Albtraum Pflegeheim - Frank Wittig - E-Book

Albtraum Pflegeheim E-Book

Frank Wittig

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  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Angst, Einsamkeit, Vernachlässigung und Misshandlung – in vielen deutschen Pflegheimen herrschen furchtbare Zustände. Senioren werden mit Medikamenten ruhiggestellt, in Windeln gelegt oder per Schlauch durch die Bauchdecke ernährt um als problem- und willenlose Verfügungsmasse durch den Heimbetrieb geschleust zu werden. So wird Zeit gespart und der Gewinn für die Heimbetreiber maximiert. Erstmals richtet eine erfahrene Pflegekraft einen kritischen Blick auf das System Pflegeheim. Eva Ohlerth stellt diese Missstände jedoch in einen neuen Zusammenhang jenseits der altbekannten Kritik an den Finanzierungsverhältnissen: Jahrelang wurden zur Profitmaximierung Kräfte eingestellt, die weder fachlich noch menschlich die Voraussetzungen für den Beruf erfüllen. Ungelernte Hilfsarbeiter übernahmen die anspruchsvollen Aufgaben der Pflege – und scheiterten. Die Altenpflege mutierte zu einem Sammelbecken für gescheiterte Existenzen, oft unfähig zu Mitgefühl und ohne die so unerlässliche kommunikative Kompetenz. Die Folge: ein ganzer Berufsstand wurde abgewertet, qualifizierte Kräfte flüchteten reihenweise in andere Branchen. Eine fundierte und aufrüttelnde Analyse des »Albtraums Pflegeheim«. Ein Leitfaden und eine Programmschrift für Angehörige und Pflegekräfte. Denn unsere Mütter und Väter haben Besseres verdient.

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Seitenzahl: 299

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2019

© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Maslows Bedürfnispyramide, S. 57: © PNG by Philipp Guttmann, SVG by Jüppsche

Die 10 Eden Prinzipen®, S. 172–173: Abdruck mit Genehmigung der Eden Alternative Deutschland

Tortendiagramm Heimkosten, S. 204: Abdruck mit freundlicher Genehmigung von CORRECTIV

Redaktion: Ingrid Sonntag

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: 123ducu/iStockphoto, JimAK_Photo/Shutterstock

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-7423-1130-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0780-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0781-8

Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Meiner Mutter Anneliese gewidmet.

Sie lehrte mich, dass Widerstand im Ernstfall eine Tugend ist.

Eva Ohlerth

Inhalt

Vorwort

1. Warum ich Nestbeschmutzerin wurde

2. Einblicke in die Praxis der Altenpflege

3. Aspekte unserer Ausbildung

4. Die Situation der Pflegekräfte

5. Physische und psychische Gewalt in der Pflege

6. Das Altenheim als Abstellkammer für Betagte

7. Gelungene Pflege nach der Eden-Alternative

8. Situation der Angehörigen im Heim

9. Lassen Sie uns über Geld reden

10. Überprüfung und Benotung durch den MDK

11. Sonderfall: Pflege auf der Intensivstation

12. Tipps für das passende Heim

13. Alternativen zum Pflegeheim

Abschließende Bemerkungen

Dank

Vorwort

Die Generation, die heute in unseren Pflegeheimen lebt, hat Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut. Hat aus teils ärmlichsten Verhältnissen kommend jahrzehntelang am wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands gearbeitet und durch Fleiß und Disziplin einen Wohlstand geschaffen, von dem wir heute so selbstverständlich profitieren. Wie kann es dann aber sein, dass ein großer Teil dieser Menschen, jetzt gebrechlich geworden und auf Hilfe angewiesen, so wenig Achtung und Hilfe und Wertschätzung erfährt?

Etwa 800 000 betagte Menschen sind in Deutschland in über 11 000 vollstationären Pflegeeinrichtungen untergebracht. In der überwiegenden Zahl dieser Fälle handelt es sich für die Heimbewohner um prekäre Lebenssituationen. Angst, Einsamkeit und die Vernachlässigung grundlegender Bedürfnisse der Heimbewohner sind an der Tagesordnung. Wir wollen in diesem Buch verschiedene Gründe aufzeigen, die zu den Missständen in den Pflegeheimen führen: zu physischer und psychischer Verwahrlosung, zu Misshandlung und Missachtung, schlicht zu Zuständen, die in einer freiheitlich demokratisch geprägten Gesellschaft als vollkommen inakzeptabel angesehen werden. So behandelt man keine Menschen!

Warum geschieht es dennoch? Obwohl es seit Jahrzehnten immer wieder Stimmen der Empörung gibt. So wie sie auch in diesem Buch zu Wort kommen. Stimmen, die darauf hinweisen, dass es etwa in Artikel 1 des Grundgesetzes heißt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Und dass dieser erste und über allem stehende Grundsatz unserer Verfassung nicht vereinbar ist mit den Zuständen, die in unseren Altenheimen so häufig anzutreffen sind. Es ist absolut entwürdigend, einen Großteil des Tages in seinen Fäkalien liegend verbringen zu müssen. Es ist absolut entwürdigend, von Pflegekräften wie ein Objekt behandelt zu werden, dem gegenüber keinerlei Respekt aufgebracht wird. Es ist absolut entwürdigend, mittels Pharmazeutika in einen Dämmerzustand versetzt zu werden, um als problem- und willenlose Verfügungsmasse mit geringstem Aufwand durch den Betrieb des Pflegeheims geschleust zu werden. Es ist entwürdigend, als Vorwand für Lug und Betrug herhalten zu müssen, damit im Heim die Kasse stimmt.

Wir glauben, dass ein wichtiger Grund für das Fortdauern dieser beschämenden Verhältnisse tief in einer Kultur der Verachtung des Alters verwurzelt ist. Wobei man wohl differenzieren muss. Es ist noch nicht einmal das Alter an sich. Es sind die mit fortgeschrittenem Alter auftretenden Behinderungen des aktiven Lebens, die unsere Aversionen hervorrufen. Wir sind eine Leistungsgesellschaft. Sportlich, jugendlich, erfolgreich und aktiv zu sein, ist das Leitmotiv für Lebensentwürfe. Voller Terminkalender, dickes Portemonnaie, alle paar Jahre ein neues Auto vor der Tür (möglichst 180 PS und mehr), Urlaubsreisen, die auch die Nachbarn beeindrucken, Freude am Konsum … diese Liste der angestrebten, von Leistungsfähigkeit zeugenden Lebensinhalte ließe sich leicht verlängern.

Was sich über Jahrzehnte zunächst produktiv und wohlstandsmehrend auswirkt, programmiert gegen Ende des Lebens einen Bumerang mit verhängnisvollen Folgen. All diesen Idealen der Leistung können Hochbetagte, können pflegebedürftige Menschen nicht mehr gerecht werden. Alte Menschen sind plötzlich keine »Bringer« mehr, sondern »Nehmer« und angewiesen auf unsere Hilfe. Und sie erinnern uns schmerzlich daran, dass auch wir eines Tages unsere Leistungsfähigkeit verlieren, hilfsbedürftig und gebrechlich sein werden und versorgt werden müssen.

So sind wir bestrebt – und unsere ganze Kultur tendiert dahin –, das Alter zu verdrängen. Anti-Aging lautet die Devise. »Fit wie ein Turnschuh«, oder zumindest »rüstig« sollen die Alten sein. Dann sehen wir sie noch gerne. So werden sie auch in der Werbung als vorzeigbare Konsumenten präsentiert. Jenseits dieser Leistungsfähigkeit werden sie zumeist ausgeblendet.

In unserem Buch wollen wir zeigen, wie die ablehnende Haltung gegenüber dem Thema Alter zu einem Nährboden wird für einen viel zu häufigen, menschenverachtenden Umgang mit Hochbetagten in Pflegeheimen. Darüber hinaus wollen wir ökonomische Rahmenbedingungen ansprechen, die dazu führen, dass prekäre Zustände in unseren Altenheimen so häufig an der Tagesordnung sind. Rahmenbedingungen, die sich für Heimbewohner katastrophal auswirken, an denen viele Heimbetreiber aber nur zu gerne festhalten, weil sie ihnen auf Dauer den maximalen Profit sichern.

Unser Buch zeigt außerdem in der Gegenüberstellung von Ausbildungsinhalten und Pflegepraxis, wie es sein müsste und was stattdessen die traurige, mitunter zutiefst inhumane Realität in den Pflegeheimen ist. Es werden auch alle wesentlichen medizinischen Probleme erläutert, die in der Altenpflege bewältigt werden müssen. So werden den Angehörigen wichtige Hilfestellungen gegeben, Missstände in Pflegeheimen zu erkennen. Darüber hinaus wird deutlich: Pflege ist keine Luxusleistung, hat nichts mit »Bespaßung« betagter Heimbewohner zu tun. Pflege ist unabdingbarer Bestandteil eines medizinischen Konzepts, das darauf gerichtet ist, körperliche und geistige Gesundheit betagter Menschen solange wie möglich zu stärken und zu erhalten. So definiert es auch das Sozialgesetzbuch.

Was dieses Buch außerdem zu einem wichtigen, in dieser Form bisher nicht geleisteten Beitrag für die Diskussion über den Notstand in Pflegeheimen macht: Erstmals richtet eine erfahrene Pflegekraft einen kritischen Blick auch auf ihre Berufsgenossinnen und Berufsgenossen. Sie machen sich leicht zu Mittätern in einem System, das alte Menschen entwürdigend und oftmals brutal behandelt: wenn sie Abrechnungsbetrug decken und es zulassen, dass Verhältnisse als normal verstanden werden, die jedem pflegerischen Berufsethos widersprechen.

Ganz wesentlich trägt zu dieser Misere die Tatsache bei, dass vor allem Pflegehilfskräfte ohne Schulabschluss oder sonstige Qualifikationen in die Dienstpläne der Heime eingegliedert werden. So wird die Altenpflege vielfach zu einem Sammelbecken für gescheiterte Existenzen, für bildungsferne Hilfsarbeiter, oft unfähig zu Mitgefühl und ohne die für dieses Berufsbild so unerlässliche kommunikative Kompetenz. Diese erschreckende Bilanz zeugt von der verheerenden Fehleinschätzung dessen, was Pflegekräfte zu leisten haben, wenn sie ihre Aufgabe in den Altenheimen sinnvoll erfüllen sollen. Hier ist die Politik jenseits aller Kritik an Finanzierungsverhältnissen dazu aufgefordert, Rahmenbedingungen zu verändern und sicherzustellen, dass unseren betagten und hilfsbedürftigen Mitmenschen in den Pflegeheimen geeignetes Personal begegnet. Personal, dass den Betagten mit Mitgefühl, Interesse und Engagement gegenübertritt.

Schließlich bietet unser Buch auch einen Leitfaden für Betagte, die in ein Pflegeheim einziehen möchten, dazu einen Fragekatalog für deren Angehörige, um mögliche Pflegeeinrichtungen auf ihre Eignung hin zu überprüfen.

Eva Ohlerth und Frank Wittig

1. Warum ich Nestbeschmutzerin wurde

Von Pflegerobotern und Scheintoten

Ich habe ihre Gesichter nicht vergessen. Nicht das Gesicht der Heimbewohnerin, die ihre Lebensmittel hamsterte und auf ihrer Fensterbank vor dem Zugriff der strengen Pflegekraft in Sicherheit bringen wollte. Die Bewohnerin stürzte dabei aus dem Fenster in den Tod. Ich vergesse nicht das Gesicht der alten Dame, die zu mir sagte: »Schwester, ich habe Angst vor der Nacht, wenn ich nicht weiß, wer kommt. Die Schwester Ursula schreit mich jedes Mal an …« Ich vergesse nicht das schmerzverzerrte Gesicht der alten Dame, die von der ungelernten Pflegekraft beim Umlagern aus dem Bett geworfen worden war. Sie starb wenig später im Krankenhaus an ihren Verletzungen. Jetzt – beim Aufschreiben der Erinnerungen – sehe ich sie wieder vor mir. Gespenster aus der Vergangenheit. Zeugen des unmenschlichen Umgangs mit betagten, hilfsbedürftigen Heimbewohnern.

Ich freute mich. Ich war aufgeregt. Der erste Tag meiner Ausbildung. Gerade war ich 25 Jahre alt geworden.Und so hatte ich mir meinen Einstieg in die Pflege alter Menschen vorgestellt: eine ausführliche Einweisung in den behutsamen und sorgfältigen Umgang mit greisen, hilfsbedürftigen Menschen. Ich hatte mich darauf gefreut, die alten Menschen auf ihrem Lebensweg zu begleiten, sie zu unterstützen, wo sie meine Hilfe brauchten, um ihren Alltag soweit wie möglich selbstbestimmt zu bewältigen. Helfen, dass sie trotz ihrer Gebrechen, trotz ihrer Hinfälligkeit ein erträgliches, wenn nicht sogar angenehmes Leben würden führen können. Das Foyer des Münchner Altenheimes beeindruckte mich. Ja, es machte auf mich einen geradezu herrschaftlichen Eindruck. Der Empfang schien von einem professionellen Heim mit gehobenen Ansprüchen zu zeugen. Hier war alles sauber und adrett, der Umgangston gepflegt, das Personal höflich. Ich dachte: Toll! Das wird dein Ausbildungsplatz und vielleicht auch einmal dein Arbeitsplatz.

Ansprechende Fassade

»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« – hat Hermann Hesse geschrieben. Schade nur, dass mein Zauber hier im Pflegeheim so schnell verflog. Immerhin brachte mich die Heimleitung damals noch persönlich auf die Station und stellte mich Gertrud vor. Gertrud war eine erfahrene und pflichtbewusste Altenpflegerin. Sie hatte eine unscheinbare Gestalt, war blass und sehr zurückhaltend. Mit Lob und Anerkennung ging sie sparsam um, machte Dienst nach Vorschrift und war ziemlich humorlos.

Mit ihr durfte ich mitlaufen und bekam schon nach wenigen Schritten im Wohnbereich der Betagten einen ersten Schock. Der Geruch von Fäkalien und Erbrochenem vermischt mit Essensgerüchen, schwängerte die Luft. In meinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Ein Unfall? Ein Sonderfall? Das konnte doch kein Alltag sein? Oder? Die Ausdünstungen erzeugten in mir einen derartigen Ekel, dass ich eine Woche lang nicht in der Lage war, auf dieser Station zu essen.

Gertrud nahm mich also mit in meinen ersten Frühdienst. Sie sagte, ich solle ihr beim Arbeiten zuschauen, damit ich die Arbeit morgen alleine kann. Verrückt! Oder? Die Lernzeit: ein ganzer Tag! Ich musste in der Folgezeit lernen, dass dies typisch für das Pflegemilieu war. Darin zeigt sich, wie fundamental falsch der ganze Pflegebereich eingeschätzt wird. Der dazugehörige Spruch »Pflegen kann doch jeder« sollte zum meistgehassten Satz meines Arbeitslebens werden. Gertrud kam mir vor wie ein Roboter. Sie ging kaum auf die Bewohner ein, war höflich, aber nicht freundlich. Sie erledigte die anfallende Arbeit freudlos, es gab kaum ein Lächeln in ihrem Gesicht. Wir gingen von Zimmer zu Zimmer und arbeiteten den Katalog ab: Grundpflege, Behandlungspflege, Medikamentenabgabe, Lagerungen, Frühstück zubereiten, Essenseingaben, Wechsel des Inkontinenzmaterials und Toilettengänge, falls es die Zeit zuließ. Gesprochen wurde dabei wenig, wir mussten uns beeilen, um bis zum Mittagessen mit der Arbeit fertig zu sein.

Bei den Scheintoten

Während Gertrud mich über den Gang führte, sah ich links und rechts – sofern die Türen offen standen – in die Zimmer. Viele Bewohner lagen teilnahmslos in ihren sauber bezogenen, weißen Betten. Sie wirkten auf mich wie Scheintote. Ein gespenstischer Anblick. Ich weiß noch, wie ich versuchte, den Eindrücken einen Sinn zu geben. Ruhezeit? Aber es war noch früh am Vormittag! Ich hatte definitiv mehr Leben im Heim erwartet: Alte, die in kleinen Grüppchen beisammensaßen, sich unterhielten, etwas spielten; Pflegekräfte, die sich auf ein Wort dazugesellten. Sollte für viele Mitarbeiter hier soziale Teilnahme am Leben der Heimbewohner überhaupt nicht zu ihrer Arbeit zu gehören?

Schnell merkte ich, dass Pflegekraft nicht gleich Pflegekraft ist. Die einen – lassen Sie es mich einmal so drastisch ausdrücken – versorgten Biomasse und die anderen versorgten Menschen. Diese echten Pflegekräfte gingen auf die Heimbewohner ein und zeigten, dass sie auch betagte, oft hinfällige Menschen als Individuen, als Persönlichkeiten ernst nahmen. Und nicht nur als etwas ansahen, das Arbeit macht. Ich kam an diesem Abend in einem seltsamen Zustand zu Hause an. Einerseits tief enttäuscht über die teilnahmslose Routine, mit der viele meiner neuen Kollegen ihre Arbeit verrichteten; über die teils erbarmungswürdigen hygienischen Zustände, über die insgesamt unwürdigen Bedingungen, in denen die Heimbewohner dort ihren Lebensabend zu fristen hatten und darüber, dass im Heim offenbar niemand außer mir darüber erschrak oder sich auch nur zu wundern schien. Auf der anderen Seite wollte ich natürlich nicht gleich am ersten Tag die Flinte ins Korn werfen. Vielleicht hatte ich ja doch zu naiv-idealistische Vorstellungen vom Alltag im Pflegeheim. Ich habe an diesem Abend geweint. Wie auch an vielen anderen Abenden in den folgenden Jahren.

Heute bin ich mir sicher, dass meine Vorstellungen von guter Pflege nicht naiv sind. Ich habe auch fünf Jahre in der Schweiz gelebt und durfte dort ein Gesundheitssystem kennenlernen, das vom deutschen Modell zum Teil extrem abweicht. Zum Beispiel in puncto Pflegeheim. Dabei gehören Pflegeheime hierzulande streng genommen nicht zum Gesundheitssystem – ein schwerer Webfehler in unserem System. Denn dies führt dazu, dass in vielen Bereichen des Gesundheitswesens deutlich suboptimale Leistungen erbracht werden, weil die dadurch anfallenden Kosten wenig später auf das Pflegesystem abgewälzt werden können. So bei der Rehabilitation nach Operationen.

Die Pflege in der Schweiz funktioniert dagegen besser. Pflegekräfte werden dort geachtet und deutlich besser bezahlt und Pflegekräfte achten die zu Pflegenden. Eine Pflegekultur, von der wir in Deutschland nur träumen können. Und deshalb stehen wir hierzulande auch vor einem Pflege-Gau: Bei der demografischen Entwicklung und der Tatsache, dass bis 2030 ein großer Teil der Pflegerinnen und Pfleger aus dem Beruf ausscheidet, wird dann ein Drittel der Pflegebedürftigen massiv unterversorgt sein. Eine Horrorvision.

Gestatten: Nestbeschmutzerin

Ich heiße Eva Ohlerth, Jahrgang 1959. Ich wurde als zweitältestes von fünf Kindern geboren und lernte so schon sehr früh, Verantwortung für meine drei jüngeren Geschwister zu übernehmen. Der Altersunterschied betrug zwischen 10 bis 18 Jahren. Für mich war es immer eine Selbstverständlichkeit, für andere zu sorgen. Dieses Verantwortungsgefühl zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Und noch etwas begleitet mich in meinem Leben: Ungerechtigkeit kann ich nicht ausstehen, mir gegenüber nicht und auch anderen gegenüber nicht. Wenn Kinder beim Spielen ausgegrenzt wurden, machte ich nicht mit und verteidigte diese, so gut ich konnte. Wenn Schwächere diskriminiert, verspottet, ausgelacht oder körperlich attackiert wurden, mischte ich mich ein, oft ohne zu überlegen, ob ich dadurch selbst zum Opfer wurde. Es spielte für mich keine Rolle, ob es um Kinder, Frauen, Obdachlose oder alte Menschen ging. Wenn ich beobachtete, wie sie Opfer von Spott und/oder Gewalt wurden, konnte ich nicht anders: Ich mischte mich ein.

Einmal stand im Supermarkt an der Kasse eine alte Dame vor mir in der Schlange. Als sie bezahlt und die Kasse passiert hatte, kam ein Ladendetektiv, versperrte ihr den Weg und sagte laut, sodass alle Kunden in der Schlange es hören konnten: sie solle sofort ihre Tasche öffnen, er habe beobachtet, wie sie Lebensmittel in der Tasche habe verschwinden lassen ohne zu bezahlen. Mit piepsiger Stimme brachte die alte Dame eine Entschuldigung hervor. Ich hatte den Eindruck, dass es der Dame nicht gut ging. Ich erklärte dem Ladendetektiv mit ruhiger Stimme, er solle die Dame in Ruhe lassen. Wenn sie gestohlen habe, könne er sie ja diskret im Büro befragen, aber sich hier zur Belustigung der Kunden so aufzuplustern und die alte Dame so zu beschämen sei der Situation keineswegs angemessen. Ich hatte den Eindruck, dass die Frau etwas verwirrt war. Als der Ladendetektiv mit der Polizei drohte, bat ich ihn, diese zu holen und bot mich an, solange bei der Frau zu bleiben. Er sagte jetzt in einem leiseren Ton, sie solle verschwinden und nicht wiederkommen, er sehe jetzt nochmal von einer Anzeige ab, da er ja die unbezahlte Ware zurückbekommen habe.

In einem Praktikum in einer sozialtherapeutischen Einrichtung hatte ich psychisch kranke Menschen kennengelernt, die dank einer funktionierenden medikamentösen Einstellung nicht mehr in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht worden waren, sondern in Begleitung von Pflegepersonal in einem großen Haus wohnten. Der Heimleiter dieser Einrichtung erklärte mir eines Tages, ich hätte ein besonderes Geschick, positiv auf kranke und abhängige Menschen einzuwirken, und er ermutigte mich, eine Ausbildung in der Pflege zu machen. Er ist es gewesen, der mich in die Ausbildungsstelle in das Münchener Pflegeheim vermittelte.

Mittlerweile arbeite ich seit annähernd drei Jahrzehnten in der Pflege. Die Arbeit in Pflegeheimen habe ich allerdings vor zehn Jahren aufgegeben. Im Rahmen dieser Institutionen lässt sich in Deutschland in aller Regel keine gute Pflege realisieren. Häufiger ist der Fachbegriff Gefährliche Pflege angemessen. Wir sprechen davon, wenn Heimbewohner nicht die persönliche und vor allem nicht die medizinische Zuwendung (»behandelnde Pflege«) bekommen, die sie benötigen, um gesund zu bleiben. Die Gefährliche Pflege ist eine Form der Körperverletzung oder zumindest der unterlassenen Hilfeleistung. Beide Tatbestände stellen im normalen Leben eine Straftat dar, die juristisch verfolgt wird. In der Welt der Pflegeheime gelten aber seltsamerweise andere Gesetze. Um zu zeigen, warum diese absolut inakzeptablen Zustände in Deutschland geradezu die Regel sind, habe ich zusammen mit dem Medizinjournalisten Frank Wittig dieses Buch geschrieben.

Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung

Nachdem ich den Dienst in der stationären Pflege (im Pflegeheim) quittiert hatte, machte ich mich zunächst als ambulante Pflegerin selbstständig. Ich besuchte Pflegebedürftige zu Hause. Waschen, Lagern, beim Anziehen helfen oder beim Essen – all das geht auch im Rahmen der häuslichen Pflege. Doch dann änderten sich mit der Pflegeversicherung die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Von da an wurden vom ambulanten Pflegepersonal minutengenaue Abrechnungen gefordert. Für jede Handreichung war ein genaues Zeitbudget definiert. Ein erfolgreiches Arbeiten, eine humane Pflege war so nicht mehr möglich. Ich kann das Bedürfnis der Bürokraten verstehen, anfallende Kosten klar zu definieren: Füttern: 12 Minuten, Waschen: 20 Minuten, Lagern: 1,5 Minuten. Das ist aber im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen kein angemessener Ansatz.

Pflege ist eine persönliche, intime Begegnung zwischen einem bedürftigen Menschen und einem Menschen, der die Möglichkeit haben muss, auf diese Bedürfnisse angemessen einzugehen. Das ist keine Arbeit wie Strümpfestricken. Das lässt sich nicht in ein verbindliches Minutenkorsett zwängen. Was John Ford vor 100 Jahren erfolgreich in der Autoindustrie eingeführt hat – exakte Definition von Arbeitseinheiten am Fließband – und was unter dem Begriff Taylorismus in der ökonomischen Theorie einen festen Platz hat, ist den Verhältnissen im Bereich der Pflege wesensfremd. Dieses Herangehen taugt nicht, hilfsbedürftigen Menschen eine adäquate Zuwendung zukommen zu lassen. Uns Pflegekräften im ambulanten Dienst bleibt seitdem nur die Wahl, falsch abzurechnen oder persönlich draufzuzahlen.

Weder das eine noch das andere war für mich eine Option. Ich hoffte, in einer Firma für ambulanten Pflegedienst gerechtere Bedingungen anzutreffen. Ein größerer Betrieb konnte Härten besser abfedern, dachte ich. Das war naiv. Hier hatte – wie leider immer häufiger üblich – eine fachfremde Leitung das Sagen. Auch in einem kirchlichen Haus musste ich diese Erfahrungen sammeln. Negative Erfahrungen. Ich traf immer wieder auf dasselbe Muster: Das, was ich unter Pflege verstand – Zuwendung zu den Hilfsbedürftigen mit dem Ziel, ihr Los erträglicher zu gestalten –, spielte bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Leitungen dachten in Kategorien wie effizienter Betriebsablauf, ökonomische Rentabilität, stringenter Einsatz der Ressourcen. Bitte halten Sie mich nicht für eine Träumerin. Natürlich lässt sich im Pflegebetrieb nicht alles realisieren, was wünschenswert ist. Aber diese rein ökonomische Orientierung ist der falsche Ansatz, wenn wir den Pflegebedürftigen eine menschenwürdige Behandlung zukommen lassen wollen.

Zurzeit bin ich vor allem im außerklinischen Bereich in der Intensivpflege tätig und nehme auch Lehraufgaben in der Pflege wahr. Damit habe ich nie den Kontakt zur Realität der Pflegewelt abreißen lassen. Nachdem, was mir meine Schüler erzählen, hat sich die Problematik gegenüber früher noch verschärft. Parallel zu diesen Kontakten habe ich mein Konzept des Firmen-Coachings entwickelt: Konfliktmanagement, Burn-out-Prävention und Mobbing-Beratung gehören ebenso zu meinen Dienstleistungen wie systemisches Coaching für soziale Institutionen. Auf all diesen Gebieten konnte ich in meiner Zeit als Altenpflegerin in Heimen wahrlich reichlich Erfahrung sammeln. Allerdings immer nur auf der Seite des Problems. Nicht auf der Seite der Lösung. Weil ich mich in Konfliktfällen in dieser Zeit nicht weggeduckt habe, weil ich versucht habe, Probleme zu benennen und Missstände öffentlich zu machen, wurde ich und werde ich von Kollegen als Nestbeschmutzerin bezeichnet.

Der zweite Tag

An meinem zweiten Arbeitstag in dem Münchener Pflegeheim hatte ich allein zehn Heimbewohner betreuen »dürfen«. Das hätte mich misstrauisch machen sollen. Aber ich war damals stolz, dass man mir so viel Vertrauen entgegenbrachte. Mit einem »Wenn du was nicht weißt, kannst du ja fragen« schickte man mich los. Und ich fragte viel. Immer wieder auch Kollegen zum selben Problem. Was mich irritierte und meine Zweifel an der Professionalität dieses Heims wachsen ließ, war die Tatsache, dass ich so oft voneinander abweichende Erklärungen bekam. Beispielsweise zur wichtigen Frage: Wie lagert man einen Menschen mit Dekubitus (Druckgeschwür durch Wundliegen) am besten?

Schon die Tatsache, dass ein Heimbewohner Dekubiti (Plural) aufweist, zeigt an, dass hier etwas schiefläuft. Betagte, die sich nicht mehr allein im Bett drehen können, müssen mehrmals am Tag umgelagert werden. Passiert das zu selten, gibt es Druckgeschwüre. So erinnere ich mich an den Pfleger Stefan, der mir eine Lagerung zeigte, die eher an eine Fixierung (Fesselung) erinnerte. Die einen meinten, viel Lagerungsmaterial (Kissen, Schaumstoffkeile, Tücher) wären gut. Andere erklärten mir das Gegenteil. Gar nicht leicht in dieser Situation zu erkennen, wer die kompetentesten Ratschläge gab. Und erstaunlich: Wie konnte es so viele, sich teils widersprechende Meinungen zu einer der wichtigsten Fragen der Pflege – die Vermeidung von Druckgeschwüren – geben? Ich wollte die Patienten doch richtig lagern.

Ich bin keine Riesin: 155 Zentimeter groß und 50 Kilo schwer. Das hat sich seitdem kaum verändert (okay, ich war damals 3 Zentimeter größer als heute). Ich bin nicht schwächlich, aber auch keine Gewichtheberin. Deshalb hätte es sich angeboten, mich in die Handhabung des Lifters einzuweisen, eines kompakten Personenkrans auf Rollen, konzipiert zum Lagern und Heben von schwergewichtigen Bettlägerigen. Das Gerät stand in der Regel ungenutzt im Badezimmer. Aber für die Anschaffung musste es ja einmal einen Grund gegeben haben. Einige Heimbewohner hatten ein nicht unerhebliches Übergewicht. »Ach, bis du den Lifter beigeschafft hast, hol dir lieber Hilfe bei einer Kollegin. Das geht schneller.« Das war zunächst die Ansage zum Thema Lifter.

Aber was geschah, wenn ich tatsächlich um Hilfe bat? Ich bekam genervte Antworten: »Jetzt nicht«, »Keine Zeit«. Das waren schlechte Aussichten, fand ich. Wenn das Team nicht zusammenhielt, wenn man sich bei Bedarf nicht gegenseitig unterstützte, war das ein schlechtes Zeichen. Meine Angst, dass die Arbeit in diesem Heim eine Qual werden könnte, wuchs. Ich spielte auch schon mal mit dem Gedanken, wieder zu gehen. Doch nach meinem Gefühl war es dazu schon zu spät. Ich hatte begonnen, mit den Bewohnern Beziehungen aufzubauen. Hätte ich in dieser Phase die Ausbildung abgebrochen, hätte ich mich diesen Bewohnern gegenüber wie eine Verräterin gefühlt. Außerdem fing die Schule an.

Hermine Granger lässt grüßen

Ich war eine sehr wissbegierige Schülerin – zur Freude meiner Lehrer und zum Leidwesen vieler Kollegen. Als Anfängerin in der Kategorie Hilfspflegekraft war ich in einer Position, auf die die allermeisten erfahrenen Kollegen gerne herabblickten. Die meisten scheuten sich nicht, mir ihr Halbwissen als sachgerechte, dem Stand des Wissens entsprechende Information zu verkaufen. Wer fühlt sich nicht gerne überlegen? Vielleicht war es taktisch nicht sehr geschickt von mir, doch ich reagierte immer häufiger auf die windigen Belehrungen, indem ich erklärte, dass ich es in der Schule gerade anders beigebracht bekommen hatte. Ein Zug, der meine Beliebtheit in der Kollegenschaft nicht gerade steigerte.

Ein Beispiel: Eine Bewohnerin im Heim war bei den Pflegekräften nicht gerade beliebt. Beim Transfer auf den Toilettenstuhl urinierte sie immer wieder auf den Boden, obwohl sie eigentlich nicht inkontinent war. Die alte Dame musste dann häufig lachen. Heute kann ich nicht mehr sagen, ob sie das tatsächlich als belustigend empfand oder ob das Lachen lediglich ein Ausdruck ihres Peinlichkeitsgefühls war. In der Schule hörte ich damals zum ersten Mal den Begriff Stressinkontinenz. Wobei der Harnverlust durch Lachen, Husten, Aufstehen oder Ähnliches ausgelöst werden kann. Ein Problem, das aufgrund der Anatomie vorwiegend bei Frauen auftritt. Ich berichtete in meiner Klasse von dieser Bewohnerin und darüber, dass die Pflegekräfte in meinem Heim der alten Dame in der Regel Vorsatz vorwarfen. Über die Reaktionen meiner Mitschüler war ich erstaunt. Obwohl wir gerade denselben Stoff, nämlich Stressinkontinenz, durchgenommen hatten, stellten sich meine Kollegen in spe gegen die Heimbewohnerin. Ich dagegen hörte entrüstetes Räuspern, dass ich mich auf ihre Seite schlug, und Sätze aus der Kategorie: »Wie kann die nur …?«

Nur eine Schülerin

Was mir guttat: Die Lehrerin lobte mich für den Mut, dies vor der Klasse zu thematisieren, da gerade diesen Bewohnern häufig Unrecht getan werde, sie fälschlicherweise der Absicht bezichtigt und mit solchen Anschuldigungen oft sehr beschämt würden. Mit einem durch dieses Feedback gestärkten Rücken erzählte ich meinen Kollegen im Heim davon. Ich erntete nur überhebliches Lachen und spöttische Kommentare: »Die kleine Eva – eine Schülerin – ja natürlich. Die meint, es besser zu wissen …« So langsam drohte die Stimmung mir gegenüber zu kippen. War ich anfangs noch recht beliebt bei den Kollegen – auch weil ich meine Seite mit den zehn Bewohnern relativ problemlos alleine schaffte –, geriet mein Stern zunehmend ins Sinken. Meine Fragen wurden als unbequem empfunden. Es kam nicht gut an, dass ich keine Anweisungen mehr ausführen wollte, die ich mit meinem Gewissen und mit meinem in der Ausbildung neu erworbenen Wissen nicht mehr in Übereinklang bringen konnte.

Durch den Unterricht in der Schule war mir immer stärker bewusst geworden, wie entscheidend wir Pflegekräfte dazu beitragen, welche Lebensqualität Heimbewohner bis zu ihrem Tod in den Heimen erfahren. Viele Bewohner ohne Angehörige sind uns regelrecht ausgeliefert und auf unsere Professionalität und auf unsere Zuwendung angewiesen, wollen sie nicht in emotionale Haltlosigkeit – ins psychosoziale Niemandsland – abstürzen. Berücksichtigen wir die Biografie des Individuums? Nehmen wir den Menschen so wahr, wie er uns am Ende seines Lebens begegnet oder lassen wir sein gelebtes Leben, seine Geschichte, seine Persönlichkeit außen vor? In der Praxis im Heim habe ich einige Erfahrungen gemacht, die mich zutiefst enttäuschten.

Zwei Fälle möchte ich hier stellvertretend schildern. Eigentlich überzeugt davon, dass keine Pflegekraft, die diese Zeilen liest, etwas Ähnliches in ihrer pflegerischen Umgebung je wieder zulassen kann. Therese, eine aufgeweckte und lustige Frau, auf einem Bauernhof aufgewachsen, war 83 Jahre alt und eine ausgesprochen liebenswerte Frau. Sie war eine Schönheit mit ihrem verschmitzten Lächeln, den kreisrunden neugierigen, wachen Augen, eingerahmt von diesen wunderschönen Haaren, auf die sie mit Recht stolz sein konnte. Sie hatte ihre weißen und dichten Haare zu zwei Zöpfen geflochten, für die sie immer wieder Komplimente bekam. Ich freute mich jedes Mal darauf, ihre weiße Pracht kämmen und frisieren zu dürfen. Und sie lachte so gerne darüber, wenn ich ihr erklärte, wie neidisch ich auf ihr Haarkleid sei. Dann war ich zwei Wochen in der Schule. Als ich zurückkam, konnte ich nicht fassen, was geschehen war. Ich traute meinen Augen nicht.

Die Zöpfe von Madame Therese

Die Zöpfe waren ab und Theresehatte nur noch kurz geschnittene Haare mit lächerlichen Kringeln wie eine peinliche Variante der Dauerwelle. Sie war nicht mehr wiederzuerkennen. Nicht mehr die aufgeweckte Frau, welche ich noch vor zwei Wochen so gerne für die Pflege besucht hatte. Im Gegenteil, sie hatte nun ein künstliches, braves Lächeln, das in meiner Wahrnehmung eher einem unterdrückten Weinen glich. Sie erzählte mir, sie habe ihr Einverständnis zum Kurzhaarschnitt gegeben. Sie hatte sich von ihren Zöpfen, die ihr großer Stolz gewesen waren, getrennt. Aus einem einzigen Grund: Eine Pflegerin habe zu ihr gesagt, kurze Haare machten doch viel weniger Arbeit.

Die Augen der betagten Dame hatten ihr Strahlen verloren und sie wollte ihr Zimmer von da an nicht mehr verlassen. Auf keinen Fall. Noch heute könnte ich weinen, wenn ich daran denke: Wie kann man einen Menschen, dessen Selbstwertgefühl und dessen Lebensfreude so offensichtlich von einem (vielleicht) äußerlichen Attribut abhängen, so brutal dieses Attributs berauben. Nur weil er sich dadurch mit weniger Aufwand durch die Prozedur der Pflege schleusen lässt? Muss es nicht das einzige oder zumindest das erste Ziel der Pflege sein, Lebensfreude aufrechtzuerhalten! Welchen Sinn macht Pflege, wenn die Freude am Leben dadurch vernichtet wird?

»Na Spatzl?«

Noch ein Beispiel für den Angriff von schlechter Pflege auf die Persönlichkeit und damit auf die Würde und die Lebenszufriedenheit von Heimbewohnern, den ich als Auszubildende so häufig erleben musste: Ein Bewohner war völlig unvorbereitet zu uns ins Heim gekommen, da er einen Apoplex (Schlaganfall) erlitten hatte. Er war halbseitig gelähmt. Seine Frau, die körperlich nicht imstande war, ihn zu pflegen, brachte ihn weinend zu uns und erzählte, dass er in einigen Wochen einen Ehrenpreis für seine Arbeit erhalten solle. Offensichtlich ein gebildeter Herr. Er war Jurist und sprach mehrere Sprachen. Das Personal reagierte völlig unterschiedlich auf ihn.

Einige waren ihm gegenüber geradezu feindlich gesinnt. Ein Muster, das ich in meiner Zeit in den Heimen leider immer wieder wahrnehmen musste: Sozialneid. Ein Teil des Personals reagierte nach dem Motto: »Der meint wohl, er sei was Besseres. Das werden wir ja mal sehen.« Eine bewährte Strategie der verbalen Gewalt in Heimen ist es, Heimbewohner zu infantilisieren, das heißt, sie zu behandeln, als seien sie Kleinkinder oder einfach nur dumm. Das musste auch Dr. M. erleben. Ich kam dazu, wie eine junge Kollegin sich zu ihm im Bett herunterbeugte, ihn anlächelte und sagte: »Na Spatzl, wie geht es uns denn heute?« Er schaute sie an und schlug mit der gesunden Hand nach ihr.

Bei der Übergabe erzählte die Kollegin, Dr. M. sei ihr gegenüber gewalttätig geworden und habe nach ihr geschlagen. »Das können wir keineswegs auf sich beruhen lassen«, beschloss das Team und war sich einig, ihn medikamentös zu sedieren (in einen »beruhigten« Zustand zu versetzen). Ich wandte mich dagegen. Die medikamentöse Ruhigstellung von Heimbewohnern, nur um die Pflege zu vereinfachen, ist gesetzlich verboten. Nur wenn tatsächlich die Gefahr von bösartigen körperlichen Übergriffen besteht, ist das Sedieren nach Absprache mit einem Arzt und den Angehörigen erlaubt.

Diese gesetzliche Regelung wird in Deutschland täglich gebrochen. Es ist ein wirklich dunkles Kapitel in unserer ach so demokratischen Gesellschaft. Stellen Sie sich vor, Sie würden für oder gegen etwas demonstrieren und störten dabei etwa den Straßenverkehr. Daraufhin käme die Polizei und würde ihnen ein Medikament eintrichtern, das Sie zu einem gefügigen Bürger macht. Im normalen Leben in einer demokratisch verfassten Gesellschaft unvorstellbar. Aber in deutschen Pflegeheimen ist diese Menschenrechtsverletzung alltägliche Realität. Im Jahr 2012 veröffentlichte Prof. Gerd Glaeske vom Institut für Soziologie an der Universität Bremen eine Studie, wonach bis zu 200 000 Pflegeheimbewohner in Deutschland pharmazeutisch sediert werden. Ein Albtraum: alte Menschen einfach ihrer Persönlichkeit zu berauben und sie so zu einer problemlosen Verfügungsmasse für die schnelle Pflege zu degradieren. Im Fall von Dr. M. konnte ich meine Einwände in der Runde der Pflegekräfte durchsetzen. Auch im »beschädigten Zustand« – wie nach einem Schlaganfall – haben Heimbewohner eine Biografie, der man in der persönlichen Begegnung Achtung zollen muss. Spielt sich im Laufe der Zeit ein vertrauensvolles Verhältnis ein, können Kosenamen und Neckereien zum herzlichen und persönlichen Umgangston gehören und die Begegnung von Pflegern und Heimbewohnern bereichern. Aber zunächst gilt es – gerade Neuzugängen gegenüber –, den Respekt zu wahren.

Später fragte ich Herrn Dr. M., ob er einverstanden sei, dass ich meine Facharbeit für die Schule über ihn schreiben dürfe, anonym natürlich. Er nickte wohlwollend. Während des Schreibens meiner Facharbeit beobachtete ich des Öfteren, was dieser Mann erdulden musste. So wurde er neben dem Radio im Aufenthaltsraum geparkt, welches den ganzen Tag bayerische Volksmusik spielte. Er hörte zu Hause nur Klassik, berichtete seine Ehefrau. Es geht mir hier keineswegs darum, Volksmusik abzuwerten, doch es ist eine Form von Gewalt, einen Menschen dauerhaft einer Musikrichtung auszusetzen, die seinem Musikgeschmack widerspricht. Aus Erfahrung wissen Pfleger und Pflegerinnen, wie Musik die Stimmung der Heimbewohner beeinflusst. Sie kann traurig machen, aggressiv, depressiv oder aufheiternd wirken. Ich erlebte am Beispiel von Dr. M. sehr früh, dass das Pflegepersonal im Altenheim oft gezielte Angriffe auf die Würde der Bewohner ausübt. Das ist grausam, weil die Bewohner in der Regel keine Möglichkeit haben, sich zur Wehr zu setzen. Es erzeugt eine Atmosphäre der Angst, da Heimbewohner fürchten müssen, regelmäßig diesen Repressalien ausgesetzt zu werden, wenn sie sich nicht fügsam verhalten. Das ist menschenunwürdig.

Fronten in der Pflege

Die verbale Gewalt gegen wehrlose Heimbewohner – sei es, um sie im Pflegealltag leichter zu verwalten, sei es, um sich ein Gefühl der Überlegenheit zu verschaffen – machte mich traurig und wütend! Je mehr ich Einblick in den Heimalltag bekam, umso klarer wurde mir, dass das System Pflegeheim gar nicht um die Aufgabe zentriert war, die ich selbstverständlich als den absoluten Fluchtpunkt des ganzen Betriebs angesehen hatte: das Wohlergehen der Heimbewohner. Ich bemerkte mehr und mehr die Frontenbildung im Heim. Das Personal – Pflegekräfte, Pflegehilfskräfte, Reinigungspersonal und Küchenpersonal – arbeitete häufig gegeneinander an. Zwischen den Vertretern verschiedener Nationalitäten gab es regelrechte Kleinkriege. Diese irrationalen Frontenbildungen erzeugten Reibungsverlust im Heim und bargen ein Gefahrenpotential für die betagten Bewohner, das kaum zu überschätzen ist. Schüler geraten da schnell zwischen die Fronten. Jede Fraktion versucht, die Schüler auf ihre Seite zu ziehen und ihnen den eigenen Arbeitsstil als den richtigen aufzudrängen. Meist, um eine Entlastung vom eigenen Arbeitsaufwand herauszuschlagen.

Der Kampf um Entlastung hat im Pflegebetrieb tatsächlich eine so enorme wie für die Bewohner auch gefährliche Bedeutung. So habe ich auf Anweisung einer Pflegerin neun Monate Medikamente nicht fachgerecht ausgeteilt. Man hatte mich beauftragt, die Tropfen schon am Abend vor der Einnahme in die kleinen Becher zu verteilen. Morgens sei zu wenig Zeit dafür. Ich hielt mich über Monate an diese Anweisung. Dann war ich einigermaßen erschüttert, als ich in der Schule lernte, dass dies falsch und möglicherweise gefährlich ist. Diese Tropfen werden mit Alkohol haltbar gemacht. Dieser verfliegt, wenn die Tropfen zu lange an der Luft stehen. Weiterhin sind die Tropfen in ihren kleinen braunen Fläschchen auch lichtgeschützt, um sie chemisch stabil zu halten. In den offenen Bechern ist das nicht mehr gewährleistet. Die Tropfen verlieren an Wirkung oder die Wirkung verändert sich.

Wieder von der Schule zurück, erklärte ich meiner Stationsleitung, dass ich die Tropfen von jetzt an nur noch zeitnah stellen würde – also morgens vor der Verabreichung und nicht mehr am Vorabend. Die Reaktion? Keine Einsicht in die medizinisch klar definierten Verhältnisse. Kein Lob für die Schülerin, die sich bemühte, die Abläufe auf der Station den wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen. Stattdessen schäumte die Stationsleiterin vor Wut. Hier versuchte eine kleine Schülerin, in ihren »optimierten« Tagesablauf hineinzupfuschen. Sie bestrafte meinen Ungehorsam, indem sie mir auftrug, alle Bettpfannen der Station zu putzen und verbot, fortan weiter Tropfen zu stellen. Ich habe damals versucht, mit so viel Würde wie möglich Bettpfannen zu putzen. Heute würde ich dieser unsinnigen Anweisung, die nur der Erniedrigung dienen sollte, erst gar nicht mehr folgen. Aber als Schülerin hatte ich noch nicht das Standing, um mich der Anweisung zu widersetzen.

Sammelbecken für gescheiterte Existenzen

Die Hackordnung in Pflegeheimen ist klar strukturiert. Und die Pflegeschüler stehen ziemlich weit unten. Wobei ich glaube, dass das Problem in Pflegeheimen deshalb so virulent ist, weil sich der Pflegeberuf in der allgemeinen gesellschaftlichen Wertschätzung insgesamt auf einem der hintersten Plätze befindet. Deutlich wird das etwa an den Zulassungsbedingungen für die Pflegehilfskräfte. Noch nicht einmal ein Volksschulabschluss ist dafür nötig. Zum geflügelten Wort wurde: »Pflege kann doch jeder.« Deshalb werden auch Hilfskräfte im Ausland rekrutiert, die nur über minimale Deutschkenntnisse verfügen. Das untergräbt das Ansehen des ganzen Pflegesektors. In der Folge haben auch qualifizierte Führungskräfte wenig Ambitionen, ihre Karriere im Pflegesektor zu planen. Missmanagement und schlechte Führung der Mitarbeiter ergeben sich daraus und vergiften die Atmosphäre in vielen Heimen.

Der schlechte Ruf des Pflegesektors erschwert es auf allen Ebenen, gutes Personal zu finden. So wurde der Pflegeberuf über die Jahre zu einem Sammelbecken für gescheiterte Existenzen, für Menschen, die in anderen Segmenten unseres Wirtschaftssystems »aussortiert« wurden. Im Pflegesektor sammeln sich bildungsferne Kräfte, die oftmals nur geringe soziale Kompetenzen mitbringen und kaum die Fähigkeit für Empathie vorweisen können. Das dadurch verursachte negative Klima trägt dazu bei, die prekären Zustände zu stabilisieren. Viele empfindsame und kompetente Kräfte fliehen aus diesem Milieu.