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Tiberius Elroy und der ewige Tod Ein Gruselkrimi von Alfred Bekker aaa Der Umfang dieses Buchs entspricht 236 Taschenbuchseiten. Der tote Björn Renner ist in der JVA Ewig ermordet worden. Davon ist Dr. Böttcher überzeugt. Doch die Umstände sind mehr als eigenartig, und so beginnt der Gerichtsmediziner auf eigene Faust zu recherchieren, wobei er unerwartet Hilfe durch den Orden vom Heiligen und Weißen Licht bekommt. Aber scheinbar stehen sehr viele Leute unter dem Einfluss von Arthur Tanner, oder King Arthur, der sich auch gerne "Meister" nennen lässt. Zu Dr. Böttchers eigener Überraschung ist er fähig, sich vor dem bösen geistigen Einfluss abzuschirmen. Aber wird das reichen, um den Schwarzmagier zu überwinden? aaa
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Alfred Bekker Grusel-Krimi #15: Tiberius Elroy und der ewige Tod
Alfred Bekker
Published by CassiopeiapressAlfredbooks, 2019.
Title Page
Tiberius Elroy und der ewige Tod | Ein Gruselkrimi von Alfred Bekker
Copyright
PROLOG
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
K A P I T E L D R E I
K A P I T E L V I E R
K A P I T E L F Ü N F
K A P I T E L S E C H S
K A P I T E L S I E B E N
About the Publisher
Der Umfang dieses Buchs entspricht 236 Taschenbuchseiten.
Der tote Björn Renner ist in der JVA Ewig ermordet worden. Davon ist Dr. Böttcher überzeugt. Doch die Umstände sind mehr als eigenartig, und so beginnt der Gerichtsmediziner auf eigene Faust zu recherchieren, wobei er unerwartet Hilfe durch den Orden vom Heiligen und Weißen Licht bekommt. Aber scheinbar stehen sehr viele Leute unter dem Einfluss von Arthur Tanner, oder King Arthur, der sich auch gerne „Meister“ nennen lässt. Zu Dr. Böttchers eigener Überraschung ist er fähig, sich vor dem bösen geistigen Einfluss abzuschirmen. Aber wird das reichen, um den Schwarzmagier zu überwinden?
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
––––––––
HINWEIS: DIE IN DIESEM Roman dargestellten Zustände in der JVA Ewig in Attendorn entsprechen in keiner Weise der Realität. Der Autor hat sich einzig und allein von der äußeren Kulisse und dem beziehungsreichen Namen dieser Strafanstalt inspirieren lassen.
New York, Central Park
Zwei Etagen unter dem berühmten Tanz- und Speiserestaurant TAVERN-ON-GREEN befand sich die Zentrale der Orden vom Heiligen und Weißen Licht-Büros. Labors, Funkzentrale und die Computer dieser geheimen internationalen Einheit im Kampf gegen die Mächte des Übersinnlichen waren hier untergebracht.
Tiberius Elroy, seines Zeichens Agent vom Orden vom Heiligen und Weißen Licht mit der Codebezeichnung CODE-3, hatte gerade noch einen Drink an der Bar des TAVERN-ON-THE-GREEN genommen. Jetzt blickte er durch eines der Fenster hinaus. Es war ein friedlicher, sonniger Nachmittag im Central Park, der bei diesem Wetter immer stark frequentiert war.
Elroy setzte sein Glas ab, bezahlte, und ging dann zu der Geheimtür, über die man in die Zentrale vom Orden vom Heiligen und Weißen Licht gelangen konnte.
Der Fingerabdruck eines autorisierten Agenten diente als Schlüssel.
Mit der Kuppe des Zeigefingers berührte Tiberius Elroy ein Sensorfeld.
Die Tür glitt automatisch zur Seite.
Tiberius Elroy stieg in eine Liftkabine, mit der man abwärts gelangen konnte. In die Tiefe!, wie unter Agenten vom Orden vom Heiligen und Weißen Licht oft scherzhaft gewitzelt wurde. Die Höllentiefe ...
In Wahrheit waren hier natürlich diejenigen zu Hause, die aufpassten, dass die Erde kein Opfer übernatürlicher Invasionen wurde.
Immer, wenn sich irgendwo verdächtige Aktivitäten zeigten, wurde der Orden vom Heiligen und Weißen Licht aktiv.
Tiberius Elroy ließ sich von der Liftkabine abwärts bringen. Wenig später öffnete sich die Kabinentür vor ihm, und er erreichte über einen langen, schmalen Korridor die Zentrale des Orden vom Heiligen und Weißen Licht, im allgemeinen Sprachgebrauch meist nur OHW oder der Orden genannt. Ihr Herzstück, wenn man so wollte. “Smart Alexandra” oder “Sweet Jennifer” wurden die außerordentlich leistungsstarken Computersysteme des Orden vom Heiligen und Weißen Licht oft fast liebevoll von den Mitarbeitern genannt.
Und tatsächlich spielten sie auch eine ganz besondere Rolle in dem verzweifelten Abwehrkampf, den der Orden vom Heiligen und Weißen Licht gegen übernatürliche Bedrohungen aller Art führte. Weltweit wurden verdächtige Signale aufgezeichnet. Parasignale, aus denen sich Rückschlüsse ziehen ließen.
Dutzende von Mitarbeitern saßen an Konsolen und Terminals und standen über modernste Kommunikationstechnologie ständig mit der ganzen Welt in Verbindung. Der Orden vom Heiligen und Weißen Licht hatte überall seine Gewährsleute und Agenten, die die Organisation zuverlässig mit relevanten Informationen versorgten.
Tiberius Elroy ging die Gasse entlang, die zwischen den teilweise mit technischem Gerät vollkommen überladenen Tischen gelassen worden war.
Irgendetwas hatte die Mitarbeiter des OHW in helle Aufregung versetzt.
Für Tiberius Elroy war das mit Händen zu greifen, so intensiv war diese Empfindung. Irgendetwas muss geschehen sein!, war ihm sofort klar.
Klaus Niedecken, ein junger Deutscher, kam auf ihn zu und grüßte mit einem kurzen Kopfnicken.
Niedecken war Agent vom Orden vom Heiligen und Weißen Licht. Ebenso wie Tiberius Elroy selbst.
„Magische Aktivitäten auf Ewig!“, sagte er.
„Wie bitte?“, reagierte Elroy irritiert.
„Eine Strafanstalt in Deutschland, die so heißt“, belehrte ihn der Deutsche knapp. „Ich habe das Gut schon vor einigen Wochen beobachten lassen – eben seit die Ausstrahlungen deutlich sind. Doch gestern ist dort was passiert, was die negativen Kräfte endgültig geweckt hat. Die Messergebnisse sind eindeutig. Andererseits: Es ist ... seltsam. Niemand kann sich das Phänomen richtig erklären. Auch Smart Alexandra nicht – und das soll schon was heißen.“
„In der Tat“, murmelte Elroy unwillkürlich. Aber er war ein Mann der Tat und kein Freund von fruchtlosen Überlegungen. „Wie wär’s, wenn wir uns das alles einmal aus nächster Nähe selber ansehen würden?“
„Also: Abreise?“ Ein flüchtiges Grinsen überflog das Gesicht von Niedecken.
„Ja, wir beide! Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Zumal du vor Ort unentbehrlich bist, da du der einzige bist, der sich dort auskennt.“
„Na, auskennen wäre übertrieben, denn ich habe noch nie dort gesessen, falls du das meinst.“
Seltsam, Elroy lachte gar nicht über den Scherz. Er schürzte nur nachdenklich die Lippen.
Niedecken hatte das unangenehme Gefühl, als hätte Tiberius Elroy bereits so etwas wie einen Plan. Irgendwie ließ ihn dabei allerdings das Gefühl nicht los, dass es speziell für ihn, Klaus Niedecken, besonders unangenehm werden würde.
*
ATTENDORN AM BIGGESEE, Ortsteil Ewig
Ewig, so war der verheißungsvolle Name dieser Justizvollzugsanstalt im sauerländischen Attendorn. Ewig – ein Name, der alles andere als optimistisch klang, bezogen auf das Schicksal der Insassen. Aber damit hatte die Bezeichnung JVA Ewig nichts zu tun. Kein Zyniker hatte hier seine Hand im Spiel gehabt, auch wenn man das auf den ersten Blick glauben konnte. Der Name leitete sich einfach von dem ehemaligen Klostergut „Ewig“ ab, in dessen schlossartigen Mauern die JVA eingerichtet worden war.
Ein Schelm, dem Übles dabei schwante.
Björn Renner saß in seiner Zelle und zitterte leicht. Es war nicht die Kälte der ehemaligen Klostermauern und das klamme, sauerländische Regenwetter, was ihn so frösteln ließ. Es war pure Furcht. Todesangst.
Für dich gibt es keinen Ausweg mehr!, wurde ihm klar. Eine bittere Erkenntnis. Aber es hatte keinen Sinn, die Wahrheit leugnen zu wollen. Irgendwann wird diese Krake, mit der du dich eingelassen hast, ihre Arme nach dir ausstrecken und einer davon wird lang genug sein, um sich um deinen Hals zu legen.
Er schluckte.
Sein Gesicht wurde kreideweiß.
Du hast keine Chance mehr!, ging es ihm durch den Kopf. Eigentlich bist du schon so gut wie tot!
Ein Geräusch ließ Björn Renner zusammenzucken.
Er horchte aufmerksam.
Eine der Zellentüren, die diesen Trakt vom Rest des Gefängnisses trennte, wurde aufgeschlossen.
Dann waren Schritte zu hören.
„Essensausgabe!“, rief jemand, und Renner hörte, wie der Wagen mit den Tabletts voran geschoben wurde und kurz an jeder Zelle hielt. Nach der Essensausgabe würde ein Wärter kommen und die Zellen für die Nacht schließen. Es war jeden Tag dasselbe.
Du hättest dich gleich entschließen sollen, zu reden. Nicht erst jetzt. Inzwischen werden dir viele nicht mehr glauben. Es war ein Fehler, auf das Wort von Arthur Tanner zu vertrauen, die ganze Schuld auf sich zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass King Arthur – zu gut deutsch: „König Arthur“ –, wie er sich selbst gern nennt, dich und deine Familie nicht vergisst. Er ist alles andere als edel. Nicht wie sein großes Namensvorbild aus der Arthursage, ganz und gar nicht! Im Gegenteil: Er ist der personifizierte Teufel, weshalb ihn seine direkten Handlanger auch nicht King Arthur oder König Arthur, sondern ... MEISTER nennen!
Renner saß zitternd in einer Ecke seiner Zelle. Es war ein langer Kampf gewesen, hierher, nach Gut Ewig verlegt zu werden, aber er hatte es schließlich geschafft. Hier war er zumindest einigermaßen sicher. Er war hundertprozentig sicher, dass ein ehemaliges Kloster einen heiligen Ort darstellte. Hier waren die Möglichkeiten vom Meister begrenzt. Er konnte ihm nicht mehr mit seiner schrecklichen Magie beikommen. Und was andere – eher „weltliche“ – Möglichkeiten betraf: So genannte schwere Jungs gab es hier normalerweise nicht, denn ganz im Gegensatz zu dem deprimierenden Namen, den dieses Gefängnis trug, handelte es sich um eine „JVA für erwachsene männliche Strafgefangene zum Erstvollzug an Fahrlässigkeitstätern“, wie das im Amtsdeutsch so schön hieß. Viele befanden sich im offenen Vollzug.
Aber die beengten Verhältnisse in den Strafvollzugsanstalten des Landes NRW machten es notwendig, auch andere Gefangene hier unterzubringen.
Gefangene, die eigentlich nicht hierher gehörten, weil sie genau den kriminellen Tätertyp darstellten, den man hier nicht haben wollte, schon um den schlechten Einfluss auf die Mitgefangenen zu vermeiden.
Renner hingegen war Ersttäter.
Allerdings lag sein Strafmaß mit sechs Jahren erheblich über dem, was der Großteil seiner Mitgefangenen auf dem Buckel hatte.
Und dabei hast du noch nicht einmal eine Körperverletzung begangen, überlegte Renner voller Bitterkeit. Der Richter hatte ein Exempel statuieren wollen. Untreue, Steuerhinterziehung, Anlagebetrug, betrügerischer Bankrott, Geldwäsche von Schwarzgeld – das alles hatte sich summiert. Das Gericht hatte eine erhebliche kriminelle Energie festgestellt.
Und die Anwälte, die „König Arthur“ ihm zur Verfügung gestellt hatte, hatten ihn offenbar völlig falsch beraten. Oder stand sogar Absicht dahinter, um vom eigentlichen Täter endgültig abzulenken?
Wie auch immer: Jetzt steckte er jedenfalls bis zum Hals im Dreck.
Seine Furcht wurde immerhin so ernst genommen, dass man ihm eine Einzelzelle gegeben hatte, in der er ziemlich abgeschirmt von den anderen Gefangenen hauste.
Renner erhob sich und ging etwas auf und ab, wie ein wildes Tier, das man in einen Käfig eingesperrt hatte. Drei Tage noch bis zu seiner Anhörung vor dem Landgericht.
Drei Tage noch.
Dann hatte er seine Aussage gemacht, und es würde niemandem mehr nützen, ihn zu töten.
Diese Zeit wird dir noch verdammt lang vorkommen!, ging es ihm allerdings durch den Kopf. Wenn du sie überhaupt überlebst ...
Sei kein Spinner!, versuchte er sich zu beruhigen. Abgeschiedener als auf diesem vergitterten sauerländischen Klostergut geht es doch gar nicht. Bis hierher werden die Arme dieser Krake nicht reichen. Bestimmt nicht ... Alles wird gut werden! Und wenn er seine schreckliche Magie einsetzt, schützt mich die Heiligkeit der ehemaligen Klostermauern. Daran – an dieser Heiligkeit – hat auch die Umwandlung in eine Strafvollzugsanstalt nichts geändert. Ja, ganz bestimmt nicht: Wie denn auch?
Er ballte die Hände zu Fäusten.
Er hatte im Fernsehen mal einen sogenannten Motivationstrainer gesehen, der Managern Mut eintrichterte, indem er sie die Faust ballen und „Tschaka, du schaffst es!“ rufen ließ.
Besonders beeindruckt war Renner nicht gewesen, aber da er nicht gläubig war – abgesehen von Dingen, die er mit eigenen Augen gesehen oder selbst erlebt hatte, wie beispielsweise die schrecklichen Möglichkeiten vom King –, erschien es ihm weniger absurd als ein Gebet.
Und so sagte er es wie eine magische Durchhalteformel vor sich hin: „Du schaffst es!“
Diese drei Tage musste er noch durchhalten. Renner wusste nur zu gut, dass unter diesen Umständen drei Tage eine Ewigkeit sein konnten.
Der Gefängnisarzt hatte ihm Beruhigungstabletten gegeben. Renner nahm eine davon und schluckte sie mit etwas Wasser, während er hörte, wie der Essenswagen näher kam.
Die Tabletten hatten so gut wie keine Wirkung. Renner fragte sich, weshalb er sie überhaupt noch nahm. Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Dass ihm vor seiner Verlegung in das Gut Ewig nichts passiert war, grenzte an ein Wunder.
Drei Tage!
Dann würde sich alles entscheiden – so oder so.
Renner ging wieder auf und ab. Er brachte es einfach nicht fertig, ruhig dazusitzen. Er musste sich bewegen, etwas tun. Es war schlimm genug, so ohnmächtig in einer Zelle eingesperrt zu sein.
Der Essenswagen kam näher.
Renner hörte, wie die Tabletts durch die dafür vorgesehenen Öffnungen in die Zellen gereicht wurden. Er hörte das obligatorische Gemecker über den Speiseplan. Er hörte jedes Geräusch und kannte es bereits auswendig.
Es war jeden Tag dasselbe.
Und dann war der Wagen vor seiner Zelle. Zwei Männer waren bei dem Wagen. Einer öffnete die Gittertür, der andere trug das Tablett. Es war ungewöhnlich, dass sie hereinkamen. Wollten sie das überhaupt? Sie blieben stehen, jenseits der Türöffnung. Warum hatten sie überhaupt geöffnet?
Renner hatte gleich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er wich zurück.
Der Größere der beiden Kerle grinste schief.
„Abendbrot, Renner. Heute gibt’s eine Spezialität des Hauses! Weißwurst mit Sauerkraut! Wir haben nämlich im Moment die bayrische Woche, du Arsch.“
„Für dich allerdings ausnahmsweise tiefgefroren!“, sagte der andere.
Seine Augen glitzerten eigenartig.
Dämonisch.
„Nein!“, flüsterte Renner schreckensbleich und wich vor den beiden zurück.
Dr. Böttcher wirbelte herum, blickte einem der anwesenden Studenten direkt in die Augen, und hob ruckartig den rechten Arm. Mit dem Zeigefinger zog er dabei einen Schnitt durch die Luft wie mit einem Skalpell.
Das gute, dunkelblaue Jackett kniff ihn dabei in der Armbeuge. Er trug es nicht besonders gerne, schon deswegen nicht, weil man jeden Flecken darauf sofort sehen konnte.
Aber wenn ein einfacher Gerichtsmediziner wie Böttcher in die heiligen, wenn sich auch in marodem Bauzustand befindlichen, Hallen der Universität zu Köln – nicht etwa der Universität von Köln oder einfach der Universität Köln – geladen war, um einen Gastvortrag zu halten, dann konnte er sich dafür ja schließlich auch ein bisschen fein machen und dieses Opfer auf sich nehmen.
„Vielleicht das Wichtigste“, sagte Böttcher und hob dabei erneut den Zeigefinger, um anzudeuten, dass es wirklich das Wichtigste war, was jetzt kam, „... an das wir uns aus der heutigen Diskussion erinnern sollten, ist, dass der Leichnam immer noch ein menschlicher Organismus ist! Und wenn man ihn mit Sorgfalt und Respekt behandelt, kann er einem sehr viele Dinge erzählen. Er spricht zu uns mit seiner eigenen Stimme, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir müssen ihm nur zuhören.“
„Seit wann glaubt der an Zombies?“, witzelte jemand in der zweit-hinteren Reihe.
Dr. Böttcher hatte manche Eigenarten, ziemlich verschrobene gehörten angeblich dazu, Schwerhörigkeit allerdings überhaupt nicht: Sein Kinn schob sich angriffslustig vor. Er schien mit den Augen den Spötter durchstechen zu wollen.
„Glauben heißt: Nicht wissen!“, orakelte er mit ungewöhnlich sanfter Stimme, die wirklich jeden im Hörsaal besonders aufmerken ließ. Das klang viel gefährlicher, als hätte er den Studenten jetzt übel zusammengestaucht.
Der junge Mann duckte sich wie unter schwersten Hieben und wollte dem stechenden Blick ausweichen, doch das gelang ihm einfach nicht.
„Wenn ich also Zombies persönlich kenne, brauche ich nicht mehr daran zu glauben. Wenn Sie es genau wissen wollen: Nein, ich glaube nicht an Zombies, überhaupt nicht an Untote.“
Endlich entließ er den Armen aus seinem stechenden Blick. Jetzt wirkten seine Augen wieder völlig normal, und auch ansonsten schien er den Zwischenfall vergessen zu haben.
Böttcher hielt es trotzdem nicht hinter seinem Rednerpult. Die eine Hand in der Hosentasche vergraben, mit der anderen hektisch gestikulierend ging er auf sein Publikum zu, um einen Moment später zurück zum Pult zu wandern.
So war er eben.
Selten hielt es ihn lange an ein und demselben Ort. Aber seine Schilddrüsenwerte waren in Ordnung, auch wenn der äußere Anschein etwas anderes vermuten ließ.
Und während dieses recht hektischen Pendelverkehrs rollte er seine aufmerksamen Hundeaugen unruhig hin und her und machte den Eindruck, als gäbe es nichts in diesem Raum, das von ihm unbemerkt bleiben konnte.
„Aber Sie müssen mit Ihren Augen zu hören versuchen!“, fuhr er fort. „Und mit Ihrem Tastsinn!“ Zum x-ten Mal trat Böttcher die Rückkehr zum Rednerpult an. „Sezieren ist ein Hilfsmittel“, erklärte er mit dem Rücken zu seinen Zuhörern. Und als er das Wort „Sezieren“ aussprach, pfiff sein ausgefahrener Zeigefinger erneut blitzartig durch die Luft. „Sezieren ist ein Hilfsmittel wie Histologie, Mikrobiologie, Pathologie ... Alles Hilfsmittel, um zu verstehen, was der Körper uns mitzuteilen versucht.“ Inzwischen hatte Böttcher sich wieder hinter das Rednerpult gestellt.
Er hielt die Hände gefaltet.
Das erinnerte allerdings kaum an eine Art Gebetshaltung. Eher schon konnte man annehmen, dass Böttcher so seine unruhigen Hände gewaltsam daran hinderte, herumzufuchteln. „Und am Allerwichtigsten ist es, dass wir zuhören und verstehen, was dieser tote Körper uns sagt – nicht als Zombie, sondern mit der Sprache, die Sie hier lernen sollen zu verstehen. Vor Allem sollten wir dabei nie zögern, auch nach dem zu handeln, was er uns verrät! – Ich danke Ihnen.“
Böttcher hielt einen Moment lang inne, dann ging sein Blick zur Seite. „Dr. Schmitt-Wedekind ...“
Ein glattgesichtiger Mann, der in seinem hellgrauen Anzug recht elegant wirkte, trat auf Böttcher zu und erwiderte: „Wir danken Ihnen, Dr. Böttcher.“
Unter den Studenten kam Beifall auf, und Böttchers Gesicht zeigte ein verlegenes Lächeln.
Schimpfkanonaden von Vorgensetzen konnte er wegstecken wie nichts, aber mit Beifall hatte der Gerichtsmediziner seine Probleme.
„Ja, ja, schon gut“, beeilte er sich. Solche Situationen waren ihm eher peinlich, und es war ihm deutlich anzusehen, wie unwohl er sich in dieser Sekunde fühlte.
Dr. Schmitt-Wedekind schüttelte Böttchers Hand und setzte noch hinzu: „Danke, dass Sie zu uns gekommen sind. Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind.“
„Oh, es war mir ein Vergnügen!“, erklärte Böttcher, wobei sein Blick unruhig durch den Raum ging. Die Lehrveranstaltung war zu Ende.
Die Studenten packten ihre Sachen zusammen und gingen.
Mitten durch das allgemeine Aufbruchschaos schritt ein junger Mann mit leicht gelocktem Haar und rotem Pullover. Auf der Nase hatte er eine dicke Hornbrille, die ihm etwas Introvertiertes gab. Er ging geradewegs auf den Gerichtsmediziner zu und stellte sich ihm in den Weg.
„Dr. Böttcher, ich möchte mich persönlich für den Vorfall vorhin entschuldigen. Der Kommilitone hat einfach nur witzig sein wollen, aber lächerlich hat er sich nur selber gemacht und ...“, sprudelte es aus ihm hervor, nachdem er seine Brille hochgeschoben hatte, aber Schmitt-Wedekind schnitt ihm das Wort ab.
„Ich sagte eben, der Doktor ist sehr beschäftigt!“
Und Böttcher nickte. Er hatte in der Tat nicht viel Zeit.
„Ja, ich muss wirklich wieder los“, bestätigte der Gerichtsmediziner. „Den Vorfall habe ich sowieso längst vergessen. War ja nicht ernst zu nehmen und hat außerdem die Atmosphäre ein wenig aufgelockert.“ Er suchte kurz mit den Augen, aber der Betreffende hatte längst das Weite gesucht.
Böttcher wollte sich schon zum Gehen wenden, da meinte der junge Mann herausfordernd: „Dann war das eben nur leeres Gerede?“
Böttcher blickte auf und sah in ein Paar hellwache Augen, die vor Neugier nur so brannten.
„Was denn?“, fragte er, für den Bruchteil einer Sekunde etwas aus der Fassung gebracht.
„Dass wir glauben sollten, was wir sehen und auch danach handeln? Also nicht glauben im Sinne von nicht wissen!“
Böttcher zog die Augenbrauen hoch.
Das saß.
Dieser junge Mann schlug ihm seine eigenen Worte frech um die Ohren. Die Respektlosigkeit, mit der er das tat, gefiel Böttcher. Und plötzlich wusste er, dass er sich anhören würde, was dieser junge Kerl zu sagen hatte. Er musste einfach.
„Herr Wallmann!“, sagte unterdessen Dr. Schmitt-Wedekind tadelnd und etwas ärgerlich über das ungestüme Vorgehen des Studenten. „Dr. Böttcher ist unser Gast. Das haben Sie wohl vergessen.“
Aber Böttcher kümmerte sich nicht um Schmitt-Wedekind.
Sein Blick hing an dem angestrengten Gesicht des Studenten. „Worum handelt es sich denn?“, hakte er nach. Ein Instinkt sagte ihm, dass es etwas Wichtiges sein musste, was der junge Mann ihm sagen wollte. Und auf seinen Instinkt konnte Böttcher sich in der Regel blind verlassen.
Der junge Mann schob sich mal wieder die dicke Hornbrille zurecht, die er auf der Nase sitzen hatte. Das Gestell wirkte ein bisschen zu groß und war auch alles andere als modern.
Er wird noch hineinwachsen, dachte Böttcher.
„Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich ein paar meiner Befunde ansehen würden. Ich wäre sehr an Ihrer Meinung interessiert!“
Jetzt schritt Dr. Schmitt-Wedekind ein, der sich von dem jungen Mann sichtlich blamiert fühlte.
„Ralf Wallmann ist einer unser besten Studenten“, wandte er sich entschuldigend an Böttcher und hob dabei die Schultern, „aber manchmal leidet er unter einer blühenden Fantasie.“
Böttcher fragte süffisant: „Seit wann ist blühende Fantasie denn etwas Schlechtes?“
Schmitt-Wedekind wirkte steif und etwas beleidigt.
„Ich meine ja nur.“
„Nichts für ungut, aber was das betrifft, meine ich etwas anderes.“
„Dr. Böttcher, ich wollte ja nur ...“
„Fantasie ist eine Waffe im Kampf gegen das Verbrechen, die beinahe so wichtig ist wie ein Skalpell.“
Schmitt-Wedekind verzog das Gesicht. „Aber ja wohl nur fast so wichtig, oder?“
Ein mildes, wohlwollendes Lächeln huschte über Böttchers zerfurchtes Gesicht.
„Einige meiner besten Gutachten waren das Resultat blühender Fantasie!“, gab er zu bedenken. „Und auch bei Ihnen in der Forschung ist Fantasie doch sicher nicht unbedingt schädlich, oder?“
„Natürlich nicht“, erwiderte Dr. Schmitt-Wedekind steif.
Auf einmal wusste Böttcher, weshalb dieser Wallmann ihm so gut gefiel. Er erinnerte Böttcher daran, wie er selbst in jungen Jahren gewesen war.
Dieselbe Neugier, dieselbe freche Respektlosigkeit und Hartnäckigkeit.
Bei den meisten ließ das mit den Jahren nach.
Wallmann lächelte.
Er hatte erreicht, was er wollte. Böttcher hatte angebissen.
„Also, Sie kommen!“, freute sich der junge Mann wie ein kleiner Junge.
Böttcher nickte und lächelte freundlich.
„Nach Ihnen!“
Warum nicht?, dachte der Gerichtsmediziner. Junge Talente musste man anspornen. Wahrscheinlich war die Sache schnell geklärt.
Er schob Dr. Schmitt-Wedekind und Wallmann bis zur Tür vor sich her. Schmitt-Wedekind glaubte noch immer, sich für seinen Studenten entschuldigen zu müssen.
„Als Entschädigung lade ich Sie nachher zur Pizza ein!“, versprach der Dozent.
„Danke, gute Idee, ich habe Hunger wie ein Bär!“
„Das ist ja gut!“
Offenbar kannte Dr. Schmitt-Wedekind Böttcher nicht gut genug, um zu wissen, dass dieser solche Einladungen immer sofort annahm.
*
GLÜCKLICHERWEISE GAB es immer wieder Menschen, die bereit waren, ihre sterblichen Überreste der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Und einen solchen Leichnam hatte der junge Wallmann sorgfältig seziert und die Befunde penibel fotografiert.
Im Labor sah sich Böttcher interessiert die Fotos an, und seine Sympathie für den jungen Burschen schlug in Bewunderung um.
Nein, da musste er ehrlich sein.
So gut in so jungen Jahren war Böttcher nicht gewesen. Er schien es hier mit einem echten Talent zu tun zu haben.
„Saubere Arbeit“, musste Böttcher eingestehen, nachdem er sich einige Bilder eingehend angesehen hatte.
Wallmann hielt ihm ein weiteres Foto unter die Nase und musterte erwartungsvoll das Gesicht des Gerichtsmediziners.
„Und?“, fragte der Student.
Böttcher hob die Augenbrauen.
„Soweit ich sehen kann, führen Sie das Skalpell genau so gut wie ich!“, sagte der Gerichtsmediziner voller Anerkennung.
Ralf Wallmann wirkte etwas verlegen und rückte wieder an seiner Brille herum.
„Naja ...“
„Wirklich!“
„Ich versuche immer, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen, Dr. Böttcher!“
„Ihre Einstellung gefällt mir. Bei Ihren Fähigkeiten sollten Sie Gefäß-Chirurgie studieren und sich mit Lebenden beschäftigen, anstatt in Leichen herumzufuhrwerken, denen Sie doch nicht mehr zu helfen vermögen!“
Der Student hob die Augenbrauen und rückte sich die Brille zurecht.
„Wer sagt, dass man einer Leiche nicht mehr helfen kann! Sie selbst haben es gesagt: Man kann einem Toten mit den Mitteln der Pathologie Gerechtigkeit widerfahren lassen.“
Böttcher gab Wallmann das Foto zurück. „Gute Arbeit!“
Aber damit war der Student offensichtlich noch nicht zufrieden. Er war nicht auf Lob aus, das ihn ohnehin eher verlegen zu machen schien. Böttcher setzte noch hinzu: „Sie sollten bedenken, wie viel Geld Sie als Chirurg verdienen können! Reicher als ein ganzes Pathologisches Institut können Sie mit Ihrem Fingerspitzengefühl werden!“
„Daran dachte ich auch schon“, murmelte Wallmann beiläufig, während er Böttcher das Bild erneut überreichte, damit er es sich ein zweites Mal ansah. „Aber im Moment beschäftige ich mich mit Pathologie.“
Böttcher runzelte die Stirn betrachtete das Bild noch einmal. Es war die starke Vergrößerung eines Gewebeschnitts. Er begriff, dass Wallmann auf etwas anderes hinauswollte und fragte sich, was wohl der springende Punkt war.
„Also, was halten Sie davon?“, hakte der junge Mann ungeduldig nach, als Böttcher die nächsten zwei Sekunden nichts von sich hören ließ.
Böttcher war etwas verwirrt, hob die Schultern.
„Von was denn?“, fragte er.
Böttcher sah verständnislos auf das Foto. Die Schnitte waren erstklassig, aber das hatte er Wallmann ja bereits gesagt.
Wallmann deutete mit dem Finger auf das Foto und half dem Gerichtsmediziner auf die Sprünge.
„Sehen Sie es wirklich nicht, Dr. Böttcher?“
„Tut mir leid. Wovon reden Sie?“
„Von den Verletzungen an der Stimmritze. Die Quetschungen in der Rachenhöhle verlaufen alle in dieselbe Richtung.“
Böttcher zuckte die Schultern. Er sah noch einmal genau hin. Verflucht, der Junge hat recht. Vielleicht wird es Zeit für eine Lesebrille?
„Ja“, gab Dr. Böttcher schließlich zu. „Aber es ist sehr schwierig, Quetschungen auf einem Foto zu erkennen!“
„Sicher.“
„Es gibt natürlich Anzeichen ...“
Wallmann nickte heftig.
„Die Dia-Schnittstreifen zeigen geplatzte Blutgefäße, koaguliertes, zerdrücktes Zellgewebe.“
Böttchers Augenbrauen gingen in die Höhe.
„Dia-Schnittstreifen?“, fragte er. Der junge Mann dachte wirklich an alles.
Wallmann deutete auf das Foto.
„Hier können Sie sehen, wo ich sie entnommen habe!“
„Und? Gibt’s auch so etwas wie ein Fazit?“
Wallmann schob wieder seine Brille zurecht.
„Sie meinen die Todesursache?“
„Ja, sicher!“
„Der Mann ist eindeutig erstickt. Nach diesem Befund gibt es da keinen Zweifel.“
„Und woran ist er offiziell gestorben?“, hakte Böttcher nach.
„Nach dem Totenschein, der vom Gefängniskrankenhaus der JVA Ewig in Attendorn ausgestellt wurde, war die Todesursache ein unheilbares Lungenemphysem.“
Böttcher hob die Hand.
„Das passt doch!“
Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt. Die ganze Zeit schon zermarterte Böttcher sich das Hirn, ob er irgendetwas in der logischen Argumentationskette des Studenten übersehen hatte und vielleicht deswegen unter Begriffsstutzigkeit litt.
Aber fand nichts.
Gar nichts.
Wallmann wandte sich jetzt in Richtung des Kühlschranks. „Ja, es passte alles. Bis ich das hier fand!“ Er griff in den Schrank und holte ein Plastiktütchen heraus, das er Böttcher reichte.
Dieser hielt den eiskalten Beutel in die Höhe. Der Ausdruck von Überraschung zeigte sich auf seinem Gesicht.
„Ein Weißwürstchen?“, fragte er verwundert. Die Sache wurde interessant. „Wo kommt das her?“
Wallmann hielt Böttcher den Plastikbeutel hin, in dem sich das Würstchen befand. So richtig appetitlich sah es nicht mehr aus. Es war schon einmal verspeist worden.
„Ich habe das Würstchen unterhalb des Kehlkopfes gefunden“, erklärte Wallmann sachlich.
Das war es also!
Die eine Möglichkeit bestand darin, dass der Tote zu gierig gewesen war und nach seinem Riesenbissen keine Luft mehr bekommen hatte.
Es war aber auch möglich, dass der arme Kerl das Würstchen nicht freiwillig gegessen hatte.
Irgendwie schien das einleuchtender zu sein, denn wer versuchte schon freiwillig, eine ganze Wurst, ohne sie zu zerkauen, herunterzuwürgen? Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war. Und die, von denen man das nicht behaupten konnte, wurden im Normalfall durch natürlich Würgereflexe vor einem qualvollen Dahinscheiden geschützt.
In Böttcher begann es zu arbeiten. Er zählte zwei und zwei zusammen, und was dabei herauskam, sah nach Mord aus. Ein Weißwürstchen war zwar alles andere als eine alltägliche Mordwaffe, aber offenbar deshalb nicht weniger effektiv.
Es ist möglich!, ging es Böttcher durch den Kopf. Jemand konnte dem armen Kerl, der so gut gewesen war, seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, das Ding lange und tief genug in den Rachen gesteckt haben, um ihn zu ersticken.
In Böttchers Augen die wahrscheinlichste Hypothese. Und dass der Unglückliche dies nicht selbst getan hatte, davon ging er zwingend aus. Wer würde das denn schon tun – normalerweise?
Genau deswegen schien Ralf Wallmann ihn um seine professionelle Meinung gebeten zu haben.
„Wer war der Tote?“, fragte Böttcher, der das untrügliche Gefühl hatte, dass es hier etwas für ihn zu tun gab.
Jetzt war er in seinem Element. Er hatte Blut geleckt. Und wenn es nun auch nur den Hauch einer Spur gab, dann würde er sie bis zum Ende verfolgen.
So war er nun einmal.
„Renner, glaube ich“, sagte Wallmann und überlegte einen Moment. „Björn Renner!“
Böttcher kratzte sich am Kopf.
„Renner, Renner ... Das kommt mir irgendwie bekannt vor“, meinte Böttcher, während Wallmann zum Aktenschrank ging, um in den Unterlagen nachzusehen.
Der junge Mann nahm die entsprechende Mappe heraus und öffnete sie.
„Den Akten nach war er ein Häftling, den man zu seinem eigenen Schutz in die JVA Gut Ewig in Attendorn, Sauerland, verlegt hatte.“
Das ließ Böttcher aufhorchen.
„Warum?“
„Sein Fall sollte in die Revision gehen, und diesmal gedachte Renner offenbar auszusagen – im Gegensatz zu seinem Verhalten während des ersten Prozesses. Renner befürchtete, dass jemand versuchen könnte, ihn daran zu hindern. Er bekam sogar eine Einzelzelle. In den Akten ist der Vermerk, dass der Häftling möglicherweise unter einer Angstpsychose litt.“
„Wer hat diese Diagnose gestellt?“
„Der Gefängnisarzt.“ Wallmann blickte auf. „Wenn jemand seinen Körper der Forschung zur Verfügung stellt, müssen wir natürlich alles über ihn wissen. Vor allem Vorerkrankungen.“
„Logisch.“
Böttcher trat hinzu und blätterte die Unterlagen in der Mappe durch. Unter dem Material in der Mappe war auch ein Zeitungsartikel, geschrieben ein paar Tage, nachdem Björn Renner sich an dem Würstchen verschluckt hatte.
Er las die Schlagzeilen:
Zeuge im Tanner-Fall stirbt vor erneuter Vernehmung!
Björn Renner tot in seiner Zelle in der JVA Attendorn aufgefunden. Steckt der Sauerland-Pate dahinter?
Jetzt fiel bei Böttcher endlich der Groschen, und auf einmal wusste er auch wieder, woher er den Namen kannte.
Er ließ seinen Zeigefinger vorschnellen. „Der Tanner-Fall!“
„Irgendeine Betrugsgeschichte, nicht wahr?“, fragte Wallmann, aber er schien sich nicht sicher.
Böttcher nickte.
„Tanner ist ein Gangster ersten Ranges! Ein Betrüger, wie er im Buche steht! Auch bekannt als der Pate vom Sauerland ... oder unter dem Namen King Arthur, beziehungsweise König Arthur!“
„Ich dachte eigentlich immer, dass im Sauerland die Welt noch in Ordnung sei!“
„Im Prinzip ist sie das auch, sonst wäre mir dieser Fall nicht so gut im Gedächtnis.“ Böttcher machte eine wegwerfende Handbewegung. „Naja, hin und wieder gibt es eben auch bei uns Verbrechen, die über Fahrerflucht und illegales Müll-Entsorgen hinausgehen.“
Wallmann hatte gerochen, dass an dem Fall Renner vielleicht etwas stank. Das rechnete Böttcher ihm hoch an. Wallmann hatte genau das getan, was getan werden musste.
Er vertraute mehr seinen Befunden als irgendwelchem Gerede von geschlossenen Aktendeckeln.
Und das, obwohl Wallmann nicht die geringste Ahnung davon hatte, wie man König Arthur ansonsten auch noch nannte: MEISTER! Böttcher wusste das. Er wusste auch noch so manch anderes, wovon die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnten. Allerdings hatte er sich fest vorgenommen, sich dahingehend niemals zu verraten.
Obwohl: Heute, das war beinahe so etwas wie eine Ausnahme gewesen. Das mit dem Glauben an Zombies und Untote. Da hatte er einfach nicht widerstehen können. Ja, er glaubte natürlich absolut nicht an solche Dinge, denn ... er wusste davon. Aus eigener Anschauung. Seit vor einiger Zeit ein Toter ihm an die Kehle ging, während er ihn sezierte. Nicht, dass er sich an einem Lebenden vergriffen hatte, der vor dem endgültigen Tod durch sein Skalpell mal kurz erwachte, um sich zu wehren ... Die Obduktion war schon so weit fortgeschritten gewesen, dass dieser Irrtum absolut auszuschließen war. Und selbst wenn: Die Verletzungen waren zu diesem Zeitpunkt schon mindestens zehnmal tödlich gewesen.
Es hatte sich um einen gehandelt aus dem unmittelbaren „Dunstkreis“ des Meisters, der ausgerechnet im friedlichen Sauerland begonnen hatte, die Fäden seiner Mafia zu stricken. Warum nicht in irgendeiner Großstadt? Eine Frage, die sich Böttcher damals selber beantworten konnte, nachdem er heimlich nachrecherchiert hatte: Weil Tanner mangels direkter krimineller Konkurrenz im Sauerland so lange in Ruhe gelassen wurde, bis er mächtig genug war, um jedem Übergriff widerstehen zu können!
Kein Wunder, dass er niemals zu einem anderen Menschen über dieses Erlebnis gesprochen hatte! Er war heute noch froh, überhaupt diesen Angriff durch den Untoten überlebt zu haben: Irgendwie hatte er hinter sich nach dem Kreuz gegriffen, das irgendwer an die Wand gehängt hatte. Seines Wissens die einzige Pathologie mit Kruzifix an der Wand. Ein Kuriosum, das ihm buchstäblich das Leben gerettet hatte. Er hatte mit dem Kruzifix auf den Leichnam eingedroschen und ihm nachhaltig alles an unnatürlichem Leben wieder ausgetrieben.
Danach hatte er einen Blick auf die Uhr geworfen: Mitternacht war knapp überschritten. Die Obduktion war angeordnet worden, weil man die Leiche übel zugerichtet auf der Straße gefunden hatte. Niemand hatte angeblich die Tat beobachtet. Aber es hatte nach einem Ritualmord ausgesehen – oder nach einem Exempel, das die kriminelle Konkurrenz des Königs hatte statuieren wollen.
Und wieso der Leichnam gerade jetzt zu unnatürlichem Leben erwacht war, hing erstens mit der Mitternachtsstunde zusammen und zweitens mit Sicherheit mit dem König: Der Meister hatte den Zeitpunkt seiner größten Macht genutzt und seinen Diener zu sich gerufen, um von ihm noch nach dem Tode zu erfahren, wer die Mörder gewesen waren!
Böttcher war schon immer reisefreudig gewesen. Seitdem ihm die Zusammenhänge klar begreiflich waren, hatte er die Reisefreudigkeit sozusagen bis zum Exzess getrieben, immer in der Angst, eines Tages vielleicht doch noch die Aufmerksamkeit von Tanner zu erregen. Oder war er diesem sowieso schon aufgefallen, und er beobachtete ihn vorläufig nur, um auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Den richtigen Zeitpunkt allerdings ... wofür?
Seine Gedanken kehrten wieder zurück. Er blinzelte ein wenig verwirrt. Wallmann rechnete es seiner sensationellen Entdeckung zu.
Ja, er war wirklich außerordentlich begabt. Im Hinblick auf eine steile Karriere im deutschen Beamtenapparat war das allerdings eine zweischneidige Eigenschaft. Böttcher hatte das immer wieder selbst am eigenen Leib erfahren müssen. Und dann war da noch die Macht des Meisters, den man den König nannte ...
Nur nichts anmerken lassen!
„Ein Gangster?“, fragte der junge Mann und zog eine Augenbraue hoch. „Was wissen Sie über den Fall? Mehr als diesen Zeitungsartikel konnte ich nicht finden.“