Albträume - Andreas M. Sturm - E-Book

Albträume E-Book

Andreas M. Sturm

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Beschreibung

"Mystische Ritualmorde in Dresden." Ein unbarmherziger Mörder treibt das Dresdner Ermittlungsteam um Karin Wolf an ihre physischen und psychischen Grenzen. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei dem Täter um einen Serienmörder handelt, der nach einer bizarren Zeremonie mordet. Sollte die Vermutung des Profilers zutreffen, dass der Täter die Zehn Gebote für seinen religiösen Fanatismus missbraucht? Welche Rolle spielt die Kirchgemeinde um Pfarrer Leonhardt? Als eine junge Frau entführt wird, beginnt der Wettlauf gegen die Zeit. Wird es ihnen rechtzeitig gelingen, die Jura-Studentin zu retten?

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Seitenzahl: 442

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Andreas M. Sturm wurde 1962 in Dresden geboren. Der Diplom Betriebswirt war viele Jahre in der Informatik tätig. In seiner Freizeit fotografiert der Autor gern und hört Rockmusik. Er lebt gemeinsam mit seiner Frau in Dresden.

Die ersten Schreibversuche startete er mit 16 Jahren. Es entstanden Kurzgeschichten und Western. Sein Faible für Kriminalromane brachte ihn dazu, ab 2009 wieder selbst zur Tastatur zu greifen. Bei Streifzügen durch seine Heimatstadt entstehen die Kriminalromane um das weibliche Kommissarinnen-Duo Wolf und König.

Neben seinen Krimis schreibt er Kurzgeschichten und ist Herausgeber von Anthologien.

w w w . k r i m i s t u r m . d e

Andreas M. Sturm

Albträume

1. Auflage, Juli 2016

Copyright © 2016 by edition krimi, Leipzig

edition krimi

Alle Rechte vorbehalten

* * *

Lektorat: Josepha Gelfert

Umschlaggestaltung: ama medien

Umschlagmotiv: photocases.com/Rina H

Satz: ama medien

* * *

ISBN 978-3-946734-43-7 (ebook)

ISBN 978-3-946734-02-4 (print)

* * *

www.edition-krimi.de

Gebote für seinen Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Epilog

Danksagung

Prolog

Als Svenja Förster den kühlen Hausflur verließ und durch die Haustür hinaus ins Freie trat, traf sie die Hitze mit der Wucht eines Keulenschlags. Obwohl es erst 9 Uhr war, knall­te die Sonne bereits unbarmherzig auf die junge Frau herun­ter. Svenja blinzelte vorsichtig in das grelle Licht und tausch­te ihre normale Brille gegen eine mit getönten Gläsern aus. Die sonst ziemlich belebte Straße, die sie auf ihrem Weg zur Straßenbahnhaltestelle einschlagen musste, lag wie ausge­storben vor ihr. Wer nicht dazu gezwungen war, vermied es, den in der sengenden Sonne gelegenen Fußweg zu gehen.

Für gewöhnlich trug Svenja ihre langen blonden Haare offen. Doch heute hatte sie diese hochgesteckt, damit sie bei den herrschenden sommerlichen Temperaturen nicht im Nacken schwitzte. Einige Leute an der Universität würden ihr Outfit sicher als gewagt bezeichnen, aber Svenja sah das locker. Es war nichts falsch daran, sich um Attraktivität zu bemühen.

Bei der Auswahl der Shorts hatte sie lange mit sich gerun­gen, ob sie die wohl in der Öffentlichkeit tragen könnte. Nach einem kritischen Blick in den Spiegel hatte sie aber be­schlossen, dass sie die kurzen Hosen anziehen könne, da man die Pobacken noch nicht sah. Nur ein wenig, wenn sie sich vorbeugte. Svenja war sich ihrer schönen Beine durch­aus bewusst. Und mit dem Gedanken, was man hat, soll man auch zeigen, schob sie all ihre Bedenken zur Seite.

Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte der Strecke zurück­gelegt, da spürte sie bereits, wie sich die ersten Schweiß­tröpfchen auf ihrer Stirn sammelten. Doch dieser Umstand störte sie heute nicht so wie sonst. Etwas anderes bereitete ihr Unbehagen. Ein unbestimmtes Gefühl. Sie war sich selbst nicht klar darüber, was sie so irritierte. Svenja blieb stehen und drehte sich von einem inneren Zwang getrieben um. Eingehend musterte sie die hinter ihr liegende Straße. Außer einem Kellner, der mit schleppenden Bewegungen die Stüh­le für die ersten Gäste des Straßencafés bereitstellte, sah sie keine Menschenseele. Über sich selbst verwundert schritt Svenja weiter, doch das Gefühl einer Bedrohung blieb. Sie legte die Hand auf die Stirn und überprüfte die Temperatur. Vielleicht brütete sie einen grippalen Infekt aus. Doch die Stirn fühlte sich nicht heiß an. Als Nächstes überlegte sie, welchen Film sie am vorigen Abend im Fernsehen ange­schaut hatte. Es fiel ihr nicht auf Anhieb ein. Erst nach einer Weile kam sie darauf. Sie hatte sich eine Liebesschnulze an­gesehen. Svenja lächelte. Davon konnte sie kein Fracksausen bekommen haben. Vielleicht werde ich ja hysterisch, dachte sie grinsend. Angestrengt versuchte sie, das Gefühl einer Gefahr zu verdrängen, doch es gelang ihr nicht. Abermals sah sie sich um. Und auch beim zweiten Mal fiel ihr nie­mand auf, der sie beobachtete. Sie beschleunigte ihre Schritte, um möglichst schnell die Haltestelle zu erreichen. Doch nach ein paar hastig zurückgelegten Metern zwang sie sich wieder zu einer normalen Gangart. Jetzt lief sie schon vor einem Phantom davon. Betont langsam ging sie weiter.

Aber als sie die Haltestelle erreichte, perlte der Schweiß auf ihrer Stirn – geboren aus Angst und dem herrschenden Treibhausklima. Ihr Herz schlug vor Aufregung schneller als gewohnt. Sie fühlte, dass irgendjemand sie beobachtete und jeden ihrer Schritte überwachte. Es war nur ein vages Gefühl, aber sie konnte es nicht abschütteln. Sie zwang sich zur Ruhe und begann argwöhnisch, die anderen Wartenden zu mustern. Zwei Schulmädchen zeigten sich gegenseitig anstößige Bilder und kicherten dabei verlegen. Keinen Me­ter entfernt las ein jüngerer Mann, eventuell ein Student, ohne seine Umwelt zur Kenntnis zu nehmen, in einem Buch. Eine Frau um die fünfzig fächelte sich Luft zu. Neben ihr starrte ein gedrungener Mann mit finsterem Blick den Fahr­plan an. Er war der Einzige, der auf Svenja einen ge­fährlichen Eindruck machte. Doch als die Bahn kam, stieg er nicht mit ein. Svenja registrierte es erleichtert. Dennoch wählte sie ins­tinktiv einen Platz in der letzten Reihe. Sie wollte alles im Blick haben und ihren Rücken frei halten.

In dem Moment, als sich die Straßenbahn in Bewegung setzte, verlor sich das Gefühl der Bedrohung. Svenja atmete auf. Es liegt bestimmt an der Hitze, tröstete sie sich. Wer sollte sich schon die Mühe machen und mich beschatten? Sie entspannte sich in ihrem Sitz und ging noch einmal ihren Tagesablauf durch. Schwachheiten konnte sie sich nicht leis­ten, ihr Terminplan war randvoll.

Einen Termin hatte Svenja bei ihrer Tagesplanung jedoch nicht berücksichtigt. Das lag nicht etwa an ihrer Vergesslich­keit, sie wusste einfach nichts von diesem Termin.

Ein anderer hatte einen Vermerk in ihren Kalender einge­tragen. Und diese Notiz war sehr wichtig für Svenja, da die­ser Mensch die Absicht verfolgte, ihr ein Rendezvous mit dem Tod zu arrangieren.

1. Kapitel

Schreie gellten in Karins Ohren. Schreie, immer neue Schreie. Verstört fuhr sie hoch und blickte sich verwirrt um. Doch um sie war nur Stille. Stille und Dunkelheit. Als Karin zu sich kam und realisierte, dass ihre eigenen Schreie sie aus dem Schlaf gerissen hatten, schluchzte sie leise auf.

In den vergangenen zwei Wochen, die sie auf einer son­nendurchfluteten Mittelmeerinsel verbracht hatte, hatten ihre Albträume sie in Ruhe gelassen. Karin hegte bereits die Hoffnung, ihr Martyrium wäre ausgestanden, aber die Dä­monen der Nacht hatten getreulich auf sie gewartet. Es war immer derselbe Traum, der sie peinigte: Sie kämpfte mit einem viel zu starken Mann, der aus einer tiefen Stichwun­de blutete. Während des Kampfes spritzte ihr ununterbro­chen das Blut ihres Gegners ins Gesicht. Sie verlor den Kampf und wurde von dem Mann zu Boden gestoßen. Der Mann zog einen Trommelrevolver und schoss. Aber nicht auf sie, sondern auf ihre Partnerin Sandra. In ihrem Traum war es Karin möglich, die Flugbahn des Projektils zu verfol­gen. Jedes Mal näherte es sich langsam, aber unaufhaltsam seinem Ziel und schlug mit immer wiederkehrender Konse­quenz in Sandras Brust ein. Die Schreie, die Karin in diesem Moment ausstieß, rissen sie stets aus dem Schlaf.

Die Ursache für diese Träume war Karin bekannt. Vor einem reichlichen Jahr war es ihr gelungen, Sandra aus der Gewalt von René Witkowski, dem Chef einer kriminellen Organisa­tion, zu befreien. Im Gegensatz zu ihren nächt­lichen Schre­ckensvisionen konnte sie damals die Auseinan­dersetzung für sich entscheiden. Der Verbrecher war dabei schwer ver­letzt worden und saß seitdem eine lange Gefäng­nisstrafe ab. Bis auf einige Hämatome schien Karin bei der Auseinander­setzung keine Schäden davongetragen zu ha­ben. Erst später stellten sich die Träume ein. Die ausgestan­dene Angst, so­wohl um sich selbst als auch um Sandra, hat­te Narben in ihrer Seele hinterlassen. Sie hatte Hilfe bei dem zuständigen Polizeipsychologen gesucht, doch Karin war nicht der Mensch, der sich einem Fremden gegenüber öff­nen konnte. So wurde im gegenseitigen Einvernehmen die Behandlung ohne Ergebnis abgebrochen. Erst nach der vor­zeitigen Be­endigung der Therapie war Karin klar geworden, dass ihr Schritt, einen Spezialisten aufzusuchen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Niemals hätte sie einer fremden Person ihre tiefe Liebe zu Sandra gebeichtet. Und diese Lie­be, die sie in ihrem Inneren unter Verschluss hielt, war der eigentliche Auslöser für ihre Albträume.

Karin versuchte, wie es schon immer ihre Art war, allein zurechtzukommen. Sie griff auf ihr altes Hausmittel Whisky zurück. Aber der Alkohol vermochte es nicht, die Erinne­rungen fortzuspülen. Er verzerrte die Träume nur noch mehr ins Monströse und bescherte ihr zusätzliches Unwohl­sein am Morgen danach. Also nahm Karin Abstand von die­sem falschen Tröster.

Obwohl sie in ihrem Inneren ganz genau wusste, dass nur ein langes Gespräch mit Sandra ihre nächtlichen Hor­rorszenarien beenden würde, scheute sie sich davor. Zu tief saß die Angst in ihr, Sandra würde ihre Liebe nicht erwi­dern. So schob sie das Problem immer weiter vor sich her.

Müde wankte sie ins Bad, um den klebrigen Schweiß von ihrem Gesicht zu waschen. Die Erfahrung hatte Karin ge­lehrt, dass es keinen Sinn machte, wieder ins Bett zu gehen. Sie würde ohnehin keinen Schlaf finden. Außerdem lockte ihr klatschnass geschwitztes Bettzeug sie nicht zurück. Sie trug ihr Kopfkissen und die Schlafdecke auf den Balkon und legte beides auf den Wäscheständer zum Trocknen. Dann schaute sie nach unten über das Geländer in den schlafenden Hof. Die Nachtluft erfrischte sie nicht. Kein Windhauch spendete Kühlung, im Gegenteil, es war warm und schwül.

Vielleicht sollte sie zur Ablenkung ein Buch lesen. Schnell verwarf sie diese Idee sogleich wieder. Ihr würde es sicher nicht gelingen, die nötige Konzentration dafür aufzubrin­gen. Stattdessen kehrte sie zurück in ihr Wohnzimmer und überlegte, ob sie sich den Kopfhörer aufsetzen und Musik hören, oder ob sie zu ihrer Maultrommel greifen und dieser traurige Melodien entlocken sollte.

Bevor sie sich entschied, schaute sie zur Uhr. Der neue Tag war gerade zwei Stunden alt. Sie musste noch die Zeit bis zu ihrem Arbeitsantritt überstehen. Hoffentlich wartete ein Berg voller Aufgaben auf sie. Vielleicht, wenn sie Glück hatte, würde sie in ihrer Arbeit Vergessen und somit Ruhe finden.

Überpünktlich betrat Kriminalhauptkommissarin Karin Wolf nach der desaströsen Nacht ihr Büro in der Polizeidi­rektion auf der Dresdner Schießgasse. Obwohl sie zu zeitig eintraf, war sie nicht die Erste. Die Tür war nicht mehr ver­schlossen und der Computer ihrer Partnerin, Kriminalober­kommissarin Sandra König, zeigte schon die Startseite für Internetrecherchen. Sandra selbst befand sich nicht im Raum, aber dafür stand ein geschmackvoll arrangierter Blu­menstrauß auf Karins Schreibtisch. Noch nie in ihrer Dienst­laufbahn war Karin nach längerer Abwesenheit auf eine so liebe Art und Weise willkommen geheißen worden. Karin war gerührt. Sie musste sich setzen. Ach Sandra, das ist so lieb von dir. Aber du darfst doch kein Öl in offenes Feuer gießen, dachte Karin. Dann schnüffelte sie an den Rosen und stellte erfreut fest, dass diese sogar ein wenig dufteten. Sie hatte leidlich ihre Fassung wiedergefunden, als Sandra zur Tür hereinkam.

»Na, Morgenandacht beendet?«, fragte Karin betont forsch.

Sandra durchschaute Karin nach einem kurzen Blick so­fort. Sie hatte das verräterische Glitzern in deren Augen wohl bemerkt, trotzdem ging sie auf Karins lockeren Ton ein: »Ja, es war eine Wohltat. Es ist schon eine recht lange Autofahrt von Klotzsche bis hierher und da braut sich doch einiges zusammen. Schön, dass du wieder da bist.«

Länger hielt es Karin bei Sandras Anblick nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie umarmte ihre Partnerin und flüsterte: »Dan­ke für die schönen Blumen.«

»Nicht der Rede wert. Aber lass dich mal anschauen. Braun gebrannt bist du, aber deine Augen sehen müde aus. Hast du es zu toll getrieben auf der Ferieninsel? Wenn ja, dann will ich Details hören.«

»Nein, ich war artig. Aber letzte Nacht habe ich kaum ge­schlafen.«

»Haben dich deine Träume wieder gequält?«, fragte Sandra besorgt.

Karin winkte ab. Sie hatte Sandra zwar von ihren Albträu­men berichtet, aber den Inhalt der Träume hatte sie ihr wohl­weislich verschwiegen. Sandra würde sie im Handumdre­hen durchschauen. Schnell wechselte sie das Thema: »Erzähl mir lieber von den aktuellen Fällen. Das bringt mich am ehesten auf andere Gedanken.«

Sandra, die wusste, dass Karin eine Meisterin im Ablen­ken war, entschied die Angelegenheit auf später zu verschie­ben. Sie zog mit dem Fuß einen Stuhl heran, angelte nach einem Aktenordner, seufzte tief und sagte: »Gut. Du willst es ja nicht anders. Aber ich warne dich, es ist ein ausgespro­chen heikler Fall.«

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Karin und lehnte sich erwar­tungsvoll zurück.

»Ich gebe dir erst einmal eine Zusammenfassung. Den ausführlichen Bericht kannst du dir in einer Mußestunde zu Gemüte führen. Also, du warst kaum weg . . .«, Sandra schlug kurz im Bericht nach. »Ja, hier geht’s los: Die Mieter eines Wohnblocks in Laubegast hatten sich über einen üblen Ge­ruch beschwert, der aus einer der Wohnungen drang. Die Wohnungsgesellschaft beauftragte den zuständigen Haus­wart der Sache auf den Grund zu gehen. Als der Hausmeis­ter die Wohnung öffnete, fand er den Mieter dieser Woh­nung tot vor. Ich hatte das Pech, mit eine der Ersten vor Ort zu sein. Da der Mann schon mehrere Tage vorher gestorben war, stank es in der Wohnung höllisch. In allen Räumen summten fette Fliegen umher.«

Sandra schüttelte sich bei der Erinnerung an das Erlebte. »An diesem Tag habe ich über eine Stunde in der Badewan­ne verbracht und meine Kleidung bereits dreimal gewa­schen, aber ich befürchte, den Geruch bekomme ich nie wie­der aus meiner Nase.« Misstrauisch schnüffelte Sandra an einer ihrer Haarsträhnen. »Ich denke, ich werde langsam paranoid. Aber genug von meinen Psychosen, weiter mit den Tatsachen: Der Anblick, der sich in der Wohnung bot, war jedenfalls nichts für schwache Nerven. Das Opfer . . .«, Sandra hielt kurz inne. »Entschuldige. Der Mann hatte einen Namen. Er hat es nicht verdient, dass ich ihn hier unnötig anonymisiere. Er hieß Martin Ulrich. Besagter Herr Ulrich war nackt, mit Kabelbindern an einen Stuhl gefesselt und sein Mund war mit Paketband zugeklebt. Die Obduktion hat ergeben, dass er durch einen Schlag auf den Hinterkopf verletzt wurde. Durch diesen Schlag ist er aber nur außer Gefecht gesetzt worden. Sein Tod war viel schrecklicher. Der Mörder hat ihn einfach verdursten lassen. Mir läuft jetzt noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich mir die Qualen vorstelle, die dieser arme Mann erlitten hat.«

Ein Schatten glitt über Sandras Gesicht. Auch Karin war betroffen. Sie hatte schon einiges erlebt, aber dass man einen Menschen einfach verschmachten ließ, war selbst ihr neu.

»Irgendwie passte sein einsames, grässliches Ende zu sei­nen letzten Lebensjahren«, fuhr Sandra fort. »Er arbeitete bis vor sechs Jahren als Ingenieur für Maschinenbau, dann führ­te die Firma eine Stellenreduzierung durch, und weil er zu diesem Zeitpunkt bereits fünfzig Jahre alt war, war er fäl­lig.«

Karin nickte freudlos: »Immer dieselbe Geschichte.«

»In seinem Alter einen neuen Job zu finden, ist ohne Be­ziehungen illusorisch. Und um das Kraut fett zu machen, verließ ihn seine Frau ein Jahr darauf. Aber er hat sich nicht gehen lassen. Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass er nicht zum Trinker wurde und auch sonst nicht verwahr­loste. Seine Wohnung war in einem Topzustand. Aber er lebte wie ein Eremit. Wir haben fast alle seine Nachbarn be­fragt, doch er hatte zu niemandem Kontakt.«

»Na ja, ich pflege auch keinen intimen Umgang mit mei­nen Nachbarn«, wurde Sandra von Karin unterbrochen. »Guten Tag und ein Spruch über das Wetter, mehr ist da nicht.«

»Du bist kein Maßstab! Ich muss dich doch nicht erst er­innern, wie du im Revier genannt wirst«, stichelte Sandra.

Karin, die wusste, dass sie sich ihren Spitznamen ›Die einsame Wölfin‹ redlich verdient hatte, wollte das so nicht auf sich sitzen lassen. »Das sagt ausgerechnet die Frau, die ihre Schwiegermutter in spe aus vollem Herzen hasst. Wie geht es der Dame eigentlich? Gestaltet sich euer Zusammen­leben immer noch so harmonisch?«

Sandra streckte Karin die Zunge heraus.

»Was meinst du eigentlich mit ›fast alle Nachbarn be­fragt‹?«, kam Karin zum Thema zurück.

»Das ist eine etwas merkwürdige Geschichte. Eine alte Dame, die unter Herrn Ulrich wohnt, erlitt, als sie von dem entsetzlichen Ende desselben erfuhr, eine schwere Herzatta­cke und liegt seitdem auf der Intensivstation. Bis jetzt ist sie nicht ansprechbar. Ob sie als Einzige im Haus eine nähere Beziehung zu Herrn Ulrich aufrechterhielt, konnte uns kei­ner der Mieter sagen.«

»Und außerhalb des Wohnhauses. Hat er da keinerlei Be­ziehungen unterhalten?«

Sandra hob die Hände. »Fehlanzeige. Keine Freunde oder Verwandten. Das heißt, Eltern hatte er schon noch, aber der Kontakt zu ihnen war abgebrochen. Ich war bei seinen El­tern. Eigentlich ganz normale Leute, aber . . . nun sagen wir mal, erzkonservativ. Als Herr Ulrich arbeitslos wurde, be­kam er Streit mit seinem Vater. Irgendwie hat ein Wort das andere ergeben und als der Vater ihn einen Sozialschmarot­zer nannte, verließ der Sohn grußlos die Wohnung und hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen.«

Karin schüttelte empört den Kopf. »Erzkonservativ ist da eine sehr gnädige Beschreibung. Es ist schon eine reife Leis­tung, in der heutigen Zeit dem Arbeitslosen die Schuld an seinem Zustand zu geben.«

»Die Mutter ist jedenfalls total am Boden zerstört. Diesem Umstand verdanke ich ihre Offenherzigkeit. Von ihr habe ich die Informationen über die Entfremdung. Auch den Va­ter schien der Tod des Sohnes sehr mitgenommen zu haben. Er versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber hin­ter der Fassade sah ich die Trauer. Vielleicht wäre ja alles wieder ins Lot gekommen, doch nun ist es zu spät.« Sandra hob hilflos die Hände. »Das Zerwürfnis mit seinen Eltern hat Herrn Ulrich den Rest gegeben. Er hat sich völlig von anderen Menschen zurückgezogen. Er pflegte auch keine Hobbys, die ihn mit anderen Menschen zusammengeführt hätten. Das Einzige: Er joggte, jeden Tag mindestens zwei Stunden. Wir haben seine tägliche Route gecheckt, gesehen worden ist er, aber gesprochen hat er mit keinem. In den Einkaufsmärkten, die es in seinem Wohngebiet gab, war er bekannt. Alle beschrieben ihn als höflich und freundlich, aber auch hier kein nennenswerter Kontakt.«

Sandra lächelte resignierend. »Dumm ist nur, dass Herr Ulrich, genau wie du, die Einsamkeit liebte. Deshalb fanden wir bei den bisherigen Ermittlungen nicht die geringste Möglichkeit, einen Hebel anzusetzen, um tiefer zu schürfen. Wer tötet einen Mann, der allein in seiner Wohnung sitzt und sie nur zum Laufen oder Einkaufen verlässt?«

Karin hob die Hände. »Schau mich nicht so fragend an. Das weiß ich doch nicht. Gab es in der Wohnung keine An­haltspunkte?«

»Die Wohnung wurde jedenfalls nicht vom Mörder durchsucht und irgendwelche Wertsachen kann sie auch nicht enthalten haben. Seine Hartz-IV-Bezüge waren nicht gerade üppig. Einen Raubmord haben wir deshalb ausge­schlossen. Die KTU hat festgestellt, dass in der Wohnung verschiedene Teile«, Sandra blätterte erneut im Bericht, »und zwar die Türklingel und die Tatwaffe, penibel gereinigt wur­den. Das sind exakt die beiden Dinge, die der Täter ange­fasst haben muss, bevor er zuschlug. Anschließend hat er mit Sicherheit Handschuhe getragen, denn es konnten nur die Fingerabdrücke des rechtmäßigen Bewohners lokalisiert werden. Die Kollegen haben Haare gefunden, die nicht von Herrn Ulrich stammen, aber da in unserer Datenbank keine identischen DNA-Proben vorliegen, nutzen sie bis jetzt nichts.«

»Mit welchem Gegenstand wurde denn Herr Ulrich nie­dergeschlagen?«, wollte Karin wissen.

»Mit einer leeren Weinflasche, so eine mit einem Henkel dran. Herr Ulrich benutzte sie als Vase für Gräser.«

Karin stützte ihren Ellbogen auf und rieb nachdenklich ihr Kinn. »Da kann im Prinzip als Mörder nur ein böser Schatten aus der Vergangenheit infrage kommen. Habt ihr da etwas gefunden?«

»Seine Frau konnten wir nicht erreichen, da sie bis ges­tern auf den Kanaren weilte. Mit ihr zu sprechen wird heu­te vermutlich deine erste Amtshandlung sein. Und was sei­ne ehemaligen Freunde und sonstige Bekannte anbelangt, hm . . .«

Sandra legte die Finger zu einem Dach zusammen und lächelte traurig. »Sie fielen nach seiner Entlassung von ihm ab wie Blätter im Herbst. Ist schon komisch. Wir haben sie alle abgegrast, aber keiner von ihnen konnte genau sagen, warum der Kontakt damals beendet wurde. Wenn du meine unmaßgebliche Meinung hören willst, die meisten von de­nen wollten einfach nichts mehr mit einem Arbeitslosen zu tun haben. Typische Schönwetterfreunde eben. Jedenfalls konnten wir in der Vergangenheit von Herrn Ulrich nichts aufspüren, was als Mordmotiv ausreichend wäre.«

Sandra unterbrach sich und sah auf ihre Uhr. »Ich muss los. Ich treffe mich mit Steffen. Wir haben ein langwieriges Verhör vor uns. Vorletzte Nacht hat ein Mann seine Frau er­schlagen, aber bis jetzt beteuert er seine Unschuld. Alle Indi­zien sprechen gegen ihn und seine Aussagen sind wider­sprüchlich, nur gestanden hat er noch nicht. Jedenfalls werden wir ihn heute weichklopfen.« Sandra blickte sieges­gewiss und hob ihren Zeigefinger: »Den werden wir kna­cken wie eine Laus.«

Karin wirkte etwas irritiert. »Und ich? Ich habe wohl ganz allein diesen Fall am Hals?«

»Erraten! Haupt ist die nächsten zwei Tage nicht da und er lässt dir ausrichten, dass er vollstes Vertrauen zu dir hat. Er sagte wörtlich: ›Wenn Karin sich an die Fersen des Mör­ders heftet, dann findet sie ihn.‹ Ich wünsche dir jedenfalls viel Freude mit dem Bericht.« Sandra warf Karin noch eine Kusshand zu und eilte aus dem Raum.

Karin warf dem Ordner, der den Bericht über den Mordfall enthielt, einen vernichtenden Blick zu. Sie hatte es absolut nicht eilig, mit dem Studium der Unterlagen zu beginnen. Erst mal kochte sie eine Kanne schwarzen Tee, danach lehn­te sie sich aus dem Fenster und sah hinaus. Die drückende Hitze trieb sie allerdings schnell wieder in den kühleren Raum zurück. Sie schloss das Fenster und versuchte so, die schwüle Wärme auszusperren. Nach einem gemütlichen Gang zur Toilette fand sie beim besten Willen keinen trif­tigen Grund mehr, die Arbeit noch weiter vor sich herzu­schieben.

Karin fiel es schwer, die nötige Konzentration aufzubrin­gen. Sich durch Berichte zu kämpfen war selbst an guten Tagen nicht ihre starke Seite. Und heute war kein guter Tag. Der Schlafmangel zehrte an ihr und sie verspürte einen un­angenehmen Druck im Kopf. Zu allem Übel zuckte auch noch ein Muskel in ihrem Unterlid. Dieses leichte Muskel­flattern attackierte Karin immer, wenn sie zu wenig schlief oder sehr abgespannt war. Ein Gegenüber würde das win­zige Zucken kaum bemerken, doch das Kribbeln, welches der vibrierende Muskel erzeugte, war störend und lenkte sie zusätzlich ab.

Zu ihrem Glück hatte ihr Sandra bereits einen informa­tiven Überblick gegeben. Karin überflog deshalb alle Ermitt­lungsberichte und wandte sich lieber den Tatortfotos zu. Da sie selbst mit Leidenschaft fotografierte, widmete sie den beigelegten Fotos wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Ein Blick auf die Bilder genügte Karin, um zu erkennen, welcher Polizeifotograf die Fotos geschossen hatte. Ihr alter Freund Matthias Lee, mit dem sie oft über Fotos oder Fototechnik fachsimpelte.

Zuerst betrachtete sie das Opfer. Der Täter war akri­bisch vorgegangen. Er hatte Löcher in die Stuhlbeine ge­bohrt und durch diese Kabelbinder gezogen. Die Füße und die Beine des Opfers waren so an die hinteren Stuhlbeine gefesselt, dass sie keinen Kontakt zum Boden hatten. Für Herrn Ulrich war es dadurch unmöglich, sich mit seinen Fü­ßen abzusto­ßen. Die Arme und Hände waren fest an den Rücken des Stuhles gebunden, so blieben dem Opfer kaum Bewegungs­möglichkeiten. Zusätzlich hatte der Tä­ter den Stuhl mittels Schrauben in der Stubenwand veran­kert. Damit nahm der Täter Herrn Ulrich jegliche Chance zu kippeln oder sich mit dem Stuhl fortzubewegen.

Der Mörder hatte alles bis auf das Kleinste bedacht.

Karin schlug im Bericht nach. Die Löcher waren frisch in die Wand gebohrt worden und der Betonstaub lag noch auf dem Boden. Auch Herr Ulrich besaß Werkzeug, aber mit diesen Geräten waren die Arbeiten nicht ausgeführt wor­den. Der Täter hatte den Mord demzufolge vorher gründ­lich geplant und alle Dinge, die er benötigte, mitgebracht.

An dieser Stelle gab der Täter etwas von sich preis: Er war handwerklich begabt. Die Löcher waren mit Präzision ge­bohrt, dieser Umstand war von den Kollegen der KTU her­vorgehoben worden.

Und noch etwas war Karin beim Betrachten der Tatortfo­tos ins Auge gefallen: Der Mörder hatte Herrn Ulrichs Klei­dung ordentlich gefaltet auf einem weiteren Stuhl abgelegt. Dieser Stuhl stand in unmittelbarer Nähe der Leiche. Es schien, als wolle der Täter direkt darauf hinweisen.

Rasch griff Karin zum Obduktionsbericht. Aha, Dr. Bret­schneider hat die Obduktion durchgeführt. Sie nickte zu­frieden. Karin wusste, dass Dr. Bretschneider stets akku­rat arbeitete und sie sich auf dessen Aussagen immer zu hun­dert Prozent verlassen konnte. Kein Wort über sexuelle Übergriffe oder sonstige Spuren, die auf Geschlechtsverkehr hinweisen würden. Somit konnte Karin ein sexuelles Motiv ausschließen.

Aber warum hatte sich der Mörder die Mühe gemacht und Herrn Ulrich entkleidet, bevor er ihn fesselte?

Karin beschloss, die Frage nach hinten zu schieben. Sie blätterte weiter im Obduktionsbericht. Dr. Bretschneider be­schrieb detailliert die Wunden, die sich Herr Ulrich bei sei­nen verzweifelten Befreiungsversuchen selbst zugefügt hat­te. Zum Fesseln hatte der Mörder Plastikbänder benutzt. Diese Art, das Opfer auf den Stuhl zu zwingen, war ange­sichts der Umstände besonders perfide. Solche Kabelbinder zu zerreißen war unmöglich, aber die scharfen Kanten der Kunststofffesseln schnitten bei jeder Bewegung tief in die Haut. Karin las aus Dr. Bretschneiders Autopsiebericht, dass der Kampf, den das Opfer mit den Kabelbindern führte, sehr schmerzhaft gewesen sein musste. Der arme Mann hat­te mit einer derartigen Intensität gegen die Fesseln gekämpft, dass sich die Kunststoffbänder tief in die Haut gegraben hat­ten.

Die eigentliche Todesursache, die mit ›Tod durch Dehy­dratation‹ beschrieben war, klang banal. Aber Karin wollte sich lieber nicht vorstellen, was in Herrn Ulrich vorgegan­gen war, als er die schreckliche Gewissheit erlangte, dass ihn niemand befreien kam und ihm klar wurde, dass seine Wohnung, der Ort, der ihm eigentlich Zuflucht geben sollte, zu seinem Grab werden würde.

Dass sie zu ihrer Arbeit immer einen Abstand einhalten musste, und auf gar keinen Fall emotional werden durfte, das hatte Karin bereits vor Jahren gelernt. Aber diesen Mör­der, der seine eigenen Albträume zum Leben erweckte und einem anderen aufzwang, würde sie zur Strecke bringen.

Voll grimmiger Entschlossenheit breitete sie die Tatortfo­tos ein weiteres Mal auf ihrem Schreibtisch aus und betrach­tete jedes einzelne eingehend. Plötzlich stutzte sie, dann holte sie ein Vergrößerungsglas aus ihrer Schreibtisch­schub­lade, stand auf und ging mit dem Glas und dem Bild ans Fenster. Bei dem hellen Licht wurde ihr Verdacht bestätigt. Sie nahm sich den Bericht erneut vor und arbeitete ihn ein zweites Mal, diesmal wesentlich gewissenhafter, durch. Sie fand nichts. Sollte sie die Erste sein, die diese Entdeckung machte?

Abermals musterte sie das Foto. Da sie sich nicht absolut sicher war, griff Karin zum Telefon und rief Matthias Lee an. Sie wusste, dass er jedes Foto gewissenhaft speicherte. Karin hatte Glück, er war an seinem Platz und versprach ihr, die Bilddatei in Originalgröße sofort zu schicken. Sekunden später erschien das Foto auf ihrem Monitor. Ein Blick ge­nügte ihr. Sie hatte den Schatten an der Wohnzimmerwand, gleich neben Herrn Ulrichs Schrankwand, richtig gedeutet. An dieser Stelle hatte ein Kreuz gehangen und die ursprüng­liche Farbe der Tapete war unter dem Kruzifix erhalten ge­blieben. Hatte Herr Ulrich aufgrund seiner Situation den Glauben verloren und es selbst entfernt, oder war es der Mörder gewesen? Und wenn ja, warum?

2. Kapitel

11 Uhr öffnete Tatjana die Eingangstür des Restaurants. Um ihr Arbeitspensum zu bewältigen, hätte sie bereits vor einer Stunde eintreffen müssen. Aber heute war wieder so ein Tag, an dem alles schiefging. Gleich nach dem Frühstück war ihre Tochter gekommen und hatte das betagte Famili­ennotebook vor sie auf den Tisch gelegt. Ein Blick in das Ge­sicht ihrer Tochter hatte Tatjana gesagt, dass das Gerät wie­der streikte. Nach kurzer Prüfung hatte Tatjana den Fehler gefunden. Die Festplatte war an Altersschwäche eingegan­gen. Zu ihrem Glück hatte sie diesen Fall vorausgesehen und schon vor Wochen einen Ersatz bereitgelegt. Ein funkti­onierender Rechner war für ihre Tochter lebenswichtig, da eine Examensarbeit ins Haus stand. Stöhnend und mit ner­vösen Fingern hatte Tatjana die Festplatte gewechselt und das Betriebssystem neu aufgespielt. Dann war sie aus dem Haus geeilt. Obwohl sie den Weg zum Bahnhof im Sprint zurückgelegt hatte, hatte sie ihren Zug nur noch aus der Fer­ne gesehen. Auf einmal hatte sie ausreichend Zeit zur Verfü­gung, ge­nau sechzig Minuten. Aus purer Verzweiflung kaufte sie sich eine Zeitung, damit die ihr half, die Zeit zu überbrü­cken und sie von ihrer Verspätung abzulenken. Doch es ge­lang ihr nicht, sich auf die Artikel zu konzentrie­ren. Zu viele Gedanken schlichen durch ihren Kopf. An ers­ter Stelle stand ihre prekäre finanzielle Situation, schon des­halb durfte sie ihren Job als Putzfrau nicht verlieren. Ein zynisches Lächeln glitt über Tatjanas Gesicht, als sie an ihre derzeitige Tätigkeit dachte. In Russland hatte sie Informatik studiert, aber nach dem Zusammenbruch des Riesenreichs fand sie keine Ar­beit mehr. Voll Hoffnung war sie nach Deutschland gegan­gen, der Heimat ihrer Großeltern. Nach einer endlos langen Suche war sie schließlich sogar noch dankbar, dass sie eine Beschäftigung als Reinigungskraft fand. Überdies war ihr Arbeitgeber auch noch anständig. Er zahlte ein angemes­senes Gehalt und entrichtete sogar die Versicherungsbeiträ­ge für sie. Aber der Betrag, den sie jeden Monat auf ihrem Konto vorfand, reichte für die eigene Ver­sorgung und für ihre Tochter gerade so eben. Ein neues Notebook war der­zeit einfach nicht machbar.

Das Restaurant, welches Tatjana täglich säuberte, lag im Szeneviertel der Dresdner Neustadt. Es zählte derzeit zu den bevorzugten Adressen für hungrige Dresdner und de­ren Gäste. Die gute Küche lockte die Besucher wie Honig die Bienen. Es war ein Glücksfall, wenn ein Gast ohne vor­herige Reservierung abends sofort einen Platz bekam. Für Tatjana war es unvorstellbar, dort zu speisen. Diese Ausgabe würde ihren Etat sprengen.

Gleich beim Betreten ihres Arbeitsplatzes wurde Tatjana klar, dass etwas anders war als all die vorangegangenen Tage. Zunächst registrierte sie, dass die Eingangstür nicht verschlossen war, dann sah sie den an einem Tisch sitzen­den Mann. Auf den ersten Blick wirkte der Mann ganz nor­mal. Aber eben nur auf den ersten Blick.

Tatjana musste sich setzen. Das ist eigentlich die logische Fortsetzung der bisherigen Ereignisse des heutigen Tages, dachte sie bitter. Sie kannte den Mann, der so einsam in der Gaststube saß. Es war der Küchenchef. Er war mit Kabelbin­dern an einem Stuhl gefesselt. Nur noch diese Kabelbinder verhinderten, dass sein massiger Körper von dem Platz glitt. Denn die notwendige Kraft, sich selbst auf dem Stuhl zu halten, war genau wie das Leben aus dem Körper des Kochs gewichen.

Der Anblick eines toten Menschen war für Tatjana keine Premiere. Als Kind hatte sie beim Spielen hinter dem Stall ihren Onkel gefunden, der von einer Leiter gestürzt war und sich dabei sein Genick gebrochen hatte. Und ihre beste Freundin, mit der sie während der Schulzeit all ihre Ge­heimnisse geteilt hatte, war an den Folgen einer Sepsis ge­storben.

Doch bei dem Anblick des Kochs überfiel sie eine fürch­terliche Übelkeit. Das Bild, das sich Tatjanas schreckgewei­teten Augen bot, schien einem schlechten Horrorfilm ent­sprungen zu sein. Die Augen des Küchenchefs waren stumpf, doch Tatjana konnte noch immer die Angst und den Schmerz in seinem verzerrten Gesicht erkennen. Nur mit Mühe behielt sie ihr Frühstück bei sich. Speziell das lange Fleischmesser, das aus dem Unterleib des Kochs heraus­ragte, erschwerte ihr den Kampf gegen den rebellierenden Magen.

Tatjana wurde schlagartig klar, dass hier ein Mörder am Werk gewesen war, der nicht nur den Chefkoch umgebracht hatte, sondern der zusätzlich die Drehbücher für die Alb­träume ihres verbleibenden Lebens verfasst hatte.

Svenja Förster hatte an diesem Tag nur die Vorlesung zum Thema Strafprozessrecht besucht. Diese Veranstaltung hatte sie so nachdrücklich fasziniert, dass sie beim Zuhören ihren Körper völlig verspannt hatte. Die zweite Vorlesung wür­de sie heute ausfallen lassen. Dafür fehlte ihr die Konzentra­tion

Um ihre verkrampfte Muskulatur wieder friedlich zu stimmen, beschloss sie trotz der sengenden Sonne ein Stück zu laufen.

Kaum hatte sie der Hauptverkehrsstraße den Rücken ge­kehrt und war in das angrenzende Wohngebiet eingetaucht, nahm der Lärm der Stadt spürbar ab.

Svenjas Ziel war der Wasaplatz. Von dort aus wollte sie mit der Straßenbahn weiterfahren.

Die Bewegung tat ihr gut und es gelang Svenja, Abstand zu anstehenden Problemen zu gewinnen. Oft fand sie gerade auf diesem Weg eine Lösung dafür.

Wie üblich lag das Wohnviertel um diese Tageszeit fast menschenleer vor ihr. Da kein Lufthauch ging, bewegten sich nicht einmal die Blätter in den obersten Zweigen der hohen Pappeln. Fast bereute sie es, nicht mit dem Bus ge­fahren zu sein, denn die Sonne brannte gnadenlos auf sie nieder. Allerdings, sagte sie sich, im Bus ist es auch nicht angenehmer und die Luft ist wesentlich schlechter. Und zum Ausgleich grüßte die Lukaskirche mit ihrer fehlenden Turmspitze zu ihr herüber.

Der Anstieg zum Beutlerpark, der ihr an anderen Tagen keine Mühe bereitete, fiel ihr heute schwer. Als Svenja in den Schatten der Bäume eintauchte, stand ihr der Schweiß auf der Stirn.

Hier, wo ein Dach aus Laub sie vor den Sonnenstrahlen schützte, war die Hitze erträglich. Die Stille und das ange­nehmere Klima verführten sie zum Schlendern. Obwohl noch einige Termine auf sie warteten, schlug sie extra einen Bogen, um die Zeitspanne, die sie in dem Park weilte, mög­lichst hinauszuzögern. Bewusst genoss sie die kleine Aus­zeit. Auf dem höchsten Punkt der alten Schanzanlage kam ihr der Einfall, doch gleich die Taijiquan Übungen zu pro­bieren, die ihr Julia gezeigt hatte. Julia war Svenjas beste Freundin und praktizierte dieses chinesische Schattenboxen schon mehrere Jahre. Vorsichtig blickte sich Svenja um. Nie­mand war zu sehen. Rings um sie war eine schon greifbare Stille, selbst die Vögel zogen es vor, in der Mittagsglut ihre Schnäbel zu halten.

Noch etwas unsicher begann Svenja zwischen zwei gro­ßen Bäumen mit den Übungen. Gerade als sie eine Bewe­gung – die ›einfache Peitsche‹ hieß – testete, schreckte sie ein leises, fast unhörbares Rascheln auf und beendete abrupt ihre Meditation. Svenja fuhr herum und suchte mit ihren Blicken das Gelände ab. Obwohl ihre Augen die Gegend gründlich durchforschten, konnte sie nichts entdecken. Trotz der drückenden Hitze überlief sie ein Schauer und die Haare auf den Unterarmen sträubten sich.

Die Angst von heute Morgen, die sie bereits wieder ver­gessen hatte, traf sie hart und unvorbereitet. Ihr Herz flat­terte wie ein verstörter Vogel in ihrer Brust. Unwillkürlich presste sie die Hände auf ihren Oberkörper, um den Herz­schlag zu beruhigen.

Nach kurzem Zögern rannte Svenja wie von Furien ge­hetzt los. Sie war so in Panik, dass sie einfach über die Grün­anlagen lief. Blind vor Angst übersah sie eine Stufe und schlug der Länge nach hin. Sie registrierte es kaum. Sofort rappelte sie sich wieder hoch und jagte weiter. Auf dem Weg, der steil hinab aus dem Park herausführte, wäre sie fast ein zweites Mal gestürzt. Sie konnte sich gerade noch an dem Geländer am Parkausgang abfangen.

Sie hielt erst inne, als sie das am Park gelegene Wohnvier­tel verlassen hatte und wieder an einer stark befahrenen Straße stand. Völlig außer Atem stützte sie sich an einen Schaltkasten und versuchte wieder zur Besinnung zu kom­men. Nun waren es der Lärm und die Betriebsamkeit der Straße, die sie wie eine alte Freundin willkommen hießen und mit dem Schutz der Öffentlichkeit umarmten.

Als sie wieder klar denken konnte, widmete sich Svenja erst einmal ihrer äußeren Erscheinung. Bei dem Sturz hatte sie sich ihre Handflächen aufgeschürft, aber sonst war alles heil. Ihr Shirt war nass vom Schweiß und an den Zustand ihres Höschens wollte sie lieber nicht denken. Ihre Frisur, auf die sie am Morgen so viel Mühe verwendet hatte, fühlte sich an wie ein zerstörtes Storchennest. Svenja entfernte die kleinen Plastikklammern und schüttelte ihren Kopf, sodass die Haare offen auf ihre Schultern fielen.

Was war bloß los mit ihr? In den vierundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie noch niemals solche Angst verspürt. Und augenscheinlich auch noch grundlos. In dem Park war nichts – war niemand, präzisierte sie. Nicht, dass ich noch Geister heraufbeschwöre! Doch ihr gelang bei dem Gedan­ken kein Lächeln.

Sie lief nach Strehlen zum Wasaplatz, dabei hielt sie sich immer in der Nähe von befahrenen Straßen. Svenja war völ­lig verwirrt. Wenn das wieder passiert, gehe ich zum Arzt, beschloss sie.

Warum nur hatte sie derartige Panikattacken? Sie ging im Geist ihr derzeitiges Leben durch. Das Studium konnte nicht der Grund sein. Es hatte schon stressigere Zeiten gegeben. Zwar standen noch Prüfungen an, doch sie war gut vorbe­reitet. Eine Beziehung, die Probleme bereiten konnte, führte sie im Moment auch nicht. Ihrem Freund Paul hatte sie vor einem halben Jahr den Laufpass gegeben, da der seine Fin­ger nicht von ihrer – seit dieser Zeit – Ex-Freundin Lisa las­sen konnte. Aber Svenja war über diese Geschichte hinweg und dachte kaum noch daran.

Alle Grübeleien halfen ihr nicht, die Ursache für die Angstzustände zu entdecken. Da lauerte nichts in den Tie­fen ihrer Psyche.

Und das jemand Zeit und Mühe aufwendete, nur um sie zu verfolgen, das konnte sich Svenja beim besten Willen nicht vorstellen. Wer war sie denn schon? Eine Jurastuden­tin im fünften Semester.

Sie wegen Geld zu kidnappen lohnte bei ihr auch nicht. Da würden die Entführer schön blöd schauen, wenn sie ihre Kontoauszüge zu Gesicht bekämen. Bei ihren Eltern war ge­nauso wenig zu holen. Die Stiefmutter hatte zwar noch Ar­beit, aber der Vater stand seit dem großen Industriesterben ohne Verdienst da.

Obwohl sie sich das Hirn zermarterte, fand Svenja keine plausible Erklärung für ihren plötzlichen Verfolgungswahn. Letztendlich schob sie es auf die Hitze. Womöglich hat mein Kopf zu viel Sonne abbekommen. Ich sollte mir einen Son­nenhut kaufen, schoss es ihr durch den Kopf. Svenja blickte auf ihre Uhr und stellte fest, dass sie gut in der Zeit lag und sich durchaus eine halbe Stunde Schaufensterbummel gön­nen konnte. Etwas Freude nach den Schreckgespenstern dieses Tages hatte sie ihrer Meinung nach verdient. Dieser Gedanke lenkte sie vollends von ihren Sorgen ab und Svenja begann, die Auslagen der Bekleidungsgeschäfte nach Hüten zu durchforschen. Sie entdeckte ein Exemplar, welches ihr gefiel, aber ein Blick auf das Preisschild ließ sie vom Kauf Abstand nehmen. In ihrer Haushaltskasse gähnte ein zu tiefes Loch. Gerade deswegen war Svenja sehr froh, dass sie am Landgericht einen Job für die Zeit der Semesterferien er­gattert hatte. Natürlich wäre sie lieber, wie einige ihrer Kom­militonen, in ein Urlaubsparadies gereist, aber das blieb ein Traum.

Ein Blick zur Uhr machte ihr klar, dass es höchste Zeit für ihren nächsten Termin wurde. Am Landgericht lag ein Ar­beitsvertrag, der noch ihrer Unterschrift harrte.

Svenja begab sich zur Haltestelle. Der Wasaplatz war ei­ner der Verkehrsknotenpunkte in Dresden. Hier trafen meh­rere Bus- und Bahnlinien zusammen. Entsprechend hoch war der Andrang, als die Straßenbahn in den Haltestellen­bereich fuhr. In dem Bestreben, einen Sitzplatz zu ergattern, wurde rücksichtslos geschubst und gedrängelt. Svenja be­kam von hinten einen Stoß, wodurch sie beinah ein weiteres Mal an diesem Tag gestürzt wäre. Sie konnte sich gerade noch am Türgriff festklammern und so den Sturz abfangen. Als sie sich erbost umwandte, um mit dem Verursacher zu schimpfen, sah sie sich nur einer gesichtslosen Masse gegen­über.

Sofort empfand sie wieder dieses Gefühl der Bedrohung. Doch diesmal riss sie sich zusammen und verdrängte es. Es ist nur das ganz normale Chaos im Stadtverkehr, sagte sie sich. Kein Grund wieder in Panik zu verfallen.

Sie erkämpfte sich einen Sitzplatz und ordnete ihre Ge­danken. Es gab noch ein paar Details, die sie vor der Unter­zeichnung des Arbeitsvertrages besprechen wollte. Darauf würde sie sich jetzt konzentrieren und sich nicht von irgend­welchen Hirngespinsten hetzen lassen.

Karin kannte die Wohnsiedlung in Trachenberge. Auf ihren Wanderungen kam sie oft hier vorbei. Eigentlich gefiel ihr das von Wald umgebene Neubaugebiet. Aber eben nur ei­gentlich. Das permanente Rauschen, welches von der A4 bis hierher drang, würde sie sicher abhalten, in diesem Viertel eine Wohnung zu mieten. Aber andererseits, überlegte sie, ist es sehr ruhig hier. In ihrem Wohngebiet, wo ständig Stra­ßenlärm herrscht, würde dieses Rauschen wahrscheinlich gar nicht auffallen. Und die Luft ist besser als unten im Elb­tal, sinnierte sie weiter, wobei sie ihre Nase hob und die Luft einsog.

Aber auch hier, hoch über der Stadt, war es unerträglich heiß. Karin verließ nur ungern ihr klimatisiertes Fahrzeug. Hoffentlich war sie nicht umsonst den langen Weg hierher ge­fahren. Karin hatte Frau Ulrich nicht über ihr Kommen in­formiert. Sie fand es manchmal besser, unangemeldet zu erscheinen. Denn vielen Menschen war es eigen, ihren Le­bensbereich ein wenig zu frisieren, wenn Besuch der Polizei ins Haus stand. Einige handeln nur aus einem Ordnungs­gefühl heraus, aber es gab diejenigen, die ihr Umfeld gezielt präparierten. Ob das bei Cornelia Ulrich der Fall war, konn­te Karin noch nicht wissen. Eventuell war diese Frau über­haupt nicht in den Mordfall involviert, aber sicher ist si­cher.

Die Tat an sich konnte sie nicht begangen haben. Frau Ul­rich hatte sich die letzten sechs Wochen nicht in Deutsch­land aufgehalten.

Karin war schon dankbar, wenn es ihr genehmigt wurde, vierzehn Tage Urlaub zu machen, und Frau Ulrich verbrach­te gleich sechs Wochen auf Gran Canaria. Beneidenswert!

Sandra hatte für den relevanten Zeitraum mit dem ihr ei­genen Bienenfleiß die Passagierlisten sämtlicher Flüge hin und zurück zu den Kanaren überprüft. Wenn Frau Ulrich nicht im Besitz gefälschter Personaldokumente ist, war es ihr nicht möglich gewesen, die Tat zu begehen.

Karin klingelte an der Haustür und ohne Nachfrage wur­de der Türöffner betätigt. Auf dem Weg nach oben fiel Karin ihr Handy ein. Die Urlaubstage wirkten nach. Sie hatte ver­gessen, es einzuschalten. Ohne sich groß um verpasste An­rufe zu kümmern, steckte sie es wieder in ihren Rucksack. An der Wohnungstür musste sie erneut klingeln. Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein nur zur Hälfte sichtbares Frauengesicht stellte mürrisch klar, dass kein Bedarf an Ver­sicherungen oder sonstigem Trödel bestehe. Bevor sich die Tür wieder schloss, drückte Karin dagegen, stellte sich freundlich vor und hielt ihren Dienstausweis vor das sicht­bare Auge.

»Es ist mir heute überhaupt nicht recht, Besuch zu emp­fangen. Ich bin erst gestern am späten Abend von einer Aus­landsreise zurückgekehrt und bin gerade beim Aufräumen«, erklärte Frau Ulrich ungehalten. »Können Sie nicht morgen wiederkommen?«

»Es tut mir leid, Sie zu überfallen, Frau Ulrich«, sagte Ka­rin und schob sich ungerührt an der Frau vorbei in die Woh­nung. »Die Angelegenheit duldet jedoch keinen Aufschub. Mir ist bekannt, dass Sie gestern Abend zurückkehrten, und dass ich da nicht schon bei Ihnen geklingelt habe, ist allein meiner angeborenen Höflichkeit geschuldet.«

Karin warf Frau Ulrich einen unschuldigen Blick zu, um ihre Forschheit wiedergutzumachen, und ergänzte: »Ich weiß, dass nach einer Reise immer sehr viel Arbeit anliegt und ich verspreche, Sie nicht lange zu stören.«

Karins schmeichelnder Ton trug Früchte. Frau Ulrichs Stimmung besserte sich und sie wies Karin den Weg ins Wohnzimmer. Im Flur erhaschte Karin einen Blick auf die halb ausgeräumten Koffer und einen Haufen mit Schmutz­wäsche. Die Kleidung sah teuer aus. Karin entdeckte mehre­re Markenprodukte, die Frau Ulrich sicher nicht am Wühl­tisch beim Ausverkauf erstanden hatte.

»Um was geht es?«, fragte Frau Ulrich, als sie Karin einen Platz angeboten und sich selbst gesetzt hatte.

»Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen eine traurige Nachricht überbringen. Ihr Mann ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen.«

Cornelia Ulrich fuhr erschrocken zurück, dann barg sie ihr Gesicht in den Händen und schluchzte leise. Als sie wie­der aufsah, wirkte ihr Gesicht traurig, aber Karin sah, dass ihre Augen nicht an der Trauer beteiligt waren. Sie blickten hart und wachsam.

»Wie . . .? Ich meine auf welche Art wurde er getötet?«

»Das kann ich Ihnen aus ermittlungstechnischen Grün­den nicht mitteilen.«

Karin liebte diese Floskel. Ermittlungstechnische Gründe! Immer wenn sie etwas nicht preisgeben wollte, knallte sie ihrem Gesprächspartner diese Phrase an den Kopf und der musste dann sehen, wie er damit klarkam.

Auf Beileidsbezeugungen jeglicher Art würde Karin dies­mal verzichten. Sie las in Frau Ulrichs Blick, dass sich deren Kummer in Grenzen hielt. Stattdessen begann Karin, ihre Fragen zu stellen: »Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu ih­rem Mann?«

»Nein, wir leben seit fünf Jahren getrennt und seit meinem Auszug habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Aber gesprochen haben Sie ihn doch sicherlich? Sie sind immerhin noch verheiratet, da gibt es bestimmt Dinge, die geklärt werden müssen«, hakte Karin nach.

Auf Karins Frage offenbarte Frau Ulrich ihr eigentliches Talent. War sie bisher recht reserviert, gab sich das nun. Sie sprach viel und ununterbrochen. Sie stellte ihrem Mann nicht das beste Zeugnis aus, aber auf sich selbst hielt sie große Stücke. Die Trennung sei einzig die Schuld ihres Man­nes gewesen. In diesem Tenor ging es weiter. Während des gewaltigen Redeflusses hatte Karin ausreichend Muße, Cor­nelia Ulrich zu mustern. Karin wusste, dass die Frau nur drei Jahre jünger als sie selbst war, aber der Zeit war es nicht gelungen, in Frau Ulrichs Gesicht Spuren zu hinterlassen. Sie sah nicht aus wie die zweiundvierzig Jahre, die sie be­reits auf Erden weilte. Sie war überhaupt eine ausgespro­chen attraktive Frau. Besonders bemerkenswert fand Karin die makellos, in reinstem Weiß schimmernden Zähne dieser Frau. Sie grübelte, ob die Beißer ein Werk der Natur oder eines Dentallabors waren. Nach kurzer Überlegung ten­dierte Karin zur Natur, denn auch die Haut von Cornelia Ulrich war erstaunlich. Porentief rein und, zu Karins Ver­druss, bis auf zwei scharfe Falten neben den Mundwinkeln völlig glatt. Diese beiden Falten entstellten Frau Ulrich je­doch nicht, im Gegenteil, sie wirkte dadurch noch inter­es­santer. Karin gönnte der Frau ihr gutes Aussehen nicht, be­sonders da Frau Ulrich gerade weitschweifig erklärte, es läge nur an dem Verhalten ihres Mannes, dass seit nun­mehr fünf Jahren völlige Funkstille zwischen den Eheleuten herrschte.

An dieser Stelle beschloss Karin, dass sie mittlerweile ausreichend über Herrn Ulrichs Charakterfehler in Kennt­nis gesetzt worden war, und stoppte den Redefluss der Frau. »Diese Frage ist jetzt ein wenig persönlich, ich muss sie Ih­nen aber dennoch stellen. Weshalb haben Sie sich von Ihrem Mann getrennt?«

Frau Ulrich hob die Schultern. »Als Martin ohne Job da­stand, wurde das Miteinander mit ihm unerträglich.«

»Inwiefern?«, setzte Karin nach.

»Es ging uns finanziell schlechter und wir waren gezwun­gen, uns sehr einzuschränken. Daran ist unsere Beziehung letztendlich zerbrochen.« Frau Ulrich sagte das wie neben­bei, aber Karin dachte sich ihren Teil.

»Sind Ihnen aus Ihrer gemeinsamen Zeit Feinde Ihres Mannes bekannt? Ich meine Menschen, die ihn so sehr ge­hasst haben, dass sie ihm etwas antun könnten.«

Frau Ulrich kniff ihre Lippen zusammen, schüttelte ihren Kopf erst langsam, dann aber vehement. »Nein, Martin war ein ruhiger, in sich gekehrter Mann. Er ging Konfrontati­onen immer aus dem Weg. Seine Arbeitskollegen schätzten ihn und in unserem Bekanntenkreis war er angesehen. Nein«, wiederholte sie, »er hatte keine Feinde. Ich hätte mir oft gewünscht, dass er energischer auftritt. Als er seine Ar­beit verlor, waren seine Bemühungen, eine neue Anstellung zu finden, eher zurückhaltend.«

Karin blickte verwundert von ihrem Notizblock auf, denn ihr kam eine Passage des von ihr überflogenen Berichts in den Sinn. Sie sah Frau Ulrich fragend an und sagte: »Als wir die Wohnung Ihres Mannes durchgesehen haben, bekamen wir da allerdings einen anderen Eindruck. Er hatte seine ge­samten Bemühungen akribisch dokumentiert, und wir ha­ben Nachweise gefunden, dass er sich seit dem Tag seiner Entlassung kontinuierlich beworben hatte.«

»Ja, ja«, winkte Frau Ulrich ab. »Bewerbungen verschi­cken bringt aber nichts. Ich habe ihm oft gesagt, dass er sich vernetzen soll. Nur dadurch wäre ihm ein Neueinstieg ge­lungen.«

Karins Erstaunen wuchs. »Wie meinen Sie das in dem speziellen Fall ihres Mannes?«

»Martin hätte zu den richtigen Partys gehen müssen. Dort, wo man die entscheidenden Leute trifft. Die, die das Sagen haben. Ich meine, da hätte er Connections aufbauen können.«

Während Karin noch darüber nachgrübelte, woher ein ar­beitsloser Maschinenbauingenieur wohl eine Einladung zu einem Treffen von Vorstandsmitgliedern oder Managern be­kommen könnte, klingelte ihr Handy. Sandra rief an. Karin drückte das Gespräch weg. Gleich im Anschluss an diese Unterredung würde sie zurückzurufen.

»Darf ich fragen, welcher Tätigkeit Sie im Moment nach­gehen?«, wandte sich Karin wieder an Frau Ulrich.

»Ich führe Kurse zum Thema ›Physiognomische Men­schenkenntnis‹ durch«, antwortete Frau Ulrich und sah Ka­rin bedeutungsvoll an.

Karin war wirklich neugierig. »Was beinhaltet solch ein Kurs?«

»Die Physiognomie ist eine hervorragende Methode, um die Wesensart eines Menschen zu erkennen, seine Bega­bungen besser zu verstehen und zu fördern . . .«, begann Frau Ulrich zu dozieren.

Welche Tür habe ich da aufgestoßen, stöhnte Karin in­nerlich und stellte ihre Ohren auf Durchzug.

Doch als Frau Ulrich persönlich wurde: ». . . speziell Ihre Kopfform . . .«, wurde sie von Karin unterbrochen: »Das würde jetzt den Rahmen sprengen. Wann beginnt denn Ihr nächster Kurs?«

Diese Frage schien Frau Ulrich überaus unangenehm zu sein. Sie wand sich lange, bevor sie sich zu einer Antwort durchrang: »Seit der Wirtschaftskrise ist es schwer, einen Kurs ausreichend zu belegen. Die Leute sparen oft an der falschen Stelle, wie in diesem speziellen Fall.«

Soso, dachte Karin. Und wo sind deine Connections? Es war an der Zeit, das Gespräch zu einem Ende kommen zu lassen. Aber zuvor stellte sie noch die wichtigsten Fragen, die sie sich bis zum Schluss aufgehoben hatte: »War Ihr Mann gläubig, Frau Ulrich?«

»Martin war katholisch. Er wurde so erzogen und er nahm seinen Glauben ernst.«

»Und Sie? Teilten Sie diesen Glauben mit Ihrem Mann?«

»Ja. Ich gehe zwar nicht regelmäßig zur Kirche, aber ich versuche entsprechend meines Glaubens zu leben.« Dabei versuchte Frau Ulrich eine andächtige Miene zu zeigen.

Wenigstens ihre ständigen Begleiter Selbstsucht, Miss­gunst und Heuchelei hätten sich in ihrem Gesicht wider­spiegeln sollen, schoss es Karin durch den Kopf, dann kam sie zum wesentlichen Punkt: »Neben der Schrankwand Ih­res Mannes hing an der Wand ein Kruzifix. Es ist abgenom­men wurden. Ist es möglich, dass Ihr Mann von seinem Glauben abgefallen ist, vielleicht aufgrund seiner prekären Situation, und es selbst entfernt hat?«

Frau Ulrich fuhr zusammen. Ihre auf den Kanaren erwor­bene Bräune wich einer grauen Blässe. »Ich weiß nichts über das Kruzifix. Als ich meinen Mann verließ, hing es noch in der Stube. Ob er es abgenommen hat, darüber kann ich nichts sagen.« Ihr fiel es sichtlich schwer, die Haltung zu be­wahren. Auch ihre sonst so feste Stimme bebte.

»War das Kruzifix vielleicht wertvoll? Womöglich ein Erbstück?«, bohrte Karin nach.

»Nein.« Frau Ulrichs Hände hatten einen Korkunterset­zer ergriffen und spielten nervös damit. »Es war nur ein ein­faches Kreuz aus Holz.«

Karin erhob sich. »Da kann man nichts machen. Jeden­falls vielen Dank für Ihre Auskünfte. Ich finde selbst den Weg.« Sie ließ die fassungslose Frau zurück und ging rasch aus der Wohnung.

Auf ein Wiedersehen mit Frau Ulrich hätte Karin gern verzichtet, aber es würde wohl nicht lange dauern, bis sie ihr erneut gegenübersitzen würde. Als sie die Frau nach dem abgenommenen Kreuz gefragt hatte, war wie ein Schat­ten Angst in Cornelia Ulrichs Augen aufgetaucht. Nichts als nackte, kalte Angst.

3. Kapitel

Sandra pochte unruhig mit ihrem Schuh auf den Fußboden des Restaurants, in welchem eine Reinigungskraft die Lei­che des dort angestellten Chefkochs gefunden hatte. Dabei versuchte sie zum wiederholten Mal, ihre Chefin zu errei­chen.

»Karin hat ihr Handy immer noch nicht eingeschaltet«, sagte sie entnervt zu ihrem Kollegen Kriminalhauptkom­missar Steffen Dahlmann. Sie schaute auf die Uhr: »Eine hal­be Stunde gebe ich ihr noch, dann hat sie eben Pech.«

Steffen schüttelte den Kopf: »Wir warten, solange es geht. Du weißt, dass Karin größten Wert darauf legt, einen Tatort mit eigenen Augen zu besichtigen.«

»Du hast recht«, stimmte Sandra zu, indessen sie unruhig weiterklopfte. »Ich habe, während wir hier gewartet haben, eine These über den Tathergang entwickelt. Ich denke mir, dass der Mörder sich einfach unter die Gäste gemischt hat, und sich dann kurz vor dem Schließen des Lokals in einer der Toilettenkabinen versteckte. Nach Geschäftsschluss, als das Personal die Gaststätte verlassen hat, ist er aus seinem Versteck gekommen und hat den Chefkoch erstochen.«

»Deine Theorie ist einfach, könnte aber durchaus zutref­fen«, stimmte ihr Steffen nach kurzem Nachdenken zu. »Dr. Bretschneider hat den Todeszeitpunkt auf circa 2 Uhr festge­legt, das stützt deine Vermutung. Aber mit einem einfachen Erstechen ist es in diesem Fall nicht getan.« Er zeigte auf den immer noch auf dem Stuhl sitzenden toten Chefkoch. »Wenn man jemanden mit dem Messer umbringen will, sticht man in die Halsgegend oder in den Oberkörper, in der Hoffnung, ein lebenswichtiges Organ zu verletzen. Ein Stich in den Un­terleib tötet das Opfer erst nach längerer Zeit. Entweder der Täter hatte einen triftigen Grund für diese spezielle Vorge­hensweise, oder er hat sich einfach nur dämlich angestellt. In diesem Fall scheint der Mörder aber eine Arterie verletzt zu haben, das hat den Todeskampf mit hoher Wahrschein­lichkeit abgekürzt. Ich bin kein Rechtsmediziner, aber das halb verständliche Gebrumme von Dr. Bretschneider lässt keinen anderen Schluss zu. Ob der Täter die Arterie mit Ab­sicht oder nur durch Zufall traf, kann ich zu diesem Zeit­punkt natürlich noch nicht sagen«

Einer der beiden Mitarbeiter eines Bestattungsinstitutes, die dafür zuständig waren, den Leichnam in die Gerichts­medizin zu überführen, trat zu den beiden Beamten und fragte, ob sie den Toten nun endlich abtransportieren dür­fen.

»Bitte gedulden Sie sich noch. Wir warten auf eine Kolle­gin. Es wird sicher nicht mehr lange dauern«, sagte Sandra freundlich zu dem Mann und ließ dabei ihren Charme spie­len.

Steffen blickte nun ebenfalls auf seine Uhr, überlegte kurz und sagte dann zu Sandra: »Ich denke, es bringt uns nicht weiter, wenn wir beide hier auf Karin warten. Ich opfere mich und fahre zu den Eltern des Ermordeten, um ihnen die traurige Nachricht zu überbringen. Du kannst ja die Warte­zeit überbrücken und mit dem Restaurantbesitzer und der Reinigungskraft sprechen.« Er nickte Sandra zu. Bevor er ging, ließ er seinen Blick noch einmal über den auf dem Stuhl gefesselten Koch wandern. Sandra sah ihm nach und spürte, dass in Steffen, genau wie in ihr, eine böse Ahnung wuchs.

Doch Sandra erlaubte es sich nicht, bitteren Gedanken nachzuhängen. Sie trat zu dem Gastwirt, der den größtmög­lichen Abstand zwischen sich und dem Toten hielt und fieb­rig seine Hände rang. Um ihn zu beruhigen, berührte sie ihn am Arm und sagte: »Kommen Sie, wir setzen uns hier in die Ecke und reden einfach.«

Er nickte und wählte seinen Platz, wobei er darauf achtete, den toten Koch nicht anschauen zu müssen.