Alexis de Tocqueville - Karlfriedrich Herb - E-Book

Alexis de Tocqueville E-Book

Karlfriedrich Herb

4,5

Beschreibung

Wenn ein Aristokrat die Demokratie favorisiert, ein Franzose die Amerikaner lobt und ein Freigeist nach Religion verlangt, scheint dies paradox. Tocqueville (1805-1859) beweist, dass der erste Blick oft täuschen kann. Seine Werke werfen Probleme auf, die bis heute ungelöst sind: Wie viel Demokratie darf man wagen? Gibt es einen Konsens zwischen Eigennutz und Gemeinsinn? Und wie viel Bürokratismus und Politikverdrossenheit kann sich die moderne Gesellschaft leisten? Diese Fragen sind auch nach 200 Jahren hoch aktuell. Die Autoren schildern Tocquevilles Leben und seine politische Wissenschaft, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit steht. Im Namen der Freiheit mahnte er zu mehr Selbstbestimmung und Verantwortung. Auf diese Stimme sollten wir heute hören.

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www.campus.de

Herb, Karlfriedrich; Hidalgo, Oliver

Alexis de Tocqueville

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2005. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40125-6

|7|Siglen

Tocquevilles Hauptwerke werden in den wissenschaftlich maßgeblichen deutschen Übersetzungen von Hans Zbinden (Manesse), Dirk Forster (Koehler) und Theodor Oelckers (dtv) zitiert. Die Zitate der Werke und Briefe aus den beiden französischen Originalausgaben wurden von den Verfassern übersetzt.

DA I

Über die Demokratie in Amerika (Band 1)

DA II 

Über die Demokratie in Amerika (Band 2)

ER 

Erinnerungen

AR 

Der alte Staat und die Revolution

OC

Œuvres complètes (Édition Gallimard) 

OT

Œuvres complètes (Édition Beaumont)

|9|Einleitung

Seit der Fall der Berliner Mauer im Spätherbst 1989 das augenfällige Ende des Sozialismus einläutete, steht auch die politische Theorie vor einer neuen Situation: Der alles beherrschende Systemgegensatz zwischen Ost und West ist in den Fußnoten der Geschichte verschwunden. Zugleich avancierte die liberale Demokratie zur konkurrenzlosen Verfassungsform der Gegenwart. Mit der neuen Welle der Demokratisierung, die Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft in die Welt zu tragen schien, sahen einige bereits das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) gekommen. Was sollte es nach dem Sieg der Demokratie noch Neues geben? Inzwischen ist der Optimismus der neunziger Jahre einer vorsichtigen Nüchternheit gewichen. Herausforderungen und Krisen vielfältigster Art haben allzu hohe Erwartungen an die Demokratie gedämpft. Zwar sind auch weiterhin keine ernstzunehmenden Alternativen in Sicht, zu Euphorie und Selbstzufriedenheit besteht jedoch kein Anlass. Viele mögen sich heute an die Worte Churchills erinnern, der die Demokratie als schlechteste Staatsform bezeichnete – abgesehen von allen anderen. Weniger bekannt ist, dass schon im 19. Jahrhundert ein Autor mit seiner schonungslosen Beschreibung der Demokratie den Zeitgeist zu Beginn des neuen Jahrtausends vorweggenommen hat: Die Rede ist von Alexis de Tocqueville (1805–1859).

|10|Wer nach Denkern Ausschau hält, die angesichts der schwierigen demokratischen Zukunft Orientierung versprechen, kommt an Tocqueville nicht vorbei. Zu einer Zeit, als das postrevolutionäre Frankreich noch um seine soziale und politische Verfassung ringt, hatte er die Leserschaft in der alten und neuen Welt mit einer mutigen These überrascht: Les jeux sont faites, der Sieg der Demokratie ist unaufhaltsam. Zu dieser Überzeugung kommt Tocqueville auf einer Reise durch die Vereinigten Staaten, deren Erfahrungen er in seinem Erstlingswerk Über die Demokratie in Amerika (1835/40) verarbeitet. Es macht ihn früh zu einem Klassiker der politischen Theorie. Obwohl seine Studie seither wechselnden Konjunkturen unterlag, hat sie von ihrer Aktualität nichts verloren.

Mit Tocqueville tritt das Nachdenken über die Demokratie in eine neue Phase. Der französische Aristokrat entdeckt in ihr die exklusive Gesellschaftsform (état social) der Moderne. Galt sie den Denkern des 18. Jahrhunderts noch als eine Staatsform unter anderen sowie als Reminiszenz an die antike Volksherrschaft, definiert Tocqueville die Demokratie vorrangig als soziales Phänomen. Gleichheit der Bedingungen (égalité des conditions) – so lautet die spezifische Differenz der demokratischen Gesellschaft. Darunter versteht Tocqueville einen allmählich fortschreitenden Prozess, der allen Bürgern denselben staatsbürgerlichen Status und ökonomische Chancengleichheit gewährt. Volkssouveränität und Gleichheit der politischen Rechte gehören folgerichtig zum Idealtypus des demokratischen état politique. Aufgrund seines dynamischen Ansatzes sowie der Unterscheidung zwischen sozialer und politischer Sphäre kann Tocqueville allerdings jedes Gemeinwesen mit dem Attribut »Demokratie« versehen, in dem der Zugang zu den sozioökonomischen Positionen für jedermann offen steht. Die Demokratie fungiert damit als Grenzbegriff zur Aristokratie.

Die gesellschaftliche Basis, die Tocqueville seinerzeit als |11|»Demokratie« bezeichnete, umreißt die noch heute gültige Struktur der OECD-Staaten. Marktwirtschaft und Bürgerrechte ermöglichen hier dem Einzelnen einen freien und individuellen Lebensentwurf. Tocqueville gehört freilich zu denen, die Zweifel haben, ob mit der Demokratie die Lösung aller Probleme gefunden ist. Doch sieht er nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Was die Demokratie für die Zukunft verspricht, hängt entscheidend von der Verantwortlichkeit der Bürger für das Gemeinwesen ab. Tocqueville wirft diesbezüglich Fragen auf, die sich bis heute stellen: Wie viel Demokratie darf man wagen? Wie viel Individualismus verträgt die Demokratie? Wie lassen sich Partizipation der Bürger und politische Repräsentation vereinbaren? Welche Gefahren drohen der modernen Massengesellschaft durch die allgemeine Politikverdrossenheit? Und wie steht es grundsätzlich um den Ausgleich zwischen Staat und Wirtschaft, Individuum und Gesellschaft? All dies sind Herausforderungen, die auch namhafte Demokratietheoretiker der Gegenwart wie John Rawls, Norberto Bobbio und Jürgen Habermas beschäftigen.

Tocqueville erweist sich nicht nur deswegen als unser Zeitgenosse, weil er die Versprechungen der Demokratie mit Skepsis betrachtet und die prekären Bedingungen kennt, aus denen heraus sie existiert. Er offenbart auch die eigentümliche Unbestimmtheit der demokratischen Ideale. Dass die Demokratie über sich selbst keine Gewissheit erlangt, sieht Tocqueville als ihre größte Schwäche. Herausgelöst aus jeder transzendenten Ordnung, fehle es ihr an Maßstäben, um über richtig und falsch, gut und böse zu entscheiden. Das Dogma der Volkssouveränität und das Prinzip der Mehrheit bieten keine sichere moralische Kompetenz. Nach Tocqueville bleibt die Demokratie deshalb auf Grenzen und Regeln angewiesen, die von außen an sie herangetragen werden. Dass die demokratische Gesellschaft möglicherweise dazu verurteilt ist, ihre Unbestimmtheit und Widersprüche auszuhalten, konnte er sich nicht vorstellen. |12|In der Tradition Tocquevilles betonen heute Denker wie Claude Lefort die Unfähigkeit der Moderne zur positiven Selbstbeschreibung und erkennen darin eine Ursache für das mögliche Abgleiten der Demokratie in despotische Regime. Der autoritäre Führer, der sich über das komplizierte, oft mühsame Zusammenspiel der politischen Kräfte hinwegsetzt, die Heilsversprechen der totalitären Ideologien – hier waren die vermeintlichen Antworten zu finden, die die Demokratie ihren Bürgern schuldig blieb. Wie hoch der Preis solcher Antworten war, vermochte Tocqueville nur zu erahnen. Gleichwohl ist er ein zentraler Referenzautor, der die Transformationsprozesse der Demokratie in beide Richtungen verfolgt hat. In seinen Schriften sind die Ursprünge der modernen Gesellschaft mit ihren zukünftigen Optionen auf geheimnisvolle Weise verbunden. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einem Kontinuum, dessen Kenntnis Tocqueville für die erfolgreiche Arbeit am demokratischen Projekt voraussetzt. Er weiß, dass es ein hilfloses und auch gefährliches Unterfangen wäre, die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Keine Gesellschaft, nicht einmal die in der neuen Welt, entsteht aus einem Vakuum. Für Tocqueville bedeutete dies, dass sich die Demokratie dem Erbe der Aristokratie zu stellen habe. Seine Theorie des demokratischen Wandels ließe sich ebenso auf heutige Gesellschaften in Osteuropa oder der Dritten Welt anwenden. Auch hier gilt es, aus der Geschichte zu lernen, um frühere Fehler zu vermeiden anstatt sie zu wiederholen. Aus der eigenen historischen Erfahrung weiß Tocqueville allerdings, dass der Erfolg der demokratischen Transformation nicht mehr ist als ein erster Schritt. Die moderne Gesellschaft birgt in sich eine Ambivalenz, die eine freie und glückliche Zukunft nicht wahrscheinlicher macht als das (neuerliche) Abdriften in ein despotisches System. Tocqueville macht diese Gefahren nicht am materiellen Bereich fest, denn Wohlstand und Stabilität vermag die Demokratie durchaus zu garantieren. Allerdings befürchtet er, dass der homme |13|démocratique zum Sklaven seines Wohlergehens wird und seine freiheitlichen Ideale der gesicherten Prosperität opfert. Die Grenzen, die zwischen einem fürsorglichen Wohlfahrtsstaat und dem Paternalismus sozialistischer Provenienz bestehen, gehen für ihn fließend ineinander über.

Unter den Klassikern des 19. Jahrhunderts besticht Tocqueville durch die Objektivität seiner Analysen und die Zurückhaltung seiner Prognosen. Verglichen mit den Prophezeiungen der Herrschaft der Bourgeoisie, der Diktatur des Proletariats oder der Expertokratie der Wissenschaft, wie sie François Guizot, Karl Marx und Auguste Comte lieferten, wirkt Tocquevilles These von der Unabänderlichkeit des egalitären Zeitalters eher bescheiden. Die Abenteuer der dialektischen Vernunft reizten ihn so wenig wie die Gesetzmäßigkeiten des Positivismus. Tocqueville hat die Lektionen seiner politischen Wissenschaft in den Vereinigten Staaten gelernt. Seine Darstellung der amerikanischen Institutionen galt lange Zeit als maßgebliche Formulierung des politischen Systems der USA. Noch mehr interessierte er sich aber für die demokratische Lebenswelt. Seine Einsichten lassen sich deshalb heute unter die Vorschläge zur Zivilgesellschaft subsumieren. Für Tocqueville taugen die klassischen, in der Verfassung garantierten Partizipationsrechte nur solange, wie sie von einer lebendigen politischen Kultur getragen werden. Dass auch die moderne Demokratie nicht ohne Bürgertugend auskommt, war seine feste Überzeugung. Solche Tugend ließ sich nicht durch abstrakte Bezüge herausbilden, sondern bedurfte der konkreten Praxis. So wichtig die Institutionen auch sein mochten, erst in den Sitten konnte sich die Demokratie auf Dauer etablieren. In Amerika erkannte Tocqueville ein Gemeinwesen, in dem von den lokalen und regionalen Ebenen bis zur Spitze der Föderation die Gewohnheit herrschte, die eigenen Angelegenheiten selbständig oder mit Gleichgesinnten zu regeln und nur subsidiär auf den Staat zurückzugreifen. Dem Appell an den alten Kontinent, sich von solchem civic involvement |14|inspirieren zu lassen, sollten sich auch die heutigen Europäer nicht verschließen.

Tocqueville leistet jedoch keine innerweltliche Analyse der Politik. Er war vielmehr überzeugt, in Amerika die eigentliche Grundlage der politischen Energien entdeckt zu haben. Erst der Glaube – ist er sich sicher – zwinge den Einzelnen dazu, sich mit den Problemen der Gesellschaft zu befassen. Deshalb begeistert ihn die Harmonie, die in der neuen Welt zwischen Religion und Demokratie besteht. Auch in diesem Punkt legt Tocqueville jedoch eine differenzierte Sichtweise an den Tag. Akribisch analysiert er die eigentümliche Mischung aus Spiritualität und Zweckrationalismus, Bigotterie und Geschäftssinn, die die amerikanische Zivilreligion auszeichnet. Die Religion ist dabei nur ein Beispiel, wie Tocquevilles feinsinnige Beobachtungen Amerika als eine Gesellschaft vorstellen, die dem Europäer ebenso nahe wie fremd ist. In vielen Passagen wirkt sein Buch so, als sei es heute geschrieben. Über einen Autor, der vor 200 Jahren geboren wurde, lässt sich kaum etwas Besseres sagen.

Der Vergleich mit der natürlich gewachsenen Demokratie der Amerikaner zeigt Tocqueville, wie konfliktreich die moderne Gesellschaft in Europa, insbesondere in Frankreich entstanden ist. Das Spätwerk Der alte Staat und die Revolution (1856) taxiert den sozialen Wandel im Licht von 1789. Auch hier überrascht Tocqueville mit seinem Befund. Die Französische Revolution erscheint als Ereignis, das an den großen Linien der geschichtlichen Entwicklung nichts verändert hat. Auch ohne die revolutionären Ereignisse hätte Frankreich den Weg in die Moderne gefunden. Damit gießt Tocqueville Wasser auf die Mühlen derer, denen die Aufregung um 1789 seit je her suspekt war. Er war sich gleichwohl bewusst, wie gewaltig die Veränderungen waren, die sich hinter den Kulissen der politischen Bühne vollzogen. Die Demokratie zu verstehen, verlangte für ihn auch, die Kluft zu begreifen, welche die Tradition |15|von der Moderne trennt. Insofern erweist sich die Revolution, die Tatsachen geschaffen hat, hinter die es kein Zurück gibt, selbst unter Tocquevilles Prämissen als Phänomen, mit dem die Auseinandersetzung lohnt.

Der aufmerksame Leser wird nicht daran zweifeln, dass sich Tocqueville zu diesen Tatsachen, das heißt zu Menschenrechten, Marktgesellschaft und individueller Lebensführung bekennt. So hart er bisweilen mit der falschen Selbstgewissheit und Selbstzufriedenheit des Bürgertums ins Gericht geht: Er misst die Moderne an ihren eigenen Idealen. Reaktionäre Auffassungen sind ihm ebenso fremd wie die heute modischen Perspektiven, deren ironische Toleranz und postmoderne Beliebigkeit sich allzu gerne um die Lösung der aufgeworfenen Fragen drücken. Wer daher nach Tocquevilles Standort innerhalb der Traditionen des politischen Denkens fragt, tut sich schwer. Sein Werk verweigert sich einer Einordnung in die klassischen Lager der Konservativen und Progressiven. Wer sich intensiv mit ihm beschäftigt, dürfte dies aber kaum als Manko betrachten.

Leben und Denkweg

Wer ist dieser Autor, dem so viele bemerkenswerte Einsichten über die moderne Demokratie gelangen? In erster Linie ist Alexis de Tocqueville ein Wanderer zwischen den Welten. Geboren wird er 1805, zu einer Zeit, als sich Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Tocqueville entstammt einer normannischen Adelsfamilie, die dem Untergang des Ersten Kaiserreichs und der Restauration der Bourbonenherrschaft viel Positives abgewinnt. Seine Eltern waren den Wirren der Revolution nur knapp entronnen, während sein Urgroßvater Malesherbes 1794 den Tod durch die Guillotine gefunden hatte. Beeinflusst von den konservativen Einstellungen seiner Familie, goutiert der junge Alexis den Versuch der Verfassung von 1814, einen Ausgleich zwischen dem revolutionären Erbe |16|und der alten Monarchie zu schaffen. Was etwa Auguste Comte von vornherein zum Scheitern verurteilte, ist für Tocqueville zunächst ein guter Kompromiss zwischen Fortschritt und Ordnung. Als er freilich bemerkt, dass die Grundsätze der Constituante nur auf dem Papier bestehen, geht er auf Distanz zu den legitimistischen Kreisen.

Auch in privater Hinsicht emanzipiert sich Tocqueville von den Erwartungen der Familie. Der Posten des Hilfsrichters, den er 1827 nach Beendigung des Jurastudiums auf Vermittlung seines Vaters annimmt, erfüllt ihn mit wenig Befriedigung. Sein ungeduldiges Naturell stößt sich an der Aussicht, gemäß den Gesetzen der Restauration achtzehn Jahre auf eine politische Karriere zu warten. Zur gleichen Zeit beendet er eine erste Liaison mit einer Frau aus dem Bürgertum aus Furcht vor einem gesellschaftlichen Skandal. Noch vor der Julirevolution lernt er jedoch seine spätere Frau, die Engländerin Mary Mottley kennen. Ihre Beziehung hält er zunächst geheim.

Als die Orléanisten 1830 die bürgerliche Monarchie ausrufen, ist Tocqueville ein in sich zerrissener Mann. Sein Wunsch, in die Politik zu gehen, droht an den Gesetzen zu scheitern, sein privates Glück an den Konventionen des Elternhauses. Doch auch den neuen Herrschern, der Bourgeoisie, bringt der Aristokrat wenig Respekt entgegen. Widerwillig leistet er den Amtseid auf den »Bürgerkönig« Louis Philippe. Einen Ausweg aus der verfahrenen Situation findet Tocqueville, als das Justizministerium ihn gemeinsam mit seinem Freund Gustave de Beaumont mit der Aufgabe betraut, die amerikanischen Einrichtungen des Strafvollzugs zu untersuchen. Für beide ist der offizielle Grund der Reise nur ein Vorwand, um das soziale und politische System der USA umfassend zu studieren. Schon seit 1825 hatte sich Tocqueville gedanklich mit der amerikanischen Demokratie beschäftigt. Später gehört er zu der illustren Zuhörerschaft, die in den Jahren 1828/30 den Geschichtsvorlesungen François Guizots an der Sorbonne folgt. Hier gewinnt er die |17|Gewissheit, dass der Sieg der Gleichheit auch in Europa unausweichlich ist. Auf seiner Reise durch die Vereinigten Staaten will Tocqueville nur noch seine theoretische Intuition bestätigen: Jenseits des Ozeans glaubt er die Zukunft des alten Kontinents zu finden. Seine Entdeckungen verarbeitet er in dem Werk Über die Demokratie in Amerika, dessen ersten Teil er 1835 publiziert. Dieser beschert seinem Autor einen fast sensationellen Erfolg beim Publikum und bringt ihm gleichzeitig die Anerkennung der literarischen und akademischen Fachwelt ein. Seine Reputation führt ihn 1838 in die Académie des Sciences Morales et Politiques. 1841 erfolgt die Aufnahme in die ehrwürdige Académie française. Als renommierter Schriftsteller wagt Tocqueville es auch, seine langjährige Geliebte gegen den Widerstand der Angehörigen zu heiraten: Dem politischen Bekenntnis zur Demokratie war das private gefolgt.

1840 veröffentlicht er die Fortsetzung der Démocratie en Amérique. Der zweite Band argumentiert weit abstrakter als der erste. Nun geht es weniger um die Gesellschaft der USA als um die Darstellung des Idealtyps der Demokratie. Weil Tocqueville dabei oftmals seine krisengeschüttelte Heimat im Auge hat, wird der Grundton pessimistischer. Auch das Schreiben fällt ihm diesmal schwerer, was zu Selbstzweifeln führt, die durch die schwachen Verkaufszahlen noch bestärkt werden.

Wenn sich Tocqueville nun einer politischen Karriere zuwendet, ist dies nicht allein aus seiner Frustration zu erklären. Von Anfang an verfolgte er politische Ambitionen. So erringt er bereits vor der Publikation des zweiten Bandes im heimatlichen Wahlkreis Valognes einen Sitz in der Deputiertenkammer, den er bis zum Ende der Julimonarchie behält. Sein parlamentarischer Einfluss bleibt allerdings gering. Größere Erfolge feiert der Politiker Tocqueville erst in der Zweiten Republik. Der ehemalige Monarchist wird mit großer Mehrheit in die Nationalversammlung gewählt. Dort ist er maßgeblich an der Ausarbeitung der Verfassung von 1848 beteiligt. Im folgenden Jahr |18|bekleidet er im Kabinett Odilon-Barrot das Amt des Außenministers. Die Regierung hält sich jedoch nur wenige Monate. Nach dem Staatsstreich von Präsident Louis Napoleon im Dezember 1851 zieht sich Tocqueville aus der Politik zurück. Entschieden lehnt er es ab, mit dem Zweiten Kaiserreich zu kollaborieren. In seinen Erinnerungen, die erst 1893 nach dem Tod aller beteiligten Personen publiziert werden, gibt der »Republikaner wider Willen« Rechenschaft über sein Handeln in jenen kritischen Jahren.

Tocqueville wendet sich nun erneut der Theorie zu. 1852 beginnt er die Arbeit an seinem zweiten großen wissenschaftlichen Werk. Der alte Staat und die Revolution (1856) widmet sich den historischen Hypotheken, die zum politischen Drama Frankreichs geführt haben. Tocqueville leistet hier eine Art Gegenwartsanalyse am geschichtlichen Modell. Dabei versucht er nachzuweisen, dass die Revolution keinen Bruch mit der Vergangenheit darstellt, sondern die im Ancien Régime begonnene Entwicklung lediglich zu Ende führt. Tocqueville plante, seine Untersuchungen bis an die Schwelle des Ersten Kaiserreiches fortzusetzen. Sein früher Tod am 16. April 1859 verhindert, dass er dieses Vorhaben zum Abschluss bringen kann.1

Tocquevilles Werk weckte gleichermaßen die Aufmerksamkeit von Soziologen, Politologen, Historikern, Philosophen, Kulturwissenschaftlern, Anthropologen und Juristen. Seine Wirkungsgeschichte verläuft dabei äußerst wechselhaft. Dem frühen Ruhm folgte eine lange Zeit des Vergessens. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte er in den USA und Frankreich eine Renaissance, die bis heute anhält. Sie zeigt ihn in höchst unterschiedlichen Rollen: Betonen neoliberale Denker Tocquevilles Skepsis gegenüber der Staatsmacht, berufen sich linke |19|Kommunitaristen auf seine zivilgesellschaftlichen Ideale. Darüber hinaus steht sein Werk ebenso Pate für eine konservative Kulturkritik wie für basisdemokratische Vorstellungen. Tocqueville selbst war sich bewusst, dass sein Werk vielen Leuten zusagt (OT V, 429). Die Ambivalenzen, die er beschreibt, spiegeln sich in den eigenen Positionen wider. Sie offenbaren sich auch in den ideengeschichtlichen Bezügen. Wie alle großen politischen Denker hat Tocqueville seine Vorbilder. Pascal, Montesquieu und Rousseau sind es, mit denen er sich nach eigener Aussage fast täglich auseinandersetzt (OC XIII, 1, 418). Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass es Tocquevilles Ziel war, das aristokratische Freiheitsverständnis Montesquieus auf das demokratische Fundament Rousseaus zu stellen und mit Hilfe der Pascalschen Theologie abzusichern. Dass es hier zu Spannungen zwischen Gewaltenteilung und Volkssouveränität, Elite und Masse, Politik und Religion kommen musste, scheint evident. Umso wichtiger ist es, die bisweilen widersprüchlich wirkenden Auffassungen in ein konsistentes Gedankengebäude zu integrieren. Dieser Herausforderung muss sich jede Interpretation stellen, gilt es doch, der Stringenz im Denken und Handeln nachzuspüren, die Tocqueville für sich selbst reklamiert: »Was meine Ideen, meine Gefühle und selbst mein Handeln im Grundsätzlichen betrifft, so würde ich daran nichts ändern« (OC VIII, 3, 272), hat Tocqueville seinem ehemaligen Reisegefährten Beaumont versichert. Es besteht kein Grund, ihm in dieser Hinsicht zu misstrauen.

Die vorliegende Einführung bemüht sich, Tocquevilles Denkweg in seinen einzelnen Etappen zu rekonstruieren. Zu Beginn wird die Zwischenstellung herausgearbeitet, aus welcher der Aristokrat Tocqueville die Neutralität seiner Urteile über die Demokratie ableitet. Die Rede von den »zwei Welten« lässt sich sowohl räumlich als auch zeitlich interpretieren. Sie kennzeichnet zudem die historische Situation zwischen Tradition und Moderne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Kapitel 1). |20|Der besondere biografische und zeitgeschichtliche Hintergrund stößt Tocqueville auf sein problème fondamental: Wie kann man die Freiheit in einer Gesellschaft bewahren, in der die Gleichheit der Bedingungen herrscht? Dass sich beide Ideale widersprechen können, hatte sich in Revolution und Kaiserreich gezeigt. Gerade der napoleonische Code Civil belegt für Tocqueville, dass Gleichheit durchaus ohne Freiheit möglich ist. Insofern erweist sich der Despotismus als das andere Gesicht der égalité des conditions, das heißt als prekäre Option, wie sich die moderne Gesellschaft politisch organisiert (Kapitel 2).

Tocquevilles neue politische Wissenschaft will mehr als Diagnose sein, sie liefert auch Vorschläge zur Therapie. Die Amerikastudie zeigt Wege auf, wie den Gefahren der neuen Ära zu begegnen ist. Dazu betrachtet Tocqueville die Demokratie ebenso als Institution wie als spezifische Lebensform. Nicht nur um Wahlen und parlamentarische Gesetzgebung geht es, sondern um die Ideen, Gefühle, Sitten und Gewohnheiten des homme démocratique. Von besonderer Bedeutung ist hier der Zusammenhang zwischen état social und état politique, der zum Grundaxiom von Tocquevilles politischer Wissenschaft wird. Indes scheint das demokratische Denken, Fühlen und Handeln immer mehr Anlass zur Besorgnis zu geben. Die habits of the heart, die in Amerika zur Freiheit führten, sind auf die französischen Verhältnisse kaum zu übertragen. In seinem Heimatland sieht Tocqueville das Pendel eher zur despotischen als zur liberalen Form der Demokratie ausschlagen (Kapitel 3).

Seine theoretischen Einsichten will der Abgeordnete Tocqueville in die Praxis umsetzen. Der literarische Ruhm führt ihn in die Zirkel der classe politique. Der Aristokrat sieht sich jedoch von der bürgerlichen Führungsschicht der Julimonarchie enttäuscht. Er wirft der Bourgeoisie vor, den Staat durch Habgier und Eigeninteresse zu korrumpieren. Die demokratische Nachfolge der früheren Hautevolee ist also keineswegs gesichert. |21|Von der geistigen und sittlichen Überlegenheit, die Tocqueville von einer Elite erwartet, scheint diese »petite aristocratie vulgaire« (OC VI, 2, 99) weit entfernt. Mit seinen politischen Zielen bleibt er in der Deputiertenkammer aber isoliert. Es mangelt ihm an Machtinstinkt und Diplomatie. Nach 1848 spült ihn das Patt zwischen Konservativen und Radikalen zwar für einige Monate an die Schalthebel der Regierung. Doch steht auch die Zeit als Außenminister unter keinem günstigen Stern. Der Politiker Tocqueville kann sich mit den Erfolgen des Autors letztlich nicht messen (Kapitel 4).

Auf seine theoretische Intuition ist aber weiterhin Verlass. Nach der Demission macht sich Tocqueville daran, Frankreichs Sonderweg in die Moderne historisch nachzuzeichnen. Der zentralisierte Verwaltungsstaat wird dabei als Bindeglied zwischen Absolutismus und Demokratie entlarvt, was nicht zuletzt das moderne Leitprinzip der Diskontinuität erschüttert. Tocquevilles intellektuelle Entwicklung zeigt hier eine erstaunliche Beständigkeit. Schon zwei Jahrzehnte zuvor nimmt der Essay L’État social et politique de la France avant et depuis 1789 einige Grundzüge der Argumentation des Spätwerks vorweg. Tocquevilles Historiografie gewährt überdies tiefe Einblicke in das Verhältnis von Demokratie und Revolution sowie in die Ideologisierung des öffentlichen Raumes (Kapitel 5).

An die genetische Darstellung des Tocquevilleschen Denkwegs schließt sich der Versuch einer Positionsbestimmung an. Auf eigentümliche Weise verbindet er liberale, konservative und deliberative Überzeugungen zu einer neuen Einheit. Die Chiffren des Liberalismus wie Rechtsstaatlichkeit, Laizismus und Privateigentum werden ergänzt durch eine spezifische Berücksichtigung der Religion sowie eine ungewöhnliche Distanz zur Wirtschaft. Ingesamt präsentiert sich Tocqueville als Denker, der den modernen Individualismus kritisiert und nach Möglichkeiten sucht, die atomisierten Mitglieder der Massengesellschaft in einer verantwortlichen Zielsetzung zu einigen. |22|Ins Auge sticht das Ergänzungsbedürfnis der politischen Ordnung. Tocquevilles emphatischer Begriff des Politischen verlangt nach transzendenten Bindungen (Kapitel 6).

Die Zukunft der Demokratie

Tocquevilles Vermächtnis fordert seine Leser auf, Licht- und Schattenseiten der Demokratie wahrzunehmen. Es gilt, neben den Errungenschaften der neuen Ära auch ihr Gefahrenpotential zu erkennen. Für das, was er befürchtete, fand Tocqueville noch keinen anderen Begriff als Montesquieu. Er spricht vom sanften Despotismus, wenn er die düsteren Perspektiven der Demokratie ausmalt.2

Sicherlich haben die Erfahrungen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert selbst Tocquevilles schlimmste Erwartungen übertroffen. Seine Krisenanalyse der Demokratie ist indes auch heute noch lesenwert, nimmt sie doch die noch immer ungelösten Probleme in viel subtilerer Weise wahr, als es das »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) suggeriert. Weniger die brutalen Unterdrückungsmechanismen sind es, auf die er hinweist, als vielmehr die verborgenen Formen der Selbstversklavung. Tocqueville sah Bürger voraus, deren einziges Ziel in der Sicherung ihres Wohlstands besteht und die die öffentlichen Angelegenheiten der staatlichen Administration überlassen. Aus dieser Koinzidenz von materiellem Anspruchsdenken und Unfähigkeit zum politischen Handeln folgt fast zwangsläufig jene »Überforderung« des Staates, die Niklas Luhmann zum Wesensmerkmal der Demokratie erhebt. Von Tocqueville aber können wir diesbezüglich lernen, dass man zur Freiheit vor allem eines braucht: die Lust, frei zu sein (AR, 169). Seine Werke ermahnen zu Selbstverantwortung und bürgerlichem Engagement, statt sich im Lamento der eigenen Machtlosigkeit |23|zu ergehen. Allerdings weist Tocqueville einen Zug auf, der aus heutiger Sicht problematisch scheint: Das freie Spiel der partikularen Interessenvertretung im demokratischen System wirkte auf ihn armselig und kleingeistig. Seinem deutschen Antipoden Max Weber ähnlich, lebt in ihm die Sehnsucht nach charismatischen Führerfiguren fort, die sich aus der Masse von Egoisten erheben und der Mittelmäßigkeit des Zeitalters Paroli bieten. Von daher glaubte Tocqueville genau zu wissen, dass sein politisches Ideal bestenfalls die Sache von Wenigen ist. Folgt man seinen bleibenden Vorbehalten gegenüber der Demokratie, so verlangt das neue Zeitalter vom Einzelnen einen fast aussichtslosen Kampf. Der homme politique der demokratischen Ära – für Tocqueville ist er ein moderner Sisyphus, der sich gegen die vielfach überlegene Kraft der Widersacher behaupten muss. Ob man ihn sich im Sinne Albert Camus’ als »glücklichen Menschen« denken kann, bleibt fraglich.

|24|1 Tocqueville zwischen alter und neuer Welt

Aus der reservierten Haltung des Adligen will Tocqueville die Stärken und Schwächen der modernen Demokratie abwägen. Auch in anderer Hinsicht bewegt sich der französische Aristokrat zwischen den Welten. Seine Lektionen für Europa lernt er in Amerika, politisch sitzt er zwischen allen Stühlen. Im revolutionären Auf und Ab des 19. Jahrhunderts war es ihm nicht möglich, eine geistige Heimat zu finden.

Alexis de Tocqueville entstammte einer Welt, die rückwärts blickte. Doch so sehr er selbst ein Nostalgiker war, die Rückkehr zur alten Aristokratie schloss er aus. Zu tief war er von der Unabänderlichkeit der neuen Verhältnisse überzeugt. Das Gesetz der demokratischen Gesellschaft, die Gleichheit der Bedingungen – Tocqueville erhebt es in den Rang einer unumstößlichen Wahrheit. Sein Befremden gegenüber dem Neuen konnte er dennoch kaum verbergen. Mancher Interpret bezweifelte deshalb, ob dem Grafen de Tocqueville eine neutrale Bewertung der Demokratie gelingt. Er selbst war immerhin davon überzeugt, dass seine Herkunft einer unvoreingenommenen Perspektive nicht im Wege stand. Vielmehr fühlte er sich |25|gerade wegen seiner Abstammung zur Objektivität berufen. Ein Brief an seinen Freund und Übersetzer Henry Reeve gibt hierüber Auskunft:

»Man hat mir abwechselnd demokratische und aristokratische Vorurteile unterstellt; ich hätte vielleicht die einen oder die anderen gehabt, falls ich zu einer anderen Zeit oder in einem anderen Land geboren worden wäre. Der Zufall meiner Geburt hat es mir jedoch nicht schwer gemacht, mir beides zu verbieten. Ich kam auf die Welt am Ende einer langen Revolution, die, nachdem die alte Ordnung bereits zerstört war, noch nichts Dauerhaftes geschaffen hatte. Die Aristokratie war bereits tot, als mein Leben begann, während die Demokratie noch nicht existierte; mein Instinkt konnte mich also weder zu der einen noch der anderen Verblendung hinreißen.« (OC VI, 1, 37f.)