Der Henker mit dem Totenkopf - Andreas M. Sturm - E-Book

Der Henker mit dem Totenkopf E-Book

Andreas M. Sturm

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Beschreibung

Juni 1983. Kurz nacheinander werden im Dresdner Großen Garten zwei Frauen vergewaltigt und ermordet. Ein Verdächtiger wird schnell gefunden, doch Volkspolizist Uwe Friedrich entdeckt Ungereimtheiten und ermittelt noch in andere Richtungen. Bevor er dem wahren Täter auf die Spur kommt, geht das Morden weiter und Uwe stellt fest, dass bei diesem Fall nichts so ist, wie es scheint.

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Andreas M. Sturm

Der Henker mit dem Totenkopf

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Nachwort

Begriffserklärungen

Danksagung

1

Nie zuvor in ihrem Leben hatte Ingeborg eine derartige Furcht verspürt. Nicht einmal in jener Nacht, als die Bomben auf Dresden gefallen waren.

Als sie ihre Schritte in den Großen Garten gelenkt hatte, war es am Anfang nur ein leichtes Frösteln gewesen. Ein kaum merkliches Aufstellen der Härchen auf ihren Unterarmen. Obwohl sie weder Schritte noch andere verdächtige Geräusche in ihrer Umgebung wahrgenommen hatte, nistete sich die Angst in ihr ein und sog zunehmend Lebenskraft aus ihrem Körper. Ihre Nerven spielten verrückt, ließen ihre Knie zittern und hinderten sie daran, ihrem Fluchtreflex zu gehorchen. Sie war nicht imstande, die Beine in die Hand zu nehmen und zuzusehen, dass sie zurück auf belebtere Straßen kam. Ihre Bewegungen glichen der einer Greisin, die sich, von der Last der Jahre niedergedrückt, mühsam ihren Weg bahnte. Es beunruhigte Ingeborg, dass sie keine plausible Erklärung für ihren besorgniserregenden Zustand fand. Ihre derzeitige Situation konnte nicht der Auslöser für diese Panikattacke sein.

Ein wenig aufgeregt war sie natürlich gewesen, als sie sich am frühen Nachmittag in der Buchbinderei des Grafischen Großbetriebs Völkerfreundschaft zum Arbeitsantritt gemeldet hatte, aber der Tag war bestens gelaufen. Die Kollegen am Band hatten sie herzlich willkommen geheißen, sodass die acht Stunden wie im Flug vergangen waren. Die neue Arbeitsaufgabe zu bewältigen, war ebenfalls kein Problem gewesen. Sie musste nur die einzelnen Druckbögen für die Bücher von einer Palette nehmen und in die vorgesehenen Fächer sortieren. Die Arbeiterinnen am Band entnahmen die Druckbögen, und wenn das Band eine Runde gedreht hatte, kam am Ende das fertige Buch heraus. Diese Tätigkeit war stumpfsinnig, jedoch einfach.

Eigentlich war Ingeborg Sekretärin in der Kombinatsleitung des GGV. Als am letzten Freitag bei der Gewerkschaftsversammlung ihr Chef die Frage in den Raum gestellt hatte, ob jemand bereit sei, in der Buchbinderei sozialistische Hilfe zu leisten, hatte sie keinen Moment gezögert und sich freiwillig gemeldet. Sie wollte mal ausbrechen aus dem täglichen Einerlei, andere Menschen in einer neuen Umgebung kennenlernen. Der Gedanke war einfach zu verführerisch gewesen. Dazu lockte der Schichtbetrieb, der ihr jede Menge freie Zeit versprach, um liegengebliebene Dinge zu erledigen. Und sollte es ihr nicht gefallen – drei Wochen gingen schnell ins Land.

Die Rückschau hatte Ingeborg abgelenkt, ihr sogar neuen Antrieb gegeben. Sie blieb stehen und schnaufte kurz durch. Die kühle, feuchte Luft fegte den Papierstaub aus ihrer Lunge, worauf der Sauerstoff Energie in ihr freisetzte. Sie schalt sich ein überängstliches Weib und lief mit normaler Geschwindigkeit weiter. Was konnte ihr denn schon passieren? Zu dieser Zeit waren im Großen Garten kaum Leute unterwegs, sollte doch ein Mann im Gebüsch auf sie lauern, würde der sich aber wundern. Nicht umsonst stählte sie seit Jahren mithilfe von Kraft- und Gymnastikübungen ihren Körper. Außerdem hatte sich die silbrig glänzende Sichel des Mondes hinter einer Wolke hervorgetraut und beleuchtete ihren Weg.

»Alles bloß wegen dieser blöden Straßenbahn«, schimpfte Ingeborg im Weitergehen. Nach Schichtende war sie bis zum Fučíkplatz mit der Bahn gefahren, doch sie hatte der Linie 13, die sie das letzte Stück bringen sollte, nur noch nachwinken können. Auch nicht schlimm, hatte sie gedacht und beschlossen, bis zu ihrer Wohnung an der Tiergartenstraße die Abkürzung durch den Park zu nehmen.

Sie erreichte den Mosaikbrunnen und lief weiter über kleinere Pfade bis zum Kaitzbach. Bald würde sie es geschafft haben, es waren kaum 500 Meter bis nach Hause.

Gerade als sie einer Pfütze auswich, die im kalten Mondlicht schimmerte, drang ein leises Knacken an ihre Ohren. Mehrere Minuten blieb Ingeborg erschrocken stehen und lauschte. Außer dem sanften Rauschen der Bäume hörte sie keinen Laut. Doch das Gefühl, nicht allein zu sein, war so stark, dass es schmerzte. Da war jemand, der sie beobachtete. Deutlich konnte sie die Blicke auf ihrer Haut spüren.

Jetzt reagierte ihr vegetatives Nervensystem, wie es von der Natur vorgesehen war. Ihr Herz hämmerte wie wild, ihre Muskeln spannten sich an, und Ingeborg rannte los, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Weit kam sie nicht. Blitzschnell wie eine Schlange auf der Jagd fuhr ein Stock aus dem Dickicht am Wegesrand zwischen ihre Beine und ließ sie lang hinschlagen. Benommen vom Aufprall bemerkte sie das Rascheln von Laub und Zweigen zu spät. Sie versuchte auf die Beine zu kommen, da traf sie ein harter Schlag am Hinterkopf. Wie durch einen Nebel fühlte sie, dass sie ins Gebüsch gezerrt und auf den Rücken gedreht wurde. Der unmittelbar darauf einsetzende grässliche Schmerz in ihrem Unterleib holte sie ins Leben zurück. Irgendetwas tobte sich in ihr aus, schien ihr Gewebe zu zerreißen. Ingeborg wollte ihre Qual herausschreien, brachte aber nur ein klagendes Wimmern zustande.

Sie versuchte um sich zu schlagen, stellte jedoch hilflos fest, dass alle Kraft sie verlassen hatte. Ziellos schweiften ihre Blicke umher, suchten verzweifelt nach Rettung, blieben schließlich an einem Paar Augen hängen, das über ihr funkelte. Ihr erster Impuls war Verblüffung, dann kam die Erkenntnis: dieselbe sinnlose Wut, derselbe Sadismus wie damals. Er hatte sich nicht geändert.

Ingeborgs Augen weiteten sich vor Entsetzen. Mitgefühl konnte sie von diesem Ungeheuer nicht erwarten. Sie hoffte auf ein schnelles Ende, aber die unsäglichen Dinge, die er ihr antat, waren derart teuflisch, dass es lange dauerte, bis der Tod sie von der grausamen Folter erlöste.

2

Ein wohlig warmes Gefühl machte sich in Dirks Bauch breit. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass ausgerechnet er bei der schönen Simone hatte landen können.

Gemeinsam gingen sie in dieselbe Klasse auf der EOS, und obwohl er sich die größte Mühe gegeben hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, hatte die Angebetete ihm bisher die kalte Schulter gezeigt. Der diesjährige Faschingsball hatte die Wende gebracht. Simone war von einem Typ aus der Parallelklasse doof angemacht worden, bis er sich schützend vor sie gestellt und den Kerl in seine Schranken gewiesen hatte. Ihr dankbares Lächeln war nicht aus Höflichkeit geboren, es war echt. Sie hatte den gesamten Abend nur mit ihm getanzt und war am darauffolgenden Tag bei ihm aufgekreuzt. Die folgenden Wochen waren für Dirk ein einziger glückseliger Traum gewesen. Fast die gesamte Zeit hatten sie zusammen verbracht. Beim Lernen, im Kino und auf der Vogelwiese. In der Klasse hatte Simone wie selbstverständlich den Sitzplatz neben ihm okkupiert. Sein bisheriger Banknachbar Steffen hatte gegen Simones Augenaufschlag keine Argumente gehabt und sich murrend getrollt.

Heute waren sie im Rundkino auf der Prager Straße gewesen und hatten den Film »Der gezähmte Widerspenstige« angeschaut. Da Dirk während der Ferien arbeitete, konnte er es sich leisten, Simone nach der Vorstellung ins »Szeged« einzuladen. Sie hatten Glück gehabt. Die Schlange auf der geschwungenen Treppe ins erste Stockwerk war nicht zu lang gewesen, bereits nach einer Viertelstunde hatte sie ein Kellner an einen Zweiertisch geführt.

Während des Essens war Dirk eine kleine, wenn auch für ihn sehr bedeutsame Veränderung in Simones Verhalten aufgefallen. Sie war zärtlicher, anschmiegsamer als sonst gewesen, hatte ihre Blicke kaum von ihm wenden können und fortwährend seine Hand gestreichelt. Ihr Vorschlag, noch ein wenig durch den Großen Garten zu bummeln, hatte Dirks Pulsfrequenz in exorbitante Höhen getrieben.

Kaum waren sie ins Halbdunkel unter den dicht wachsenden Bäumen eingetaucht, blieb Simone stehen, drückte sich fest an ihn und strich zärtlich mit ihren Lippen über seine. Nach einem langen Kuss trat sie einen Schritt zurück und blickte ihm tief in die Augen. »Ich glaube, ich hab mich in dich verliebt.«

Schlagartig wurde Dirks Mund staubtrocken. Das Wort Liebe war bislang zwischen ihnen nicht gefallen. Und außer Küssen und scheuem Fummeln war nicht viel gelaufen. Er selbst liebte Simone bedingungslos, hatte bis jetzt nur nicht den Mut gefunden, es ihr zu sagen. Zu keinem Wort fähig nahm er sie fest in den Arm, vor Glück kamen ihm die Tränen. Verlegen räusperte er sich mehrmals. »Ich liebe dich auch«, brachte er schließlich krächzend hervor.

Offensichtlich durchschaute Simone ihn sofort und legte ihre Hand auf seine Wange. »Ich mag schüchterne Jungs.« Auch in ihren Augen glitzerte es verdächtig.

Hingerissen schaute Dirk Simone an. Sie war so schön, dass er die Augen nicht von ihr lassen konnte.

Simone presste ihren schlanken Körper an ihn und barg den Kopf an seiner Schulter. »Komm, lass uns weitergehen, ein abgelegenes Plätzchen suchen«, flüsterte sie in sein Ohr.

Hand in Hand liefen sie los, bogen bald von der Hauptallee ab und in einen schmalen Weg ein. Nach ein paar Schritten blieben sie stehen und lauschten. Außer dem schlaftrunkenen Gezwitscher einiger Vögel war kein Laut zu hören.

Simone knurrte zufrieden, schob Dirk ihre Zunge in den Mund und griff ihm fest an die Hose. Ein genussvoller Schauer durchlief ihn. Er erwiderte ihren Kuss, ließ seine Hände unter ihre Bluse schlüpfen und begann ihre Brüste zu streicheln.

Simone stöhnte laut auf und zerrte ihn tiefer ins Gebüsch.

Auf einmal blieb sie wie angewurzelt stehen. »Aua.« Sie zuckte zusammen und rieb sich den Kopf. Dann schaute sie nach oben und lachte auf. »Schau mal, hier hat jemand einen Schuh in den Baum gehängt.« Neugierig langte sie nach oben und schob das Laub zur Seite.

Bevor Dirks Augen erfassten, was da im Baum hing, begann Simone gellend zu schreien. Schnell wollte er zu ihr, da traf ihn ein brutaler Schlag am Hinterkopf, der ihn nach vorn schleuderte und bewusstlos gegen den Baum krachen ließ.

3

Den Kopf in die Hände gestützt, starrte Oberleutnant Michael Reinhardt missmutig auf die vor ihm ausgebreiteten Fotos. Keins davon brachte ihn auch nur einen Schritt weiter. Wie viele Stunden seiner Freizeit er in den letzten Tagen dafür geopfert hatte, diesen impertinenten Polizisten zu observieren, hätte er beim besten Willen nicht sagen können.

Müde wischte Reinhardt über sein Gesicht, erhob sich und sammelte die Bilder ein. Er nahm sie mit ins Schlafzimmer, in dem eine komplette Wand voller Schnappschüsse von Leutnant Uwe Friedrich auf ihn wartete. Reinhardt nahm eine Rolle Klebeband aus dem Nachttisch, überlegte kurz und begann dann die neuen Aufnahmen an die freie Wand neben dem Fenster zu heften. Damit fertig zog er einen Stuhl heran und ließ sich müde darauf nieder. Es zehrte an seiner Substanz, dass er tagsüber Dienst für das Ministerium für Staatssicherheit tat und vom späten Nachmittag bis tief in die Nacht dem VP-Leutnant nachspionierte. Trotz des enormen Zeitaufwands hielt er bis jetzt nicht den kleinsten Beweis in den Händen, der Friedrich einer republikfeindlichen Aktion überführen konnte. Der Mann erschien unschuldiger als ein Schuljunge.

Reinhardt schüttelte den Kopf. »Verstellung«, murmelte er. »Alles bloß Verstellung. Aber ich kriege dich, mein Freundchen.«

Der Enthusiasmus, den diese Drohung in ihm hervorrief, hielt nicht lange an. Ausgelaugt und verzweifelt sackte sein schmächtiger Körper zusammen. Desillusioniert barg er das Gesicht in den Händen. Die Erinnerung an seine erste Begegnung mit dem jungen Polizisten kroch aus einem finsteren Winkel seines Gehirns an die Oberfläche, sie führte ihn fast anderthalb Jahre in die Vergangenheit.

Er hatte von seinem Vorgesetzten Oberst Buchmann den Befehl bekommen, den Leutnant zu beschatten. Der Kriminalpolizist hatte in einem Mordfall ermittelt, den die Staatssicherheit der Polizei entzogen hatte. Er, Reinhardt, sollte darauf achten, dass Leutnant Friedrich seine Befehle befolgte und die Nase aus dem Fall heraushielt. Nur unter großen Schwierigkeiten war es ihm gelungen, seinem Vorgesetzten ein Dossier zu präsentieren. Danach war er von dem Fall abgezogen worden. Wie üblich ohne Begründung.

Es war kein leichter Auftrag gewesen. Der Leutnant war ihm fortwährend wie ein Stück feuchte Seife durch die Finger geglitten. Dazu kam, dass sämtliche Personen aus Friedrichs Umfeld renitent auftraten und nicht bereit waren, Zuarbeiten zu leisten. Reinhardt war gezwungen gewesen, seine Befehle großzügig auszulegen. Er hatte eine Zeugin unter Druck gesetzt, um sie zur Mitarbeit zu überreden. Dummerweise war es Leutnant Friedrich gelungen, Buchmann darüber zu informieren. Wie der junge Kerl das angestellt hatte, wusste Reinhardt nicht, aber den Schaden hatte er. Buchmann hatte ihn zur Schnecke gemacht und zu einem Lehrgang beim KGB in die UdSSR abkommandiert.

Damals hatte Reinhardt dem Polizisten Rache geschworen, und er hatte nicht vor, diesen Schwur zu brechen. Der Gedanke an den sich selbst gegebenen Eid holte ihn aus seinen schwermütigen Überlegungen und verlieh ihm die nötige Konzentration. Er kämpfte gegen die Müdigkeit an und zwang sich, noch einmal Schritt für Schritt alles zu analysieren, was er über Friedrich wusste.

Langsam, fast zögerlich zeichnete sich Erkenntnis in seinem Mienenspiel ab, dann Verwunderung. Weshalb zum Teufel war er nicht schon eher darauf gekommen?

Reinhardt sprang auf, der Stuhl krachte schwungvoll an den Kleiderschrank und hinterließ eine Schramme. Ohne einen Blick darauf zu verschwenden, rannte er in den Flur und schlüpfte in eine leichte Sommerjacke. Unverzüglich wollte er seinem neuen Plan Leben einhauchen.

Um Reinhardts Mundwinkel spielte ein böses Lächeln. Jetzt wusste er, an welcher Stelle er den Hebel ansetzen musste, um Friedrich dranzukriegen.

4

Es war der Schmerz, der Dirks Verstand ins Leben zurückholte. Im Rhythmus seines Herzschlags dumpf pochend, lähmte er ihn und zwang seinen Körper in die Bewegungslosigkeit. Mit geschlossenen Augen lag er da und hoffte verzweifelt, dass das Stechen in seinem Kopf nachlassen würde. Selbst seine Gedanken bereiteten ihm Höllenqualen. Doch die Frage, weshalb er so leiden musste, war hartnäckig. Bohrend wühlte sie in seinen Erinnerungen und forderte lautstark Antworten.

Als sein gepeinigtes Gehirn endlich Auskunft erteilte, flammte ein Name hinter seinen Augen auf: Simone. Gleich darauf folgten weitere Informationen: der Film im Kino, das gemeinsame Essen, der Spaziergang im Großen Garten. Und nach einer Pause: Simones Schreie, dann der Schlag auf seinen Hinterkopf.

Dirk wollte sich hochstemmen, schaffte es bis auf die Knie, dann wurde ihm übel. Er versuchte, das Würgen zu unterdrücken, übergab sich jedoch nach wenigen Augenblicken auf den Grasboden.

Entkräftet sank er zurück. Blieb einige Minuten liegen, aber die Angst um Simone besiegte seine Schwäche. Dirk rappelte sich auf und kam schwankend auf die Beine. Bevor er in der Lage war, sich zu orientieren, packte ihn ein starker Schwindel. Die dunklen, formlosen Gebilde um ihn herum vollführten einen wilden Reigen und drohten ihn in diesen Strudel hineinzuziehen. Ehe ihm schwarz vor Augen wurde, fand seine suchende Hand einen Ast. Dirk packte ihn, blieb ruhig stehen und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Allmählich geriet der wilde Tanz der Bäume und Sträucher ins Stocken, bis er schließlich zum Stillstand kam.

Ohne den Rettungsanker loszulassen, kämpften seine Augen mit der Dunkelheit. Mühsam tasteten seine Blicke die Umgebung ab und forschten nach dem schlanken Körper seiner Liebsten. Ein dunkelgraues Bündel neben einem Baum ließ ihn zusammenzucken. Er ignorierte den heftigen Schmerz, der in seinem Hinterkopf wütete, und zwang seine Augen, den diffusen Körper zu mustern. Das war eindeutig kein Strauch, auch kein von Holzfällern vergessener Baumstamm.

Simone wurde ebenfalls niedergeschlagen, fuhr es Dirk durch den Kopf. Der Gedanke, dass sie hilflos am Boden lag und Hilfe benötigte, ließ ihn die eigene Schwäche vergessen. Zwei hastige Schritte brachten ihn zu dem liegenden Körper. Wie weggeworfener Müll lag er zwischen abgerissenen Zweigen und einer vom Wind in die Sträucher getriebenen alten Zeitung.

Völlig still lag Simone vor ihm. Zu still. Angst kroch in Dirk hoch und ließ ihn die Augen schließen. Er wollte nicht sehen, was offensichtlich war. Zögernd streckte er die Finger aus und suchte ihren Hals. Da, wo sonst unter der zarten Haut ein starker Puls schlug, war nicht das kleinste Zucken. Nur die kalte Stille des Todes.

Doch nicht umsonst hatte Dirk eine Erste-Hilfe-Ausbildung absolviert. Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzdruckmassage. Grell wie Blitze zuckten diese Begriffe durch sein Gedächtnis.

Er riss die Augen auf, beugte sich nach vorn, wollte Simones Mund öffnen, da fuhr er zurück und ein befreiender Atemstoß entwich seiner Kehle. Die Frau, deren glanzlose Augen in die Baumwipfel starrten, war nicht seine Freundin.

Dirk blendete das Schamgefühl über seine Erleichterung aus. Als er sich überzeugt hatte, dass bei der Frau jede Hilfe zu spät kam, begann er im Unterholz nach Simone zu suchen.

Nachdem er das umliegende Gebüsch ergebnislos durchforstet hatte, blieb er stehen und schaute sich suchend um. Irgendwo musste Simone doch sein! Halb wahnsinnig vor Angst um sie wollte er ihren Namen rufen, aber außer einem unverständlichen Krächzen brachte er keinen Ton zustande.

Ein Luftstrom, der in die Zweige fuhr und die Blätter gespenstig tanzen ließ, enthüllte einen bisher im dichten Laub verborgenen Körper. Einer leblosen Marionette gleich schwang er träge im Atem des Windes.

Langsam, wie um sich selbst zu schützen und das Schreckliche hinauszuzögern, ging Dirk zu dem Baum. Sein Herz gefror zu Eis, als er Simones kurzen Rock und ihre neuen Sandaletten, auf die sie so stolz war, erkannte.

Ein Adrenalinstoß wischte den kurzen Moment des Entsetzens beiseite. Wider besseres Wissen ließ Dirk es zu, dass Hoffnung seinen Körper durchflutete. Vielleicht war es noch nicht zu spät!

Er sprang unter sie und stemmte ihren Körper hoch. Danach begann er zu schreien. Diesmal gehorchte ihm seine Stimme.

Seine Schreie steigerten sich zu einem panischen Gebrüll und gellten schaurig durch die Nacht.

5

Gesenkten Kopfes stand Leutnant Uwe Friedrich vor den Leichen der beiden Frauen. Er war überwältigt von Traurigkeit, konnte die Sinnlosigkeit dieses Verbrechens nicht begreifen. Was musste das für ein Mensch sein, der seinen inneren Dämonen nachgab, um wie ein wildes Tier über seine Mitmenschen herzufallen? Er schloss für einen Moment die Augen und schüttelte die unproduktiven Emotionen ab. Es hatte keinen Zweck, sich von Wut oder Trauer vereinnahmen zu lassen. Solche Gefühle würden ihn nur auffressen und daran hindern, am Tatort Eindrücke zu sammeln.

Der junge Leutnant trat einige Schritte zurück. Um auf andere Gedanken zu kommen, warf er einen Blick in die Runde. Der Tatort war weiträumig abgesperrt. Mehrere Streifenwagen waren vor Ort, ebenso der Barkas der Kriminaltechnik.

Wieder klar im Kopf wandte er sich zuerst der älteren Frau zu. Er schätzte sie auf Anfang fünfzig. Rundliche Figur, jedoch nicht dick. Bekleidet war sie mit einem Rock, der bis unter die Knie reichte, sowie einer graubraunen Jacke. Ihre Gesichtszüge waren von dem ausgestandenen Entsetzen und den furchtbaren Schmerzen, die sie hatte erleiden müssen, verzerrt. Die Ursache für ihre Pein war auf den ersten Blick offensichtlich. Sowohl der Rock als auch ihre Beine waren voller Blut.

Er war gerade im Begriff, neben der Leiche in die Hocke zu gehen, da hielt ihn ein kurzer Pfiff zurück. Er blickte sich suchend um, und als er seinen Freund Detlev Möckel entdeckte, lief er zu ihm hin. Der Oberleutnant hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt und schüttelte missbilligend den Kopf. »Du wolltest doch nicht etwa ohne Handschuhe an den Opfern rumfummeln und sämtliche Spuren verunreinigen?«

Ertappt ließ Uwe die Schultern hängen und gab sich zerknirscht.

»Tu bloß nicht so schuldbewusst, das kaufe ich dir nämlich nicht ab.«

»Hab im Eifer des Gefechts nicht dran gedacht. Seid ihr mit der Untersuchung des Tatorts schon fertig?«

»Scherzkeks. Unter den Bäumen ist es finster wie im Bärenarsch. Wir sind nur ganz grob über den Boden gegangen, die Feinarbeit beginnt bei Tagesanbruch. Sobald die Genossen die Lampen aufgebaut haben, machen wir Fotos von den Opfern, danach kommen sie in die Gerichtsmedizin.«

»Darf ich bis dahin einen Blick auf die Toten werfen?«

Detlev griente schief, holte aus seiner Umhängetasche ein Paar Schutzhandschuhe heraus und reichte sie ihm. »Trampel nicht unnötig herum und fass nur das Nötigste an.«

Die wenigen Worte, die er mit seinem Freund gewechselt hatte, waren wie Balsam für Uwes Nervenkostüm gewesen. Detlev war es abermals gelungen, mit seinem schrägen Humor das Grauen am Tatort zu verjagen. Ein freches Grinsen stahl sich auf Uwes Gesicht, er salutierte. »Zu Befehl, Genosse Oberleutnant!«

»Hau ja ab!« Der schlaksige Kriminaltechniker schnitt eine Grimasse und steckte seine Nase wieder ins Notizbuch.

Uwe ging neben der älteren Frau in die Knie und schob ihren Rock hoch. Die grauenvolle Wunde zwischen ihren Beinen ließ seinen Atem stocken. Obwohl er schon viel Schlimmes gesehen hatte, war er einem derartigen Sadismus noch nie begegnet. Er bekam Angst bei dem Gedanken, dass der Mörder noch auf freiem Fuß war. Schaudernd zog er den Rock wieder herunter und widmete seine Aufmerksamkeit den Würgemalen am Hals der Toten sowie der klaffenden Wunde an ihrem Hinterkopf.

Anschließend wandte er sich der jüngeren Frau zu und nahm deren Verletzungen in Augenschein. An ihr hatte sich der Täter ebenso brutal vergangen. Die Wunde im Unterleib und die Strangulationsmarken am Hals stimmten mit denen der anderen Frau auf den ersten Blick überein. Damit hörten die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Der Kopf der jungen Frau war unversehrt und sie war über dreißig Jahre jünger. Ihr kurzer Rock ließ schöne, schlanke Beine sehen. Obwohl ihr Gesicht von Panik und Qual verzerrt war, konnte er erkennen, dass sie sehr hübsch gewesen sein musste.

Die Gegensätze im Erscheinungsbild der Frauen überraschten ihn. Normalerweise bevorzugten Lustmörder einen bestimmten Typ und legten sich auf ihn fest. Warum war der Täter von seinem Schema abgewichen? Er zuckte mit den Schultern. Was wusste denn er, wie ein so perverses Hirn tickte.

Die Ankunft seines direkten Vorgesetzten Oberleutnant Ludwig Unger riss ihn aus seinen Überlegungen. »Hab’s nicht schneller geschafft. Was haben wir bis jetzt?«, keuchte Unger, vom schnellen Lauf außer Atem.

Sachlich und ohne die Ereignisse zu kommentieren, fasste Uwe sie zusammen. »Zwei Männer, die von der Kneipe nach Hause wollten, sind aufmerksam geworden, als sie jemanden um Hilfe rufen hörten. Nachdem sie ihren Schreck verdaut hatten, fanden sie hier im Gebüsch einen jungen Mann, der versuchte, eine Gehenkte zu stützen. Mit vereinten Kräften haben sie es geschafft, die Frau abzuschneiden, aber es war zu spät. Sie war bereits tot. Der eine der beiden Männer war so geistesgegenwärtig, sofort zur nächsten Telefonzelle zu sprinten, um die Polizei und die SMH zu verständigen. Wenig später waren die Einsatzkräfte vor Ort. Die Genossen haben als Erstes dafür gesorgt, dass der junge Mann auf schnellstem Weg ins Krankenhaus kam. Er stand unter Schock und war nicht mehr ansprechbar. Als ich eintraf, hatte ein Arzt schon die Totenscheine ausgestellt und eine erste Untersuchung vorgenommen. Wir warten bloß noch auf die Lampen, damit der Fotograf loslegen kann.«

Ein hohes, nervtötendes Surren riss Uwe aus seinen Gedanken. Er wartete ab, bis die Mücke auf seinem nackten Unterarm gelandet war und schlug zu, ehe sie ihren Stechrüssel in seiner Haut versenken konnte. Nachdem er das tote Insekt weggeschnippt hatte, fuhr er fort: »Ehe du fragst, Hauptwachtmeister Opitz sitzt mit den beiden Kneipenheimkehrern im Streifenwagen und nimmt ihre Aussagen auf. Wenn du vorerst keine Fragen an sie hast, können wir sie vielleicht gehen lassen. Sollte später noch was sein, haben wir ja ihre Daten.«

Unger ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort. »Das überlege ich mir noch. Mach erst mal weiter!«

»Die Handtasche der älteren Frau haben wir im Gebüsch gefunden. Portemonnaie samt Personalausweis lagen noch drin. Im Geldbeutel sind knapp 48 Mark. Einen Raubmord können wir somit vermutlich ausschließen.« Uwe sah seinen Kollegen an. Als der nichts sagte, nahm er dessen Schweigen als Zustimmung und sprach weiter. »Es handelt sich um Ingeborg Groß, Jahrgang 32. Sie wohnte bloß ein kurzes Stück entfernt von hier, auf der Tiergartenstraße.« Der Leutnant kratzte sich am Kopf und schnaufte einmal durch. »Merkwürdig ist, dass in der Handtasche keine Schlüssel lagen. Detlev und seine Leute kämmen die gesamte Umgebung durch, sobald es hell geworden ist. Vielleicht finden sie die Schlüssel. Manche Leute tragen ihren Schlüsselbund in der Hand, wenn sie durch einsame Gegenden laufen. Eventuell wollte Frau Groß auf diese Weise ein Sicherheitsgefühl herstellen.«

»Möglich«, brummte Unger. »Warten wir es ab.«

Über Uwes Gesicht zog ein Schatten. »Die junge Frau …« Er atmete tief ein und aus. »Sie ist eigentlich noch ein Mädchen, gerade mal achtzehn Jahre alt.«

Ungers Augen weiteten sich schockiert. »Scheiße«, sagte er nur.

»Besser kann ich es auch nicht formulieren. Ausweis und Schlüssel steckten in der Gesäßtasche ihres Minirocks. Sie heißt Simone Herberg, lebt in Prohlis. Vermutlich bei ihren Eltern.«

»Was wissen wir über den jungen Mann, der am Tatort war?«

Uwe hob die Hände. »Nicht viel. Dirk Fuhrmann heißt er und wohnt in Blasewitz. Der eine der Kneipengänger hat nur berichtet, dass er fortwährend den Namen des Mädchens gemurmelt hat, bevor er in eine Art Schockstarre verfiel. Wir können bloß hoffen, dass er bald vernehmungsfähig ist.«

»Und sonst?«

»Das war’s. Wie wollen wir vorgehen?«

»Ich mach mir erst mal ein Bild. Danach besprechen wir alles Weitere.«

Uwe nickte und wollte zurück zu den zwei toten Frauen gehen, aber der Anblick eines Kriminaltechnikers, der gerade mit einer Kabelrolle für den erforderlichen Strom sorgen wollte, stoppte ihn. Hier würde er bloß im Weg stehen.

Sein Chef war nicht so rücksichtsvoll. Ohne Hemmungen stellte er sich dem Techniker in den Weg und betrachtete nachdenklich die Frauen. »Eindeutig ein Sexualdelikt«, kam er nach einer Weile zu einem Ergebnis.

Nachdem der Kriminaltechniker mehrmals gehüstelt hatte, warf der Oberleutnant ihm einen verärgerten Blick zu, trat jedoch zur Seite. Als Unger bemerkte, dass Uwe hinter ihm stand, drehte er sich um und fragte: »Wird in den umliegenden Stadtvierteln nach dem Täter gefahndet?«

»Das haben die Kollegen, die als Erste vor Ort waren, sofort veranlasst. Ich habe den Radius der Fahndung auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt. Alle Männer, die allein unterwegs sind, werden kontrolliert. Die Genossen überprüfen auch verdächtige Passagiere in den öffentlichen Verkehrsmitteln.«

Unger nickte zustimmend und rieb mit Mittelfinger und Daumen seine Augen. »Es bringt nichts, wenn wir beide den Technikern im Weg stehen«, dachte er laut nach. »Mach du hier am Tatort weiter. Ich fahre ins Präsidium und erstelle eine Liste aller bekannten Sexualstraftäter. Die Herren bekommen noch heute Nacht Besuch, dafür sorge ich.« Schon im Gehen begriffen, drehte er sich noch mal um. »Morgen Punkt sieben im Präsidium.«

6

Heinrich Töpfer beging nicht den Fehler, wie ein Dieb an der Hauswand entlangzuschleichen oder nach einem eventuellen Hintereingang zu suchen. Im Gegenteil, als würde er hierhergehören, nahm er den direkten Weg zur Haustür. Seine Lederhandschuhe streifte er erst im Schutz des Regendachs über. In einer milden Julinacht fiel man auf, wenn man Handschuhe trug.

Bevor er die Treppen hinaufstieg, wickelte er Zeitungen um seine Schuhe und arretierte das Papier mit Gummibändern. Es würde zwar rascheln, aber in der Kürze der Zeit war ihm keine andere Möglichkeit in den Sinn gekommen. Die Erde, die zwangsläufig an seinen Sohlen haftete, durfte er nicht im Haus hinterlassen.

Ohne das Licht einzuschalten, stieg Töpfer in die erste Etage, holte den Schlüssel aus seiner Tasche, schloss auf und betrat die Wohnung. Bevor er die Tür hinter sich schloss, horchte er ein paar Minuten in den dunklen Hausflur hinein. Kein leises Zuklappen einer Tür, keine vorsichtigen Schritte. Er lächelte, offenbar hatte ihn niemand zur Kenntnis genommen.

Da er davon ausgehen konnte, dass es keinen interessierte, ob in der Wohnung Licht brannte, schaltete er es ein. Zuerst spähte er in sämtliche Räume, um sich einen Überblick zu verschaffen. Außer ihm war kein Mensch in der Zweiraumwohnung. Alles lief nach Plan. Doch Töpfer war kein Mann, der sein Glück unnötig herausforderte. Es galt ein Problem aus der Welt zu schaffen, und sobald er damit fertig war, würde er verschwinden.

Küche und Bad klammerte er bei seiner Durchsuchung vorerst aus. Sollte er in den anderen Räumen nicht fündig werden, konnte er hier später immer noch eine Suche starten.

Er begann mit dem Schlafzimmer. Es war praktisch, fast sparsam eingerichtet. Kleiderschrank, Bett, daneben ein Nachtschränkchen. Obwohl er keinen Stuhl oder einen Tisch, an dem man hätte schreiben können, entdeckte, schaute er in den Nachttisch und den Kleiderschrank und überprüfte grob den Inhalt. Als er sicher sein konnte, dass die Groß das Gesuchte hier nicht aufbewahrte, ging er ins Wohnzimmer.

Töpfer stellte sich in die Raummitte und drehte sich einmal langsam um die eigene Achse. Gegenüber der Schrankwand stand eine Sitzecke und neben dem Fenster ein Esstisch, um den vier Stühle gruppiert waren. Zielgerichtet ging er zu dem Tisch. Das dicke Schreibbuch sowie der danebenliegende Kugelschreiber ließen seinen Puls in die Höhe schnellen. Am gesamten Körper vor Ungeduld zitternd, nahm er das Buch und blätterte darin. Ein selbstgefälliges Lächeln erschien auf seinen Zügen. Bloß gut, dass er seiner inneren Stimme vertraut hatte. Dabei war es nur eine Vermutung gewesen, aber er hatte recht behalten. Die Groß führte Tagebuch.

Die Eingebung war wie ein Blitz zu ihm gekommen, als er nach getaner Arbeit bereits auf dem Weg zu seinem Wartburg gewesen war. Unwillkürlich hatte er an eine Begebenheit denken müssen, die sich vor vielen Jahren ereignet hatte. Das Bild war so lebendig vor seinen Augen erschienen, als sei es erst gestern gewesen.

Töpfer sah sie deutlich vor sich, die ältere Frau, die erschrocken über sein plötzliches Auftauchen einen Gegenstand hinter ihrem Rücken hatte verbergen wollen. Ein kurzer Griff an ihren Oberarm, ein kraftvoller Ruck, und ein altes Schulheft fiel aus ihren Händen. Um Längen schneller als die Alte schnappte er ihr das dünne Buch vor den Fingern weg. Für einen Moment sprachlos stellte er fest, dass sie minutiös ihre Erlebnisse und Gedanken in das Heft geschrieben hatte.

»Bitte«, stammelte sie und hielt ihm die Hand entgegen. »Es ist nichts Unrechtes. Bitte geben Sie es mir zurück.«

Selbstverständlich tat Töpfer das nicht. Er gab ihr eine Ohrfeige, steckte das Heft ein und wandte sich zum Gehen.

Im Nu stand die Frau vor ihm, sank in die Knie und streckte ihm erneut flehend die Hände entgegen. Tränen liefen ihr dabei über die Wangen.

Verdattert stutzte er. Konnte es möglich sein, dass man so sehr an seinem eigenen Geschreibsel hing, um sich dafür zu erniedrigen? Na ja, sie war eben keine Arierin. Menschen wir ihr fehlte der Stolz. Voller Verachtung gab er ihr einen Tritt, sodass sie lang hinschlug. Lachend verließ er die Baracke. Sie brauchte das Buch ohnehin nicht mehr, da, wo sie heute noch hingehen würde.

So unbedeutend dieser Vorfall auch gewesen war, vergessen hatte Töpfer ihn nie. Und seitdem wusste er, dass es Menschen gab, die Tagebuch führten.

Es musste sein Schutzengel gewesen sein, der ihm die Warnung gesandt hatte. Sofort war er zurück in den Großen Garten gestürmt und hatte die Handtasche der Groß geöffnet. Eine aufwendige Suche nach ihrem Personalausweis konnte er sich schenken. Ihre Adresse war ihm ja bestens bekannt.

Zu seinem Glück lag ihre Wohnung ganz in der Nähe. Es war nur ein kleiner Umweg und seinem Verdacht nicht nachzugehen, wäre sträflicher Leichtsinn gewesen.

Töpfer schob die Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Zwei Schritte brachten ihn zur Schrankwand. Systematisch begann er, die einzelnen Fächer zu durchsuchen. Das dritte Fach war durch ein Schloss gesichert. Ein verächtliches Lächeln kräuselte seine Lippen. Wen wollte die Groß damit abschrecken? Mithilfe eines Messers wäre die Tür leicht aufzubrechen, doch er hatte es nicht nötig, Gewalt anzuwenden und so Spuren zu verursachen. Ein kleiner Schlüssel, der an ihrem Bund hing, öffnete das Schloss im Handumdrehen.

Er lachte erfreut auf, als er in das Fach hineinsah. Säuberlich nach Jahreszahlen aufgereiht, standen die Tagebücher in Reih und Glied. Anerkennend nickte er. Ordnungsliebe war ein Charakterzug, den er sehr schätzte.

Töpfer zog ein bestimmtes Heft heraus und überprüfte zur Sicherheit, ob es das Richtige war. Danach schloss er sorgfältig die Schranktür.

Zufrieden, dass seine Stippvisite von Erfolg gekrönt war, ging er in den Flur und legte den Schlüsselbund auf den Garderobentisch. Er wollte sich abwenden, doch plötzlich stutzte er. Nachdenklich nahm er den Schlüsselbund wieder in die Hand und betrachtete ihn. Als er den Schlüssel im Park aus ihrer Tasche genommen hatte, hatte er keine Handschuhe getragen.

Ein kleines böses Lächeln huschte über seine Lippen. Da wäre ihm um ein Haar beinah ein unverzeihlicher Fehler unterlaufen. Er ging in die Küche, nahm das Geschirrtuch von einem Haken und rieb jeden einzelnen Schlüssel und den Schlüsselring sorgfältig ab. Danach platzierte er den Bund zum zweiten Mal auf dem Garderobentisch.

Sekunden später zog Töpfer die Wohnungstür leise hinter sich zu.

7

Besorgt ließ Major Günzel seine Blicke über die Kollegen gleiten. Dieser Fall warf seine Schatten voraus. Unter den Augen seiner beiden Kriminalisten konnte er sie bereits sehen. Grau im Gesicht und mit schweren Lidern saßen Unger und Friedrich vor ihren Kaffeetassen. Die durchgearbeitete Nacht hatte Spuren hinterlassen.

Ein gänzlich anderes Bild gab Oberleutnant Möckel ab. Obwohl er sich ebenfalls die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, wirkte er wie ein begeisterter kleiner Junge. Günzel verkniff sich ein Lächeln. Er arbeitete schon viele Jahre mit Detlev zusammen und wusste, dass für den Techniker sein Beruf eigentlich das liebste Hobby war. Doch für derartige Gedanken hatte er momentan keine Zeit. Noch einmal sah er auf die Fotos vom Tatort, und der ungute Druck in seiner Magengegend verstärkte sich. Nicht auszudenken, wenn dieser Mörder ein weiteres Mal zuschlagen würde. Das musste unter allen Umständen verhindert werden.

Der Major straffte sich und sprach zuerst den Kriminaltechniker an. »Wie ist die Spurenlage, Detlev?«

»Mau. Von Baumrinde, Gras oder einem Hanfseil kann man keine Fingerabdrücke nehmen. Wir hatten auf Spermareste auf den Kleidungsstücken der Opfer gehofft, um wenigstens die Blutgruppe des Täters bestimmen zu können. Aber da war leider nichts, der Bursche muss ein Kondom benutzt haben.« Er nahm eine Mappe vom Tisch und wedelte damit herum. »Das ist der vorläufige Bericht der Gerichtsmedizin. Weil ich es nicht abwarten konnte, habe ich schon mal reingelesen. Ich fasse die Ergebnisse für euch kurz zusammen. Wenn es euch recht ist, beginne ich mit Frau Groß. Ihr Tod ist zwischen 22.30 und 23.30 Uhr eingetreten. Plus minus eine halbe Stunde. Das Gleiche gilt übrigens für das junge Fräulein Herberg.«

Er verstummte und massierte seine Finger. Bevor die Stille im Raum unbehaglich wurde, fuhr er fort: »Zurück zu Frau Groß. Laut Spurenlage wurde sie als Erste niedergeschlagen. Dieser Schlag war nicht tödlich, hat sie aber erst mal schachmatt gesetzt. Danach hat der Täter sie vergewaltigt und anschließend erhängt.« Einen Augenblick starrte der Oberleutnant nachdenklich in die Luft. Nach einem tiefen Seufzer fuhr er fort: »Der Kerl scheint sich mit dem Hängen auszukennen. Bevor er sie aufgeknüpft hat, muss er exakt Maß genommen haben. Entsprechend ihrer Körpergröße hat er einen Ast ausgewählt, der in der perfekten Höhe aus dem Stamm ragte. Um den hat er den Strick geschlungen, die Frau hochgehoben, ihren Hals in die Schlinge gesteckt und sie fallen lassen. Gleich darauf hat er ihre Beine gepackt und sie ruckartig nach unten gezogen. Auf diese Weise wurden ihre Halsschlagadern und Wirbelarterien zusammengequetscht. Sie muss innerhalb weniger Sekunden bewusstlos gewesen sein. Da ihr Gehirn von der Blutversorgung abgeschnitten war, trat kurz darauf der Tod ein.«

Von Detlevs üblichem Grinsen war nichts geblieben. Sein Gesicht war zu einer starren, undurchdringlichen Maske mutiert. »Ich denke eher nicht, dass es dem Mörder darum ging, den Todeskampf der Opfer zu verkürzen. Vermutlich wollte er die Sache bloß schnell beenden, um das Risiko einer Entdeckung zu minimieren.«

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Für uns ist sein Vorgehen insofern relevant, weil es uns eine ganze Menge über ihn verrät. Er muss über große Körperkräfte verfügen und mindestens 1,80 Meter groß sein. Zudem hat er äußerst kaltblütig und planvoll agiert. Diese Fakten helfen euch bestimmt weiter, wenn ihr die einschlägigen Sexualstraftäter abklappert.«

Uwe runzelte die Stirn. In seinen Augen lag ein Hauch von Zweifel. »Und das hat der Rechtsmediziner alles durch die Leichenschau rausgefunden?«

»Für dich als medizinisch und technisch Unbegabten mag das wie ein Wunder erscheinen. Ist jedoch relativ simpel. Der Strick hing noch am Ast, für einen kompetenten Techniker ist es ein Kinderspiel, daraus die Vorgehensweise zu berechnen. Übrigens«, er sah in die Runde, »das Mädchen hatte in etwa dieselbe Größe wie Frau Groß, das hat dem Täter Arbeit erspart. Er musste nur Opfer eins abnehmen, neben den Baum legen und schon war Platz für die Nächste in der Reihe.«

Der Major belegte ihn mit einem strafenden Blick. »Detlev, deine Ausdrucksweise! Wir haben es hier immerhin mit Menschen zu tun. Ein wenig mehr Respekt, wenn ich bitten darf.«

Detlev überhörte den Vorwurf geflissentlich. »Zurück zu deiner Frage, Uwe. An den Unterschenkeln beider Frauen konnte der Rechtsmediziner Hämatome nachweisen. Diese deuten eindeutig darauf hin, dass jemand fest zugegriffen hat. Zusammen mit den äußeren Würgemalen und den Verletzungen der inneren Organe der Hälse lässt das keinen anderen Schluss zu, als die von mir beschriebene Art des Hängens. Aber weiter: Bei Fräulein Herberg hat sich der Täter den Schlag auf den Hinterkopf geschenkt. Warum das so war, kann ich nicht sagen, nur eine Vermutung anstellen. Ich denke mir, dass die arme Kleine in eine Schockstarre verfallen ist und nicht in der Lage war, Gegenwehr zu leisten.« Er verzog nachdenklich das Gesicht. »Bei dem Gegner hätte es ihr auch nicht viel genützt. Wie ich schon sagte, der Mann muss ausgesprochen kräftig sein. Aber das war’s schon mit den Gegensätzen. Genau wie Frau Groß musste Simone eine üble Vergewaltigung über sich ergehen lassen, nur um anschließend aufgeknüpft zu werden.«

Offensichtlich froh, das leidige Thema hinter sich zu haben, schlug Detlev den Hefter zu. »Ein ausführlicher Bericht ist heute Nachmittag zu erwarten.« Er schaute den Major direkt an. »Das ist so weit alles von meiner Seite.«

Günzel nickte bedrückt. Die Ausführungen des Kriminaltechnikers hatten sein Gefühl einer Bedrohung verstärkt. Er ließ mehrere Augenblicke verstreichen, bis er Unger einen Wink gab.

Der Oberleutnant ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. »Ich habe eine Liste der einschlägigen Sexualstraftäter erstellt. Die ist zwar noch unvollständig, aber ich bin dran. Diejenigen, die ich bis jetzt erfasst habe, haben bereits Besuch von den Genossen bekommen oder werden heute noch befragt. Dummerweise konnte jeder der Perversen ein Alibi vorweisen. Anhand von Detlevs Tätercharakteristik werde ich sämtliche Jungs noch einmal genau nach den nun bekannten Kriterien überprüfen.«

Uwe wartete eine Anstandsminute, ob noch etwas kommen würde. Als das nicht der Fall war, meldete er sich unaufgefordert zu Wort. »Den großen Durchbruch habe ich ebenfalls nicht erzielt. Die sofort eingeleitete Ringfahndung hat bedauerlicherweise keine Ergebnisse gebracht. Alle überprüften Personen, die letzte Nacht unterwegs waren, konnten als Täter ausgeschlossen werden.« Er lachte kurz auf. »Bis auf zwei junge Kerle. Die saßen fröhlich in der Linie 2, als sie in Höhe der Rennplatzstraße kontrolliert wurden. Weil sie sich merkwürdig aufführten, haben die Genossen sie genauer unter die Lupe genommen und in ihren Umhängetaschen verschiedene elektronische Geräte entdeckt. Auf dem Präsidium haben die beiden Burschen später mehrere Einbrüche gestanden.« Uwe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Umsonst war der Einsatz jedenfalls nicht.«

Der Major brummte unwillig und forderte den Leutnant mit einer Geste zum Weiterreden auf.

»Nachdem die beiden Frauen in die Rechtsmedizin gebracht worden waren, bin ich ins Präsidium und habe versucht, Daten über die Opfer und ihr Umfeld zusammenzutragen. Meine Liste weist noch Lücken auf, aber ein paar Dinge liegen uns vor. Zuerst Frau Groß: Sie lebte allein. Ihre Tochter, Michaela Feldmann, ist vor zwei Jahren ausgezogen.«

Günzel räusperte sich und hob fragend die Augenbrauen.

»Ich bin noch vor unserer Besprechung zur Tiergartenstraße geradelt und habe einen jungen Mann abgepasst, der gerade zur Frühschicht aufbrechen wollte.«

Major Günzel überkam urplötzlich ein mulmiges Gefühl. »Ich hoffe doch sehr, dass du ihm nicht erzählt hast, was Frau Groß zugestoßen ist.«

»Natürlich nicht. Ich musste mich nicht mal ausweisen. Meine Erklärung, dass ich Frau Groß dringend sprechen müsse und sie nicht da sei, hat ihm genügt, mir alles brühwarm zu berichten.«

Der Major atmete erleichtert aus. Zwar hatte er noch keine detaillierten Anweisungen erhalten, dennoch hegte er die Befürchtung, dass er den Befehl bekommen würde, bei diesem Fall nichts an die Öffentlichkeit durchsickern zu lassen. »Gut gemacht, Uwe. Bis auf Weiteres informieren wir lediglich die engsten Angehörigen. Und auch bei denen halten wir uns möglichst bedeckt. Keine Einzelheiten. Ist das klar?«

Mit unbewegter Miene sprach Uwe weiter: »Frau Feldmann arbeitet als Verkäuferin im Centrum Warenhaus. Das weiß ich von dem aussagefreudigen Mann«, schob er sofort hinterher, als Günzels Miene wieder versteinerte. »Wenn wir sie gleich im Anschluss kontaktieren, erregt das keine Aufmerksamkeit und wir können uns in ihrer Gegenwart in der Wohnung von Frau Groß umschauen.«

Günzel atmete erleichtert auf. Er konnte sich glücklich schätzen, diesen ausgebufften Ermittler in seinen Reihen zu haben. Der Leutnant hatte schon mehrfach bewiesen, dass er zu dem kleinen Kreis der Kriminalisten gehörte, die in der Lage waren, wenn nötig um die Ecke zu denken. Vor gut einem Jahr hatte der Leutnant trotz Verbots durch die Staatssicherheit einen verzwickten Mordfall aufgeklärt. Ein Blick in dessen Gesicht sagte ihm deutlich, dass der sich bereits in den Fall verbissen hatte. Er würde den Täter jagen, bis er ihn zur Strecke gebracht hatte.

»Einverstanden«, kommentierte er Uwes Vorschlag und nickte anerkennend. »Du übernimmst es, die Tochter von Frau Groß zu kontaktieren und siehst dir anschließend die Wohnung an.« Der Major sah auf seine Armbanduhr. »Das Centrum öffnet um neun. Bis acht sind wir hier fertig. Hast du noch was?«

Uwe schüttelte den Kopf und zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Ich wollte eigentlich im Anschluss zur Meldestelle und die Daten von Simone, ihren Eltern sowie dem jungen Mann, der am Tatort war, feststellen.« Er lächelte kläglich. »Ich bin nicht so gut darin, Todesnachrichten zu überbringen.«

Günzel gelang es gerade noch, ein Auflachen zu unterdrücken. Wenn einer von ihnen die nötige Feinfühligkeit aufbrachte, um Hinterbliebenen die schreckliche Wahrheit schonend beizubringen, dann war das Uwe. »Du machst das schon«, sagte er und nickte dem Leutnant aufmunternd zu. »Den Gang zur Meldestelle nehme ich dir ab. Ludwig, du kümmerst dich bis auf Abruf um die Sexualstraftäter.«

Unger stieß erleichtert die Luft aus. Günzel sah es ihm an, dass er heilfroh war, erst mal nicht den Todesboten geben zu müssen.

Der Major sah jedem Einzelnen seiner Mitarbeiter ernst in die Augen. »Ihr lasst alles andere stehen und liegen. Der Fall hat absolute Priorität. Ich muss euch hoffentlich nicht daran erinnern, dass in drei Wochen der Kirchentag in Dresden stattfindet. Nicht auszudenken, wenn eine der Teilnehmerinnen diesem Verbrecher in die Hände fällt.«

8

Uwe zog einen Regenumhang über und schwang sich in den Sattel seines Fahrrads.

Bloß gut, dachte er, dass ich Mary im Durchgang abgestellt habe. Ein klatschnasser Sattelschoner hätte mir gerade noch gefehlt.

Bei seiner Rückkehr von der Tiergartenstraße hatte der Himmel zwar ein trübes Grau gezeigt, es hatte allerdings nicht geregnet. Inzwischen goss es wie aus Kübeln, und die Tropfen prasselten auf seine Kapuze. Rinnsale flossen die Straßenränder entlang und er musste höllisch aufpassen, dass ihm nicht ein rücksichtsloser Autofahrer eine Dusche verpasste.

Kurz streifte ihn das schlechte Gewissen, als er an Detlev dachte. Der würde schön über die Wassermassen fluchen, sämtliche Spuren am Tatort versickerten gerade im Erdreich. Verglichen damit waren seine eigenen Sorgen unbedeutend.

Den Pfützen ausweichend überquerte er die Ernst-Thälmann-Straße und bog wenig später in die Weiße Gasse ab. An deren Ende begrüßte ihn der imposante Bau der Kreuzkirche. Von dort aus konnte er die wabenförmige Aluminium-Fassade des Centrum Warenhauses schon sehen. Auf dem Dr.-Külz-Ring raste er knapp vor einer Straßenbahn über die Gleise und lehnte Minuten später sein Fahrrad unter dem überstehenden Dach des Centrums an eine Wand.

Für Kunden war das Kaufhaus noch geschlossen, aber er hatte vorgesorgt. Er hatte angerufen und sein Kommen angekündigt, ohne zu erwähnen, wen er sprechen wollte.

Schnurstracks marschierte er zum Haupteingang, entdeckte einen wartenden Mann und klopfte an die Scheibe. Der Verkäufer ließ ihn ein und verlangte, Uwes Dienstausweis zu sehen.

Nachdem er das Dokument gründlich überprüft hatte, reichte er es verlegen lächelnd zurück. »Tut mir leid, wenn ich misstrauisch erscheine. Sie ahnen ja nicht, unter welchen Vorwänden manche Kunden versuchen, eher an die Waren zu gelangen. Zu wem darf ich Sie bringen?«

»Ich finde den Weg allein. Vielen Dank.« Der Blick des Leutnants war eindeutig, der Mann war entlassen.

Nach einem Blick zur Uhr hastete Uwe die Rolltreppen hinauf. Die Besprechung hatte länger gedauert, als sein Chef angenommen hatte, ihm blieben nur elf Minuten.

Durch den mitteilsamen Nachbarn wusste er, dass Frau Feldmann in der Spielwarenabteilung beschäftigt war. Vorbei an Plüschbären, Plastikkippern und einer Vitrine voller NVA-Spielzeugsoldaten marschierte er auf direktem Weg zu einer Verkäuferin, die gerade Pittiplatsch-Figuren in ein Regal räumte.

Er stellte sich vor, verschwieg jedoch, dass er bei der VP war und fragte nach Frau Feldmann.

Die junge, blonde Frau, er schätzte sie auf Mitte zwanzig, schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. »Sie stehen vor ihr.« Himmelblaue Augen leuchteten ihn an und musterten ihn neugierig.

Es ging ihm an die Nieren, dass er dieses hübsche Lächeln mit seinen Worten zerstören musste. Er nannte seinen Beruf und Dienstgrad und zeigte ihr den Polizeiausweis.

Frau Feldmanns Lächeln schrumpfte ein wenig und wurde verbindlich. »Also verbrochen habe ich nichts. Um was geht es?«

»Es handelt sich um Ihre Mutter, aber ich würde das ungern hier besprechen. Am besten wäre es, wenn wir gemeinsam zur Wohnung Ihrer Mutter gingen.«

Uwe hörte sie erschrocken einatmen. »Geht es meiner Mutter gut?«

Der Leutnant überging die Frage. »Haben Sie einen Schlüssel zur Wohnung Ihrer Mutter?«

Frau Feldmann nickte zerstreut. »An meinem Bund ist einer.«

»Gut, melden Sie sich bitte bei Ihrem Vorgesetzten ab. Sagen Sie aber nicht, dass ich von der Polizei bin. Erfinden Sie einen Vorwand. Ich warte hier auf Sie.«

Frau Feldmann lief nach hinten und ging durch eine Tür. Nach wenigen Minuten kam sie in Straßenkleidung zurück und blickte ihn an. »Vorgesetzte.«

»Bitte?«

»Mein Chef ist eine Frau.«

»Das konnte ich nicht wissen. Können wir?«

Sie neigte den Kopf und lief los. Uwe hinterher. Vor dem Warenhaus stellte er erfreut fest, dass der Regen eine Pause eingelegt hatte. Er bat Frau Feldmann um einen Moment Geduld, holte sein Fahrrad und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in Richtung Tiergartenstraße.

Nachdem sie die Leningrader Straße überquert hatten und über die Bürgerwiese liefen, brach Frau Feldmann das Schweigen. »Können Sie mir jetzt erzählen, ob es meiner Mutter gut geht?«

Uwe überlegte kurz und wog das Für und Wider seiner Möglichkeiten ab. Die Parkanlage war menschenleer. Sollte Frau Feldmann einen Zusammenbruch erleiden, würde das keine große Aufmerksamkeit erregen. Allerdings würde ihn das vor ein Problem stellen. Er konnte ja nicht gleichzeitig zur Telefonzelle laufen, einen Krankenwagen rufen und Erste Hilfe leisten. Auf der anderen Seite wäre es grausam, sie noch länger hinzuhalten. Er atmete einmal tief durch und lief dann zielgerichtet zu einer Parkbank, wo er ein sauberes Taschentuch aus seiner Hosentasche holte und, so gut es ging, die Bank trockenwischte.

Mit dem Ergebnis zufrieden, bat er sie Platz zu nehmen und versuchte, den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. Er schloss für einen Moment die Lider, als könne er so das Schreckliche ausblenden, was ihn mit der jungen Frau zusammengeführt hatte. Nachdem es ihm gelungen war, einen kühlen Kopf zu bekommen, schaute er Frau Feldmann direkt in die vor Angst weit aufgerissenen Augen. »Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen ist.«

Fassungslos presste die junge Frau eine Faust vor den Mund.

Nach mehrmaligem Räuspern fuhr Uwe fort: »Um den Täter zu fassen, benötige ich Ihre Hilfe. Fühlen Sie sich in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?«

Frau Feldmann nickte schwach. Tränen rannen über ihre Wangen, und sie machte keine Anstalten, sie abzuwischen.

Ihre stille Trauer versetzte ihm einen Stich. Er setzte sich zu ihr auf die Bank und legte seinen Arm um ihre Schultern. Ohne zu zögern ergriff sie dankbar diesen Halt, vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und begann hemmungslos zu schluchzen.

Er ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, um die erste Trauer zu verarbeiten. Doch die Uhrzeiger drehten sich unerbittlich weiter. Er wusste, dass ihm die Zeit davonlief und jede Minute, die er hier herumsaß, für den Täter arbeitete. Nach einer Viertelstunde räusperte er sich diskret. »Geht’s wieder, oder soll ich einen Arzt rufen?«

Schniefend hob Frau Feldmann den Kopf, blinzelte ihre Tränen fort und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn. »Ich kann immer noch nicht glauben, was Sie mir erzählt haben. Es ist wie ein böser Traum. Aber da Sie von der Kripo sind, muss es wohl wahr sein.«

»Ich kann nicht einmal im Ansatz nachvollziehen, was Sie gerade durchmachen«, sagte er mitfühlend. »Ich bitte Sie dennoch, mir zu helfen. Der Mörder Ihrer Mutter läuft noch frei herum und ich benötige Ihre Unterstützung, damit er hinter Schloss und Riegel kommt.«

Während seiner Worte hatte Frau Feldmann mit einem Taschentuch ihr Gesicht getrocknet. Mit den Tränen schien sie auch ihr Leid weggeputzt zu haben. Sie hatte sich in die Frau zurückverwandelt, als die Uwe sie kennengelernt hatte: aufgeschlossen, mit beiden Beinen fest im Leben stehend.

Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und fixierte ihn mit einem Blick, in dem sich Irritation und Argwohn abwechselten. »Weshalb haben Sie im Centrum so geheimnisvoll getan? Sie hätten mir doch gleich sagen können, was passiert ist.«

Er hielt ihrem Blick stand. »Was ich Ihnen jetzt sagen werde, bleibt bitte unter uns. Kann ich mich da hundertprozentig auf Sie verlassen?«

»Ich verspreche es«, sagte sie einfach.

Uwe beschloss, ihr zu glauben. Was blieb ihm sonst übrig? »Letzte Nacht ist noch eine Frau ermordet worden«, begann er vorsichtig. »Von demselben Täter. Wenn das in der Stadt die Runde macht, bricht eine Panik aus. Welche Folgen das haben könnte, können Sie sich bestimmt ausmalen. Angst lässt Menschen aggressiv werden. Jeder Mann, der auf irgendeine Weise verdächtig wirkt, würde Gefahr laufen, zusammengeschlagen zu werden. Deshalb muss ich Sie noch einmal darauf hinweisen, dass alles, was ich Ihnen heute berichte, streng vertraulich ist.«

Schuldgefühle beherrschten den jungen Kriminalisten. Ohne rot zu werden, hatte er maßlos übertrieben. Natürlich würden die Menschen aufgeregt sein, wenn sie von den Morden erfuhren, aber zu Ausschreitungen würde es gewiss nicht kommen. Der eigentliche Grund, weshalb nichts an die Öffentlichkeit gelangen durfte, hatte eine andere Ursache. Er wusste, dass die Partei- und Staatsführung darauf bedacht war, die Illusion eines Staates aufrechtzuerhalten, in dem Verbrechen nicht existierten. Es quälte ihn, bei dieser Verschleierungstaktik mitmachen zu müssen.

Frau Feldmann kaufte ihm den Vorwand ohne Weiteres ab. Ihre Augen weiteten sich, so entsetzt war sie. Dann nickte sie heftig.

Uwe erhob sich. »Fühlen Sie sich stark genug, zur Wohnung Ihrer Mutter zu gehen?«

Statt einer Antwort erhob sie sich, wie um ihn aufzufordern, weiterzugehen.

Schweigend legten sie die restliche Strecke zurück. Am Wohnblock auf der Tiergartenstraße angekommen, öffnete Frau Feldmann den Briefkasten und holte die Tageszeitungen der letzten zwei Tage und einen Brief heraus.

»Darf ich?« Damit nahm er ihr diese Dinge einfach aus der Hand.

Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu, verkniff sich jedoch die Frage nach dem Warum.

Er stieg nach ihr die Treppe hoch und wartete ab, bis sie die Wohnungstür geöffnet hatte. Ehe sie eintreten konnte, hielt er sie zurück. »Hat Ihre Mutter die Tür beim Verlassen der Wohnung immer nur ins Schloss gezogen oder abgeschlossen?«

»Jetzt, wo Sie es sagen, sie hat stets peinlich darauf geachtet, abzuschließen.«

Uwe ließ das unkommentiert und gab ihr ein Zeichen, in die Wohnung zu gehen. Im Flur blieb er stehen. »Bitte schauen Sie in alle Räume und prüfen Sie, ob irgendetwas fehlt.«

Langsam und in sämtliche Ecken spähend schlich Frau Feldmann durch die Räume. Sie wirkte ein bisschen enttäuscht, nachdem sie fertig war. »Auf den ersten Blick fehlt nichts.« Sie drehte sich einmal im Kreis. »Hier im Flur habe ich noch nicht nachgesehen … ach, da liegt ja der Schlüssel meiner Mutter.«

Ihre Hand schwebte bereits über dem Bund, da ließ sein Befehl ihre Bewegung einfrieren. »Halt! Fassen Sie die Schlüssel nicht an!« Im Nu stand er neben der Kommode, zog Handschuhe über und verpackte den Schlüssel achtsam in eine Plastiktüte. »Kam es vor, dass Ihre Mutter die Schlüssel vergessen hat?«

»Eigentlich nie.«

Er legte den Kopf schief und musterte sie. »Was meinen Sie mit eigentlich?«

»Na ja, Mama arbeitet in der Verwaltung des GGV. Gestern war ihr erster Tag in der Buchbinderei. Sie sollte dort für drei Wochen sozialistische Hilfe leisten. Vielleicht war sie deshalb ein wenig aufgeregt und schusselig, auch wegen dem ungewohnten Arbeitsrhythmus. Sie arbeitet da in Schichten.« Frau Feldmann verzog das Gesicht.

Er hatte sein Notizbuch gezückt und schrieb eifrig mit. »Drehen Sie bitte noch mal in Ruhe eine Runde durch die Wohnung. Schauen Sie auch in die Schränke. Achten Sie auf jede Veränderung.«

Ohne zu zögern lief Frau Feldmann los. Als sie zurückkam, sah sie, dass Uwe durch die gestrige Zeitung blätterte. Sie versuchte, ihre Überraschung zu verbergen, aber es gelang ihr nicht so recht.

Er bemerkte ihr Erstaunen und bemühte sich, zu lächeln. »Ich wollte nur sichergehen, dass der Täter nicht irgendeine Nachricht oder Ähnliches in der Zeitung hinterlassen hat. Den Gefallen hat er mir aber leider nicht getan.« Er hielt den ungeöffneten Brief in die Höhe. »Der ist von einer Ruth Schiffner. Kennen Sie die?«

»Meine Mutter hat Ruth vor einigen Jahren im Urlaub an der Ostsee kennengelernt. Seitdem schreiben sich die beiden.«

Er legte den Brief zurück zu den Zeitungen. »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Liegen Dinge anders, als Ihre Mutter sie hinzustellen pflegte? Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«

»Auf die Schnelle habe ich nichts bemerkt.«

Uwe ließ das erst mal so stehen. »Wollen wir ins Wohnzimmer gehen? Ich habe noch einige Fragen an Sie.«

Frau Feldmann neigte zustimmend den Kopf und ging voraus. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht?«, fragte sie, nachdem sie sich gesetzt hatten.

»Nein, danke.« Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, versuchte auf diese Weise, Ruhe auszustrahlen. »War Ihre Mutter geschieden oder verwitwet?«

»Mein Vater hat sie vor zehn Jahren verlassen.«

»Hatte er eine andere Frau?«

»Ja, aber jetzt lebt er wieder allein. Ob das damals der Grund war …?« Sie hob die Schultern. »Mama hat nie darüber gesprochen.«

»Haben Sie einen guten Kontakt zu Ihrem Vater?«

Frau Feldmann machte eine vage Handbewegung. »Geht so.«

»Würden Sie mir bitte die Kontaktdaten Ihres Vaters geben.«

Der jungen Frau war die Situation offensichtlich unangenehm. Stocksteif hockte sie auf dem Sofa und zupfte an der Tischdecke herum. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was mein Vater mit dem Mord zu tun haben soll, aber bitte.«

Sie nannte ihm den Namen, die Anschrift und die Arbeitsstelle. Der schrieb alles in sein Notizbuch. Danach kam er zum nächsten Punkt auf seiner Liste: »Gab es einen Mann im Leben Ihrer Mutter?«

Frau Feldmann lachte bitter. »Im Vergleich zu Mama lebt ein Eremit richtig gesellig.« Sie schwieg und suchte offenbar nach den richtigen Worten. »Entschuldigen Sie, Witze sind im Moment unangebracht. Und nein, Mama hatte keinen Freund. Ich hatte manchmal sogar das Gefühl, dass Mama Angst vor Männern hat. Warum, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Sie war oft verschlossen.«

Uwe nahm das Gesagte unkommentiert zur Kenntnis und schrieb die Stichworte in sein Notizbuch. »Leben die Eltern Ihrer Mutter noch?«

»Die sind beide beim Bombenangriff auf Dresden umgekommen. Mama wuchs bei ihrer Tante Margot auf.«

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich musste das fragen.« Er klang ehrlich zerknirscht. »Lebt Ihre Großtante noch?«

»Sie ist vor drei Jahren gestorben.«

»Das tut mir leid.« Schnell kam er zum nächsten Thema: »Wurde Ihre Mutter bedroht?«, fragte er so sanft es ihm möglich war.