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Mut muss man haben. Das allein zählt. Soweit ist sich Heino sicher. Aber weiter weiß er nicht. Dabei ist er wirklich kein Feigling. Und doch: als es drauf ankam, hat er versagt. Da war die Angst größer als er, hat ihn besiegt. Heino ist wütend. Auf sich. Aber auch auf den Fluss, der des einen Freund, des anderen Feind ist. Genauso, wie es die alten Sagen der Schiffer berichten. Kapitän Stüber, Heinos Vater, sieht das ganz anders. Er meint, man müsse die Gefahren des Stromes nur gut kennen, dann gäbe es keine unüberwindbaren Hindernisse. Heino möchte stark und furchtlos sein wie der Vater. Das gelingt ihm nicht. Aber tapfer ist er doch, als er sich allein aufmacht, um den Fluss zu überqueren. Das spannende Buch für Kinder ab 10 Jahre erschien erstmals 1982 bei Der Kinderbuchverlag Berlin. LESEPROBE: Als Scharli im Frühjahr nach Buttstein gekommen war, lebte Heino erst ein paar Wochen im Schifferinternat. Das Zimmer teilte er mit zwei Jungen, Alexander und Werner. Beide wohnten schon länger hier. Sie ließen keine Gelegenheit aus, ihm zu zeigen, dass er der Neue war, ein Störenfried in ihrem Zimmer. Als er eines Abends seinen Schlafanzug unter der Bettdecke hervorholte, waren Jacke und Hose an den Ärmeln und Beinen fest miteinander verknotet. Die beiden Jungen lagen im Bett und taten so, als schliefen sie schon tief. Heino versuchte, das Gewirr der Knoten zu lösen. Aber es war so fest, dass er es bald aufgab und den Klumpen an das Fußende seines Bettes warf. „Warum gehst du im Turnhemd zu Bett?“, fragte Alexander mit einer Stimme, als wäre er aus einem abgrundtiefen Schlaf erwacht. Heino konnte nicht gleich antworten, weil es ihm wie ein Kloß in der Kehle saß. „Die Hitze hier“, antwortete er nach einer Weile. „Im Schlafanzug wird es mir immer zu heiß.“ Heino lag in dieser Nacht lange wach. Er verfolgte die Lichter der Autos auf der Straße, die an den Wänden des Zimmers immer den gleichen Weg beschritten. Er wünschte sich fort. In das Haus hinter dem Deich, wo nun die Oma allein wohnte und manchmal die Eltern. Schön wäre es, in der Bodenkammer zu liegen und das Ächzen der Dachsparren zu hören. Und von Weitem das Glucksen des Stroms. „Jetzt zählt der Fluss seine Seelen“, hatte die Oma manchmal gesagt, wenn sie an seinem Bett saß, und sie horchten nach draußen. „Welche Seelen?“ „Die Seelen der ertrunkenen Schiffer oder der Leute, die den Fluss zur unrechten Zeit in einem Boot überqueren wollten.“ „Ist der Strom böse?“, hatte Heino ängstlich gefragt.
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2013
Martin Meißner
Allein über den Fluss
ISBN 978-3-86394-206-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1982 bei Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Foto Hille
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Als Scharli im Herbst wieder nach Buttstein kam, wurde sie traurig und froh.
Ihre beiden Freunde waren fort.
Den Feuerräuber traf sie nicht mehr. Das war schlimm.
Verschwunden war auch die Käte, ein alter Motorkahn, der lange im Buttsteiner Hafen lag. Das freute sie.
Das Mädchen stellte die Reisetasche bei ihrer Tante Helga ab, richtete die Grüße der Eltern aus und wollte gleich in die Stadt verschwinden.
Vorher musste sie noch einen Happen essen, wie die Tante es nannte. Diese hatte keine Kinder, war aber fest davon überzeugt, ein junger Mensch müsste unwahrscheinlich viel verzehren, um einmal ein großer schwerer Erwachsener zu werden.
Nun lehnte sie mit verschränkten Armen am Kühlschrank und schaute glücklich zu, wie Scharli den Berg der leckeren Speisen abzutragen versuchte.
„Zier dich nicht, Charlotte“, spornte sie ihre Nichte an. Sie und Onkel Siegfried waren außer den Lehrern wohl die einzigen Menschen in Buttstein, die wussten, dass das Mädchen Charlotte hieß und nicht Scharli, wie alle sie nannten.
„Iss mal schön!“
Es war zwecklos, sich zu wehren. Das ganze Frühjahr über, als ihre Mutter den Lehrgang besuchte, hatte Scharli bei ihrer Tante Helga alle Freuden und Qualen einer üppigen Verpflegung genossen. Endlich aber war diese zufrieden, und das Mädchen bekam den Rest des Nachmittags frei.
Ihr erster Weg führte sie zum Buttsteiner Hafen hinunter, um Herrn Nobitz, den Kapitän der Käte, zu begrüßen.
Der Buttsteiner Hafen aber war kein Hafen mit bunten Schiffen und hohen Drehkränen. Er hieß nur so. Die Binnenschiffe, die auf dem Strom flussauf, flussab vorüberkamen, hielten hier kaum.
Meist gingen sie auf dem offenen Wasser vor Anker. Sie hatten es aufgegeben, gegen den Schilfwald im Hafen anzukämpfen, der vom Rand her seinen siegreichen Eroberungszug angetreten hatte. '
Nur die Käte ergab sich bislang nicht. Sie hielt ihren Liegeplatz und eine schmale Fahrrinne zum Strom von den Pflanzen frei.
Als Scharli ankam, wollte sie ihren Augen nicht trauen. Wo sonst der stolze Motorkahn lag, zeigten sich nun lediglich kleine Wellen, die wie fliehend flink zwischen die Schilfhalme huschten.
„Hier lag doch mal ein Schiff“, wandte sich das Mädchen an einen Mann, der in der Nähe Eisenstangen auf einen Anhänger lud.
„Wo?“
„Na hier. Wo kein Schilf gewachsen ist.“
Der Mann zuckte mit den Schultern.
„Du, Walter!“, rief er dann in eine unbestimmte Richtung. „Hier soll ein Schiff gelegen haben. Weißt du was?“
„Na klar“, kam es von irgendwo. „Die Käte. Sie liegt doch noch da.“
„Hier ist kein Schiff!“
Nun war die Stimme verstummt. Nach einer Weile erst knackte und knirschte es, und ein Mann mit einem Hut auf dem Kopf bahnte sich zwischen Distel- und Brennnesselstauden einen Weg.
„Tatsächlich“, sagte er und ging über die bröcklige Mole an den Rand des Hafenbeckens. „Wenn ich es nicht sehen würde, meine Ehre, ich täte behaupten, das Schiff liegt noch hier.“
„Ich wollte den Schiffer besuchen“, erklärte Scharli. „Er war mein Freund.“
„Der Nobitz? Ja der“, sagte der Mann mit dem Hut. „Der war ein wunderlicher Kerl. Er strich sein Schiff immerzu an, ölte alles ein und probierte dauernd seinen Motor aus.
,Ahoi, Kapitän“, sagten die Leute, wenn sie sonntags hier auf der Mole spazieren gingen, „wann stecht ihr in See?‘
Ihnen antwortete er nicht. Doch den Kindern winkte er zu, als hätte er bereits die Leinen losgemacht.“
„Aber nun ist er weg“, stellte der Mann mit den Eisenstangen fest.
„Ja“, sagte der andere. „Haha, das hätten die Leute am Sonntag wohl nicht gedacht.
Wo er nur hin sein mag?“
„Nach Samarkand“, sagte Scharli. „Er ist nach Samarkand.“
„Mag sein“, sagte der mit dem Hut.
Scharli freute sich über ihre Entdeckung sehr. Hatte sich der Traum des alten Schiffers erfüllt?
Diese Neuigkeit musste sie sofort Heino erzählen. Scharli lief zum Schifferinternat.
Aber der Junge wohnte nicht mehr dort.
„Es kann nicht stimmen“, sagte Scharli zu einem blonden Mädchen, das aus dem Fenster des großen Backsteinhauses sah. „Vielleicht kennst du ihn gar nicht. Ich meine Heino Stüber, Klasse 5.“
So konnte sie noch nicht fortgehen. Sie heftete ihren Blick auf den Gehsteig, der von Kastanien übersät war.
Nach einer Weile öffnete sich das Tor. Ein Junge schob sein Fahrrad heraus.
„Frag doch Ralfi da“, meldet sich das Mädchen im Fenster noch einmal. „Stimmt doch, Ralfi, der Heino ist weg?“
„Klar!“
„Ich wollte ihm was sagen“, erklärte Scharli.
Sie trat an den Vorgartenzaun und stützte sich mit den Unterarmen auf.
„Ist es denn so wichtig?“, fragte das Mädchen im Haus.
„Ja.“
„Vielleicht kann Fräulein Müller es ihm schreiben. Sie kennt die Adressen von allen Ehemaligen. Was ist es denn?“
„Ich weiß nicht mehr“, antwortete Scharli. „Wie ist er denn weg?“
„Ganz sonderbar“, erinnerte sich das Mädchen. „Ein Mann war gekommen, der war so groß, dass er gar nicht zu Heino passte. Sie haben alle Sachen in einen Sack getan. Und der Mann trug den großen Sack auf dem Rücken fort. Er nahm Heino an die Hand. In Richtung Hafen sind sie davongegangen. Wie sie weggingen, das kann man gar nicht vergessen. Eine Möwe war dabei. Sie flog neben den beiden her. Ein ganzes Stück voraus, dann wieder zurück oder auch im Kreis herum. Sie kreischte schrecklich, und ab und zu stand sie in der Luft und schlug ganz wild mit den Flügeln. Und dann das Verrückteste: Sie ließ sich an die Erde gleiten, ergriff mit dem Schnabel ein Hosenbein des Mannes und ließ sich über den Boden mitschleifen. Ruckweise. Immer wenn der Mann das rechte Bein vorhob, kam auch die Möwe den Schritt voran. Ich habe noch die anderen gerufen. Diese verrückte Möwe musste man gesehen haben.“
„Ignaz war das“, sagte Scharli.
„Wer war Ignaz?“
„Die Möwe.“
Scharli bedankte sich, zögerte aber noch etwas. Sie wollte nicht glauben, dass der Feuerräuber fortgezogen war.
„Der Heino war eine Pflaume!“, rief der Junge aus dem ersten Stock. Er hatte bemerkt, dass die Fremde traurig war. Er wollte sie ein bisschen trösten.
„Der war feige. Er traute sich nicht einmal in einem Boot über den Strom.“
„Der war gar nicht so schlecht“, erwiderte das Mädchen im unteren Fenster. „Er hat mal eine Schiffslaterne von einem Kahn geklaut.“
„Kann jeder“, kam es von oben zurück.
„Aber nicht klauen und wieder hinbringen“, sagte das Mädchen aus dem Internat.
„Hat er sie denn wieder hingebracht?“, fragte Scharli schnell.
„Hat er.“
Mit langsamen Schritten ging Scharli davon. Sie wechselte einen Kastanienigel von der einen Hand in die andere. Sie merkte nicht, wie die Stacheln in ihre Haut drangen.
„Komische Nudel“, sagte der Junge mit dem Rad, als sie hinter der Biegung nicht mehr zu sehen war. „Will Heino was Dringendes sagen, und dann weiß sie nicht mehr, was. Muss ja enorm wichtig gewesen sein.“
„Ja, komisch“, sagte das Mädchen und schloss das Fenster.
Scharli ging vor die Stadt hinaus, wo der Strom in einem weiten Bogen breit und dunkel vorüberfloss.
Zuerst überquerte sie eine Wiese und stieg dann die Böschung zum Deich hinauf.
Wenigstens die Bäume sind noch da, dachte sie. Die seltsamen Bäume. Nirgendwo hatte sie solche gesehen. Ihre Stämme waren ganz bleich und neigten sich schräg vom Strom fort. Die Kronen dagegen schienen dem Wasser zugewandt. Die Wurzeln waren vom Hochwasser teilweise freigespült. Sie sahen wie Menschen aus, die die Flucht ergriffen hatten und angstvoll zurückblickten.
Scharli ging zu einem kleinen Hügel an der Böschung des Deiches, von dem man eine gute Aussicht über den Strom hatte.
Hier hatte sie das Frühjahr über, bis zu den Sommerferien, oft gesessen und auf die Stromschiffe gewartet. Einmal war die Dukla gekommen, ein Seitenraddampfer, der vier Schleppkähne hinter sich herzog. Er sah fröhlich aus. Das Beste waren die Schöpfräder an der Seite, die den Strom bis auf den Grund aufwühlten. Wassertropfen sprühten umher. In der Sonne schillerten sie in allen Regenbogenfarben. An Bord flatterte bunte Wäsche auf der Leine. Ein Moped lehnte am Rettungsboot. Kinder liefen und lachten und warfen mit einem Ball. Ein Hund sprang hinterher. Immer wo der Ball war, war auch der schwarze Hund. Hoch über allem wallte aus dem dicken Schornstein dichter Rauch.
Die anderen Schiffe fand Scharli nicht so fröhlich wie die Dukla. Schon gar nicht die Schuber, die nur Nummern hatten, statt einen lustigen Namen.
Der Strom war Scharli in kurzer Zeit vertraut geworden. Abends, zu Hause bei Tante Helga und Onkel Siegfried, sprach sie über ihn wie über einen gutmütigen alten Mann.
Sie verstand es nicht, wenn die anderen vorsichtiger waren. „Warte nur ab“, sagten sie. „Man muss länger hier leben, dann kennt man sich aus.“
„Der Strom ...“, sagte einmal der alte Schiffer Nobitz, mit dem sie sich bald angefreundet hatte, „der Strom ist mal so und mal so. Er ist nicht gut. Er ist auch nicht böse, denn er ernährt die Menschen. Aber das Schlimme ist, er verhält sich nicht gerecht.“
Wie also war der Fluss?
Zu Heino war er wohl ungerecht. Und zum Schiffer Nobitz? Es machte sie traurig, dass Heino nun fort war.
Er hatte es also nicht geschafft. Sein Mut war zu klein. Der Vater hatte ihn aus dem Internat geholt und ihn wieder nach Hause gebracht.
Was wurde nun aus dem stolzen Schubschiff 2630, das stets vor den anderen in den Häfen ankam und die meisten Lasten über den Strom trug?
Heinos Vater war der Kapitän, Andy der Decksmann und Bruno der Maschinist. Aber am wichtigsten war der Bootsmann — Heinos Mutter. Der Junge hatte manchmal erzählt, wie wichtig sie für die Besatzung war. Die drei Männer waren viel zu wild, als dass sie Tag für Tag auf so kleinem Raum miteinander auskommen konnten.
„Ich muss im Internat bleiben“, hatte Heino gesagt, „sonst gibt es den berühmten Schuber bald nicht mehr.“
Was sollte werden, wenn der Bootsmann Arbeit auf dem festen Land annahm, weil er zu Hause gebraucht wurde?
Hier am Strom hatten sie sich kennengelernt. Sie war auf ihn aufmerksam geworden, als sie weiter hinten ein leises Wimmern vernahm.
„Au mein Knie! Au mein Knie!“
Zuerst bekam sie ein wenig Angst und schaute sich nach dem kürzesten Weg in die Stadt um. Als sie es jedoch noch einmal hörte, legte sich ihre Furcht. Wer eine so feine Stimme hatte, konnte wohl niemandem etwas zuleide tun.
Mit kleinen Schritten ging sie näher.
„Ist da jemand?“
„Ja, hier in der Tonne.“
Als sie davor stand, sah sie nichts als ein spitzes Hinterteil, von einer Lederhose bedeckt.
„Was machst du da?“
„Ich will Kosmonaut werden“, antwortete es hohl unter kläglichem Stöhnen und Jammern.
„Wird man das in einer Tonne?“
„Au mein Knie.“
Nun schob sich die Lederhose langsam ins Freie. Dann kam ein kariertes Hemd zum Vorschein und zuletzt ein ausgedienter Feuerwehrhelm mit einem Pickel wie ein Hühnerschnabel oben drauf. Endlich war der ganze Kosmonaut aus der Gefangenschaft des engen Blechgehäuses befreit.
In der Hand hielt er seine Brille, die er mit einem Hemdzipfel abwischte und dabei ganz dicht vor die Augen nahm.
„Man kriegt davon Mut“, sagte er.
Jetzt hatte er die Brille wieder auf, den Helm neben sich gelegt und genoss offensichtlich das Gefühl, eine große Anstrengung überstanden zu haben.
Scharli betrachtete ihn. Er war klein und schmächtig. Seine blonden Haare hingen ihm strähnig nach allen Seiten herab wie das Schilfdach eines afrikanischen Rundhauses.
Das Mädchen überlegte, woran es lag, dass sein Gesicht lustig aussah. An der Nase konnte es liegen, die etwas nach oben gebogen war, oder an den Sommersprossen, die übers ganze Gesicht verteilt waren und aussahen wie eine fröhlich wimmelnde Menschenmenge auf einem Volksfest.
„Ich mache das immer“, erklärte er. „Ich rolle die Tonne oben auf den Deich. Dann steige ich ein und lasse mich heruntertrudeln. Ich habe es von den Kosmonauten. Sie lassen sich in einer Zentrifuge herumschleudern.“
„Warum?“
„Wegen dem Mut. Und außerdem machen sie den Weltraum nach. Dort hat nichts Gewicht. Genau wie in der herumrasenden Zentrifuge.“
„Dort wiegt alles nichts?“, fragte Scharli verwundert.
„Nein.“
„Auch Kerstin nicht? Sie ist die dickste in unserer Klasse. Ihr Reißverschluss vom Rock steht immer auf.“
„Nicht einmal ein Elefant hat im Weltraum ein Gewicht.“
Ob das Rollen in der Tonne nicht wehtäte, wollte Scharli dann wissen.
„Das kann ruhig“, antwortete Heino. „Ein Kosmonaut muss hart sein, sonst kommt er in der Ferne nicht zurecht.“
„Ich meine, in der Tonne da“, erklärte Scharli. „Wenn mal ein Stock im Wege liegt. Oder eine Wurzel guckt hervor.“
„Das ruckt und stößt ungemein. Aber beim Training ist man nicht zimperlich.“
Danach gingen beide noch ein Stück den Deich entlang. Links lag der Strom. Rechts duckten sich die Dächer der Stadt, als hätten sie Angst vor ihm. Nur der Kirchturm und der Kran im Neubaugebiet wagten sich etwas tapferer empor.
Bergwärts gegen die Strömung quälte sich ein Schiffsverband heran. Heino erklärte, dass es sich um einen Schuber handelte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Scharli, dass es Motorkähne gab und Schleppkähne, auch einen seltenen Seitenraddampfer, die wichtigsten aber waren die Schuber. Sie schoben etliche Prahmen vor sich her. Mit diesen unförmigen Eisenbehältern sahen sie zwar kaum wie Schiffe aus, aber Heino meinte, sie wären die unbestrittenen Herrscher auf dem Fluss.. „Du hast eine Menge Ahnung“, sagte Scharli voller Achtung. „Kunststück“, gab er zurück. „Wo meine Eltern Binnenschiffer sind. Sie fahren den Stromschuber 2630. Musst du dir merken. Du erkennst ihn daran, dass er etwas schneller fährt als die anderen. Und sie halten auch manchmal bei Nacht nicht an, wenn auf dem Strom sonst alles ruhig ist.“
Scharli hätte gern noch einiges gefragt. Wie es denn geht, wenn beide Eltern auf dem Schiff unterwegs sind. Wer ihn weckt. Und wer ihm die Schulstullen schmiert.
Aber plötzlich bog der Junge ab. Ohne sich zu verabschieden, lief er den Deich hinunter und war zwischen den fahlen Baumstämmen bald nicht mehr zu sehen.
Am schönsten war es damals für Scharli, wenn Onkel Siegfried abends zu Hause war. Er fuhr die Straßenwalze im Straßenbaubetrieb. Die anderen Arbeiter gossen den Asphalt, und der Onkel hatte die Aufgabe, ihn festzufahren. Seine Walze fuhr den ganzen Tag langsam hin und her und her und hin. Da passierte nicht viel, und so war er auch nach Feierabend ruhig und zufrieden.
Tante Helga nannte das träge.
„Die Klappe am Kaninchenstall ist noch nicht fest“, sagte sie immer wieder. „Man muss denken, dass du selber die Straßenwalze bist.“
Dabei war die Tante nicht unschuldig, dass er so war. Ständig kochte sie etwas Feines für ihn. Als er einmal seine Frühstücksstullen vergessen hatte, radelte sie zehn Kilometer über Land und brachte sie ihm nach.
Scharli hatte Onkel Siegfried als erstem von ihrer Begegnung mit dem Kosmonauten erzählt.
„Hier in der Stadt gibt es einen Weltraumfahrer“, sagte sie, als sie noch am Abendbrottisch saßen, während Tante Helga schon auf dem Hof herumwirtschaftete und gegen die Kaninchenstalltür den Schrubber stützte, damit sie nicht herunterfiel.
„Ach was“, sagte Onkel Siegfried.
„Doch, doch“, beteuerte das Mädchen. „Ich habe selbst mit ihm gesprochen.“
„Mit ihm gesprochen? Mit einem Weltraumfahrer?“
„Ja. Vorhin am Deich.“
Kosmonauten gäbe es in dieser Gegend nicht, erwiderte der Onkel. Sie hätten nicht alle ihr Auskommen. Es müsste ein Irrtum sein. Aber schließlich gelangte er ebenfalls zu der Meinung, dass die Stadt Buttstein die große Ehre hatte, einen Weltraumfahrer zu beherbergen. Er war es nicht gewohnt, sich zu streiten.
Den Kosmonauten traf Scharli das zweite Mal im Buttsteiner Hafen an. Zwei Wochen hatte sie nichts von ihm gehört und gesehen, als wäre er schon zu seinen Sternen unterwegs. Jetzt saß er aber hier unten auf der festen Erde. Genauer: er saß auf einem wackligen Bootssteg, der fast völlig von übermannshohem Schilf umgeben war. Nur zum Land hin blieb ein schmaler Durchschlupf offen.
„Sei mal ruhig“, wurde sie von dem Jungen empfangen, obwohl sie noch keinen Ton von sich gegeben hatte.
Sie setzte sich neben ihn, bemüht, so leise wie möglich zu sein.
„Hörst du nichts?“, fragte Heino und bog vorsichtig ein paar Schilfhalme auseinander.
„Ich höre nichts.“
Alles war still. Sie vernahmen nichts als das Glucksen des Wassers, das in kleinen Wellen an die Pfähle des Bootssteges schlug.
Aber da war es wieder.
„Tscht! Tscht!“, kam es von irgendwo.
„Ein Krokodil“, vermutete Scharli.
„Krokodile zischen nicht“, belehrte Heino sie. „Krokodile geben keinen Ton von sich. Sie liegen ganz starr, damit jeder denkt, dass sie ein morscher Baumstamm sind.“
In diesem Augenblick drückte der Wind in den Schilfwald eine Schneise hinein und gab den Blick über das Hafenbecken frei. Kein Steinwurf weit von den beiden entfernt lag ein Motorkahn. Vielleicht kamen die unerklärlichen Geräusche von dort. Aber da flaute der Wind auch schon wieder ab, und das Schilf richtete sich undurchdringlich auf.
Heino schlug Scharli vor, sie solle auf seine Schultern klettern und von dort oben Ausschau halten.
Er faltete die Hände vor dem Bauch zur Räuberleiter.
„Ob du mich auch halten kannst?“, fragte das Mädchen ängstlich. Er wäre zu klein und auch zu dünn für ihr Gewicht.
„Ich bin dünn, aber stark“, beruhigte er sie.
So setzte sie versuchsweise einen Fuß auf seine Hände. Heino nahm seine ganze Kraft zusammen. Er hatte gar nicht gewusst, dass ein Mensch so schwer sein konnte. Dabei hatte Scharli das andere Bein noch auf die Bretter des Bootssteges gestützt. Als sie es nachgezogen hatte, wurde es dem Jungen zu viel. Er trat mit großen Schritten nach links und rechts, vor und zurück, um das Gleichgewicht zu halten. Aber es wollte ihm nicht gelingen.
„Wie das schwankt!“, jammerte Scharli. „Hilfe, ich stürze ab.“
„Siehst du was?“, presste Heino in seiner Anstrengung hervor.
„Nein, gar nichts“, antwortete sie.
Aber es war auch kein Wunder. Ängstlich hielt sie die Augen fest geschlossen.