personen ist überschaubar, und das hat nicht nur mit der Größe des Landes zu tun. Politiker, Aktivisten der Zivilgesellschaft und der eine (und zumindest für sein Publikum einzigartige) Schriftsteller sind schon sehr lange im Geschäft. Dem Leser werden die Namen bald vertraut sein. Fehlen Albanien vielleicht neue Gesichter, um endlich in die Gänge zu kommen? Die Albaner würden sagen: »Do të shohim se çfarë ndodh.« (Wir werden sehen, was passiert.) Manchem Leser werden einige Passagen in diesem Buch vielleicht zu kritisch vorkommen. Das möge man mir nachsehen. Albanien ist für mich so etwas wie die erste Liebe, die man immer im Herzen trägt, auch wenn sie nicht wirklich glücklich gemacht hat.

Leider reichte der Platz nicht aus für längere persönliche Geschichten und Erinnerungen an all die, die mir Albanien nähergebracht haben. Dazu gehören die Albanologin Oda Buchholz, der Professor für albanische Geschichte Erwin Lewin und der Botschafter Peter Schubert. Danke an alle Freunde und Gesprächspartner für Offenheit, Zeit und Verständnis. Besonderen Dank an meine lieben, klugen, schönen und starken Freundinnen Monika, Edlira und Eva und an Arian für seine unendlich vielen Geschichten, die nur das wahre Leben schreibt. Und besonderen Dank an Axel; er weiß schon wofür.

Albaner und Albanien heute – wer lebt wo, wie und warum

Wo die Albaner heute leben

Von den Metropolen Europas aus braucht man im Schnitt nicht mehr als zwei Flugstunden, um Albanien zu erreichen. Das Land liegt an der Adria, dem nördlichen Seitenbecken des Mittelmeeres, etwa gegenüber der italienischen Region Apulien. Im Norden grenzt es an Montenegro und den Kosovo,2 im Osten an Nordmazedonien3 und im Süden an Griechenland. Mit einer Fläche von 28 748 Quadratkilometern ist Albanien etwas kleiner als das Bundesland Brandenburg. Allerdings ist Größe relativ, denn seit dem Zerfall des großen Jugoslawien sind die neuen Nachbarländer zum Teil sogar noch kleiner als Albanien. Montenegro zum Beispiel ist nur 13 812 Quadratkilometer groß und damit einer der kleineren Staaten Europas. In den letzten 20 Jahren hat Albanien einige Schritte hin zu einer Neuordnung der lokalen Verwaltung unternommen und ist gegenwärtig in zwölf Regionen (albanisch qarq) mit 61 Gemeinden aufgeteilt.

Albanien hat viel zu bieten: alte, sehenswerte Städte, lange Sandstrände und eine raue und kaum besiedelte Gebirgslandschaft. Es herrscht ein angenehmes, überwiegend subtropisch-mediterranes Klima. Von den 450 Kilometern Küstenlinie erstrecken sich 300 Kilometer entlang der Adria, 150 Kilometer entlang des Ionischen Meeres. Etwa die Hälfte Albaniens wird von Bergland mit Höhen von über 600 Metern eingenommen; der höchste Berg ist der Korabi mit 2764 Metern. Der Shkodrasee an der Grenze zu Montenegro und der Ohridsee an der Grenze zu Nordmazedonien sind über Albaniens Grenzen hinaus bekannt und touristisch erschlossen. Alle großen Flüsse Albaniens münden in die Adria; der längste von ihnen ist der Drin mit 282 Kilometern. Teils haben die Flüsse noch ihren ursprünglichen Lauf, teils sind sie allerdings auch begradigt und aufgestaut; Albanien erzeugt noch immer mehr als 90 Prozent des Stroms aus Wasserkraft. Manchmal treten Flüsse über die Ufer und entfalten gewaltige Zerstörungskräfte. Auch Erdbeben, die es hier bedingt durch die besondere tektonische Lage häufiger gibt als anderswo, fordern Mensch und Natur von Zeit zu Zeit heraus.

Im Mutterland leben circa 2,9 Millionen Albaner, ungefähr die gleiche Anzahl in den angrenzenden Ländern, davon circa zwei Millionen im Kosovo, jeweils einige Zehntausend in Montenegro und Südserbien, etwa eine halbe Million in Nordmazedonien, eine zahlenmäßig schwer zu definierende Anzahl Çamen in Nordgriechenland, und die Arberëshen in Italien. Dazu kommt die Diaspora mit Zentren in den USA, Kanada, Australien und Argentinien, in denen albanische Auswanderer bereits in der zweiten und dritten Generation leben. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts haben sie durch Flüchtlinge aus Albanien und dem Kosovo neuen Zustrom erfahren. Dass es auch eine große Zahl albanischer und kosovo-albanischer Migranten in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt, ist hinlänglich bekannt. Für Deutschland gab das Statistische Bundesamt die Zahl der registrierten Albaner am 31. Dezember 2016 mit 51 550 an.4 Dieses Buch wird sich auf die Republik Albanien konzentrieren, mit gelegentlichen Blicken zu den Brüdern und Schwestern jenseits der Landesgrenzen. Im Kapitel Identität wird es darum noch genauer gehen.

Die Albaner nennen ihr Land Shqipëria, nach weit verbreiteter Auffassung leitet sich das von shqipe (die albanische Sprache) oder shqiponjë/a (Steinadler) ab. Sie selbst nennen sich Shqip(ë)tar (Plural Shqiptarët). Im Mittelalter waren die Albaner unter dem Volksnamen arbër bekannt geworden; ihren Siedlungsraum nannte man entsprechend Arbëria. Die Ablegung dieses Namens erfolgte vermutlich im Zuge der osmanischen Eroberungen. Warum sich im Ausland der Name Albanien/Albaner durchgesetzt und behauptet hat, ist eine lange Geschichte mit einigen Fragezeichen, die man bei Oliver Jens Schmitt nachlesen kann.5 Noch heute ist der Steinadler das Symbol, das auch das Staatswappen ziert. Dieses besteht aus einem roten Schild mit goldenem Rand, auf dem sich ein schwarzer Doppeladler befindet; darüber schwebt der goldene Helm des albanischen Nationalhelden Skanderbeg. Auf der Flagge ist nur der Doppeladler abgebildet. Im Juni 2011 kam es einmal zu einem Eklat, als eine hochrangige albanische Delegation den Sitz der Europäischen Union in Brüssel besuchte und versehentlich die alte kommunistische Flagge mit dem Stern über dem Doppeladler gehisst wurde.

Gegen und Tosken

Die größeren und schlagkräftigeren Nachbarn, derer sich Albanien im Laufe der Geschichte zu erwehren hatte, begründeten ihre Herrschaftsansprüche nicht selten mit abfälligen, manchmal auch rassistischen Urteilen. In Serbien gab es Ende des 19. Jahrhunderts einen Ministerpräsidenten namens Ðorđević, der 1913 in einem Buch mit dem Titel Die Albanesen und die Großmächte behauptete, Quellen zufolge habe es noch im 19. Jahrhundert auf Bäumen schlafende Albaner mit Schwänzen gegeben. Anhand angeblich unterschiedlicher Schädelformen der Bewohner Nord- und Südalbaniens versuchte er außerdem zu belegen, dass die Albaner zu unterschiedlich seien, um ein Volk zu bilden.

Zweifellos bestehen zwischen den Gegen im Norden und den Tosken im Süden erhebliche Unterschiede, und zwar nicht nur bei der Sprache, sondern auch bei der Religionszugehörigkeit, der Musik und der Küche. Solche Unterschiede gab und gibt es woanders allerdings auch, und bei Gegen und Tosken waren sie nicht so groß, um ein unüberwindbares Hindernis für eine Nationenbildung darzustellen. Allerdings waren die Tosken stark von der orientalisch-städtischen Kultur des Osmanischen Reiches beeinflusst, während bei den Gegen lange eine archaische Stammeskultur vorherrschte. Ausnahmen waren die wichtige nordalbanische Stadt Shkodra, die im 15. Jahrhundert längere Zeit von Venedig beherrscht wurde, und die Hafenstadt Durrës, die zwar osmanisch geprägt war, jedoch konstant Verbindungen nach Italien unterhielt.

Zu Nordalbanien gehört eine Landschaft, die Mirdita genannt wird. Mirë dita heißt »Guten Tag«. Zu diesem Namen soll sie gekommen sein, weil sie von der Küste aus gesehen im Osten liegt, dort, wo die Sonne aufgeht und der neue Tag beginnt. Um die Mirdita ranken sich viele Sagen und Geschichten, denn die dort ansässigen Mirditen waren bekannt für die strikte Einhaltung jahrhundertealter Riten und Gebräuche. Im Hauptort Orosh versammelten sich die Familienoberhäupter zum Ältestenrat, und obwohl die Mirditen in ihrer langen Geschichte eigentlich keine zentrale Herrschaft anerkannten, gab es dort mit dem Kapedan (Kapitän) immer einen Anführer, der die letzte Instanz in Entscheidungen und Streitfragen war. Dieser wurde stets vom Oberhaupt der Familie Gjonmarku gestellt. Über Jahrhunderte verwaltete diese Familie auch das »Buch des Blutes«, in dem jeder Blutzoll vermerkt wurde, also die Abgabe für einen unter der Blutrache verübten Mord. Nachzulesen sind die Privilegien der Familie und die Rolle des Kapedan im Kanun, von dem noch die Rede sein wird.

In der Volksrepublik Albanien erlangte die Region wegen ihres Rohstoffreichtums Bedeutung. Neben der Holzwirtschaft war insbesondere der Kupferbergbau wichtig. Das Bergwerk von Spaç gehörte während der Diktatur Enver Hoxhas allerdings auch zu den berüchtigtsten Arbeitslagern Albaniens.

Die Ortsnamen Orosh und Spaç6 kennt jeder in Albanien und verbindet mit dem einen finstere mittelalterliche Bräuche und mit dem anderen eine unmenschliche Diktatur. Heute haben das nordalbanische Bergland und die Mirdita jedoch ein freundlicheres Gesicht. Es gibt in Europa nicht viele Regionen, wo man in so unberührter Natur bergsteigen und wasserwandern kann. Sowohl von Tirana als auch von Pristina aus kommt man inzwischen ziemlich bequem per Autobahn dorthin.7 Um nach Orosh zu gelangen, muss man allerdings immer noch beschwerliche Wege auf sich nehmen und gut zu Fuß sein.

Nicht weit von der heutigen Grenze zu Montenegro entfernt liegt Shkodra, seit jeher das kulturelle Zentrum Nordalbaniens, von dem aus immer wieder auch wichtige Impulse für das ganze Land ausgingen. Den Gebrüdern Marubi verdankt man beispielsweise die ersten Fotografien, die in Albanien aufgenommen wurden. Und die albanische Nationalbewegung Rilindja (Wiedergeburt) verfügte hier über eine starke Basis.

Da der Norden teils schwer zugänglich ist, hat sich der flachere Süden industriell rascher entwickelt. Ein wichtiges kulturelles Zentrum dort ist Gjirokastra, eine der ältesten Städte des Landes und seit 2005 UNESCO-Weltkulturerbe. Hier wurden der ehemalige Diktator Enver Hoxha und der berühmteste albanische Schriftsteller Ismail Kadare geboren. Im Süden an der Albanischen Riviera liegen auch die bekanntesten Touristenorte, zu denen Vlora und Saranda gehören.

Heutzutage unterscheiden sich Lebensweise und wirtschaftliche Entwicklung in Nord und Süd kaum noch. Durch den Bau von Autobahnen sind Entfernungen in dem kleinen Land nicht mehr relevant. Auch in einer anderen Frage gibt es eine Art Parität zwischen den Landesteilen: Regionale Mafiastrukturen haben sich etabliert. Das Dorf Lazarat im Süden galt lange als Zentrum des albanischen Cannabisanbaus. Seit es in einer spektakulären und medienwirksamen Aktion von Einheiten der Spezialpolizei gestürmt wurde, haben sich Drogenanbau und -vermarktung dezentralisiert. Nach Angaben albanischer Behörden gab es allein im Jahre 2017 etwa 1250 Polizeieinsätze, bei denen mehr als 2,3 Millionen Cannabispflanzen zerstört wurden. Die 8900 beteiligten Polizisten sollen darüber hinaus neun Tonnen Cannabis sichergestellt und 250 Händler und Produzenten festgenommen haben.

Im Sommer 2017 waren allerdings auch Wahlen, und die regierende Sozialistische Partei (SP) wollte sich die Gunst der Wähler durch Demonstrationen der Stärke erkaufen. Dem Wahlergebnis nach zu urteilen, hat das funktioniert. Das Drogenproblem ist dadurch jedoch nicht gelöst worden. Dazu später.

Im Verlaufe der jüngsten Balkankriege entwickelte sich im Norden, der an das seinerzeit noch jugoslawische Montenegro8 grenzt, ein besonders dreistes Mafia-Gewerbe mit schwindelerregenden Profitraten. Der UN-Sicherheitsrat hatte am 30. Mai 1992 mit Resolution 757 schärfere Sanktionen gegen Jugoslawien verhängt, zu denen auch ein Verbot von Öllieferungen gehörte. Während dieses Embargos soll zeitweise mehr als die Hälfte des Treibstoffnachschubs für die Serben über den Shkodrasee gekommen sein. Der Spiegel schrieb damals: »Die Ohnmacht der UNO, die Tragödie von Sarajevo, die Leiden der bosnischen Muslime haben ursächlich mit dem plötzlichen Reichtum der Fischer von Shkodra zu tun, die seit drei Jahren das Embargo der Vereinten Nationen en gros unterlaufen.«9

Als sich diese Geschäftsidee erledigt hatte, entwickelte sich rund um den Shkodrasee, den größten See des Balkans, eine kriminelle Schattenwirtschaft anderer Art. Wilderer fangen jedes Jahr Fisch, meist Karpfen und Aale, im Wert von Millionen – bei fast völliger Straffreiheit. Einheimische, die im Nationalpark auf der montenegrinischen Seite des Sees leben, scherzen, das Gebiet werde in der Nacht durch das Funkeln der Taschenlampen zu einem virtuellen Las Vegas. Naturschützer warnen vor einer ökologischen Katastrophe.

Albanische Mentalität – oder was wir dafür halten

Kennen Sie einen Albaner oder eine Albanerin? Am bekanntesten in Deutschland ist im Moment vielleicht Kreshnik (genannt Nik) Xhelialj, der zu Weihnachten 2016 als neuer Winnetou über die Bildschirme flimmerte. Aber woran würden Sie einen Albaner im Bus erkennen? Welches Bild hat der durchschnittliche Deutsche vom durchschnittlichen Albaner? Die Älteren denken vielleicht zuerst an Karl Mays Durch das Land der Skipetaren und die schöne, verklärte Beschreibung von Tugenden wie Ehre, Treue und Mut. Und das, obwohl May niemals selbst in Albanien gewesen ist. Von Lord Byron stammen diese Zeilen: »Wild sind Albaniens Söhne, doch entbehrt / nicht aller Tugenden das rau’ Geschlecht. / Wann hat’s dem Feind den Rücken je gekehrt? / Wer dauert aus wie sie im Kriegsgefecht?«

Viele mögen die Hamburger Unterwelt aus dem Tatort im Kopf haben und eher an Kriminalität denken. Es gibt durchaus albanische Gangs, die ihren schlechten Ruf medienwirksam pflegen. Mitglieder der berüchtigten Hellbanianz-Bande, die in London ihr Unwesen treibt und mit Drogenschmuggel viel Geld verdient, haben im November 2018 die britischen Massenmedien empört, als sie ihren illegal erworbenen Reichtum auf Instagram zur Schau stellten: Luxusautos, Gucci-Outfits und eine Torte verziert mit 50-Pfund-Banknoten. Nach Angaben des britischen Justizministeriums befanden sich im Jahre 2017 allerdings lediglich 726 ethnische Albaner in britischen Gefängnissen, weniger als ein Prozent der insgesamt knapp 85 000 Gefängnisinsassen.10 Vor Verallgemeinerungen sollte man sich also hüten.

Jedenfalls dürften die meisten von uns ein Bild von den Albanern haben, das so wenig mit der Realität übereinstimmt wie das Bild, das sich die meisten Albaner von uns Deutschen machen.

Lässt man die Klischees einmal beiseite, bleiben jedoch Eigenheiten übrig, die sich aus regionalen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Entwicklungen ergeben haben. So sind Albaner vermutlich abergläubischer als andere Nationen, sie geben es nur nicht zu, wie es zum Beispiel die Ukrainer mit einem Augenzwinkern gern tun. Man rührt die Speisen nicht mit dem Messer um, sieht nach Mitternacht nicht in den Spiegel und schneidet am Donnerstagabend keine Fußnägel. Meine albanischen Bekannten meinen, dies alles sei zwar lächerlich, aber es könne andererseits nicht schaden, wenn man sich daran halte. Um das Böse abzuwehren, brachte man im Europa des Mittelalters steinerne oder hölzerne Köpfe von Tieren, Menschen oder Fabelwesen mit fratzenhaft verzogenen Gesichtern an Mauervorsprüngen und Türen an, die sogenannten Neidköpfe. Der Brauch ist vermutlich keltischen Ursprungs. Etwas Ähnliches gibt es in Albanien noch heute. So baumeln an Baustellengerüsten und neuen Häusern Plüschtiere oder Puppen, manchmal sind sie schon ziemlich unansehnlich. Ein Bündel Knoblauch daneben zu hängen, soll die Wirkung erhöhen.

Sind Albaner neugierig? Für unsere Verhältnisse sicher. Besonders auf dem Land werden einem Fremden, noch dazu einem Ausländer, von denen man nicht jeden Tag einen trifft, nach der Begrüßung umgehend Fragen nach Familienstand, Alter und Anzahl der Kinder (Söhne?) gestellt. Man möchte sich ein Bild vom Fremden machen und blickt dabei durch das Prisma der eigenen Wertvorstellungen. Unvermutet wird auch nach Gehalt oder Höhe der Pension gefragt. Man ist besser auf solche Fragen vorbereitet und hat eine passende Antwort parat, anstatt sie schamvoll zu umgehen. Im Alltag werden deutsche Besucher rasch merken, dass ihnen Albaner freundlich und geradezu herzlich entgegenkommen. Allerdings verläuft die Kommunikation zumeist anders als in Deutschland. Auch wenn sehr persönliche Fragen geradeheraus gestellt werden, nimmt man sich zunächst Zeit für höfliche Begrüßungsfloskeln. Zu Beginn eines Gespräches wird nicht nur ausführlich nach dem Wohlbefinden des Gesprächspartners gefragt, sondern auch, wie es dessen Angehörigen geht – Ehepartner, Kinder, Eltern. Und dann will der Fragende sicher noch wissen, wie es auf der Arbeit steht. Eine beliebte Frage ist auch, ob man müde oder erschöpft sei. Ähnlich wie der Brite auf die Frage How are you? von seinem Gegenüber keine detaillierte Information erwartet, antwortet man auch in Albanien im Allgemeinen höflich, alles sei in Ordnung.

Gerade wenn man aus Deutschland kommt, fallen einem in Albanien noch mehr Dinge auf. Dass Albaner zum Beispiel Spontaneität zu einer Art Nationalsport entwickelt haben, kann ich bestätigen. Termine zu planen ist schwierig. Man geht davon aus, dass am Ende ohnehin immer etwas dazwischenkommt, deshalb entscheidet man sich spätestmöglich. Ich habe das gerade wieder erlebt, als ich die Interviewtermine für dieses Buch vereinbaren wollte. Die deutschen Gesprächspartner brauchten einen Vorlauf von mindestens einem Monat, die Albaner von einer Woche, gern weniger. Dann tun sich am Ende doch noch irgendwelche Hindernisse auf, und man improvisiert zwischen zwei Terminen. Je älter ich werde, desto weniger rege ich mich darüber auf. Denn am Ende funktioniert es – und vielleicht besser als bei uns zu Hause.

Albaner lieben Eigenschaften und Werte, die man uns Deutschen gern zurechnet, manchmal belächeln sie uns allerdings auch dafür. Ich erinnere mich noch gut an die dramatische Zeit Mitte der 1990er Jahre, wo auf einmal in Albanien alles möglich zu sein schien – Reichtum in ganz kurzer Zeit eingeschlossen. Dubiose Anlagefonds, die nach dem Schneeballsystem funktionierten (für Albanien hat sich der Begriff Pyramidensystem für diese Art Anlagefonds eingeprägt), verzinsten seit 1993 die Kapitaleinlagen der Bürger mit monatlich bis zu 25 Prozent. Wir sahen, wie gute Freunde Haus und Grund zu Geld machten, um es gewinnbringend anzulegen. Unsere Bedenken, Zinsen in dieser Höhe seien eigentlich unmöglich und höchst riskant, wurden beiseite gewischt – auch mit der Bemerkung, wir Deutschen seien immer viel zu ängstlich. Doch dann brach das Pyramidensystem zusammen, das »Wirtschaftswunder« endete jäh, und Hunderttausende standen vor dem Ruin. Die Wut der Geprellten entlud sich gegen die Regierung und kommunale Behörden. Die regimekritische Zeitung Koha Jone (Unsere Zeit) vermutete damals, dass fast 80 Prozent der albanischen Familien mehr oder weniger direkt betroffen waren.

Lesh, 56 Jahre alt, betreibt ein Versicherungsbüro in Lezha und schreibt nebenbei Gedichte und Romane, die er im Eigenverlag herausbringt. Ich treffe ihn in seinem Laden an einer der belebtesten Straßen der Stadt. Das Geschäft läuft schleppend. Er regt sich über die Albaner auf, die von beiden Systemen, dem alten und dem neuen, nur das Beste behalten wollen. Notgedrungen bezahlten sie zwar die Haftpflicht für ihre Autos, weil der Staat das so angeordnet hat, aber Häuser werden nicht versichert, und landwirtschaftliche Flächen schon gar nicht. Denn bei Hochwasser oder Unwetter erwarteten die meisten noch immer, dass der Staat einspringt. Lesh erzählt seinen Auto-Haftpflicht-Kunden daher oft, wie das in Deutschland geregelt ist und wofür oder wogegen man sich dort ganz normal versichere. Aber das würden die Leute doch nicht von Deutschland übernehmen wollen, sagt er.

Und noch ein kleiner Tipp: Fragt man einen Verkäufer nach einer Sache und nickt dieser darauf heftig mit dem Kopf und sagt jo, kann man getrost wieder gehen, denn das heißt »nein«. Kopf schütteln oder wackeln und dazu po sagen, heißt »ja«. Die Albaner im Kosovo allerdings machen das nicht so, was die Sache für Ausländer noch verwirrender macht.

Die Sprache

Das Albanische vertritt einen eigenständigen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie. Es ist jedoch durch andere Sprachen, besonders die benachbarten, spürbar beeinflusst worden. Der Sprachwissenschaftler Gustav Meyer hat Ende des 19. Jahrhunderts für sein Etymologisches Wörterbuch der albanesischen Sprache die Herkunft von 5140 ausgewählten Stichwörtern untersucht und kam zu folgendem Ergebnis: 400 hatten alt-illyrisches Erbgut, 540 slawisches, 840 neugriechisches, 1180 türkisches und 1320 rumänisches.11 Das albanische Sprachgebiet besteht aus zwei Dialektzonen mit jeweils mehreren Unterdialekten: der gegischen nördlich vom Fluss Shkumbini und der toskischen südlich davon; die Kosovo-Albaner sprechen Gegisch. Grundlage der modernen albanischen Literatursprache ist das Toskische. Die Forschung geht davon aus, dass sich die heutigen Unterschiede zwischen den beiden Hauptdialekten erst in den letzten Jahrhunderten herausgebildet haben. Sie betreffen nicht nur Wortschatz und Aussprache, sondern zum Teil auch die Wortbildung.

Ein Phänomen gibt es im Albanischen, das auch dem Leser dieses Buches auffallen könnte: Alle Substantive, auch geografische und Personennamen, haben eine bestimmte und eine unbestimmte Form. So heißt die Hauptstadt des Landes unbestimmt Tiranë, bestimmt Tirana. Während die Albaner die unbestimmte Form nutzen, hat sich in Übersetzungen die bestimmte Form mehr oder weniger durchgesetzt. Aber auch das nicht konsequent, denn die zweitgrößte Stadt Albaniens ist bei uns als Durrës bekannt, müsste aber in der bestimmten Form Durrësi heißen. Ich verwende in diesem Buch bei Ortsangaben die jeweils international gebräuchlichste Form.

Albanisch ist zwar eine sehr alte Sprache, aber erst spät schriftlich überliefert. Das erste gedruckte albanische Buch, die Übersetzung eines katholischen Messbuches durch Gjon Buzuku, datiert von 1555. Das heute gültige Alphabet wurde im Jahre 1908 vorgestellt. Es basiert auf dem lateinischen Alphabet, hat aber nicht nur 26, sondern 36 Buchstaben. Für uns Deutsche ungewöhnlich gibt es im albanischen Alphabet auch Konsonantdopplungen als eigenständige Buchstaben, manchmal sogar am Wortanfang. Pfeife heißt zum Beispiel auf Albanisch llulle und rrezik heißt Risiko. Im November 1972 fand der Prozess der schriftsprachlichen Normierung mit einem Kongress zur Rechtschreibung in Tirana einen (vorläufigen) Abschluss. Die damals festgelegten Standards wurden in jüngerer Zeit von Vertretern des Kosovo wiederholt kritisiert, weil sie das Toskische bevorteilen würden. Zeitweilig gab es in Pristina Bestrebungen, das Gegische zu einer eigenen Literatursprache zu machen. Zeitungen auf Gegisch zu publizieren, hat sich jedoch nicht durchgesetzt. In Albanien wurde in der schulischen und universitären Ausbildung immer großer Wert auf die Einhaltung der sprachlichen Normen und der vereinheitlichten Orthografie gelegt. Im Kosovo dagegen ist der Umgang mit der Orthografie manchmal auffallend lax.

In der Albanologie war über Jahrhunderte Deutschland führend. Niemand Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz hatte einst die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Land und seiner Sprache begründet. Noch heute gültige Standardwerke des Albanischen und zur albanischen Geschichte wurden von Deutschen und Österreichern geschrieben. Auch die DDR hat diese Tradition weiter gepflegt. Mein Mann und ich haben vor vielen Jahren einen Sprachführer Albanisch geschrieben, der inzwischen in der 14. Auflage erschienen ist.12 In den 1990er Jahren waren es jedoch weniger die Touristen, die sich das Büchlein zulegten, sondern vor allem die Albaner aus dem Kosovo und aus Albanien, die als Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge nach Deutschland kamen und in Ermangelung anderer Sprachbücher damit die deutsche Sprache zu erlernen versuchten. Später, als die großen internationalen Friedensmissionen im Kosovo und in Albanien aufgebaut wurden, hatten Deutsche und Österreicher das Buch im Gepäck. Der deutsche Botschafter Geert Hinrich Ahrens hatte dazu auch die Sprachkassette, die er morgens immer beim Rasieren hörte. So viel Disziplin brachten allerdings die wenigsten auf.

Dass eine in den internationalen Beziehungen so wenig gebräuchliche Sprache wie das Albanische mitunter zu Kreativität im Umgang mit ihr herausfordert, hat Werner Eberlein in seinen Memoiren anschaulich beschrieben. Eberlein war als Regierungsdolmetscher für den Besuch Enver Hoxhas in der DDR im Januar 1959 verantwortlich. Er war allerdings Russisch-Dolmetscher; geeignete Albanisch-Dolmetscher hatte die DDR zu der Zeit offenbar nicht. Hoxha kam mit dem Zug aus Prag und hielt vor dem damaligen Ostbahnhof in Ost-Berlin seine erste Rede. Den handschriftlichen Text hatte man Eberlein auf Russisch gegeben. Da es heftig zu schneien anfing, lösten sich die Buchstaben auf dem Papier schnell auf. Eberlein reagierte geistesgegenwärtig und hielt seine eigene Rede, wusste er doch aus jahrelanger Erfahrung als Regierungsdolmetscher, was man bei solchen Anlässen sagt. Da die anwesenden Deutschen kein Albanisch verstanden und die Albaner kein Deutsch, fiel das nicht auf, und zum Abschluss applaudierten alle höflich.13

Eine Handvoll Wörter Albanisch zu lernen, bevor man eine Reise antritt, ist allerdings nicht schwierig. Damit macht man sich beliebt, und es ist nicht zu befürchten, dass die Gesprächspartner dann erwarten, der Gast verstehe ihre Sprache, denn natürlich wissen sie selbst, dass das eher unwahrscheinlich ist. Mit Englisch und Italienisch und auch Deutsch kommt man in Albanien gut zurecht.

Die Küche

Warum stößt man im Ausland nirgendwo auf ein Restaurant »Tirana«? Ist die albanische Küche so schlecht? Das ist sie keineswegs, aber es ist nicht einfach, ein Gericht zu finden, das es nicht so oder so ähnlich auch anderswo in der Region gibt. Die albanische Küche gehört zur Balkanküche, sie ist mediterran und stark vom Orient beeinflusst. Dazu variiert sie von Region zu Region zum Teil erheblich. Dank des Klimas gibt es im Land das ganze Jahr hindurch Obst und Gemüse. In der Küche kommen etwa Aubergine, Paprika, Tomate, Gurke, Kohl und Spinat zum Einsatz, auch Getreidesorten wie Weizen, Mais, Gerste und Roggen. Als Sättigungsbeilagen werden zu vielen Gerichten Reis, Kartoffeln und Bohnen gereicht. Häufig verwendete Fleischsorten sind Lamm, Ziege, Rind und Kalb, auch Schwein und Geflügel, alles inklusive Innereien. Auch Fisch isst man gern; hier ist in den heißen Sommermonaten allerdings Vorsicht geboten, denn noch nicht zu jedem Gasthaus werden die Kühlketten eingehalten. Sehr beliebt zu jeder Tageszeit ist Kos, eine Art Joghurt, der aus gegorener Kuhmilch hergestellt wird. Früher war er auch Hausmittel gegen alles, zum Beispiel dick auf die Haut aufgetragen gegen Sonnenbrand. Schön macht er angeblich auch.

Die Jahre der Hoxha-Diktatur hatten auch für die albanische Küche fatale Folgen: Die Mangelwirtschaft schränkte die kulinarischen Möglichkeiten erheblich ein, zudem war die Pflege religiöser Bräuche verboten, von denen viele traditionell mit üppigen Gerichten verbunden sind, etwa zu Bairam und zu Weihnachten. Da Rezepte traditionell mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wurden, ging so manches verloren. Ich kann mich nicht erinnern, zu Zeiten Hoxhas Kochbücher in den Buchläden gesehen zu haben. Einmal fragte ich Lume, unsere albanische Köchin in der Botschaft, nach ihrem Lieblingsrezept für Baklava, und was ich davon noch in Erinnerung habe, begann mit sieben Kilo Mehl und sieben Kilo Zucker – ein Rezept für Hochzeiten.

Es verwundert nicht, dass zu Beginn des neuen Zeitalters auch kulinarisch plötzlich nur interessant war, was aus dem Ausland kam. Heute noch gibt es in Tirana wesentlich mehr Restaurants mit internationaler Küche oder internationale Fastfood-Läden als albanische Restaurants. Bei Tripadvisor findet man für Tirana zum Beispiel 47 italienische, zehn chinesische, acht mexikanische und sieben japanische Restaurants – und ganze zwei mit albanischer Küche, das »Era« und das »Oda«. Natürlich gibt es auch Beispiele, wie es anders funktionieren kann. Im Frühjahr 2017 war ich zum ersten Mal im Restaurant »Mrizi i Zanave« (Feenhauch oder Feenstaub) in Fishta, einem kleinen Dorf im Nordwesten Albaniens. Es wird von den Brüdern Prenga betrieben, die lange in Italien gelebt haben, wo die Slow-Food-Bewegung ihren Ursprung hat. Vor ein paar Jahren sind sie nach Albanien auf das Gehöft ihrer Eltern zurückgekehrt, um ihre Idee von guter Gastronomie in die Praxis umzusetzen. Dazu gehören der Stolz auf Traditionen, Heimatverbundenheit und die Verwendung von lokalen Produkten.

»Alles, was wir auf den Tisch stellen, vom Wasser über das Sorbet vom wilden Granatapfel, den Käse bis hin zum Lamm- und Ziegenfleisch, kommt von unserem Land«, sagt Altin Prenga. Für unsere Ohren ist das Konzept nicht neu, für Albanien schon. Altin und sein Bruder Anton haben inzwischen ein integriertes System geschaffen, das aus Dutzenden von kleinen Produzenten aus der Region, 25 Angestellten und einem Einzelhandelsgeschäft für lokale Produkte besteht. Die Kunden kommen nicht nur aus ganz Albanien, sondern inzwischen auch aus dem Kosovo und Montenegro. Auf den Shirts des Personals steht Krenar qe jam fshatar (Ich bin stolz darauf, ein Bauer zu sein). Fast ein revolutionäres Fanal im heutigen Albanien, wo man eine ländliche Herkunft oft mit Scham verschweigt. Am Ende des Weinbergs, der zum Grundstück gehört, das die Prenga-Brüder von ihren Eltern übernommen haben, sind die Reste von Backsteingebäuden zu sehen. Zu Hoxhas Zeiten war dies ein Zwangsarbeitslager. Die Prengas wollen hier eine Molkerei, eine Fleischerei und eine Halle zur Verarbeitung wilder Granatäpfel errichten. Sollte das gelingen, wäre es ein Erfolg für die ganze Region.

Inzwischen hat die albanische Slow-Food-Bewegung sogar das Herz von Tirana erreicht. Einer der beteiligten Köche ist Bledar Kola, ein talentierter Vertreter der »neuen albanischen Küche«. Er hat schon im »Noma« in Kopenhagen bei Starkoch René Redzepi gearbeitet. Das »Noma« wurde gleich viermal als »Bestes Restaurant der Welt« ausgezeichnet und trägt zwei Michelin-Sterne. Redzepi hat einen märchenhaft anmutenden Aufstieg vom Migrantenkind zum Visionär einer konsequent nordischen und saisonalen Küche hinter sich. Laut dem Time Magazine gehört er zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Und ja, der Familienname lässt es vermuten, Redzepi hat einen albanischen Vater – aus Nordmazedonien. Das neue Restaurant von Bledar Kola in Tirana heißt »Bacchus« und ist noch ein Geheimtipp ganz ohne Stern. Eine Balance zwischen Tradition und Neuem, zwischen lokal und international. In ein paar Jahren wird man sehen, ob das Konzept trägt.

Als einziges typisches Gericht der Hauptstadt ist mir persönlich das Fergess Tirana in Erinnerung, eine Art Gemüseauflauf. Wir haben es manchmal »Vergiss Tirana« genannt, weil man es – je nach Restaurant – nicht unbedingt lieben muss. Zweifellos braucht die albanische Küche noch viel mehr Eigenwerbung. Schön aufgemachte albanische Kochbücher gibt es inzwischen in Tirana zu kaufen, nur an Übersetzungen hapert es noch.

Böse Geister, gute Feen und albanische Mythen

Albanische Fabeln und Sagen sind ziemlich brutal. Aber unser Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel sind es schließlich auch. Da die albanische Volksepik im europäischen Vergleich spät verschriftlicht worden ist, wurden Sagen und Märchen länger rein mündlich überliefert und von den Erzählern beliebig ausgeschmückt. So ist es zum Beispiel mit der Kulschedra, einem Ungeheuer von schrecklichem Äußeren mit sieben Köpfen. Sie ist die Verkörperung des Bösen und bewacht die Schöne der Erde (bukura e dheut), eine der beliebtesten Gestalten albanischer Märchen und Mythen. Diese ist der Inbegriff von Schönheit, kann aber auch zaubern und ist das Gegenteil der Kulschedra und damit meist das Traum- und Kampfziel der Märchenhelden.14 Die Zana wiederum ist die Fee und Muse der albanischen Berge und haust hoch oben in den Nordalbanischen Alpen. Sie ist ein göttliches Wesen voll Mut und Wildheit. Ihr Name ist tabu und wird daher meistens umschrieben. Die elfenartigen Djinn, die alles Lebendige beschützenden Oren, der blutgierige Riese Baloz und der schwarze Arap nehmen am Kampf zwischen Gut und Böse teil, der natürlich immer mit dem Sieg des Guten endet.

Auch ganz reale historische Personen sind in Albanien als Mythos präsent, wie Skanderbeg als Heldenfigur für die Jungen und Shote Galica als Vorbild für die Mädchen. Skanderbeg ist auch im Ausland bekannt. Er lebte im 15. Jahrhundert und kämpfte mutig und unerschrocken gegen eine osmanische Übermacht. Über ihn gibt es Bücher für alle Altersgruppen – vom dicken historischen Roman bis zum reich illustrierten Kinderbuch. Shote Galica wurde 1895 als Qerime Radisheva geboren und starb im Jahre 1927. Gemeinsam mit ihrem Mann Azem nahm sie 1919 an einem Aufstand kosovo-albanischer Separatisten gegen das Königreich Jugoslawien teil, der eine Vereinigung des Kosovo mit Albanien zum Ziel hatte. Nachdem ihr Mann Schussverletzungen erlegen war, übernahm sie selbst 1925 das Kommando über eine Rebelleneinheit und erzielte einige militärische Erfolge. Es gibt sogar Fotografien von ihr. Die bekannteste wurde 1920 im Atelier von Marubi in Shkodra aufgenommen und trägt den Titel »Shote Galica – die albanische Jeanne d’Arc«. Sie zeigt eine junge, schöne Frau in traditioneller albanischer Männerkleidung, mit langem geflochtenen Zopf unter dem Fez, einem Patronengurt und einem Gewehr über der Schulter. Sie wurde zu einer Art Ikone des Freiheitskampfes des albanischen Volkes. Ihr Konterfei scheint so zeitlos anziehend für die Jugend zu sein, wie wir es von Che Guevara kennen.

Sowohl Shote Galica als auch Skanderbeg verkörpern Eigenschaften, die den Albanern heute noch außerordentlich wichtig sind, wie Ehre und Treue. Ich habe ein Kinderbuch mit dem Titel Besa e Shqiptareve (Der Treueschwur der Albaner), in dem den kleinen Lesern knapp und mit ziemlich brutalen Illustrationen erklärt wird, wie wichtig es sei, ein einmal gegebenes Wort zu halten. Man hält es nicht nur, man zweifelt seinen Sinn auch nicht an.

So wie in einer bekannten Sage vom Bau der Festung Rozafa bei Shkodra: Drei junge Männer versuchen, dort eine Burg zu errichten. Aber die Wände, die sie am Tage mauern, fallen in der Nacht immer wieder zusammen. Eines Tages kommt ein Greis vorbei, den die Brüder um Rat fragen. Nachdem sie ihr Ehrenwort gegeben haben, niemandem davon zu erzählen, empfiehlt ihnen der Alte, sie sollten diejenige ihrer Ehefrauen, die ihnen am nächsten Tag das Essen bringen würde, lebendig einmauern, dann werde das Bauwerk bis in alle Ewigkeit halten. Nur der jüngste der Söhne hält sich an sein Versprechen, die beiden anderen informieren ihre Ehefrauen. So ist es die Frau des jüngsten Sohnes, die am nächsten Tag mit dem Essen auf der Baustelle erscheint und umgehend eingemauert wird. Sie macht keinen Ärger und bittet nur darum, beim Einmauern ihre rechte Brust, den rechten Arm und das rechte Auge frei zu lassen, damit sie ihren kleinen Sohn weiter halten und stillen kann. Bis heute sind die Steine am Fuße der Burg feucht, weil die Tränen der Mutter noch immer fließen. Vermutlich aus dem rechten Auge.

Blutrache und der Kanun

Die Blutrache (albanisch gjakmarrje, wörtlich »das Blutnehmen«) war und ist in großen Teilen Nordalbaniens ein Instrument, mit dem Gerechtigkeit geübt und die Ehre des Mannes wiederhergestellt werden soll. Ausgetragen wird die Blutrache nach strengen und komplizierten Regeln, die in mittelalterlichen Gesetzeswerken, Kanun genannt, zunächst von Generation zu Generation mündlich überliefert und schließlich niedergeschrieben wurden. Das heute bekannteste dieser Gesetzeswerke ist der Kanun des Lekë Dukagjini. Ähnliches hat es auch in anderen Teilen der Welt gegeben, spielt aber wohl nirgends noch eine solche Rolle im Alltagsleben wie in Nordalbanien. Zum Kernland des Kanun