Vollstreckung - Andreas M. Sturm - E-Book

Vollstreckung E-Book

Andreas M. Sturm

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am helllichten Tag wird an einer Dresdner Tankstelle ein Mann ermordet. Niemand hat etwas beobachtet, nur eine Kundin erschien der Kassiererin auffällig. Hauptkommissarin Karin Wolf und ihre Kollegen tappen über die Identität und die möglichen Beweggründe der Verdächtigen völlig im Dunklen. Erst als ein zweiter Mord geschieht erkennen sie, dass die Spur zu der mutmaßlichen Mörderin über ein Vergewaltigungsverbrechen führt, das bereits drei Jahre zurück liegt. Die Kriminalisten müssen zu ihrem Entsetzen feststellen, dass einer der Vergewaltiger aus den eigenen Reihen zu stammen scheint. Und dieser Mann nimmt nun ebenfalls die Verfolgung der Unbekannten auf. Wird es Karin Wolf und ihren Mitstreitern gelingen, einen der beiden Täter dingfest zu machen, bevor weiteres Blut vergossen wird?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 481

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas M. Sturm

Vollstreckung

Ein Dresden-Krimi

3., überarbeitete Auflage 2019

Copyright © 2019 by edition krimi, Hamburg

edition krimi

Alle Rechte vorbehalten

* * *

Lektorat: Anne Geißler

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi

Umschlagmotiv: © Kerstin Müller

Bildstruktur: www.pixabay.com

* * *

ISBN 978-3-942829-91-5 (ebook)

ISBN 978-3-946734-00-0 (print)

* * *

www.edition-krimi.de

Für Kerstin,

ohne deren Liebe und Unterstützung

dieses Buch nicht möglich gewesen wäre.

Prolog

Es sollte das letzte Mal sein, dass er sein Herz einer un­nötigen Belas­tung aussetzte. Sein jähzorniges Temperament verführte ihn viel zu oft dazu, sich über Kleinigkeiten maßlos zu ärgern und seinen Körper somit zu schädigen. Auch diesmal war der Grund für die Aufregung eher banal.

Er kochte vor Wut, und das nur, weil er seinen VW in eine War­teschlange einreihen muss­te, dabei standen nur zwei Fahrzeuge vor seinem. Eigentlich drängte ihn nichts, doch sich irgend­wo hinten an­zustellen, brachte ihn auf die Palme.

Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, nahm er seine Um­welt in Augenschein. An dem Auto vor ihm stand eine Frau und ver­drückte einen Hotdog. Da es sonst nichts Interessantes gab, womit er seine Wartezeit überbrücken konnte, beobachtete er sie. Sie war kräftig gebaut und für eine Frau ziemlich groß; er schätzte sie Anfang drei­­ßig. Eher der herbe Typ, dachte er. Ihm waren die Niedlichen lieber.

Als sie aufgegessen hatte, ging sie von ihrem Wagen weg. Na hof­fentlich kommt die Ziege rechtzeitig zurück, war sein ers­ter Impuls. Aber dann hoffte er insgeheim, sie würde sich verspäten, da könnte er sie nach allen Regeln der Kunst runterma­chen.

Doch sie enttäuschte ihn. Sie hatte sich nur schnell eine Kakao­milch geholt, die sie jetzt als Dessert trank. Die sollte lieber auf ihre Figur achten, war seine Meinung dazu. Er selbst trainierte regelmäßig und seine Muskeln waren da­durch hart und wirkten wie model­liert.

Jetzt rückte die Schlange weiter. Die Frau vor ihm brachte ihr Fahrzeug in Position vor der Box, dann stieg sie aus, machte ein paar Dehnübungen, genoss augenscheinlich die Sonnenstrahlen an diesem schönen Frühlingstag, bevor sie begann, in ihrem Kof­ferraum zu kra­men. Nach ein paar Minuten nahm sie einen schwarzen Trenchcoat heraus und zog ihn über.

Frauen frieren ständig, und das bei zweiundzwanzig Grad, nörgel­te er innerlich.

Als sie sich in ihr Auto setzte und anfing, mit einem rosa Pu­schel die Armaturen zu putzen, verlor er das Interesse an der Beobach­tung.

Seine Ungeduld stieg weiter, da ihn nichts mehr ablenkte. Hinter ihm stand kein Wartender mehr. Da hatte er wirklich einen unglück­lichen Moment abgepasst.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war endlich die Frau an der Reihe und fuhr ihr Auto in die Waschbox. Er startete seinen Golf und ran­gierte den Wagen auf den inzwischen verwaisten Platz der Trenchcoat-Lady.

Mit einer Drehung des Zündschlüssels schickte er den Motor in den Schlaf und stellte nach einem Blick nach vorn verärgert fest, dass die Dame unentschlossen vor dem Bedien­display stand und hilflos darauf starrte. Nach einem kurzen Zögern drehte sie sich entschlossen um und kam verlegen lächelnd auf ihn zu. Er ließ die Scheibe herun­ter, grinste und spielte den Charmanten, obwohl er sie am liebsten gewürgt hätte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Darum wollte ich Sie gerade bitten. Ich hab den falschen Zahlen­code eingegeben und hab keine Ahnung, wie ich das wieder korrigie­ren kann. Kennen Sie sich mit dem Teil aus?«

»Ich werde mal nachsehen«, meinte er gönnerhaft, stieg aus und ging mit ihr zur Bedientafel.

Er probierte ein wenig herum, aber da eine Taste mit einem großen C beschriftet war, konnte er das Problem schnell lösen.

Sie bedankte sich und tippte ihren Code neu ein.

Er wandte sich ab, ging zurück zu seinem Golf und wollte ge­rade an den Türgriff fassen, da spürte er einen starken Schmerz in seinem Nacken. Er wollte danach greifen, es gelang ihm jedoch nicht mehr, seine Hand zu bewegen.

Das war die letzte Feststel­lung, die er in seinem Leben machte.

1. Kapitel

Mit einem erleichterten Seufzer klappte Karin Wolf den Deckel der eben bearbeiteten Akte zu. Wieder eine geschafft, dachte sie. Aber als ihr Blick auf den Stapel der noch uner­ledigten Mappen fiel, schlich sich Verzweiflung in ihr Gemüt. Viele Stunden ein­töniger Arbeit lagen noch vor ihr.

Jetzt geh ich erst mal essen, entschied sie. Entschlos­sen stand sie auf, schnappte sich ihren Rucksack, da klingel­te das Telefon. Nach einem kurzen Moment des Schwankens zwischen Hun­ger und Pflichtgefühl nahm sie ab. Kriminal­rat Haupt zitierte sie in sein Büro.

Als Karin das Büro ihres Chefs betrat, kam er wie immer hin­ter seinem Schreibtisch hervor und begrüßte sie freund­lich. Kriminalrat Haupt war eine beeindruckende Erschei­nung. Trotz seines Alters von fünfzig Jahren strahlte sein Körper eine gewaltige Kraft aus. Dies war vor allem auf seine Größe von einem Meter neunzig zurückzuführen. Dadurch wurde auch der nicht zu übersehende Bierbauch relativiert. Karin zog ihren Chef gern bei schwierigen Verhören hinzu. Haupt pflegte dabei still in einer Ecke zu stehen, ein bitterböses Gesicht aufzusetzen und ver­setzte so auch den verstocktesten Kriminellen in Panik.

Doch jetzt strahlte er Karin freundlich an und wies auf die bereits in seinem Büro sitzende Frau. »Darf ich vorstel­len, Frau Kriminaloberkommissarin Sandra König. Ich freue mich, dass ich Frau König für unsere Abteilung gewinnen konnte, bei ih­ren herausragenden Referenzen wird sie eine willkommene Verstärkung für unser Team sein.«

Karin nahm neben der jungen Frau Platz und reichte ihr die Hand. »Freut mich. Wo haben Sie bisher Dienst geschoben?«

»In der Betrugsabteilung, Schwerpunkt Internet­kriminalität.«

»Und jetzt zieht es Sie zum Morddezernat.« Karins Feststel­lung klang wie eine Frage.

Frau König zögerte kurz, bevor sie vage antwortet: »Ich hab keine Lust mehr, den ganzen Tag allein vor dem Computer zu ho­cken. Dadurch bekomme ich nur rechteckige Augen und ei­nen Buckel. Ich suche einen Neubeginn und will mehr unter Menschen.«

»Menschen …?« Karins Lachen klang bitter. »Ja, da werden Ihnen in Zukunft sicher ein paar ganz besonders feine Exem­plare über den Weg laufen. Auftragskiller, Psychopathen und kaputte Typen, die im Drogenrausch wahllos morden.«

»Karin malt wie üblich den Teufel an die Wand«, schaltete sich Haupt ein. »Sie dürfen sie nicht ganz so wörtlich nehmen. Karin, ich möchte, dass du deine neue Partnerin unter die Fit­tiche nimmst. Am besten du führst sie im Gebäude herum und machst sie mit den Örtlichkeiten vertraut.«

»Okay, da zeige ich meiner neuen Kollegin gleich, wo es hier was zu essen gibt. Ich bin nämlich am Verhungern.«

Mit diesen Worten erhob sie sich und bedeutete San­dra, ihr zu folgen. Auf dem Weg zur Kantine sagte Karin: »Wenn es dir recht ist, lassen wir dieses förmliche Sie weg, ich bin Ka­rin.«

Bevor Sandra antworten konnte, piepte Karins Handy.

»Oh Shit«, sagte sie nach dem kurzen Telefonat. »An einer Autowaschanlage wurde eine männliche Leiche ge­funden. Konnte der nicht wenigstens bis nach dem Essen warten! Aber so ist das hier immer. Willkommen bei der Mordkommis­sion.«

Sie verließen die Polizeidirektion auf der Schießgasse und fuhren in den Dresdener Osten, wo sich die betreffende Tank­stelle befand. Karin ließ Sandra fahren und nutzte die Zeit, um ihre neue Kollegin verstohlen zu mustern. San­dra war sehr schlank und größer als Karin. Obwohl Karin mir ihren ein Me­ter fünfundsechzig für eine Frau nicht klein war, hatte sie auf dem Weg zum Auto nach oben sehen müssen, um ihrer zehn Zentimeter größeren Part­nerin in die Augen zu blicken. Aller­dings, so fand Karin, lohnte dieser Anblick. Sandra hatte sehr schöne, große brau­ne Augen. Sie war überhaupt recht hübsch, daran konnte auch ihre etwas zu große Nase nichts ändern. Eben eine Schnüfflernase, passt zum Beruf, dachte Karin und grinste innerlich. Doch gleich wurde sie wieder ernst. »Was mir vor­hin über das Mordopfer raus­gerutscht ist, tut mir leid, normaler­weise spreche ich nicht so über die Opfer von Gewalt­taten. Ich war nur frustriert, weil wieder mal das Essen ausfällt. Der Tote kann ja nichts dafür, er hat sich sicher nicht mit Ab­sicht ermorden lassen.«

»Ist schon okay«, meinte Sandra. »Ich verstehe das. Wenn ich Hunger habe, werde ich auch unleidlich. Und bis auf Su­izidfälle gilt das mit der fehlenden Absicht für alle unsere Kunden.«

Als die beiden Beamtinnen die Tankstelle erreichten, war der Tatort bereits weiträumig abgesperrt und die Kollegen von der Spurensicherung hatten gerade mit der Arbeit be­gonnen.

Über der Tankstelle schwebte der charakteristische Ge­ruch nach Waschzusatz, der den früher vorherrschenden Benzinge­stank abgelöst hatte.

Karin lief schnurstracks zu einem Streifenpolizisten. »Hal­lo, Bernd. Warst du als Erster vor Ort?«

»Hm«, brummte Polizeiobermeister Stein. »Wir waren am nächsten dran und müssen nun den Laden schmeißen. Das Op­fer wurde von einem Rentner gefunden, für den ist das Ganze eine nette Abwechslung. Der Kollege nimmt gerade seine Aus­sage auf. Die Dame von der Kasse hat es nicht ganz so gut ver­kraftet. Als sie von dem Rentner herbeigerufen wurde, ist sie gleich weggetreten. Jetzt sitzt sie in der Tankstelle und wird versorgt. Komm, der Tote liegt neben seinem Auto.«

Noch bevor der Streifenpolizist den beiden Frauen das Op­fer zeigen konnte, fuhr mit tiefem Dröhnen eine Harley-David­son an die Waschstraße. Ein in schwarzes Leder ge­kleideter Mann kam zu der Gruppe. Sandra staunte nicht schlecht, als er seinen Motorradhelm abnahm. So einen jun­gen Mann hatte sie nicht unter dieser dunklen Kluft erwar­tet. Erst als sie ihn ge­nauer ansah, bemerkte sie die Lachfält­chen in den Augenwin­keln. Er hinterließ einen jüngeren Eindruck, als die dreißig Jah­re, die er ihrer Schätzung nach auf dem Buckel hatte.

»Das ist Dr. Bretschneider, unser zuständiger Gerichtsmedi­ziner und die junge Dame, die dich mit ihren Rehau­gen mus­tert, ist meine neue Partnerin, Oberkommissarin Sandra Kö­nig«, stellte Karin vor.

Dr. Bretschneider hielt sich nicht mit Formalitäten auf, nickte nur und begab sich sofort zu der Leiche. Nach einer kurzen Untersuchung meinte er: »Ungefähr seit einer Stun­de tot, län­ger auf keinen Fall. Der Todeskampf war kurz, sonst hätte er mit seinen Schuhen oder Händen Spuren im Staub hinterlas­sen. Das ist bei dieser Wunde nicht verwunderlich. Scheinbar hat jemand mit einem spit­zen Gegenstand sein Rückenmark durchtrennt, sein Licht wurde innerhalb von Sekunden ausge­knipst. ­Genaues kann ich erst nach der Untersuchung sagen, mein detaillier­ter Bericht liegt morgen Mittag vor.«

»Wieso erst mittags«, sagte Karin verwundert, »es ist gerade dreizehn Uhr.«

»Weil ich heute Abend eine Verabredung mit einer sehr hüb­schen Blondine habe und es hoffentlich sehr spät wird. Da schlafe ich morgen aus.«

Karin winkte ab. »Also dann eben morgen Mittag«, und rief dem davoneilenden Doktor noch schnell ein »Tschüss« hinter­her.

»Der ist aber süß«, meinte Sandra, »aber schon ver­geben und außerdem zu jung für mich.«

»Wenn du den willst, zieh ’ne Nummer. Der Doktor ist nicht vergeben, er sammelt Eroberungen. Und wieso zu jung? Ihr müsstet im selben Alter sein, er ist dreißig.«

»Hm. Rehaugen! Dreißig Jahre! Ich wusste, dass ich dich lie­ben würde. Leider ist mein dreißigster Geburtstag schon vier Jahre Geschichte.«

»Da hast du dich gut gehalten.«

»Das liegt daran, dass ich keine grauen Haare habe und mir keinen Bart stehen lasse.«

Karin lächelte kurz, während sie sich Latexhand­schuhe überzog. »Okay, zurück zur Tagesordnung. Ich schlage vor, du filzt den Golf und ich sehe mir das Opfer an.«

Diesen Teil ihres Jobs mochte Karin ganz und gar nicht, im­mer wenn sie einen toten Menschen durchsuchte, kam sie sich wie eine Leichenfledderin vor. Sie wusste, dass dieses Gefühl Quatsch war – die Arbeit war wichtig und musste getan wer­den – aber dennoch konnte sie es nie ganz abschüt­teln. Zu­nächst blieb sie neben der Leiche stehen und musterte sie. Das wenige Blut, das aus der Nackenwunde gesickert war, hatte sich mit dem Wasser vermischt, welches aus der Waschhalle kam. Von da war die hellrote Flüssigkeit in einem dünnen Rinnsal in die Schleuse geflossen. Mehr als der Doktor bereits gesagt hatte, konnte sie aus dieser Position nicht erkennen.

Karin ging in die Knie und inspizierte gründlich alle Taschen des Opfers. Gierig hatten die Kleidungsstücke die Feuchtigkeit aufgesogen. Ein Taschen­tuch, das er in seiner Hosentasche hat­te, ließ sie für die KTU dort stecken. Die Brieftasche und den Schlüsselbund nahm sie an sich. Als sie die Untersuchung der Kleider des Toten abgeschlossen hatte, setzte sie sich ohne Um­stände auf das Gras neben der Waschbox und studierte den In­halt der Brieftasche. Danach gönnte sie sich einen kurzen Mo­ment, um mit geschlossenen Augen ihr Gesicht von der Sonne be­scheinen zu lassen. Mit Mühe riss sie sich nach fünf Minuten von der angenehmen Wärme los und ging zu Sandra. Sie schau­te in das offene Beifahrerfenster des Golfs und be­merkte er­freut, dass Sandra bei der Arbeit Handschuhe trug. Bei einer weltfremden Computer­expertin konnte man nie wissen. Aber wenn es nötig gewesen wäre, die Arbeit ihrer neuen Partnerin zu beaufsichtigen, dann hätte Haupt ihr ein Zeichen gegeben. In dieser Beziehung war auf ihren Chef Verlass.

»Also, ich fange mal an«, meldete sich Karin zu Wort. »Es handelt sich um ei­nen Joachim Lehmann, geboren 1966. Ein Raubmord war es mit Sicherheit nicht, es sei denn, der Täter ist gestört wor­den. In der Brieftasche des Opfers befinden sich et­was über 230 Euro, Fahrerlaubnis und Visitenkarten. Sonst ent­hält sie allerdings nichts. Was ich komisch finde, denn wenn ich an mein Portemonnaie denke, da hat sich doch ganz schön was angesammelt. Zudem habe ich noch ein Taschentuch und einen Schlüsselbund gefunden. Gleich, wenn wir hier fertig sind, fah­ren wir zu der Adresse, die auf den Visitenkarten steht, und probieren die Schlüssel.«

Sandra, die ebenfalls die Untersuchung abgeschlossen hatte, krabbelte vom Fußraum vor den Rücksitzen hoch, schnaufte und fasste ihre ­Untersuchungsergebnisse zusam­men. »Der Wagenin­halt ist total unpersönlich, wie bei einer Leihkarosse. Im Koffer­raum und den Tür­fächern ist nur das Nötigste: Warndreieck, Scheibenkratzer, Verbandskasten. Alle Sachen sehen neu und un­benutzt aus. Der einzige Gegenstand, der so gar nicht da­zu passt, ist diese Pistole, eine Sig Sauer, neun Millimeter. Wenn er die zur Selbstverteidigung hatte, war der Nutzen sehr be­grenzt.«

Karin pfiff leise, dann drehte sie eine Runde um den Golf, wobei sie ihn kri­tisch musterte. »Ist dir der Widerspruch zwi­schen der Klei­dung des Opfers und seinem Auto aufgefallen?« Sie unterbrach sich, um ihre Frage gleich selbst zu beantwor­ten: »Seine Schuhe sind Marke Allen Edmonds, die Lederjacke sieht ebenfalls sauteuer aus, von der Longines am Handgelenk ganz zu schweigen. Und die Sig Sauer bekommt man nicht mal eben so beim Pfennigfuchser. Doch die Karre hier ist ein Fall für die Abwrackprämie, überall Roststellen und ich schätze mindes­tens fünfzehn Jahre alt.«

Sandra nickte zustimmend. »Irgendwas ist faul an unserem Opfer, darauf deutet eindeutig der Besitz der Kanone hin. Ich will auf der Stelle aussehen wie vierund­drei­ßig, wenn der ei­nen Waffenschein hatte.«

»Okay, reden wir mit den Zeugen.« Karins Finger zuckte in Richtung Tankstelle. »Am bes­ten, wir beginnen mit dem Rent­ner, der den Toten entdeckt hat.«

Viel wusste der leider nicht. Im Krieg sei er gewesen, des­halb hätte ihn der Anblick nicht aus dem Gleich­gewicht gewor­fen. Er wollte das schöne Wetter nutzen, um das Auto zu wa­schen. Der Golf stand vor der Einfahrt zur Waschbox, als er kam. Ungefähr zwanzig Minuten hatte er gewartet, bis er nach­sehen ging und dann entdeckte er die Bescherung. Er besitze kein Handy, deshalb sei er in den Verkaufsraum gegangen und habe von dort die ­Polizei gerufen. Die Verkäuferin sei gleich nach­schauen gegangen, aber nicht zurückgekehrt. Er fand sie neben dem Auto, liegend.

Karin vergewisserte sich, dass seine Persona­lien erfasst wa­ren, dann betrat sie den Verkaufs­raum. In einem der hinteren Räume saß die Verkäuferin, kalk­weiß im Gesicht, und versuch­te, mit zitternden Händen Was­ser zu trinken. Hier war die Aus­beute an Informa­tionen ebenfalls sehr mager. Sie konnte sich an keinen einzelnen Kun­den erin­nern, da heute sehr viel Be­trieb herrschte.

Nachdem Karin sich zwei Sandwiches gekauft hatte, ging sie zusammen mit Sandra zum Dienstwagen. »Das war nicht gera­de üppig. Wäre auch zu schön gewesen. Wenn ich gegessen habe, fahren wir los. Du hast wohl keinen Hunger?«

Sandra schüttelte den Kopf. »Ich habe spät und reichlich ge­frühstückt und nach dem Stillleben hier verspüre ich ehrlich gesagt nicht so den großen Appetit.«

»Kann ich verstehen. Appetit hab ich auch keinen, aber wenn ich jetzt nichts esse, fall ich um. Was mich aber inter­essieren würde, du hast den Anblick hier sehr gut verkraf­tet, wie kommt das? An deinem Computer-Arbeitsplatz konntest du dich an solche Anblicke doch nicht gewöh­nen.«

Sandras freundliches Gesicht wurde traurig. »Ich habe schon Schlimmeres gesehen. Leider. Manche Opfer von In­ternetbetrug haben enorme Summen, oft sogar die Existenz­grundlage verlo­ren. Ich war an Schauplätzen, wo Menschen sich selbst getötet haben. An Eisenbahngleisen, wo die Einzelteile der Toten über eine lange Strecke verteilt waren, und ich stand an Badewannen mit von Blut rot gefärbtem Wasser, wenn Betrogene ihre Adern geöffnet hatten.«

Die Erinnerungen nahmen Sandra mit. Ihre Stimme wurde rauer, als sie weitersprach. »Der für mich ­persön­lichste Fall ist der einer Sechzehnjährigen. Das Mädchen stammt aus einer Hartz-IV-Familie. Sie ist sehr intelligent und ihr sehnlichster Wunsch war ein Notebook. Also jobbte sie als Zeitungsausträ­gerin, um sich das Geld dafür zu beschaffen. Dann ersteigerte sie im Internet so ein Teil. Das Notebook bekam sie nie. Der Betrüger besaß sogar die Frechheit, seine Opfer anzurufen und sie wegen ihrer Leichtgläubigkeit zu verhöh­nen. Er rief auch das Mädchen an. Sie war sowieso schon am Boden und dieser unverschämte Kerl gab ihr noch den letzten Stoß. Ich ermittelte in diesem Fall und nach einem Anruf bei der Kleinen überkam mich ein komisches Ge­fühl, so fuhr ich noch bei ihr vorbei. Ich wusste, dass sie al­lein zu Hause war. Sie öffnete nicht, also ver­schaffte ich mir gewaltsam Zutritt. Ich kam in letzter Minute, um das Schlimmste zu verhindern.«

Während Sandra schwieg und ihren Gedanken nachhing, überlegte Karin, ob es Sandra wohl stören könnte, dass sie wäh­rend dieser schwermütigen Erzählung aß. Aber Karin hatte Hunger und dieses Gefühl besiegte ihre Höflichkeit. Und ob­wohl sie die Reaktion ihrer neuen Partnerin nicht einschätzen konnte, mampfte sie wacker weiter.

Sandra schien sich nicht an Karins Mahlzeit zu sto­ßen und fuhr mit leiser Stimme fort: »Ich besorgte ihr später eine Stelle bei einem Computerhersteller, wo sie nebenbei jobbt und sich zum Großhandelspreis nun einen Superrechner selbst zusam­mengebaut hat. Den Täter konnten wir dingfest machen, aber seine Strafe ist, gemessen an dem angerichteten moralischen Schaden, lächerlich.«

Sandra machte eine Pause und sah eine Weile nachdenk­lich zum Autofenster hinaus, dann gab sie sich einen Ruck. »Du hast mich vorhin in der Polizeidirektion ge­fragt, weshalb ich zur Mordkommission wechseln will. Den Hauptgrund hab ich dir verschwiegen. Ich bin es ein­fach leid, machtlos zuzusehen, wie Betrugstäter sich dem Zugriff entziehen, weil sie unerkannt im Ausland sitzen, oder wenn wir sie schon kriegen, sie mit läp­pischen Strafen davonkommen.«

Nach Sandras Worten breitete sich Schweigen aus.

Wie gut, dass ich gerade esse, dachte Karin, als die Stille drü­ckend wurde. Mit vollem Mund soll man ja nicht reden. Sie war heilfroh, dass sie sich nicht äußern musste. Ihre Ge­fühle zu dem eben Gehörten waren zwiespältig. Zum einen war sie froh, eine so warmherzige und mitfühlende Kollegin zu bekommen. Doch zum anderen wusste sie, dass man in diesem Job, in wel­chem man so oft mit Grausamkeit und widerlichem Verhalten konfrontiert wird, die Dinge nicht so nah an sich heranlassen darf. Es konnte sonst leicht passieren, dass man zerbrach. Ihr selbst gelang es auch nicht immer, den erforder­lichen emotio­nalen Abstand zu wahren. Sie würde ein wach­sames Auge auf Sandra haben müssen.

Doch jetzt rief wieder die Arbeit, sie strich ihrer Kolle­gin kurz über den Arm, sprang aus dem Wagen, entsorgte ihren Abfall und ließ ihre Blicke prüfend über die Gegend schweifen. Dabei stellte sie fest, dass von den Wohnblöcken gegenüber die Tankstelle gut eingesehen werden konnte. Karin rief ihren Chef an, schilderte die vorgefundene Lage, gab die relevanten Daten zum Opfer durch, informierte ihn über die weiteren Schritte, die sie zu unternehmen gedachte, und bat ihn, ein paar Kolle­gen zum Klinkenputzen zu schi­cken. Danach klärte sie mit Po­lizeiobermeister Stein dessen weiteres Vorgehen am Tatort ab.

»So«, sagte Karin zu Sandra. »Alles erledigt. Am bes­ten ist es, wenn ich fahre. Hier kenne ich mich gut aus, ich wohne gleich um die Ecke. Bist du eigentlich aus Dres­den, im Revier bist du mir noch nie aufgefallen?«

Sandra schüttelte den Kopf. »Ich stamme aus Leipzig. Vor vier Wochen bin ich zu meinem Freund gezogen, er hat ein Haus in Klotzsche. In Dresden war ich zuvor nur einmal zu einem Lehrgang.«

Während Sandra sprach, klammerte sie sich an den Halte­griff über der Tür. Karin fuhr wie immer schwungvoll um die Kurven. Die vorgegebene Geschwindigkeitsbegrenzung war für sie nur ein grober Richtwert.

Bis zu der auf den Visitenkarten gedruckten Adresse war es nicht weit. Sie parkten im Stadtteil Strehlen vor Platten­bauten.

Die meisten Fenster starrten verlassen auf sie herun­ter und die Fassaden der grauen Wohnblöcke vermittelten ei­nen trau­rigen Eindruck. Die beiden Kriminalis­tinnen lie­fen ein kurzes Stück durch einen menschenleeren Innen­hof. Sie störten eine Krähe auf, die vom letzten Winter übrig geblieben schien. Krächzend erhob sich der schwarze Vogel und flog mit mattem Flügelschlag davon. Auf dem Spielplatz, an dem sie vorbeika­men, hatte schon lange kein Kind mehr bei seinem Zeitvertreib Freude gefunden. Im Sandkasten wucherte das Unkraut fast einen Meter hoch. Die einzigen Nutzer des Spielplatzes waren zwei Elstern, die sich um ein Stück Abfall balgten.

»Das sieht ja aus, als wohnten Gottes vergessene Kinder hier.« Sandra überlief es kalt, während sie sich umschaute.

Karin nickte düster. »Die Stadt ist im Abrisswahn. Diese Wohnblöcke sollen alle verschwinden. Irgendwann werden Wohnungen fehlen und dann wird das Geschrei groß sein. Aber eins ist sicher, Schuld hat dann keiner.«

»Wie eine Geisterstadt. Leben möchte ich hier nicht.«

Karin verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Ich könnte mir schon vorstellen, dass das Leben in so einem leeren Block einen gewissen Reiz bietet. Keiner, der lärmt, und ein klei­ner Gruselschauer ist manchmal ganz nett.« Sie sagte dies nicht im Scherz, eher nach­denklich und ein wenig melancholisch.

Sandra schielte prüfend zu ihrer Chefin. Die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete Frau wirkte schon ein wenig traurig auf sie. Was mag sie wohl für Gründe haben, dass sie Einsam­keit reizvoll findet? Als sie zwei Türme in der Ferne er­blickte, fragte sie Karin danach, teils aus Interesse, aber auch weil sie ihre Partnerin aus der Düsternis ihrer Gedanken ho­len wollte.

»Die Christuskirche von Strehlen«, gab Karin knapp Aus­kunft. Sie blieb vor einem schäbigen Hauseingang stehen, des­sen Nummernschild in Scherben lag. »Laut Reihenfolge der Hausnummern sind wir am Ziel.«

Das Haus zu betreten war kein Problem. Die Haustür, die statt Glasscheiben Pappen in den Rahmen hatte, stand weit of­fen. Im zweiten Stock stand der Name Lehmann auf einem Papierzettel, welcher an die Tür geklebt war. Karin klingelte mehrmals ohne Erfolg. Nach einer Warte­zeit, die es einem eventuellen Bewohner ermöglicht hätte, ihnen die Tür zu öff­nen, probierte sie die Schlüssel, die sich am Bund des Opfers befanden. Nummer zwei passte.

Die Wohnungseinrichtung war mehr als spartanisch. Nur das Nötigste bot sich den Blicken der beiden Frauen: ein unge­machtes Bett, ein Fernseher mit einem abgewetzten Sessel da­vor, ein Tisch mit zugehörigem Stuhl, eine Küchenecke und im Flur ein großer Schrank. Jegliche Art von Raumschmuck fehlte. Vor den verschlossenen Fenstern verwehrten Rollos jeden Blick nach draußen oder drinnen. Verbrauchte Luft hing wie der modrige Hauch von Angst und Verzweiflung in den Räumen.

»Puh«, sagte Sandra. »Hier drin müffelts nach Männer­schweiß und Langeweile.«

»Aber dafür hat sich unser Kunde richtig gemütlich einge­richtet.« Karin grinste sarkastisch und versuchte nur durch den Mund zu atmen.

Beide zogen sich wieder Handschuhe über und durchsuch­ten die Woh­nung. Karin ging in den Flur und inspizierte den Schrank. Ein sehr solide wirkendes Schloss verwehrte ihr den Zu­gang. Sie probierte die Schlüssel vom Bund und fluchte, als keiner passte. »Ich möchte zu gern wissen, warum ein Flur­schrank derart gesichert ist«, sagte sie zu sich selbst. Danach inspizierte sie sämtliche Ecken, ob irgendwo noch ein Schlüssel hing. Doch ihre Suche blieb ergebnislos.

»Rufen wir den Schlüsseldienst?«, fragte Sandra, die mit ih­rer Runde fertig war.

»Das fällt aber aus«, meinte Karin und kramte in ihrem Rucksack. Nach einer Weile förderte sie eine Büroklam­mer ans Tageslicht und öffnete das Schloss innerhalb einer Minute. »Ge­nau das wär es wieder! Zwei Frauen, die ein einfaches Schloss nicht aufkriegen. Aber nicht mit uns.« Stolz grinsend öffnete sie die Türen. Aus dem Schrank drang der Geruch von frischer Wä­sche und teurem Herrenparfüm in ihre Nasen. Auf Bügeln auf­gereiht hingen mehrere teure Anzüge und Jacken. Ordent­lich gestapelte Hemden und Unterwäsche lagen in den Schubfä­chern. Im untersten Fach standen mindestens ein Dutzend frisch geputzte Paar teure Lederschuhe. Karin schloss den Schrank wieder, musterte ihn von außen, öffnete ihn erneut, schob dann die Anzüge beiseite und betrachtete die Rück­wand.

»Wie ich es mir gedacht habe«, murmelte sie, holte ein Klapp­messer aus dem Rucksack und hebelte ein Brett der Rückwand ab.

Sandra schaute Karin grinsend über die Schulter. »Bist du Polizistin oder Handwerkerin? Eine Schlagbohrmaschine hast du nicht auch zufällig in deinem Rucksack?«

»Du hast wohl kein Messer einstecken?« Karin klang fas­sungslos. »Womit willst du dir denn einen Apfel schälen?«

»Das, was du da in deiner Hand hältst, ist kein Schälmes­ser, das ist ein Kurzschwert. Und ich schäle meine Äpfel nicht. In der Schale befinden sich die meisten Vitamine, weißt du.«

»Ja, ja«, brummte Karin. Dann wurde sie lebhaft. »Na, was haben wir denn da?«, sagte sie erfreut und zog einen schwar­zen Koffer hinter der Rückwand des Schrankes her­vor. Der Koffer war verschlossen, aber Karin brachte wieder ihre Büro­klammer zum Einsatz. Die Schlösser schnappten auf, und als Karin den Deckel hob, zogen die beiden Kom­missarinnen scharf die Luft ein. Der Aktenkoffer war bis zum Rand mit Geldscheinen gefüllt.

»Von einer erfolgreichen Schatzsuche habe ich schon als Kind geträumt«, staunte Karin. »Schau dir das an. Alles 500-Euro-No­ten. Das reicht für einen besinnlichen Lebensabend.«

»Du hast ein Glück«, nörgelte Sandra. »Findest einen Schatz und im Rest der Wohnung, den natürlich ich durch­suchen durfte, sind nur Lebens­mittelvorräte und Wollmäuse.«

»Ja, der Herr gibt’s den Seinen. Dieser Schrank ist sowie­so die Oase der Behausung. Riech mal, der Duft der großen weiten Welt weht darin. Und sieh dir die Schuh­sammlung an! Der Typ hatte mehr Latschen als ich. Und da heißt es immer, Frauen seien schuhgeil.«

»Auf stilvolle Bekleidung und Körperpflege hat er Wert ge­legt. Im Bad steht nur teure Kosmetik«, stimmte Sandra zu. »Ich schlage vor, wir schauen, ob in der einzig noch bezogenen Wohnung jemand da ist.«

Karin war einverstanden, rief Kriminalrat Haupt an und bat ihn, die Kollegen der KTU vorbeizuschi­cken. Dann griffen sie sich den Geldkoffer, versiegelten die Tür, stiegen eine Treppe tiefer und klingelten bei Arnold.

Sie hatten Glück. Eine ältere Dame öffnete die durch eine Kette gesicherte Tür und erklärte durch den Spalt, dass sie nichts kaufen würde. Bevor sie ihnen die Tür vor der Nase zu­schlagen konnte, stellte Karin sich schnell vor. »Guten Tag, Frau Arnold. Ich bin Hauptkommissarin Wolf und das ist mei­ne Kollegin Oberkom­missarin König. Wir sind von der Kripo und würden Ihnen gern ein paar Fragen über Herrn Leh­mann stellen. Dürfen wir reinkommen?« Zur Bestätigung hielt Karin der alten Dame ih­ren Ausweis vor die Nase.

Frau Arnold taute sofort auf. Freundlich bat sie die Polizis­tinnen herein und führte sie ins Wohnzimmer. Vor der obliga­torischen Schrankwand nahmen sie in Sesseln Platz, die auf je­den Fall beide Weltkriege miterlebt hatten.

Die Dame wirkte gepflegt und die große Anzahl Bücher, die in der Schrankwand stand, zeugten von ihrer Belesenheit. Auch jetzt war sie gerade in ihre Lektüre ver­tieft gewesen; ein aufgeschlagenes Buch lag auf dem Couchtisch. Sie schien den Besuch nicht als Störung zu empfinden und fragte neugierig: »Hat Herr Lehmann etwas ausgefres­sen?«

»Herr Lehmann ist Opfer eines Verbrechens geworden. Kannten Sie ihn gut?« Karin war wie immer direkt und kam sofort auf den Punkt.

»Oh Gott, wie furchtbar. Hier im Haus?«, japste Frau Ar­nold erschrocken.

»Nein, Sie können ganz beruhigt sein, es ist nicht im Haus passiert und hier droht keine Gefahr.«

Die alte Dame wurde nach dieser Antwort sichtlich ru­higer. »Es ist furchtbar, was heutzutage alles passiert. Der arme Mann. Wissen Sie schon, wer es getan hat?«

»Nein, wir ermitteln noch. Können Sie uns etwas zu Herrn Lehmann sagen?«, wiederholte Karin ihre Frage.

»Jetzt brauche ich einen Kräuterlikör auf den Schreck. Darf ich Ihnen auch einen anbieten?

»Nein, danke. Wir sind im Dienst. Um auf meine Fra­ge …« Doch da war Frau Arnold schon in der Küche ver­schwunden und die beiden Beamtinnen hörten Geschirr klappern.

Sandra sah Karin an und zuckte mit den Schultern. Da kann man nichts machen, da müssen wir durch, sagte ihr Blick.

Karin seufzte resigniert und wollte sich im Polstersessel zu­rücklehnen, aber der knarrte so verdächtig, dass sie blitzar­tig von ihrem Vorhaben abließ und sich ganz vorsichtig auf der vorderen Kante ausbalancierte.

Wider Erwarten kehrte Frau Arnold schon nach kurzer Zeit mit einem Tablett mit Kaffee und Keksen und einem Kräuter­likör für sich zurück. Karin, die keinen Kaffee mochte, nahm einen Anstands­schluck und stellte ihre Frage zum dritten Mal.

Nachdem sich Frau Arnold mit Kaffee und Alkohol ge­stärkt hatte, schüttete sie alle Informationen, die sie über ihren Nach­barn besaß, fast ohne Atem zu holen über den beiden Kommis­sarinnen aus.

»Herr Lehmann ist am 7. Oktober vorigen Jahres ein­gezogen, das habe ich mir deshalb so genau gemerkt, weil es am ehema­ligen Republikgeburtstag war. So was blei­bt eben hängen.« Ihr verlegenes Kichern klang wie das Tschilpen eines Spatzen. »Ge­grüßt hat er immer, war aber ziemlich kurz angebunden. Be­such hat er nie bekommen und er ist auch nicht arbeiten gegan­gen. Eigentlich war er ständig zu Hause. Ich habe gesehen, dass er jeden Morgen, bevor es hell wur­de, durch das Viertel gejoggt ist, immer früh am Morgen«, wiederholte sie bekräftigend. »Ich habe mich oft gefragt, warum er so zeitig aufsteht, wenn er doch nicht zur Arbeit muss. Einkaufen fuhr er mit seinem schwarzen Auto, immer dienstagvormittags, alle zwei Wo­chen. Das habe ich nur zufällig mitbekommen. Gehört habe ich nie etwas von ihm, obwohl er doch über mir wohnte.«

Während der Ausführungen von Frau Arnold war Sandras Appetit mit Macht zurückgekehrt. Sie be­diente sich ungeniert bei den Keksen.

»Das freut mich aber, dass Ihnen meine Plätzchen so schme­cken, ich habe sie selbst gebacken«, verkündete Frau Arnold stolz.

Sandra hatte stillvergnügt schon fast das ganze Tablett abge­räumt. Bis auf zwei Verlegenheitskekse hatte sie alle verputzt.

»Ich hole schnell neue«, sagte Frau Arnold und verschwand in Richtung Küche.

Nachdem sie ein frisch bestücktes Tablett genau vor San­dra gestellt hatte, fuhr sie fort: »Im ehemaligen Waschkeller hat er sich irgendwelche Geräte hingestellt und seinen eigenen Keller voll Getränke und Konserven geräumt. Er hat nicht mal gefragt, ob ich den Waschkeller ebenfalls benutzen möchte. Wollen Sie den Keller se­hen?«

Karin und Sandra stürzten ihren Kaffee hinter und verließen gemeinsam mit Frau Arnold die Wohnung.

Der Kellerraum bot den gleichen Anblick, wie ihn Karin von ihrem Wohnblock gewohnt war, mit dem einen Unterschied, dass bis auf zwei Verschläge alle Kellerboxen leer standen. Ir­gendwie dokumentierten die leeren Keller­abteile, die in ihrer toten Einsamkeit an Grüfte erinnerten, noch mehr als die Haus­fassade mit den unbelebten Fens­tern, das langsame Sterben des Wohnblockes.

Frau Arnold blieb vor einem verschlossenen Verschlag ste­hen. »Hier ist der Keller von Herrn Lehmann.«

Das Kellerabteil war durch die Lattentür gut einsehbar. Dies­mal schenkte Karin es sich, das Schloss zu knacken. Wie Frau Arnold bereits berichtet hatte, lagerten nur jede Menge Lebens­mittelvorräte darin.

Anschließend führte die Rentnerin die beiden Frauen zum Waschkeller des Hauses. In diesem standen eine Hantelbank und eine große Anzahl zugehöriger Gewichte.

Die Kommissa­rinnen hatten genug gesehen. Sie versiegelten die von Herrn Lehmann genutzten Keller und be­dankten sich bei Frau Arnold für die Auskünfte und die Bewirtung.

»Eigentlich ist das Wetter viel zu schön, um die Zeit in Woh­nungen und Kellern zu vertrödeln«, sagte Sandra, als sie das Haus verließen und die Augen wegen der hellen Sonne zusam­menkniffen.

Karin grinste anzüglich. »Na die Zeit, die du mit den Keksen verbracht hast, schien dir recht gut zu gefallen.«

»Ja, die waren echt lecker.«

Karin drückte ihren Rücken durch, legte eine Hand auf den Bauch und stieß leise auf. »Ich vertrage keinen Kaffee, davon bekomme ich Sodbrennen. Immer bieten mir alle möglichen Leute Kaffee an, schrecklich. Hier gibt’s nichts mehr für uns zu tun, fahren wir zurück zur Polizei­direktion.«

Gerade als sie die Autotüren öffneten, bog das Fahrzeug der KTU um die Ecke. Karin wies die Kollegen noch auf die zwei Kellerräume hin und dann fuhren sie los.

Der erste Gang, als sie ankamen, führte sie zu ihrem Chef. Karin stürmte in sein Büro und knallte schwungvoll den Geld­koffer des Mordopfers auf Haupts Schreibtisch. »Das ist der Sparstrumpf des Toten.«

Kriminalrat Haupt fuhr erschrocken hoch. Vertieft in die Lektüre eines Berichts, hatte er nicht mit so einem Überfall ge­rechnet. Doch er kannte die for­sche Art seiner besten Ermittle­rin und hatte gelernt, damit zu leben. »Am besten die Damen nehmen erst mal Platz und berichten der Reihe nach.«

Karin nickte Sandra zu und die begann: »Der Ermordete hieß Joachim Lehmann und war dreiundvierzig Jahre alt. Unse­re ersten Untersuchungen am Tatort und in der Woh­nung des Opfers sowie Informationen durch eine Hausbe­wohnerin zeichnen ein eindeutiges Bild. Das Opfer lebte wie auf dem Sprung, seine Wohnsituation und sein Auto zeigen, dass er nicht plante, seinen Aufenthalt lange auszudehnen. Wir haben den Eindruck, dass er sich versteckt hielt. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in diesem Koffer. Die geladene Waffe, die er bei sich führte, ist ein deutlicher Hinweis auf kriminelle Verbin­dungen.«

Nach Sandras Ausführungen öffnete Haupt den Koffer, den er bis jetzt verschlossen gelassen hatte, um unvoreinge­nommen den Bericht aufnehmen zu können.

Haupts Augen weiteten sich. »Dass die Leute nach dem Ban­kenfiasko vorsichtig mit ihren Geldan­lagen sind, ist verständ­lich, aber so eine Summe im trauten Heim aufzubewahren, ist ungewöhnlich.« Er gönnte sich eine Pause und blickte Karin und Sandra vielsagend an. »Ich habe auch eine Information zu diesem Fall. Name und Führerscheinnummer des Mord­opfers wurden überprüft. Der Führer­schein ist eine Fälschung, eine sehr gute sogar. Aber es gibt keine Referenznummer bei der Zulassungsstelle. Und ein Joachim Lehmann mit dem angege­benen Ge­burtsdatum existiert ebenfalls nicht.«

2. Kapitel

Nach dem Gespräch bei Kriminalrat Haupt nahm sich Karin trotz der anstehenden Ermittlungen die Zeit, Sandra im Gebäu­de herumzuführen und sie den Kollegen der einzelnen Abtei­­lungen vorzustellen.

Sie beendete den Rundgang vor einer Bürotür. »Als letzten Halt auf unserer Tour präsentiere ich dir dein Büro, welches du dir allerdings mit mir teilen musst.«

Schwungvoll öffnete Karin die Tür und ließ Sandra eintre­ten. Die drehte eine Runde, lief zum Fenster und schaute hi­naus. Gegenüber erblickte sie das Albertinum, und als sie ihren Blick nach links wandte, sah sie den gewaltigen Bau der Frau­enkirche.

»Schön«, sagte sie und seufzte zufrieden. »Hier lässt sich’s leben. Mein altes Büro war kaum größer als eine Mönchszelle und hatte nicht mal ein Fenster und hier gibt’s die Su­peraussicht gratis dazu.«

»Freut mich, dass es dir gefällt, aber was anderes hättest du auch nicht gekriegt«, sagte Karin und grinste breit. »Auf dem leeren Schreib­tisch hier kannst du dich ausbreiten. Computer hast du noch keinen, der Chef küm­mert sich darum, dass du so schnell wie möglich ein superschnelles Gerät bekommst. Wäre auch Verschwendung, einen PC-Freak in der Abteilung zu ha­ben und ihm nicht die ent­sprechende Hardware zur Verfügung zu stellen. Mein bis­heriger Partner ist in Pension gegangen und sein Computer ebenfalls. Bis du deinen Rechner bekommst, kannst du meinen mit nutzen. Er ist nicht gerade ein Porsche unter den Rechnern, aber Internetzugang hat er. Ich schlage vor, du versuchst herauszubekom­men, ob unser Kunde in der Fingerabdruckdatei auftaucht, vielleicht haben wir Glück. Ich koche uns in der Zeit Tee. Magst du welchen oder ist dir Kaffee lieber?«

»Ich trinke beides gern. Wenn du Tee kochst, trinke ich wel­chen mit.«

Sandra loggte sich ins Automatisierte Fingerabdruck­identifi­zierungssystem des Bundeskriminalamtes, kurz AFIS genannt, ein und recherchierte, ob der gescannte Fin­gerabdruck in der Datenbank auftauchte. Die Suche dauerte nicht lange, gerade als Karin zwei große Tassen mit schwarzem Tee und ein Känn­chen Sahne auf den Schreib­tisch stellte, wurde Sandra fündig. »Wir haben Glück. Unser Unbekannter ist erfasst. Er hieß Jo­achim Haase. Der Vorna­me und das Geburtsdatum stimmen mit seinem Alias überein. Eigenartig, dass er nur einen falschen Nachnamen verwendet hat.«

»So ungewöhnlich ist das nicht, da musste er sich weni­ger merken und die Gefahr sich zu verquatschen sinkt er­heblich.«

»Haase hat ’ne ganze Menge auf dem Kerbholz. Da wären: Mehrere Geldbußen wegen über­höhter Geschwindigkeit … aber andere fahren auch wie ein Henker«, sagte Sandra und schaute Karin mit unschuldiger Miene an.

Die tat, als würde sie es nicht bemerken.

»Nun wird es schon deftiger«, fuhr Sandra laut vorlesend mit dem Studium der Akte fort. »Eine Anzeige der Ehefrau we­gen häuslicher Gewalt, die wurde allerdings zurückge­zogen und eine Anzeige wegen Vergewaltigung, hier wurde er freige­sprochen. Und zum Schluss diverse Steuervergehen, aber nach­weisen konnte man ihm nie etwas. Er war schein­bar ein raffi­nierter Fuchs, hat immer den Kopf aus der Schlinge gezogen.«

Sandra lehnte sich zurück und kostete von dem Tee. Auch Karin war ganz in ihre Tasse vertieft. »Der tut gut«, sagte Sandra nach einiger Zeit, in der sich die bei­den Frauen schweigend und genießend dem Tee gewidmet hatten. »Wenn du deinen PC jetzt nicht brauchst, würde ich auf die Suche gehen, ob ich noch mehr über unseren Herrn Haase herauskitzeln kann.«

»Okay. Ich gehe währenddessen der Steuerfahndung einen Besuch abstatten, die haben auf jeden Fall Unterlagen über ihn. Anschließend komm ich wieder her und wir besprechen unser weiteres Vorgehen. Ach ja, in der Dose dort sind Kekse, falls du zum Tee etwas knabbern möchtest.« Dabei zeigte Karin auf eine blaue, mit Motiven aus der Naivmalerei bedruckte Blech­dose.

Als sich die Tür hinter Karin geschlossen hatte, musste Sandra erst einmal innehalten. So einen stürmischen ersten Tag hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausge­malt. Sie lächelte, als sie an ihr Gespräch mit ihrem Freund Uwe wäh­rend des Frühstücks zurückdachte. Zum Abschied hatte er ihr empfohlen, sich nicht stressen zu lassen. Sie hatte sinngemäß geantwortet, dass am ersten Tag noch nicht viel passiert, dass sie maximal einem Fall zugeord­net würde, und sie sich erst in die Akten einlesen muss. Wie man sich doch irren kann! Nach diesen Gedanken ging sie zur Toilette, um sich frisch zu ma­chen. Zurück im Büro, öffnete sie das Fenster weit und schaute hinaus. Die Sonne strahlte mit einer Intensität vom Himmel, als wollte sie sich für ihr Versteckspiel während der letzten Wo­chen entschuldigen. Nach dem endlos langen Winter kündigte der Frühling sein Erscheinen an.

Sandra wurde schwer ums Herz. Statt einen Spaziergang durch ihre neue Heimat zu unternehmen und den Vögeln zu lau­schen, die sich nach der langen Pause der grauen Jahreszeit viel zu erzählen hatten, war sie in ein Büro verbannt. Vierzehn Tage Urlaub hatten ausgereicht, um ihr das Faulenzen schmack­haft zu machen.

Sie atmete noch einmal tief durch, riss sich vom Fenster und damit vom warmen Atem des Frühlings los und ging zurück zum kalten Licht des Monitors. Vorher gönnte sie sich noch ei­nen Blick auf Karins Pflanzen. Die vorherrschende Art waren Sukkulen­ten. Passt zu Karin, dachte sie. Schönheit vom Stachel­panzer umhüllt.

Mit einem Seufzer setzte sie sich wieder vor den Bild­schirm. Sie hatte kein schlechtes Gewissen wegen der halb­stündigen Auszeit, die sie sich gegönnt hatte. Ihr Kopf war wieder frei und sie stürzte sich mit Elan in die Recherche. Wenn Sandra mithilfe des Computers ermittelte, vergaß sie Raum und Zeit. Sie unterbrach ihre Arbeit nur kurz, um ein Telefonat zu führen und die Keksdose zu öffnen, die sie in bequeme Reichweite stellte.

Als nach Stunden das Telefon klingelte, schreckte sie hoch und stellte fest, dass es inzwischen dunkel geworden war. Wie üblich hatte sie die Zeit beim Arbeiten vergessen. Karin rief an und teilte ihr mit, dass sie nicht extra ins Büro zurückkomme und fragte, ob Sandra noch etwas herausbekommen hatte.

»Wir haben morgen, neun Uhr einen Termin bei Frau Adler, das ist die Ex des Opfers. Sie wohnt in Dresden-Plauen. Ist dir das recht?«

»Völlig okay. Wo wollen wir uns treffen? Und in wel­cher Ecke wohnst du eigentlich?«

»In Klotzsche. Da ist es vielleicht am günstigsten, wenn wir uns im Büro tref­fen.«

»Einverstanden. Mach nicht mehr so lange und einen schö­nen Abend noch. Tschüss.«

Mit ihrer Suche in den einschlägigen Datenbanken war Sandra fertig und in Anbetracht der späten Stunde packte sie schnell zusammen. Da fiel ihr Blick in das Innere der geöffneten Keksdose. Von den Keksen war kein Krümel mehr vorhanden. Sie hatte, ganz in die Ar­beit versunken, alle aufgefuttert. Das würde sie Karin morgen schonend beibringen müssen.

Wie immer war es schwer gewesen, in der Neustadt einen Park­platz zu finden. In einer engen Seitenstraße stellte Karin nach längerem Rundendrehen ihren Fiesta ab. Bevor sie den Wagen verließ, steckte sie sich ihre Pistole in den Hosen­bund. Da sie eine legere Jacke trug, würde nie­mand die Waffe bemerken. Karin vermied es, ihre Heckler & Koch einzusetzen. In ihrer ge­samten Dienstlaufbahn war sie noch nie gezwungen gewesen, auf einen Menschen zu schießen. Darüber war sie sehr dank­bar. Bisher hatte sie die Waffe nur zur Einschüchterung von sehr verstockten Straftätern angewandt. Aber dort, wo sie jetzt hin­wollte, die Pistole nicht griffbereit zu haben, das wäre Leichtsinn, wenn nicht gar selbstmörderisch gewesen. Wenn Haupt morgen von ihrem jetzigen Himmelfahrtskomman­do Wind bekäme, stand sowieso Ärger ins Haus.

Bei der Steuerfahndung hatte sie sich mit dem beruflichen Werdegang von Joachim Haase vertraut gemacht. Nach der Wende fing der studierte Ökonom in einem Steuerbüro an und Anfang 2000 wagte er den Sprung in die Selbstständig­keit. Zu Beginn arbeitete er scheinbar noch redlich. Später fand er he­raus, dass mit krummen Geschäften mehr zu verdienen war, und verschrieb sich dem einträglichen Geschäft der Geldwä­sche. Er rutschte immer tiefer in den Sumpf der Illegalität und geriet ins Visier der Steuerfahn­dung. Ende letzten Jahres sollte er aus dem Verkehr gezogen werden, aber Haase verschwand spurlos von der Bildfläche.

Einer derjenigen, für die er diverse Geschäfte erledigt hatte, war René Witkowski. Er war der Grund, weshalb Karin spät­abends der Dresdner Neustadt einen Besuch ab­stattete. Ihre Beziehung zu Witkowski reichte schon über zehn Jahre zurück. Witkowski wurde ›Das Krokodil‹ ge­nannt. Der Name rührte von seiner Vorliebe für Krokodil­klappmesser her, die er zu Be­ginn seiner Karriere gern ver­wendet hatte, um Konkurrenten und andere ihm missliebige Personen einzuschüchtern oder zu foltern. Durch Gewissen­losigkeit und den Einsatz von Gewalt, gepaart mit Schläue, hatte sich ›Das Krokodil‹ vom Türsteher bis zum Chef einer Organisation hochgearbeitet, die ihr Geld mit Prostitution, Schutzgelderpressung und Drogen machte. Karin wusste, dass er in mindestens drei Tötungsdelikte invol­viert war. An das menschenunwürdige Leben, das er den meist aus Ost­europa stammenden jungen Frauen bereitete, die er zur Pro­s­titution zwang, wollte Karin gar nicht denken. Es wurmte sie sehr, dass es ihr bis jetzt noch nicht gelungen war, ihn eines der von ihm begangenen Verbrechen zu überführen. ›Das Kro­kodil‹ war Karins Wunschkandidat Nummer eins für einen schönen Platz in einer kargen Zelle. Dass die Welt und vor allem ihre geliebte Stadt Dresden ein schönerer Ort sein würde, wenn Witkowski gesiebte Luft atmete, davon war Karin fest über­zeugt. Deshalb machte ihr Herz einen Freudensprung, als sie bei der Steuerfahndung erfuhr, dass Witkowski der Hauptkli­ent von Haases Steuerbüro gewesen war. Da war ihr ein Licht aufgegangen, wo das viele Geld, wel­ches der Tote in seiner Wohnung versteckt hielt, seinen Ur­sprung hatte. Karin vermu­tete, dass Haase ›Das Krokodil‹ bestohlen hatte. Da sich Haase denken konnte, dass Witkowski einen sol­chen Vertrauensbruch nicht ungestraft ließ, hatte er sich falsche Papiere beschafft und war abgetaucht. Allerdings war dies ein Spiel mit dem Feuer, denn ›Das Krokodil‹ verstand in sol­chen Dingen absolut keinen Spaß und Gefangene machte Witkowski nicht.

Karins Plan sah vor, einfach in Witkowskis Hauptquar­tier, seiner eigenen Kneipe, vorbeizuschauen und auf den Busch zu klopfen. Sie hoffte, dass es ihr gelang, ihn dadurch nervös zu machen und zu einer unbedachten Handlung zu verleiten. Ihr war natürlich klar, dass sie ihren Arsch riskierte, denn es wür­de Witkowskis Gewissen nicht sehr strapazieren, sie von der Bild­fläche verschwinden zu lassen.

Während sie sich diese Gedanken machte, erreichte sie die Szenekneipe, in welcher sie mit Sicherheit auf ›Das Kro­kodil‹ stoßen würde. Der Wechsel von der frischen Abendluft zum abgestandenen Gaststättenmief traf Karin wie ein Hammer. Es roch nach Alkohol und Zigarettenrauch. Zusätzlich glaubte sie den Geruch von Hanf zu wittern. Auf das Rauch­verbot wurde in Witkowskis Etablissement offensichtlich nicht viel gegeben. Das Publikum, welches die Kneipe füllte, war gemischt, meis­tens junge Leute, die sich unge­zwungen amüsieren wollten und keine Ahnung hatten, wel­chen geschäftlichen Hintergrund ihre abendliche Oase be­saß.

Karin, die noch nie viel mit dem Rauchen am Hut hatte, dachte nicht im Traum daran, ihren Aufenthalt in der Gaststu­be lange auszudehnen und anschließend nach Kneipe zu stin­ken. Sie ging schnurstracks zur Bar und winkte den Barkeeper heran. Bevor der nach ihrem Begehr fragen konnte, hielt sie ihm ihren Dienstausweis vor die Augen und verlangte, Wit­kowski zu sprechen. Aus Erfahrung wusste sie, dass dies pro­blemlos ging. ›Das Krokodil‹ versuchte immer den Schein der Aufrichtigkeit zu wahren.

Ein herbeigerufener Türsteher führte sie zum Büro des Chefs. Der wandelnde Kleiderschrank kam mit ins Büro hin­ein und machte Miene, hinter dem Besucherstuhl eine drohende Position zu beziehen. Das wollte Karin um jeden Preis vermei­den. Sie ignorierte Witkowski und herrschte stattdessen den Tür­steher an, er solle gefälligst vor der Tür warten. Danach lä­chelte sie ›Das Krokodil‹ lieb an und säuselte mit ihrer zar­testen Stimme: »Ich komme zu einem Vieraugengespräch, brauchen Sie etwa Schutz, wenn ich zu Besuch bin?«

Witkowski durchschaute Karins Manöver, griente dreckig und gab dem Bodyguard einen kurzen Wink. Der verschwand und schloss die Tür hinter sich.

Ein dünnes, abfälliges Lächeln umkräuselte Witkowskis Lip­pen. »Frau Kommissarin, welche Freude, Sie bei mir begrüßen zu können. Hat ein Gast sich schlecht benommen, oder sind Sie gar zur Verkehrspolizei versetzt worden und vor meinem Lo­kal wird falsch geparkt?«

»Na jedenfalls können Sie verdammt froh sein, dass ich nicht beim Ordnungsamt bin, sonst würde ich wegen der mit Niko­tin angereicherten Luft ein Wörtchen mit Ihnen reden.«

»Das ist ein starkes Stück, dass schon wieder geraucht wird, erst vor einer halben Stunde …«

»Regen Sie sich ab«, unterbrach Karin Witkowskis gespielte Empörung, »Ich bin gekommen um Grüße auszurichten, Grüße von Ihrem Geschäftspartner Joachim Haase. Leider konnte er die Grüße nur post mortem ausrichten, er ist heute unerwar­tet verstorben.«

Witkowski war viel zu clever, um die Bekanntschaft mit Haase zu leugnen oder sich dumm zu stellen. Während er seine Antwort zurechtlegte, bekam Karin Gelegenheit, ihn zu mus­tern. Seit ihrer letzten Begegnung waren zwei Jahre ver­gangen, aber die Zeit war spurlos an ihm vorübergegangen. Er war ein schlanker, durchtrainierter Mann und durchaus gut aussehend. Witkowski war viel zu sehr auf seine Gesund­­heit und seinen Körper bedacht, um das Gift, mit dem er den Großteil seines ­Vermögens erwarb, selbst zu konsumie­ren. Hier bewies es sich wieder, dachte Karin, man sieht den Menschen ihren Charakter nicht immer an. Witkowski sah aus wie ein ganz normaler jun­ger Mann, all das Böse und Ge­­fährliche trat bei ihm nicht an die Oberfläche. Nur manchmal, das wusste sie, sah man es in sei­nen lauernden Augen. Sie musterte den Verbrecher nicht etwa diskret, nein, ganz of­­fen sah sie ihm mit Unschuldsmiene in die Augen.

»Das ist eine traurige Nachricht«, sagte Witkowski. »Aber Herr Haase war nicht mein direkter Geschäftspartner, ich habe nur meine Steuererklärung in seinem Büro erledigen lassen. Aber da die Kriminalpolizei höchstpersönlich die Todesnach­richt überbringt, vermute ich ganz stark, dass er nicht an der Schweinegrippe eingegangen ist. Doch nun fra­ge ich, weshalb macht sich die Frau Kommissarin die Mühe, zu mir zu kom­men und seinen Tod persönlich zu verkün­den?«

»Auch wenn unser Gespräch bisher recht zwanglos ver­lief, Herr Witkowski, die Fragen stelle ich. Sollte Ihnen das aller­dings nicht angenehm sein, ich kann Sie auch gern vor­laden und dann können wir auf dem Revier plaudern. Herr Haa­se wurde ermordet. Ich wüsste jetzt gern, wo Sie sich heute zwischen elf Uhr dreißig und zwölf Uhr dreißig aufgehalten haben.«

»Weshalb sollte ich diese Frage beantworten? Fragen Sie alle Klienten des Steuerbüros Haase nach ihrem Alibi? Oder ist das die übliche Schikane?«

»Ach Herr Witkowski, nichts liegt mir ferner als Sie zu schi­kanieren, aber in einem Mordfall fällt immer viel Routine­ermittlung an, und da Sie, wie Sie selbst bestätigt haben, ein Kli­ent von Herrn Haase waren, sind auch Sie Teil der Routine. Also geben Sie mir die gewünschte Auskunft oder ziehen Sie es vor, morgen in der Polizeidirektion anzutre­ten?«

»Wenn ich recht verstehe, Frau Kommissarin, sind Sie also nur hier, um mir unnötige Laufereien zu ersparen?«

»Genau, das bringt es auf den Punkt. Ein selbstständiger Gastwirt hat viel um die Ohren. Ich wollte nur helfen«, sagte Karin zuckersüß und bemerkte erfreut, dass sie Wit­kowskis Geduld sichtlich strapazierte.

»Also gut. In der angegebenen Zeit war ich bei einem Ge­tränkegroßhändler, um Liefertermine abzustimmen«, sagte Witkowski und holte eine Visitenkarte des Händlers aus dem Schreibtischfach, die er Karin mit der Bemerkung »Zum Nach­prüfen« reichte.

Karin steckte die Karte ein. Nicht eine Sekunde hatte sie ge­glaubt, dass Witkowski sich selbst die Hände an Haase schmut­zig gemacht hatte, aber sie hegte den starken Verdacht, dass er etwas mit diesem Verbrechen zu tun haben könnte. Für ihren Abgang hatte sie sich noch eine letzte Trumpfkarte aufgehoben und sie hoffte sehr, ›Das Krokodil‹ damit aus der Reserve zu lo­cken.

»Vielen Dank für Ihre Mithilfe, Herr Witkowski«, säuselte Karin auf ihrem Weg zur Tür. »Ach übrigens, der größere Pos­ten Bargeld, den wir bei Herrn Haase gefunden haben, befindet sich jetzt bei der Staatsanwaltschaft. Aber das wird Sie sicher nicht tangieren.«

Karin hatte ins Schwarze getroffen. ›Das Krokodil‹ sprang aus seinem Bürostuhl, in dem er bis jetzt arrogant lächelnd ge­lümmelt hatte, und starrte sie an. Die ganze Biedermannfas­sade war aus seinem Gesicht gewischt. Böse und kalt fixierte er sie, gerade wollte er etwas sagen, da öffnete sich die Tür und eine ziemlich große, junge Frau betrat das Büro.

»René, … oh, du hast Besuch. Entschuldigung.« Und da­mit verschwand sie schnell wieder.

Doch Witkowski hatte der kurze Moment genügt, um sich zu fassen. Karin hätte die Frau ohrfeigen können – der Moment, in dem ihr Feind beinah etwas Unbedachtes geäußert hät­te, war vorüber.

»Was sollte mich das Geld des Herrn Haase angehen? Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte«, sagte Witkowski, wieder über den Dingen stehend.

»Schönen Abend noch«, sagte Karin und ließ Wit­kowski mit seinen schwarzen Gedanken an verlorenes Geld zurück.

Auf dem Weg zu ihrem Fiesta war sie recht zufrieden mit sich. Sie wusste nun, dass das Geld auf jeden Fall von Witkow­ski stammte. Wenn die Frau nicht im unpassenden Moment gestört hätte, wäre vielleicht noch mehr ans Tages­licht gedrun­gen, aber die Gewissheit war viel wert.

Dass sie Witkowski von dem Geld erzählt hatte, stellte keine Preisgabe von Geheimnissen dar. Karin war sicher, dass er In­formanten bezahlte und der Geldfund würde spätestens mor­gen im Revier das Thema Nummer eins sein.

Hätte Karin allerdings die leiseste Ahnung gehabt, wel­che Auswirkungen ihr Besuch bei Witkowski auf ihre Zukunft ha­ben würde, hätte sie ihn mit Sicherheit unter­lassen.

3. Kapitel

Als Karin von der bemüht fröhlichen Stimme des Radiomo­­derators geweckt wurde, begann wie jeden Morgen der in ih­rem Inneren tobende Kampf: Aufstehen und hart sein oder noch mal umdrehen und eine Stunde länger schla­fen. Wie fast jeden Tag gewann der starke Teil von Karin die Schlacht. Sie blieb kurz auf der Bettkante sit­zen und wuschelte durch ihr schulterlanges Haar, dann gab sie sich einen Ruck und stand auf.

Ihr morgendliches Sportprogramm begann mit fünfzig Sit­ups, heute fielen sie ihr besonders schwer, da die zwei Schop­pen Rotwein vom gestrigen Abend ihren physischen Zustand belasteten. Anschließend absolvierte sie ihr Krafttraining, bei dem sie zwei fünf Kilogramm Hanteln mit den Armen stemmte. Karin hasste jede einzelne Übung, auch die Gymnastik zur Dehnung der Muskeln machte ihr nicht wirklich Freude. Der Abschluss ihres Morgensport­programms bestand in einem dreißig-Minuten-Lauf durch das Wohngebiet.

Vor fünf Jahren hatte Karin noch sechs Kilo mehr auf die Waage gebracht. Sie hatte sich nach der Trennung von ihrem Mann ziemliche Kummerröllchen angefressen und vor allem angetrunken. Zuerst hatte sie versucht, mit Diäten ihr Gewicht zu reduzieren, aber außer extrem schlechter Laune, die sie an ihrer Umwelt ausließ, zeigten die Fastenkuren keine Wir­kun­gen. Zuerst nahm sie zwar immer ab, aber sobald sie ihre Nah­rung nicht mehr ganz so diszipliniert nach Vorschrift zu sich nahm, waren die Pfunde sofort wieder da.

Das letzte Mittel war Sport und mehr Bewegung. Den Sport hatte Karin hinausgeschoben, bis es wirklich keine an­de­re Mög­lichkeit mehr gab. Schon in der Schule hatte sie den Sportun­terricht gehasst wie die Pest. Während der Polizeiausbildung hat­te sie die sportlichen Anforderungen nur gerade eben so ge­schafft und das auch nur, weil sie in allen anderen Berei­chen sehr gut war. Da hatten die Ausbilder beide Augen zuge­drückt.

Bei ihrem ungeliebten Joggen tröstete sie sich wie immer, dass es ja gesund sei. Und, so sagte sie sich, wenn ein Straf­täter vor ihr davonlief, konnte sie bedingt durch das Trai­ning die Verfolgung aufnehmen und musste nicht nur hin­terhergucken und in der Hosentasche heimlich die Faust ballen.

Beim Duschen dachte sie darüber nach, dass sie schon mal gelesen hatte, Sport würde im Körper Endorphine freisetzen und damit Glücksgefühle auslösen. Das einzige Glück, welches Karin empfand, war, dass sie die Qual für einen Tag überstan­den hatte. Ein wenig Stolz spürte sie aber doch, weil sie jeden Morgen so konsequent war und sich immer wieder bezwang. Auf das andere Ergebnis, ihren schönen straffen Bauch und die schlanke Linie, war sie dagegen ungeheuer stolz.

Pünktlich acht Uhr riss Karin schwungvoll die Bürotür auf, da hörte sie einen Bums und dann ein: »Aua. Scheiße!« Sandra war bei ihrem Eintreten erschrocken und hatte sich beim Hochru­cken den Kopf an der Tischplatte gestoßen. Sich die schmer­zende Stelle reibend, kam sie unter dem Schreibtisch her­vor­gekrabbelt.

»Guten Morgen, liebe Sandra. Vielleicht solltest du beim Auf­bauen einen Helm tragen. Bist du schon lange da?«

»Erst seit einer halben Stunde. Die Techniker haben gerade den PC angeliefert und wollten ihn aufbauen, aber das mache ich lieber selbst. Würdest du bitte in Zukunft etwas geruhsamer die Tür öffnen und an mein schwaches Herz denken?«

»Entschuldigung, ist noch neu für mich, dass ich das Büro nicht mehr für mich allein habe. Trinkst du eine Tasse Tee mit? Wir haben noch einen Augenblick Zeit.«

»Gern, aber da du gerade von Tee sprichst, muss ich dir was beichten. Ich habe gestern Abend, ganz in Gedanken versun­ken, deine ganzen Kekse verputzt.«

»Da brauchst du dir keinen Kopf zu machen. Das versteh ich gut, ich muss immer Gewalt anwenden, um mich von den sü­ßen Scheißerchen loszureißen.«

Karin öffnete eine Schranktür und zeigte auf mehrere große Päckchen. »Hier, das ist mein geheimer Keksvorrat, alles Spe­kulatius. Die gibt es nur in der Weihnachtszeit, da hamstere ich immer. Schmecken sogar im Sommer noch richtig knackig.«

Beim Tee berichtete Sandra, was sie am Abend zuvor über das Mordopfer ermitteln konnte. »Haase ist ge­schieden. Seine alte Wohnung, die unter seinem richtigen Namen lief, hat er zum Quartalsende vorigen Jahres gekün­digt. Seit diesem Tag hat er sich auch nicht mehr in seinem Steuerbüro sehen lassen. Seine Sekretärin hat ihn als vermisst gemeldet. Sein neues Ich, Joachim Lehmann, hat den Mietvertrag für die neue Wohnung ab dem 1. Oktober, auch vorigen Jahres, abge­schlossen. Als Jo­achim Lehmann hat er ein Girokonto einge­richtet, auf welches er 5.000 Euro bar eingezahlt hat. Davon wurde die Miete abge­bucht, ansonsten gab es keine Konto­bewegungen. Alle anderen Geschäfte hat er sicher cash beglichen. Den alten Golf hat er bei einem Gebraucht­wagenhändler gekauft, natürlich bar bezahlt. Mehr gibt es über die kurze Existenz von Joachim Lehmann nicht zu be­richten. Eigentlich ist das alles nichts Neues, es be­stätigt nur, was wir schon wussten«, beschloss Sandra ihre Ausfüh­rungen.

Auf Karins Frage: »Wer fährt?«, die sie stellte, bevor sie in den Dienstwagen stiegen, antworte Sandra schnell: »Ich habe mich im Stadtplan schlaugemacht, wie ich zur Wohnung von Frau Adler komme und da wir es nicht eilig haben, würde ich gern fahren.«

»Was meinst du bitte mit ›nicht eilig haben‹? Fahre ich dir zu schnell?«

»Gestern bist du ganz schön gerast.«

»Ich fahre zügig und sehr sicher«, brummte Karin, nahm aber auf der Beifahrerseite Platz.

Während der Fahrt nach Dresden-Plauen informierte Ka­rin ihre Partnerin über René Witkowskis kriminellen Le­benslauf und die Bestätigung, dass Haase Witkowski beklaut hat.

»Hätte nicht dieses Schätzchen im entscheidenden Mo­ment gestört, vielleicht wäre Witkowski ungewollt eine In­formation rausgerutscht. Über diese Frau habe ich nachgedacht, ich habe sie noch nie gesehen und ich kenne fast alle Personen in Wit­kowskis Umfeld. Wie eine Pros­tituierte sah sie nicht aus und sie kann keine von seinen Liebchen sein, dafür ist sie zu alt. Er steht auf Mädchen bis ma­ximal Mitte zwanzig. Jedenfalls be­halte ich sie auf dem Schirm.«

Frau Adler wohnte in einem modernisierten Wohnblock, der Anfang der sechziger Jahre errichtet worden war. Zu dieser Zeit wurden Häuser noch ordentlich gebaut. Das Ergebnis wa­ren große helle Räume, die Raum für Kreativität beim Einrich­ten boten. Und die hatte Frau Adler bewiesen. Ihre Wohnung war gemütlich und sauber. Nicht überordentlich steril, sondern mit einem munteren Durcheinander gefüllt, ohne dabei unauf­geräumt zu wirken.

Sie selbst war eine zierliche, hübsche Frau, die die Kommis­sarinnen unvoreinge­nommen und fröhlich empfing.

Karin und Sandra setzten sich in große, weinrote Ledersessel und als Frau Adler sie auffordernd ansah, ergriff Karin das Wort. »Frau Adler, leider sind wir die Überbringer einer unan­genehmen Nachricht. Ihr geschiedener Ehemann wurde ges­tern das Opfer eines Verbrechens.«

Frau Adler wurde blass und ihre Hände strichen nervös über die Tischdecke des Klubtisches. »Meinen Sie damit, Joachim ist tot?«

»Ja, leider. Sollen wir jemanden verständigen, dass er sich um Sie kümmert?«

Frau Adler stand auf, hob abwehrend die Hand, überlegte kurz und sagte dann: »Keine Sorge, mit mir ist alles in Ord­nung, ich überlege nur gerade, ob ich jetzt eine Flasche Sekt öffne oder ob das zu pietätlos ist.«

Als sie die erstaunten Gesichter der Beamtinnen sah, die die­se Reaktion auf eine Todesnachricht noch nie erlebt hat­ten, setz­te sie sich wieder und fuhr merklich ruhiger fort: »Es ist, als ob ich die Nachricht erhielte, dass die Therapie angeschlagen hat und in meinem Körper keine Krebszellen mehr vorkom­men. So befreit bin ich jetzt. Sie ahnen nicht, welche Last Sie mit Ihren Worten von meiner Seele genom­men haben. Ich bin ein ausge­glichener Mensch, aber die Be­drohung durch meinen Ex lag im­mer wie eine dunkle Wolke über meiner Existenz. Sie möch­ten sicher, dass ich Ihnen al­les mitteile, was ich über Jo­achim weiß?«

»Genau darum wollten wir Sie bitten«, antwortete Sandra.