Blutrausch - Andreas M. Sturm - E-Book

Blutrausch E-Book

Andreas M. Sturm

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Beschreibung

Der Mord an einem windigen Anwalt gibt Karin Wolf und ihrem Team Rätsel auf. Waren es seine unsauberen Geschäfte oder seine perversen Umtriebe, die ihm zum Verhängnis wurden? Doch der Täter hat eine Nachricht hinterlassen. Die Parallelen zu einem weiteren Verbrechen legen den Verdacht nahe, dass es sich um einen Serienmörder handelt. Geht in der Stadt ein Mörder um, der scheinbar wahllos und mit unvorstellbarer Grausamkeit tötet?

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Andreas M. Sturm

Blutrausch

Ein Dresden-Krimi mit Wolf und König

Band 6

Sturm, Andreas M.: Blutrausch. Ein Dresden-Krimi mit Wolf undKönig. Hamburg, edition krimi 2020

1. Auflage 2020

E-Book ISBN 978-3-946734-60-4

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ISBN 978-3-946734-59-8

Lektorat: Angellika Büntzel, Friedrichsdorf

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi

Umschlagmotiv: © Kerstin Müller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Inhalt

Montag, 14. Juli, 21.15 Uhr

Dienstag, 15. Juli, 13.10 Uhr

Dienstag, 13.30 Uhr

Dienstag, 16.10 Uhr

Dienstag, 16.30 Uhr

Dienstag, 16.40 Uhr

Dienstag, 17.10 Uhr

Dienstag, 18.20 Uhr

Mittwoch, 16. Juli, 06.45 Uhr

Mittwoch, 07.30 Uhr

Mittwoch, 09.30 Uhr

Mittwoch, 14.30 Uhr

Mittwoch, 17.15 Uhr

Mittwoch, 17.30 Uhr

Mittwoch, 19.50 Uhr

Mittwoch, 20.05 Uhr

Mittwoch, 21.40 Uhr

Mittwoch, 21.40 Uhr

Donnerstag, 17. Juli, 01.15 Uhr

Donnerstag, 03.35 Uhr

Donnerstag, 07.45 Uhr

Donnerstag, 09.30 Uhr

Donnerstag, 09.45 Uhr

Donnerstag, 11.45 Uhr

Donnerstag, 15.30 Uhr

Donnerstag, 15.50 Uhr

Donnerstag, 16.00 Uhr

Donnerstag, 17.25 Uhr

Donnerstag, 18.30 Uhr

Donnerstag, 20.45 Uhr

Donnerstag, 21.20 Uhr

Freitag, 18. Juli, 07.00 Uhr

Freitag, 10.00 Uhr

Freitag, 10.15 Uhr

Freitag, 11.15 Uhr

Freitag, 11.35 Uhr

Freitag, 20.10 Uhr

Mittwoch, 23. Juli, 02.50 Uhr

Donnerstag, 24. Juli, 08.20 Uhr

Donnerstag, 17.30 Uhr

Donnerstag, 18.00 Uhr

Donnerstag, 20.10 Uhr

Donnerstag, 23.50 Uhr

Freitag, 25. Juli, 03.30 Uhr

Freitag, 08.15 Uhr

Freitag, 08.30 Uhr

Freitag, 09.30 Uhr

Freitag, 12.30 Uhr

Freitag, 14.15 Uhr

Freitag, 14.25 Uhr

Freitag, 17.15 Uhr

Freitag, 23.30 Uhr

Sonnabend, 26. Juli, 11.00 Uhr

Sonnabend, 11.10 Uhr

Sonnabend, 12.25 Uhr

Sonnabend, 12.25 Uhr

Sonnabend, 12.30 Uhr

Sonnabend, 13.05 Uhr

Sonnabend, 13.50 Uhr

Sonnabend, 14.00 Uhr

Sonnabend, 14.05 Uhr

Sonnabend, 14.35 Uhr

Sonnabend, 14.35 Uhr

Sonnabend, 14.45 Uhr

Sonnabend, 15.15 Uhr

Sonntag, 27. Juli, 14.00 Uhr

Sonntag, 14.00 Uhr

Sonntag, 14.40 Uhr

Danksagung

Montag, 14. Juli, 21.15 Uhr

Heute Nacht würde er eine gute Jagd haben, davon war Norbert Weise felsenfest überzeugt. Beide Hände auf das Fensterbrett gestützt, weidete er sich am Schauspiel der heraufziehenden Dämmerung. Der Mond war zu einer kümmerlichen Sichel geschrumpft, doch für das, was er vorhatte, genügte das fahle Licht vollkommen.

Die schnell dahinziehenden Wolkenfetzen verrieten Norbert, dass in den oberen Luftlagen ein kräftiger Wind wehte. Eigentlich erstaunlich, dachte er, in Anbetracht der absoluten Stille hier am Boden. Da er kein Meteorologe war, hatte er nicht die geringste Ahnung, was der Grund dafür sein könnte. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich, stattdessen betrachtete er weiter die im wechselhaften Grau des Himmels zerfasernden Wolken. Wie bizarre Gestalten aus einem Fantasyfilm zogen sie über das Firmament.

»Gut so«, flüsterte er nickend. »Licht und Schatten.«

Verdeckten die Wolkengebilde den Mond, würden ihn die Schatten der Nacht vor neugierigen Blicken verbergen. Lag der Mond frei, half ihm das Licht, die Beute zu beobachten.

Norbert konnte es deutlich spüren, die kommende Nacht würde ergiebig werden, neue Trophäen würden in seine Sammlung Einzug halten. Die Vorfreude ließ sein Herz vor Erregung schneller schlagen. Nur mühsam gelang es ihm, die aufsteigende Ungeduld zu zügeln. Er hob den Arm und schaute zur Uhr. Nach einem weiteren Blick zum Himmel nickte er erneut. In einer knappen Stunde könnte er mit der Pirsch beginnen. Schwungvoll löste er sich von der Fensterbank, diese Zeitspanne galt es zu nutzen.

Mit größter Sorgfalt packte er sein Equipment in den Rucksack. Seine Anforderungen an diesen Rucksack waren hoch und er hatte lange suchen müssen, ehe er den richtigen gefunden hatte. Zuallererst musste der Rucksack dunkel sein. Bei einer Jagd zu leuchten wie ein Straßenbauarbeiter mit Warnweste, war tabu. Das Teil war gerade so groß, dass Norbert alles, was er für seine nächtlichen Pirschgänge benötigte, darin transportieren konnte. Mehr passte nicht hinein, musste auch nicht. Schließlich unternahm er keine ausgedehnten Wanderungen, die Proviant und Wasser erforderlich machten. Sein Revier war überschaubar und die zwei bis vier Stunden hielt er ohne Nahrung durch. Zusätzlich musste der Rucksack robust sein und fest schließen. An die Orte seiner Tätigkeit zurückzukehren, um verloren gegangene Dinge einzusammeln, verbot sich von selbst.

Nachdem Norbert sämtliche Teile verstaut und sich überzeugt hatte, dass sie keine Geräusche verursachten, stellte er den Rucksack griffbereit neben die Haustür.

Die Vorfreude löste ein so heftiges Glücksgefühl in ihm aus, dass er sich nicht zurückhalten konnte, die Tür öffnete und gierig die Luft einsog. Begeistert rieb er sich die Hände. Der Wettergott meinte es gut mit ihm. In dieser Nacht würde kein Tropfen Wasser vom Himmel fallen.

Mit wenigen Schritten war er in der Küche, suchte den Müll zusammen und lehnte den gut gefüllten Plastikbeutel an seinen Rucksack. Wenn er später das Haus verließ, konnte er gleich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Abermals konsultierte er seine Uhr. Er musste nicht hetzen. Dreißig Minuten reichten für seine Vorbereitungen aus, aber ablenken lassen durfte er sich nicht mehr. Wenn Norbert in seinem Leben eins gelernt hatte, war es, dass Hast zu Fehlern führte, und die konnten bei seinem Vorhaben verhängnisvolle Folgen haben.

Er stieg ins Obergeschoss, zog sich nackt aus, legte seine Hauskleidung ordentlich auf einem Stuhl ab, lief ins Bad und wusch sich sorgfältig mit einer parfümfreien Seife. Während seiner Jagden war er bereits in Situationen geraten, bei denen er nur durch sofortiges Abtauchen einer Katastrophe entgangen war. Und Norbert war schlau genug, potenzielle Verfolger nicht durch eine Duftwolke auf sein Versteck hinzuweisen.

Im Schlafzimmer nahm er sich frische Unterwäsche aus dem Schrank. Schlüpfte anschließend in seine Camouflage Hose und in das ebenfalls tarnfarbene Sweatshirt. Diese Kleidungsstücke wusch Norbert gewissenhaft nach jedem seiner Einsätze und lüftete sie auf seinem Balkon gründlich durch. Als Letztes griff er sich seine Sturmhaube und steckte sie in eine der Beintaschen.

Norbert öffnete das Fenster und der Kontrollblick zum Außenthermometer sagte ihm, dass eine Jacke heute Nacht nicht notwendig war. Seiner Erfahrung nach würde die Temperatur bis in die frühen Morgenstunden nicht unter 17 Grad fallen und ohne Jacke war er beweglicher. Zusätzlich würde das Fieber der Jagd in ihm pulsieren und seinen Körper aufheizen.

In dem Moment, als er das Fenster schloss und der Riegel einrastete, drangen Geräusche an seine Ohren. Zuerst ein dumpfer Ton und dann das Rascheln von Plastik.

Mist, fluchte Norbert in sich hinein, mein Rucksack ist umgefallen. Hoffentlich ist der Müllbeutel nicht aufgegangen.

Unerwartete Verzögerungen mochte er überhaupt nicht. Er kannte die Gewohnheiten seiner Zielobjekte und bei einigen von ihnen war das Zeitfenster für einen guten Fang relativ klein.

Eilig stieg er die Treppe zu seinem Wohnzimmer hinab und blickte in Richtung Tür. Müllbeutel und Rucksack lehnten unversehrt an der Wand.

Erleichtert und schulterzuckend tat Norbert die Angelegenheit ab. Einer der Schränke wird geknarrt haben oder die Treppe. Egal, was auch immer die komischen Geräusche verursacht hatte, es war nicht wichtig. Er hatte diesen Gedanken kaum vollendet, als er erneut das merkwürdige Rascheln hörte. Jetzt war das Geräusch hinter ihm und so nah, dass sein Körper vor Panik zu beben begann.

Erschrocken wirbelte er herum.

Doch es dauerte einige Sekunden, bis sein Gehirn den Anblick verarbeitete, der sich seinen entsetzten Augen bot. Als er endlich realisierte, was da auf ihn zukam, begriff Norbert, wodurch das Geraschel ausgelöst wurde.

»Was zum Teufel …«, brachte er gerade noch heraus, bevor ein grässlicher, reißender Schmerz in seinem Bauch all das, was er dachte und fühlte, gegenstandslos werden ließ.

Dienstag, 15. Juli, 13.10 Uhr

Erst nachdem Kriminalhauptkommissarin Karin Wolf sich nicht mehr in Sichtweite des Nagelstudios befand, blieb sie stehen, setzte ihre Lesebrille auf und musterte erfreut ihre Nägel. »Wow«, entfuhr es ihr und sie strahlte. »Das sieht ja richtig geil aus. Hätte ich viel früher machen lassen sollen.«

Den Gutschein für die exklusive Maniküre mit allem Drum und Dran hatte ihr Sandra, ihre Partnerin, anlässlich des fünfjährigen Jahrestags ihres Kennenlernens geschenkt. Beim Weiterlaufen überlegte Karin, womit sie ihrer Geliebten eine Freude machen könnte. Aber das war kein großes Problem für sie. Sie hatte Sandras Elsterblick, den diese neulich vor einem Juwelierladen aufgesetzt hatte, sehr wohl zu interpretieren gewusst.

Von ihrem spontanen Einfall total begeistert, machte Karin kehrt und marschierte in Richtung Elbe. Sie würde an ihrem freien Nachmittag am Fluss entlang zum Schillerplatz laufen, dort in aller Ruhe durch die Geschäfte stöbern und auf dem Rückweg dem Konsum, einem Einkaufsmarkt im alten Straßenbahnhof, einen Besuch abstatten. Wenn sie an das reichhaltige Käseangebot dachte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Baguette und Wein würden ihren Einkauf abrunden und den romantischen Abend mit Sandra perfekt machen.

Voller Vorfreude vor sich hin summend, kehrten ihre Gedanken zu Frau Schubert zurück, bei der sie die letzte Stunde verbracht hatte. Während sich die Dame an Karins Händen zu schaffen gemacht hatte, hatte ihr Mund keine Sekunde stillgestanden. Die kurze Zeitspanne hatte der Nageldesignerin gereicht, ihr gesamtes Leben vor ihrer neuen Kundin auszubreiten. Karin kannte jetzt die Stärken und Schwächen von Frau Schuberts Gatten, konnte sich im Haus und Garten der Familie heimisch fühlen, wusste um deren Interessen, von dem Stress mit der Steuererklärung und dem Mehraufwand, den das Renovieren ihres Kosmetik- und Nagelstudios mit sich gebracht hatte.

Es war Karin schleierhaft, wie jemand sich vor einer wildfremden Frau derart öffnen konnte. Die unfassbare Menge an Informationen, welche die Kosmetikerin freiwillig preisgegeben hatte, fand sie besorgniserregend. Mit Sicherheit hatte diese Frau noch nicht mit den dunklen Abgründen der Gesellschaft Bekanntschaft gemacht, war in ihrem Leben dem Hinterhältigen und Bösen noch nie begegnet.

Beneidenswert, dachte Karin. Aber auf der anderen Seite quälte sie der kleine Stachel des Neides, weil sie selbst nicht in der Lage war, mit fremden Menschen eine so lockere Unterhaltung zu führen. Dazu war sie viel zu verschlossen und misstrauisch. Sie versteckte sich lieber hinter ihrem selbst geschaffenen Panzer.

»Was sollʼs«, murmelte sie leicht frustriert. »Ich muss kein Charmebolzen sein, schließlich ist ein hoher Prozentsatz meiner Kunden mausetot und denen ist es völlig egal, dass ich ein Muffel bin.«

Ganz konnte sie die Befürchtung jedoch nicht unterdrücken, dass sie durch ihr abweisendes Schweigen einen negativen Eindruck hinterlassen haben könnte.

Hoffentlich erzählt die nette Kosmetikerin Sandra nicht, was ich für ein Stinkstiefel gewesen bin. Schnell unterdrückte Karin diesen Gedanken und dachte an etwas Schönes, an den bevorstehenden Abend mit Sandra.

Dienstag, 13.30 Uhr

Melanie Bergmann machte sich Sorgen um ihren Chef, in erster Linie aber um sich selbst.

Als sie vor fünf Jahren ihr Jurastudium beendet hatte, war es schwer gewesen, einen Job zu finden. Nicht wegen ihres Abschlusses, auf ihrem Bachelor-Zeugnis prangten immerhin elf Punkte, doch die Tatsache, dass sie eine alleinerziehende Mutter war, hatte alle potenziellen Arbeitgeber zurückschrecken lassen, als hätte sie offene Tuberkulose.

Nach einem quälend langen und zutiefst deprimierenden Bewerbungsmarathon stand Melanie schließlich kurz vor der Privatinsolvenz und begrub allmählich ihre Hoffnungen, eine Anstellung entsprechend ihrer Qualifikation zu finden. Ein Vorstellungsgespräch stand noch aus, danach würde sie sich artfremd bewerben und versuchen, über die Runden zu kommen. Jedenfalls hatte sie sich das fest vorgenommen.

Doch sie schien bei Justitia einen Stein im Brett zu haben, denn die Göttin des Rechts führte sie in die Kanzlei von Norbert Weise. Von ihrer fachlichen Kompetenz äußerst angetan, versicherte ihr Weise, dass die Aufgaben, die sie täglich zu erledigen hätte, bequem innerhalb der Arbeitszeiten zu schaffen wären. Allerdings, und auf diesem Punkt bestand er nachdrücklich, sei Diskretion das wichtigste Kriterium für eine Einstellung.

Bereits an ihrem ersten Arbeitstag verstand Melanie, weshalb dieser Fakt für ihren neuen Chef so maßgeblich war. Seine Geschäfte bewegten sich zwar im Rahmen der Legalität, waren moralisch jedoch mehr als fragwürdig. Als sie begriff, dass sie sich zur Gehilfin in einem dreckigen Spiel machte, focht Melanie mit ihrem Gewissen einen harten Kampf aus. Ihre prekäre finanzielle Situation, verbunden mit der Aussichtslosigkeit in einer anderen Kanzlei eine Beschäftigung zu finden, trug den Sieg über die mahnende Stimme in ihrem Inneren davon.

Seit dieser Zeit war sie für Norbert Weise als Fachangestellte tätig. Er war ein angenehmer Chef, der stets ein freundliches Wort und jedes halbe Jahr eine Gehaltserhöhung für sie bereit hielt. Zudem hatte er sein Versprechen gehalten, Überstunden waren die absolute Ausnahme. Und so konnte sie Arbeit und Kindererziehung ohne Probleme managen. Melanie fand, dass es ein annehmbarer Ausgleich für die Tatsache war, dass sie sich manchmal nicht im Spiegel anschauen konnte.

Heute, um 13 Uhr, stand ein wichtiger Termin an. Als Norbert Weise, der ein Pünktlichkeitsfanatiker durch und durch war, zur Mittagszeit noch nicht erschienen war, stieg ein erster Anflug von Panik in Melanie auf. Sie hatte ihn auf dem Festnetz und auf dem Handy angerufen. Keine Reaktion, außer der Mailbox. Hektisch sagte sie im letzten Augenblick den Termin ab, dabei überkam sie das Gefühl, in einem Auto zu sitzen, das ohne Bremsen auf einen Abgrund zuraste.

Zu gut klangen ihr die einmal im Scherz gesagten Worte ihres Chefs noch in den Ohren: »Wenn ich mal einen Termin nicht einhalte, bin ich entweder tot oder so krank, dass ich mich nicht fortbewegen kann.«

Das wäre eine Katastrophe. Ihre Tochter war erst zehn und da Melanie Bergmann eine pragmatisch denkende Frau war, wusste sie, dass sie wenigstens noch sechs Jahre bei Weise durchhalten musste. Erst dann würde ihre Tochter der mütterlichen Fürsorge entwachsen sein und sie könnte sich nach einem anderen Tätigkeitsfeld umschauen. Doch bis dahin brauchte sie die Anstellung in Weises Kanzlei, anderenfalls würde sich die entspannte und sorglose Zweisamkeit mit ihrem süßen Mädchen schnell in eine ferne Utopie verwandeln.

Nachdem eine weitere Stunde ohne jedes Lebenszeichen von Weise verstrichen war, hatte Melanie seine Eltern kontaktiert. Die hatten das letzte Mal am Wochenende mit ihrem Sohn telefoniert und konnten ihr nicht weiterhelfen. In ihrer Verzweiflung fragte sie bei Weises Tennispartner Heiko Klügel nach. Da der ebenfalls ratlos war, wählte sie nacheinander die Nummern sämtlicher Krankenhäuser von Dresden und Umgebung. Weder wurde ein Norbert Weise noch ein unbekannter Mann in den letzten Tagen eingeliefert.

Eine letzte Möglichkeit gab es noch: Weise könnte in seiner Wohnung liegen, zu krank, um selbst Hilfe zu rufen.

Melanie setzte sich gerade hin, atmete mehrmals tief durch und massierte ihre Schläfen. Ruhiger geworden, gelang es ihr, das Bild einer düsteren Zukunft in den hintersten Winkel ihres Seins zu verbannen. Entschlossen packte sie ihre Sachen zusammen, verließ das Büro und fuhr nach Weißig, wo ihr Chef ein Haus besaß.

Nach zehn Minuten Sturmklingeln schaute Melanie misstrauisch die Straße hoch und runter. Da sie niemanden entdecken konnte, kletterte sie rasch über das Eingangstor. Nach einem kurzen Stoßgebet, die Haustür möge bitte nicht verschlossen sein, drückte sie kräftig gegen diese und hätte beinah aufgeheult, weil ihr Wunsch nicht erhört worden war.

Erneut riss sie sich zusammen und lief um das Haus herum. Dabei klopfte sie an die Fensterscheiben und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Zurück an der Vorderseite hob sie ihre Faust und donnerte mit aller Kraft gegen die Haustür. Als das nichts brachte, griff sie sich ihr Handy und rief einen Schlüsseldienst. Der Mann am anderen Ende der Leitung versicherte ihr, Hilfe sei unterwegs, aber da alle Leute im Einsatz waren, müsste sie sich auf eine Wartezeit von mindestens einer Stunde einrichten.

Melanie überlegte kurz, ob sie lieber gleich die Polizei verständigen sollte, ließ es dann aber. Wenn Weise nicht krank oder verletzt in seinem Haus lag und sie blinden Alarm auslöste, stünde sie wie eine hysterische Idiotin da.

Um die Wartezeit mit halbwegs heilen Nerven zu überstehen, drehte sie eine Runde in der Nachbarschaft und erkundigte sich unauffällig in der Apotheke nach Weise. Dort hatte man jedoch noch nie von dem Mann gehört. Über diese Auskunft verwundert, denn ihres Wissens nach lebte der Anwalt seit mehreren Jahren in diesem Viertel, setzte sich Melanie auf einen Stein vor dem Haus ihres Chefs. Und obwohl sie nicht an Gott glaubte, ließ sie ein weiteres Stoßgebet los. Inständig bat sie darum, dass der Mann vom Schlüsseldienst jung war. Immerhin musste sie den Handwerker um den Finger wickeln, damit der ihr die Tür öffnete, obwohl sie zu diesem Haus keine Zugangsberechtigung hatte. Käme ein älterer und erfahrener Mann oder gar eine Frau, hätte Melanie ein Problem.

Traurig blickte sie in den Vorgarten, der mehrere gepflegte Rosenstöcke beherbergte, bis endlich das Auto des Schlüsseldienstes um die Ecke bog. Diesmal wurde ihr Gebet erhört. Der Handwerker war Anfang dreißig, so kostete es Melanie nur ein paar laszive Blicke und dahingeschnurrte Bemerkungen über die muskulösen Schultern des jungen Mannes und der öffnete ihr die Tür in wenigen Augenblicken. Zähneknirschend beglich sie die gepfefferte Rechnung, unterdrückte mühsam ihre Ungeduld und winkte dem Monteur fröhlich nach. Kaum war das Fahrzeug außer Sicht, stürzte Melanie durch die Tür ins Haus. Mit ihrem ersten Schritt stand sie bereits im Wohnzimmer, in Weises Heim gab es keinen Flur.

Ihren Chef entdeckte sie auf Anhieb. Sein Körper lag ausgestreckt auf dem Boden. Melanie lief zu ihm. Mit viel Glück konnte sie das Verhängnis vielleicht noch abwenden, Norbert Weise retten und ihre Zukunft sichern.

Doch der Anblick, der sich ihrem entsetzten Blick bot, war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Tränen der Verzweiflung schossen in ihre Augen, als sie erkannte, dass sie zu spät kam.

Benommen wandte sie sich ab und taumelte durch den Raum hinaus ins Freie. Dort reaktivierten die glühende Sonne und das grelle Licht ihre Lebensgeister.

Melanies Verzweiflung schlug in wütende Empörung um. »Lässt der Idiot sich einfach umlegen«, schimpfte sie laut. »Hätte der nicht wenigstens noch sechs Jahre warten können?«

Dienstag, 16.10 Uhr

Nachdem sich die Tür hinter der letzten Kundin für heute geschlossen hatte, dachte Marleen Schubert noch einmal an Frau Wolf zurück. Die Frau war zur Mittagszeit bei ihr gewesen und obwohl bereits mehrere Stunden vergangen waren, ging ihr die neue Kundin nicht aus dem Kopf.

Eine außergewöhnliche Frau, so höflich und bescheiden. Schade, dass nicht alle meine Kunden so sind, dachte Marleen.

Sie warf einen Blick auf das ausgefüllte Datenblatt, rechnete kurz nach und machte vor Erstaunen große Augen. Die muss sich verschrieben haben, schoss es ihr durch den Kopf. Diese Frau ist niemals neunundvierzig. Die sieht ja knuspriger aus als ich und ich bin neun Jahre jünger.

Marleen schüttelte fassungslos den Kopf. Für das Aussehen dieser Frau würde sie, ohne zu zögern, zehn Jahre ihres Lebens hergeben. Na ja, fünf – vielleicht?

Mein Gott, und was für schöne Hände die Frau hat. Makellos schlanke lange Finger und so zarte Haut.

Marleen hielt ihre Hände hoch und betrachtete sie kritisch. Dann seufzte sie tief, doch bevor sie sich groß Gedanken machen konnte, riss sie ein leises Rascheln, das nach dem Zusammenknäulen von Folie klang, aus ihren Gedanken.

Sie erhob sich und wollte in den hinteren Raum gehen, aus dem das merkwürdige Geräusch zu ihr gedrungen war, da sah sie aus den Augenwinkeln den weißen Oktavia mit ihrem Mann Dirk am Steuer auf den Parkplatz fahren.

Pünktlich wie immer, freute sie sich und verschob auf der Stelle ihren Erkundungsgang auf den nächsten Tag. Eine Tüte mit Kosmetikpads wird heruntergefallen sein, darum kümmere ich mich morgen, sagte sie zu sich selbst.

Schnell warf Marleen Schlüssel, Telefon und Portemonnaie in ihre Handtasche, nahm die Tageseinnahmen aus der Geldkassette, verließ den Laden, verschloss gründlich die Tür hinter sich und eilte zu ihrem Mann.

Dienstag, 16.30 Uhr

Er empfand weder Enttäuschung noch Wut. Inzwischen hatte er sich an dieses Gefühl gewöhnt. In gewissen Situationen hatte er gar den Eindruck, wie ein unbeteiligter Beobachter neben sich selbst zu stehen, so wenig brachten ihn die Vorgänge und das Leben in der Stadt aus dem Gleichgewicht. Dabei war er weder phlegmatisch noch an seiner Umwelt desinteressiert. Zurückschauend musste er sich eingestehen, dass das nicht immer so gewesen war. In der Kindheit und Pubertät hatte ihn nichts von seinen Klassenkameraden unterschieden. Er hatte mit ihnen gelacht und war über Ungerechtigkeiten ebenso empört gewesen wie die anderen.

Jetzt, mit einem gewissen Abstand, glaubte er, dass die Ereignisse, die sein Leben verändert hatten, kein Zufall gewesen waren und ihn neu geformt hatten.

Es war Schicksal.

Er war auserwählt worden und hatte Macht in die Hände gelegt bekommen. Dieser Macht musste er sich würdig erweisen und furchtlos den neuen Weg beschreiten.

Natürlich war die Veränderung nicht von heute auf morgen über ihn hereingebrochen. Es war ein langwieriger Prozess gewesen, voller Selbstzweifel, Angst und Wut. Ein schwächerer Mensch wäre mit Sicherheit an dieser Metamorphose zugrunde gegangen – er jedoch war wie ein Phönix aus der Asche gestärkt ins Leben zurückgekehrt.

So machte es ihm heute nicht das Geringste aus, dass die Kosmetikerin nicht die ihr zugewiesene Rolle gespielt hatte. Dabei kostete es endlose Mühe einen Plan auszuarbeiten und wenn dann wegen einer Kleinigkeit das Vorhaben scheiterte, wäre es nur natürlich, wenn die Emotionen in ihm hochkochen würden.

Warum musste die Frau ausgerechnet heute ihr Geschäft überpünktlich verlassen? Für gewöhnlich machte sie sich noch einen Kaffee und räumte auf. Er wüsste zu gern, was sie zu der ungewöhnlichen Hast getrieben hatte. Vermutlich würde er das nie erfahren und eigentlich kümmerte ihn das auch nicht. Wenn er in sich hineinhorchte, stellte er fest, dass er die Sache entspannt sah. Morgen war auch noch ein Tag.

Genieße deine vierundzwanzig geschenkten Stunden, Mädchen!

Gerade als er das Kosmetikstudio verlassen wollte, fiel ihm im letzten Moment ein, dass Frau Schubert ihn gehört haben könnte. Es war nicht erforderlich, ihr Misstrauen zu wecken. Unnötiges Grübeln gräbt Falten in die Haut und schadet dem guten Aussehen und schließlich wusste er, mit welcher Sorgfalt die Kosmetikerin ihr Äußeres pflegte.

Über seinen Witz grinsend, nahm er eine Tüte mit Kosmetikpads aus einem offenstehenden Schrankfach und ließ sie zu Boden fallen.

Das gelegentliche Rascheln, das sich bei seiner Arbeit trotz größter Vorsicht nicht vermeiden ließ, war ein Ärgernis. Aber eine andere Möglichkeit, sauber und diskret zu arbeiten, sah er nicht.

Nach einem letzten prüfenden Blick, dass er auch keine Spuren hinterließ, verließ er das Studio durch die Hintertür, durch die er es zuvor betreten hatte. Dabei versäumte er es nicht, den Schlüssel zweimal im Schloss umzudrehen. Genauso, wie es Frau Schubert stets tat.

Dienstag, 16.40 Uhr

Ständig zur Uhr schauend, eilte Karin nach Hause. Die letzten Meter rannte sie. Im Konsum, an der Käsetheke, hatte sie zu lange getrödelt und beim Juwelier hatte sie länger als geplant warten müssen, bis sich zwei blutjunge, ständig kichernde Mädchen endlich für zwei identische Halsketten entschieden hatten. Zusätzlich war die Kommissarin eine Haltestelle später aus der Bahn gestiegen, um beim Gemüsehändler auf der Österreicher Straße Blumen zu kaufen.

»Wäre ich doch nur mit dem Auto gefahren«, schimpfte sie leise und suchte mit ihren Blicken misstrauisch die Straße hinter ihrem Wohnblock ab.

Erleichtert stieß Karin die Luft aus. Sandras himmelblauer SEAT parkte noch nicht auf der Straße – ihr blieb eine Gnadenfrist.

Wie von Furien gejagt, hetzte sie die Treppe in das vierte Stockwerk hinauf, schleuderte achtlos ihre Sandaletten von den Füßen, schaltete ihren Rechner an und verstaute Käse und Wein im Kühlschrank. Im Küchenschrank fand sie eine passende Vase für den Blumenstrauß. Der kleine Umweg hatte sich gelohnt. Onkel Vu hatte die schönsten Blumen in der ganzen Gegend.

Atemlos wählte sie anschließend am Monitor ein hübsches Porträtfoto von Sandra aus, druckte es auf Fotopapier und befestigte die gerade erworbenen Ohrstecker an den Ohrläppchen, die unter den Haaren hervorlugten. Ein kurzer prüfender Blick auf ihr Werk, dann huschte sie ins Wohnzimmer und versteckte das Bild mit dem Schmuck in der Schrankwand hinter den Büchern, damit sie es im passenden Moment zur Hand hatte.

Jetzt kam die große Ruhe über Karin. Zufrieden lächelnd, zog sie sich aus und marschierte ins Bad. Fünfzehn Minuten später stand sie frisch geduscht vor dem Spiegel und föhnte ihre Haare. Durch das Rauschen des Haartrockners bemerkte sie Sandras Ankunft erst, als sich die Badtür öffnete und zwei große braune Augen sie anstrahlten.

Karin schaltete den Föhn aus, legte ihn auf der Waschmaschine ab, spitzte ihre Lippen und bot sie Sandra zum Begrüßungskuss. Danach hielt sie der Freundin vor Stolz strahlend ihre Hände entgegen.

»Wow«, meinte Sandra beeindruckt. »Jetzt sehen deine Nägel nicht mehr aus, als hätte ein besoffener Biber dran rumgeknabbert.«

Karin holte tief Luft, der Protest erstarb jedoch auf ihren Lippen. Mit all ihren Sinnen spürte sie Sandras Blicke, die jeden Quadratzentimeter ihres nackten Körpers abtasteten.

Verführerisch lächelnd, trat Sandra nah an sie heran und legte ihr die Hand auf den Po. »Wenn du mich im Evakostüm empfängst, brauchst du dich nicht wundern, wenn ich spitz werde wie Nachbars Lumpi.«

In Karins Unterleib wuchs ein wohlig warmes Gefühl. »Vor dem Essen?«

Statt einer Antwort lächelte Sandra, zog ihr Shirt über den Kopf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich glaube, du hast dich umsonst geduscht. In spätestens einer halben Stunde bist du wieder durchgeschwitzt.«

In diesem Moment klingelte Karins Telefon.

Dienstag, 17.10 Uhr

Glücklich kniff Patricia die Augen zusammen und lächelte. Der Abend versprach wunderschön zu werden. Eigentlich schade, dachte sie ein wenig wehmütig, dass ich mich nicht auf meinen kleinen Balkon setzen und bei einem Glas Roten die Dämmerung genießen kann. Verdient hätte ich es, nach der Schinderei im Fitnesscenter. Doch sie tröstete sich schnell, die Nacht würde auch so lustig werden.

Mit der Sonne um die Wette strahlend, bückte sie sich zu ihrem Fahrrad, öffnete das Schloss und radelte los. Vor zwei Tagen hatte sie die Annonce im Supermarkt entdeckt, kurzerhand die angegebene Nummer gewählt und war nur wenige Stunden später stolze Besitzerin eines flotten Drahtesels geworden. Patricia lächelte stolz. Drahtesel, was für tolle Vokabeln sie inzwischen beherrschte. Ihr Deutsch wurde von Tag zu Tag besser.

Sie konnte sich nicht beschweren. Alle Projekte, die sie in den letzten sechs Monaten angepackt hatte, haben sich zu Senkrechtstartern gemausert.

Vor drei Jahren war Patricia von Brighton nach Dresden gezogen. Hatte ihr Architekturstudium begonnen und es vor einem halben Jahr abgebrochen. Sie weinte dem Campus keine Träne nach. Das Entwerfen von Gebäuden hatte ihr nicht wirklich Spaß gemacht, ihr zu Beginn als Nebenerwerb geplantes Kellnern dagegen schon. Jeden Abend lernte sie in der Bar neue Leute kennen, jeden Abend neues Leben, neue Geschichten. Patricia fühlte sich wie geschaffen für diese bunte Welt. Die Trinkgelder, die sie allabendlich einstrich, waren okay und von der Aushilfe war sie zur fest angestellten Kellnerin aufgestiegen. Sie konnte sich eine eigene Wohnung leisten, der WG den Rücken kehren und obwohl ihr Nest noch nicht fertig eingerichtet war, fühlte sie sich pudelwohl.

Ein ihr mit Blaulicht entgegenkommender Wagen ließ sie am Straßenrand anhalten. Sie blickte verwundert hinterher. Tatsächlich, die Polizei bog in ihre Straße ein. Was können die in dem friedlichen Viertel nur wollen? Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und nachgesehen. Aber das konnte sie vergessen, sie war ohnehin viel zu spät.

Den Muskelkater ignorierend, trat sie kräftig in die Pedale, rief einer Nachbarin ein fröhliches »Hallo« zu und vergaß den Streifenwagen. Es gab wichtigere Dinge, bekam sie doch heute endlich die Gelegenheit, der Welt ihren neuen Sommeroverall zu präsentieren. Auch gab ihr die lange Fahrt zur Arbeit die Möglichkeit, ein wenig ihren Träumen nachzuhängen. Und davon hatte Patricia jede Menge. Sobald sie genügend Geld auf die hohe Kante gelegt hatte, wollte sie eine Ausbildung zum Sommelier beginnen. Patricia schmunzelte vergnügt. Später war vielleicht, mit einem Spritzer Glück, ein eigenes feines Weinrestaurant für sie drin.

Ja, das Leben meinte es gut mit ihr und Patricia war sich sicher, sollte eine Wahrsagerin zu ihrer Zukunft eine Kristallkugel befragen, würde diese rosarot aufglühen.

Dienstag, 18.20 Uhr

Hauptkommissarin Karin Wolf stieg aus ihrem Ford Fiesta und schaute missmutig in die Runde. Dabei streifte ihr Blick eine Harley Davidson, die aufgebockt am Straßenrand stand. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und sie schnaufte empört. Zum wiederholten Mal hatte sie das Wettrennen gegen das schwere Motorrad des Rechtsmediziners verloren.

Während sie versuchte, ihre Niederlage zu vergessen, musterte sie die Umgebung. Der Tatort lag im Nordosten von Dresden, im Stadtteil Weißig. Die Bautzner Landstraße war einen halben Kilometer entfernt und die einzigen Geräusche wurden von den Kollegen der KTU beim Entladen ihrer Gerätschaften verursacht.

Der Nachmittag mit seinen hochsommerlichen Temperaturen war einem milden Sommerabend gewichen. Ideal für ein gemütliches Abendessen, für Käse, Baguette und Wein. Idylle pur. Karin seufzte tief. Sie war müde und sehnte sich nach einem schönen Abend mit Sandra. Warum zum Teufel mussten die Leute sich umbringen lassen, wenn sie gerade auf Wolke sieben schwebte?

Natürlich war Sandra gleichfalls enttäuscht gewesen, hatte ihre gute Laune inzwischen aber wiedergefunden. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte die Hauptkommissarin ihre Kollegin Oberkommissarin Heidelinde Grün. »Bist du schon mal mit Karin gefahren, wenn sie mies drauf war?«

»Ja, und bei diesen Gelegenheiten habe ich eine Menge neuer Schimpfworte gelernt.«

Karin tat, als hätte sie nichts gehört und kam zur Sache. »Und? Wer versaut uns diesen Abend?«

Da Heidelinde aufgrund ihres fotografischen Gedächtnisses kein Notizbuch benötigte, fasste sie die bisherigen Erkenntnisse aus dem Kopf zusammen. »Norbert Weise, vierundvierzig. Anwalt mit eigner Kanzlei.«

»Oh Gott.« Sandra verdrehte die Augen. »Da gibt es sicher eine Million Verdächtige.«

Ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, fuhr Heidelinde in ihrem Telegrammstil fort: »Wohnhaft war Norbert Weise hier. Haus und Grundstück gehören ihm. Ob er noch andere Immobilien, Grundstücke, Wohnwagen oder dergleichen besitzt, weiß ich noch nicht. Bringe es aber in Erfahrung. Gefunden hat ihn Melanie Bergmann, die er in seiner Kanzlei als Assistentin beschäftigte.« Heidelinde wies mit einem knappen Nicken zu einer jungen Frau, die ruhelos neben dem Haus auf und ab tigerte. »Die dort mit dem sauren Gesicht. Sie geht uns allen auf die Nerven, fragt alle paar Minuten, ob sie endlich nach Hause zu ihrer Tochter gehen kann. Ich habe sie aber bis jetzt dabehalten, da ich nicht wusste, ob du sie noch befragen willst«, sagte sie an Karin gewandt.

Die schüttelte nur den Kopf und gähnte ausgiebig. »Wenn du mit ihr gesprochen hast, ist alles okay. Mir erzählt sie auch nicht mehr. Lass sie gehen, wir melden uns morgen bei ihr. Hat der Mann Angehörige?«

»Nur die Eltern. Ich habe Brückner zu ihnen geschickt.«

Karin zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.

»Du musst nicht so kritisch gucken. Mit älteren Herrschaften kann er sehr gut umgehen.«

Karin, die wusste, dass Oberkommissar Brückner bei seinen Eltern lebt, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und segnete Heidelindes Entscheidung ab.

»Da Weise in seiner Kanzlei keinen Partner hat, sich also niemand querstellen kann«, Heidelindes Wangen überzogen sich mit einer zarten Röte, »und ich nicht abwarten konnte, bis ihr hier auftaucht, habe ich deiner Entscheidung vorgegriffen, Karin.«

Obwohl Karin wusste, was jetzt kommen würde, und sie mit Heidelindes Vorgehen einverstanden war, konnte sie es wieder mal nicht lassen, ihre Kollegin an der Nase herumzuführen. Sie unterdrückte ein Grinsen und setzte eine strenge Miene auf.

Verunsichert sprach Heidelinde weiter: »Da ich hoffe, dass wir in seinen Unterlagen relevante Informationen finden, habe ich Jan mit Frau Bergmanns Schlüssel losgeschickt, damit er sich in der Kanzlei umsieht.«

Karin holte tief Luft, doch Sandras Faustschlag auf ihren Oberarm stoppte sie. »Quäl die arme Heidi nicht so. Siehst du nicht, wie sehr es sie mitnimmt, dass sie sich nicht an die Vorschriften gehalten hat? Du hättest es genauso gemacht, allerdings hättest du im Gegensatz zu Heidi kein schlechtes Gewissen.« Sandra trat zu der blonden Kommissarin und legte ihre Hand auf deren Arm. »Du hast alles richtig gemacht, Heidi. Und du musst auch nicht unbedingt mit Karin sprechen. Ich habe denselben Dienstgrad und vielleicht werde ich die Leitung der Morduntersuchung übernehmen.«

Jetzt lächelte Heidelinde. Zum Teil aus Erleichterung, aber auch weil sie Sandras Gedanke amüsierte. Allen war klar, dass nur außergewöhnliche Umstände ihren Chef, Kriminalrat Haupt, davon abhalten würden, Karin mit der Ermittlungsleitung zu betrauen.

»Eigentlich wollte ich nur sichergehen«, setzte Heidelinde ihren Bericht fort, »vermutlich hat das Verbrechen nichts mit der Arbeit des Anwalts zu tun. Alle Indizien deuten darauf hin, dass Weise einen Einbrecher überrascht hat und ihm das zum Verhängnis wurde. Doch ich will nicht vorgreifen. Am besten ihr seht euch die Bescherung selbst an.«

Karin und Sandra ließen sich von einem Kriminaltechniker Schutzanzüge geben, schlüpften hinein und betraten das Haus. Sie sahen auf den ersten Blick, dass Heidelindes Theorie nicht aus der Luft gegriffen war. Die Kabel für den Fernseher und den DVD-Player lugten traurig hinter dem gläsernen Rack hervor und eine leere Laptop-Tasche neben der Couch sprach Bände. Die Fächer und Schubladen der Wohnwand zeigten ebenfalls Anzeichen einer gründlichen Suche.

Karin blieb in der Mitte des Raumes stehen und ließ die Atmosphäre des Zimmers auf sich wirken. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft. Süßlich und leicht metallisch. Der Geruch des Todes. Obwohl sie die Leiche ausblendete, glaubte sie einen kalten Hauch auf ihrer Haut zu spüren. So, als würde der Geist des Toten neben ihr stehen. Augenblicklich stellten sich die Härchen auf ihren Unterarmen auf. Ein Verbrechen verändert einen Ort, fuhr es ihr durch den Kopf. Nicht nur äußerlich, in Form von Blut und dem Chaos einer Durchsuchung, sondern auch in der Ausstrahlung. Die Wände, der Fußboden, alles sandte bedrohliche Signale aus. Sie schüttelte die Empfindung ab und ging zu Sandra, die gerade zu dem Opfer getreten war.

Dr. Bretschneider, der Rechtsmediziner, widmete sich mit Hingabe der Leiche. Karin nickte dem Doktor knapp zu, Sandra dagegen beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte – laut genug, dass es alle Anwesenden hören konnten – in sein Ohr. »Hallo Mario, hast du Karins Zähne knirschen gehört, als du uns kurz nach Bühlau überholt hast?«

»Gehört nicht, gedacht habe ich es mir allerdings. Hallo, Karin.« Er winkte der schwarz gekleideten Hauptkommissarin fröhlich zu.

Die klappte mental die Ohren zu und das vertraute Gefühl von Frustration überkam sie bei der Erinnerung an Dr. Bretschneider, der mit einem eleganten Schlenker an ihnen vorbeigezogen war. Was konnte sie dafür, dass ihr Fiesta keine Chance gegen eine Harley hatte?

Ohne die beiden Scherzkekse eines Blickes zu würdigen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Toten. Das schmerzverzerrte Gesicht und die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen holten Karin auf der Stelle in die Realität einer Mordermittlung zurück. Das Bild schockierte sie in seiner Brutalität so sehr, dass sie ihre Augen abwenden musste. Sie hatte in ihrer langen Dienstzeit viele schrecklich zugerichtete Leichen sehen müssen, aber ein derart gewaltsames Vorgehen war nicht alltäglich. Dieser Mann war einen qualvollen Tod gestorben. Die Blutlache neben dem Körper und die verkrampften Hände, die der Anwalt im Todeskampf an seinen Bauch gepresst hatte, verrieten der erfahrenen Kommissarin eine Menge über die Art seines Todes.

Mühsam löste Dr. Bretschneider die Finger des Opfers und unterzog die großflächige Wunde einer näheren Betrachtung. »Es sieht so aus, als hätte ihm der Täter das Messer in den Unterbauch gerammt und es anschließend nach oben gerissen. Anders kann ich mir die starke Blutung nicht erklären. Näheres erfahrt ihr morgen.«

»Kannst du schon sagen, wann er ermordet wurde?«

»Dass ihr es nie abwarten könnt.« Bretschneider wiegte nachdenklich den Kopf. »Festlegen will ich mich nicht, aber da die Totenstarre voll ausgeprägt ist, liegt er mindestens zwölf Stunden hier – wahrscheinlich sogar länger. Anhand der Körper- und Umgebungstemperatur tippe ich auf zwanzig bis fünfundzwanzig Stunden. Morgen kann ich es euch genau sagen.«

Von Sandra war sämtliche Fröhlichkeit abgefallen. Bedrückt starrte sie auf den Toten und hatte nur den Wunsch, sich fest an Karin zu klammern. Bei den vielen Kollegen im Raum verbot sich das jedoch von selbst. Dass Karin und sie ein Paar waren, wusste außer ihren engsten Mitarbeitern niemand. Wenn die Polizeiführung von ihrer Beziehung erfahren würde, dürften sie nicht mehr in derselben Abteilung arbeiten. Und das wollten die beiden um jeden Preis vermeiden.

Karin überwand ihre Schwäche und zwang sich, den Toten gründlich zu mustern. Jede Kleinigkeit prägte sie sich ein und wusste dabei genau, dass dieser grässliche Anblick sie in den kommenden Nächten in die schwärzesten Träume schicken würde. »Der hatte gestern Abend auf jeden Fall noch etwas vor«, sagte sie mehr zu sich selbst, »die Camouflage Klamotten sind definitiv zu unbequem für einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher.«

»Vielleicht wollte er sich einen Kriegsfilm ansehen. Authentizität ist bei einem aktiven Zuschauer ein Muss.«

Der schwarze Humor des Gerichtsmediziners vertrieb Karins Beklommenheit. Dankbar grinste sie Dr. Bretschneider von der Seite an und zeigte auf die Pantoffeln, die der tote Anwalt noch an den Füßen trug. »Müsste er da nicht zackige Armeestiefel tragen?«

Ehe der Doktor antworten konnte, meldete sich Sandra. »Neben der Haustür stehen ein Paar blitzblank geputzte Wanderschuhe. So sauber, wie dieses Wohnzimmer ist, lief der niemals mit Straßenschuhen durchs Haus.«

Karin presste die Lippen aufeinander. Dieses Detail war ihr entgangen.

Die schweren Tritte von Günther Lachmann, dem Chef der KTU, stoppten ihre Selbstvorwürfe. Er kam die Treppe hinuntergestiegen. »Mir reicht es langsam mit diesem Mist. Ich glaube, ich habe in meinem Leben genug Leichen und Tatorte gesehen. Dieser Fall ist definitiv mein letzter.« Er holte tief Luft. »Es ist höchste Zeit für meinen Ruhestand.«

Karin hatte schon lange mit dieser Ankündigung gerechnet, die Entscheidung war längst überfällig, doch jetzt, da er es klar formulierte, wurde sie traurig. Verstehen konnte sie ihren alten Freund gut. Er wollte seinen Lebensabend mit Frau, Kindern und Enkeln verbringen und nicht mehr ständig mit den Händen in Dreck, Blut und Kot wühlen. Es würde einen Abschied geben und Karin wusste, dass trotz aller Beteuerungen, man würde sich ja oft treffen, dieser Abschied endgültig wäre.

Doch hier und heute war es noch nicht so weit. Betont fröhlich begrüßte sie ihn und fragte: »Dürfen wir uns bereits in den oberen Räumen umsehen?«

»Könnt ihr, wir haben alle Spuren gesichert. Viel gibtʼs da aber nicht zu sehen.«

Wie Günther es gesagt hatte, bot die obere Etage keine Überraschungen.

»Sieht gar nicht nach einer Junggesellenwohnung aus«, stellte Sandra nach dem Rundgang durch Bad, Arbeits- und Schlafzimmer fest. »Eigentlich recht geschmackvoll eingerichtet, sauber und ordentlich.«

Karin war derselben Meinung. »Dass die Buden von alleinstehenden Männern unaufgeräumte Drecklöcher sind, ist ein Klischee. Hier stimmt eigentlich alles. Wenn nicht gerade ein Mord in diesem Haus passiert wäre, könnte ich es mir durchaus vorstellen, hier einzuziehen.« Sie seufzte tief. »Allerdings wäre es mir lieber gewesen, eine verschrobene Hütte vorzufinden. Ein paar makabre Wohnaccessoires, zum Beispiel Schrumpfköpfe oder stapelweise Pornofilme, würden ungemein bei der Erstellung einer Charakterstudie helfen.«

»Schade, dass sein Computer weg ist. Da findet man solche schönen Dinge, vor allem bei Menschen mit Vorzeigewohnungen.«

Karin gab Sandra im Stillen recht und ging ein weiteres Mal langsam durch die Räume. Im Schlafzimmer blieb sie stehen. Eine Jogginghose und ein Sweatshirt fesselten ihren Blick. Die Kleidungsstücke lagen ordentlich über einem Stuhl. Sie nahm die Sachen und schnüffelte daran.

»Frisch gewaschen oder getragen?« Sandra sah ihre Partnerin erwartungsvoll an.

»Eindeutig benutzt. Vermutlich wollte er sie nach seiner Rückkehr sofort wieder überstreifen. Ich würde zu gern wissen, wohin er noch wollte.«

Sandra hob die Schultern. »Kann uns das nicht egal sein? Er ist in seinem Haus überfallen worden und fertig.«

Da Karin kein Gegenargument einfiel, überging sie die Bemerkung. »Ich kann nichts Außergewöhnliches entdecken. Sobald die KTU mit dem Haus fertig ist, lassen wir Jan von der Leine. Er ist ein absoluter Pedant. Wenn es etwas zu finden gibt, spürt er es auf.«

Sandra nickte zustimmend und stieg mit Karin die Holztreppe in das große Wohnzimmer hinunter.

Da die KTU noch mitten in der Arbeit steckte, war an ein Herumschnüffeln nicht zu denken. Die beiden Kommissarinnen sahen sich lächelnd an, hier kamen sie erst mal nicht weiter. Vielleicht war ihr gemeinsamer Abend noch zu retten.

Karin wollte gerade Heidelinde zu sich rufen, um ihr Anweisungen für das weitere Vorgehen zu geben, da winkte Günther Lachmann sie zu sich. »Schaut mal, was ich hinter dem Müllsack gefunden habe.« Er hatte den Inhalt eines Rucksacks auf dem Fußboden ausgebreitet und wirkte hocherfreut. »Das wirft ein besonderes Licht auf den Abendspaziergang unseres Anwalts.«

»Wow, ein Infrarot-HD-Digital-Nachtsicht Monokular.« Sandra war in ihrem Element. Alles, was mit Technik auch nur im Entferntesten in Verbindung stand, zog sie magisch an. »Mit dem Teil kannst du Filme und Fotos in 4K-Auflösung aufnehmen. Super Qualität, muss sauteuer gewesen sein. Wieso hat der Einbrecher das nicht mitgehen lassen? Aha, weil er es hinter dem Rucksack nicht gesehen hat«, beantwortete sie selbst ihre Frage.

»Damit kannst du nachts filmen? Wie mit einem Nachtsichtgerät?«, wollte Karin wissen.

»Definitiv.« Sandra hatte sich bereits das nächste Gerät geschnappt und unterzog es einer eingehenden Betrachtung. »Der Herr Anwalt muss Großes vorgehabt haben. Zusätzlich zur Kamera hatte er ein digitales Nachtsichtgerät mit 7-facher Vergrößerung dabei. Also jetzt interessiert es mich schon, was er in der Dunkelheit getrieben hat. Dürfen wir die Teile schon mitnehmen?«, fragte sie Günther und sah ihn hoffnungsvoll an.

Der fand die Frage amüsant. »Natürlich nicht. Wir müssen noch Fingerabdrücke nehmen und Daten sichern.«

Einer der Techniker kam ins Haus und trat zu ihnen. »Wir haben neben einem Rosenstock einen Fußabdruck gefunden, der nicht zum Hausherrn passt.« Ohne einen Kommentar abzuwarten, drehte er sich um und ging zurück ins Freie.

Günther folgte ihm gespannt mit Karin und Sandra auf den Fersen. Vor dem Abdruck blieb er stehen und schüttelte bestätigend den Kopf. »Der ist eindeutig nicht vom Anwalt. Der hat maximal Größe 43 und das hier ist wenigstens eine 48.«

»Das sind keine Schuhe mehr, das sind Kindersärge.« Sandra ging vor der Fußspur in die Knie und grinste. »Das sieht aus wie gemalt, sogar das Profil ist ganz deutlich. Der Täter muss es sehr eilig gehabt haben, dass er hier auf die weiche Erde gelatscht ist.«

Lachmann brummte zustimmend. »Der wollte sicher vermeiden, dass ihn ein aufmerksames Auge beim Verlassen des Hauses bemerkt.«

Karin gab keinen Kommentar ab, nachdenklich zog sie die Unterlippe zwischen die Zähne, dann zuckte sie mit den Schultern, ging zu Heidelinde und übertrug ihr die Verantwortung vor Ort. Mit einem kurzen »Kommst du?« in Sandras Richtung lief sie zu ihrem Fahrzeug.

In dem Moment als Karin ihre Hand auf den Türgriff legte, machte Günther mit einem Winken auf sich aufmerksam und kam schnell zu ihnen gelaufen. »Fast hätte ich es vergessen. Da ist noch eine Sache, die mir Magendrücken verursacht. Wir konnten weder an der Tür noch an den Fenstern Einbruchsspuren entdecken. Was das bedeutet, müsst ihr euch selbst zusammenreimen.«

Karin nickte düster. Bereits in der Wohnung hatte sie ein merkwürdiges Gefühl beschlichen. Doch vorerst behielt sie ihre Befürchtungen für sich, denn dieser Gedankengang war so absurd und ungeheuerlich, dass sie ihn sofort aus ihrem Kopf verbannte. Diesmal musste ihr Instinkt sich einfach irren. Jedenfalls hoffte sie das mit jeder Faser ihres Herzens.

Bevor Karin ins Auto stieg, ließ sie ihren Blick über die Häuser wandern, die die abgelegene Straße säumten. Ein paar Zaungäste hatten Posten an den Fenstern bezogen und schauten dem Treiben der Polizisten zu. Doch das war nicht mit den Ansammlungen vergleichbar, die sich innerhalb weniger Minuten in der Innenstadt zusammenrotteten, wenn es galt, sich an dem Leid anderer zu laben.

Weder sie noch einer ihrer Kollegen bemerkten das unscheinbare Fahrzeug am Straßenrand, in dem ein Mann saß, der interessiert das Treiben auf dem Grundstück des Anwalts beobachtete.

Mittwoch, 16. Juli, 06.45 Uhr

Cooles Anwesen, stellte Jan Klingenberg fest, nachdem er eine Runde um das Haus und durch den gepflegten Garten des Anwalts gedreht hatte. Er konnte es sich durchaus vorstellen, in so einer feudalen Bude zu leben. Leider würde dieser Wunsch mit den Bezügen eines Kriminalkommissars eine Utopie bleiben.

Gestern am späten Abend hatte ihn Karin angerufen, ihn über den Ermittlungsstand informiert und gebeten, das Haus zu checken, sobald die Techniker mit ihrer Arbeit fertig waren. Einen Schlüssel zum Haus hatte sie für ihn in der Polizeidirektion hinterlegt.

Sofort hatte Jan seine Chance gewittert. Wenn es ihm gelang, ein wichtiges Beweisstück aufzuspüren, würde ihn das der lang ersehnten Beförderung zum Oberkommissar ein Stück näherbringen. Gründlich, wie er war, hatte er seine Ermittlungen in der Kanzlei zu Ende gebracht, war dann nach einem Umweg über die Polizeidirektion nach Hause gefahren und hatte den Wecker auf 5 Uhr gestellt.

Der Chef der KTU war nicht amüsiert gewesen, als Jan ihn fünf nach fünf aus dem Schlaf gerissen hatte und von ihm wissen wollte, ob er endlich mit seinen Ermittlungen beginnen konnte.

Günther kriegt sich schon wieder ein, tröstete sich Jan, während er das Polizeisiegel entfernte und eine erste Besichtigungstour durch die Räume startete. Zurück am Ausgangspunkt seiner Wanderung, setzte er sich auf das Wohnzimmersofa und dachte nach. Ein Haus auf den Kopf zu stellen, wenn man nicht weiß, nach was man sucht und ob es überhaupt etwas zu finden gibt, ist wie die Nadel im Heuhaufen zu suchen, ohne zu wissen, ob es eine Nadel gibt. Denn wenn der Anwalt sich nicht bedroht gefühlt hatte, bestand für diesen keine Veranlassung, Zeit und Mühe aufzuwenden, um einen Gegenstand zu verstecken.

Erneut lief Jan langsam durch das Haus, um sich ein Bild von dem ehemaligen Bewohner zu machen. Der Mann war ordentlich gewesen, aber nicht pedantisch. Das Haus war sauber, aber nicht klinisch rein. Ein ganz normaler Typ also.

Als Erstes wollte Jan in Erfahrung bringen, ob der Anwalt handwerklich begabt gewesen war. Das konnte ein entscheidender Hinweis über die Art eines Verstecks sein. Da es keinen Keller gab, forschte Jan in der Küche.

Er hatte den Bewohner richtig eingeschätzt, genau wie bei ihm zu Hause stand der Werkzeugkasten in einem Wandschrank. Mit einiger Mühe beförderte Jan einen Alu-Koffer mit einem kompletten Werkzeug-Set ans Tageslicht. Beim Öffnen musste er unwillkürlich grinsen. Jedes einzelne Werkzeug glänzte ihn mit strahlender Unbenutztheit an. Gleich oben, in einem Fach für Kleinteile, lag sogar noch der Kassenzettel. Weise hatte das Werkzeug-Set vor vierzehn Jahren erworben. Es war wie eine Versicherung, die man kauft und von der man hofft, dass man sie nie benötigt. Bevor Jan den Koffer zurückstellte, unterzog er das Fach einer akribischen Musterung. Außer einem halb leeren Eimer mit Wandfarbe konnte er nichts entdecken. Neugierig geworden hielt Jan nach Pinseln oder einer Malerrolle Ausschau. Fehlanzeige. Er zuckte mit den Schultern, vermutlich nach Gebrauch entsorgt. Verwendbar war die Farbe aber noch, das ergab zumindest Jans Schütteltest.

Punkt eins war somit geklärt, in diesem Haus war es nicht erforderlich Abflüsse auseinanderzunehmen, Geräte zu öffnen und Schubfächer auf doppelte Böden zu untersuchen. Wenn es ein Versteck geben sollte, hatte der Anwalt mit Sicherheit eine unkompliziert zugängliche Position dafür gewählt. Mit Grausen erinnerte sich Jan an eine Drogenrazzia, bei der er gezwungen gewesen war, den Abfluss einer Toilette zu demontieren. Er lächelte erleichtert, das würde ihm in dieser Wohnung nicht passieren.

Seiner größten Sorge ledig, konnte sich Jan auf den nächsten Punkt seiner Liste konzentrieren. Die Indizien wiesen eindeutig auf einen Raubmord hin, somit blendete Jan die Existenz eines Geheimverstecks vorerst aus. Folglich bestand seine Aufgabe darin, Informationen zu sammeln.

Bei Wohnungsdurchsuchungen ließ Jan sich gern von seinen Gefühlen leiten. Er nahm an, dass das Verhalten eines Menschen von den tief in seiner Seele verborgenen Begierden bestimmt wird. Die Bestätigung für diese Annahme hoffte er, im Schlafzimmer des Anwalts zu finden.

Er stieg die Treppe hoch und widmete sich den oberen Räumen. Gleich zu Beginn wollte er die uninteressanten Bereiche abhaken und betrat die Veranda.

Überwältigt blieb er stehen, der Ausblick auf Bäume und Felder faszinierte ihn. Von seinem heimischen Balkon sah er bloß den Mietern des gegenüberliegenden Blocks in die Fenster. Erneut überkam ihn ein Anflug von Neid. Doch er verdrängte das Gefühl rasch und ließ seinen Blick über die Einrichtung wandern. Außer einem Klapptisch und einem Liegestuhl, der ordentlich in Folie verpackt an der Wand lehnte, und einer Flasche Sonnenmilch gab es nichts zu sehen. Allerdings erzählten diese Dinge dem Kommissar eine ganze Menge über den Menschen, der hier gelebt hatte. Der Anwalt wollte mit einer sportlichen Bräune glänzen und war gern für sich.

Im Wintergarten mit den üppigen Grünpflanzen fand Jan eine weitere Bestätigung für seine zweite Schlussfolgerung: An einem Tisch stand ein einsamer Stuhl.

Das Badezimmer entlockte Jan nur noch ein müdes Lächeln. Die Serie setzte sich fort: Keine zweite Zahnbürste und die Kosmetik – ausnahmslos von Hugo Boss – war für einen einzelnen Mann bestimmt.

Die Überprüfung des Arbeitszimmers war gleichfalls erfolglos. Lustlos blätterte Jan durch Aktenordner, fand jedoch nur Weises Steuererklärungen, Unterlagen der Krankenkasse und alle möglichen Dokumente zu dessen Haus. Das alles waren Dinge, die ihn nicht wirklich interessierten, und er war froh, dass nicht er sich mit Weises privaten Unterlagen befassen musste. Das gesamte Material würde auf Heidelindes Schreibtisch landen, genau wie Jans private Steuererklärung. Für eine gute Flasche Roten war die Kollegin jedes Jahr bereit, ihm diese Last abzunehmen.

Nach einem Computer hielt er im Arbeitszimmer vergeblich Ausschau. Vermutlich hat der Anwalt für seine Arbeiten den Laptop benutzt, der aus seinem Wohnzimmer geklaut worden war, schlussfolgerte er.