Flammenvogel - Martin Meißner - E-Book
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Flammenvogel E-Book

Martin Meißner

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Beschreibung

Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht der Hilfsschüler Henrik, der wegen seiner Geschicklichkeit und Hilfsbereitschaft überall geschätzt wird. Über seine Zugehörigkeit zur Hilfsschule hat er nie ernsthaft nachgedacht, bis er Anne kennenlernt. Henrik beginnt bewusster auf seine Umwelt zu reagieren. Die herablassenden Bemerkungen mancher Erwachsener kränken ihn tief. Anne soll nicht wissen, dass er in die Hilfsschule geht. Als sie ihn eines Tages nichts ahnend mit einer Bemerkung verletzt, zieht er sich zurück. Er sucht die Einsamkeit in der Natur, beobachtet den Rotmilan, den Flammenvogel, der am Himmel seine Kreise zieht. Doch auch dieser lebt nicht für sich allein. Dieses spannende Buch für Kinder ab 12 Jahre erschien erstmals 1984 in Der Kinderbuchverlag Berlin. LESEPROBE: Als ein neues Lied begann, spürte Henrik jemand neben sich. Im Halbdunkel erkannte er ein Mädchen. »Darf ich mal sehen?«, bat sie. Innen hörte Henrik das Lied »Und die Gräser verneigen sich«, von dem Jan Jakwe gesprochen hatte. Der Junge kniete sich auf den Erdboden und hob die Zeltbahn ein Stück in die Höhe. Es war, wie der Maurer es beschrieben hatte: Die Mädchen rührten sich kaum vom Fleck. Sie traten nur bedächtig von einem Bein auf das andere und bewegten ihre Oberkörper hin und her. Die meisten sangen mit. Henrik erkannte, dass Martin der Sänger war. Hier sah er ganz anders aus als damals auf der Baustelle. Seine pechschwarzen Haare fielen ihm in die Stirn. Sein Blick ging über die Köpfe der Tanzenden hinweg. Zu seinen Füßen saßen einige Mädchen im Schneidersitz. Sie hatten ihre Knie umfasst und schaukelten vor und zurück oder von links nach rechts. »Ich höre das Lied gern«, sagte das Mädchen neben Henrik. »Besonders von diesem Sänger.« »Ich kenne ihn«, sagte Henrik Er stand auf und fasste an sein Knie, das sich feucht und klebrig anfühlte. »Du kennst ihn?«, fragte das Mädchen. Da fasste sie sich mit der Hand vor den Mund. »Bist du nicht?« Auch Henrik erinnerte sich. Neben ihm stand das Mädchen, dem die Fahrradkette heruntergesprungen war. »Ganz schön was los hier«, sagte Henrik. »Ja. Schade, dass ich nicht her darf.« »Du bist doch hier.« »Nein, ich bin im Bett.« Sie hob den Bund ihrer Trainingsjacke in die Höhe, und Henrik sah einen geblümten Schlafanzug. »Dann gute Nacht«, sagte er. Das Mädchen drehte sich um. »Schlaf schön«, sagte sie. »Ich heiße Anne. In der Klasse werde ich Anna genannt. Anne ist mir lieber. Aber du kannst mich auch Anna nennen.«

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Seitenzahl: 154

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Impressum

Martin Meißner

Flammenvogel

ISBN 978-3-86394-238-0 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1984 in Der Kinderbuchverlag Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Foto Hille

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

An einem Wochenende feierte das Dorf Temme sein Feuerwehrjubiläum. Zur Eröffnung fand der Umzug statt. Löschfahrzeuge und anderes Gerät zur Feuerbekämpfung wurden vorgeführt.

Für die musikalische Begleitung war die Schalmeienkapelle der Hilfsschule aus der Stadt Besenau angereist.

Als erster verließ ein Trommler den Bus. Es war ein dreizehnjähriger Junge mit rötlichen Haaren. Er hatte eine kräftige, gebogene Nase. Die Augen waren schmal und sahen wie zusammengekniffen aus. Das Gesicht wurde von gelblichen Flecken bedeckt, die beinahe zu groß waren, um noch Sommersprossen zu sein.

Der Trommler hieß Henrik Banzer.

Seine Trommel trug er in einer blauen Plastetragetasche. Das Instrument war nicht leicht, aber es hängte sich auch nicht so an, dass er es ständig von einer Hand in die andere wechseln musste, wie er es tat.

Der Junge genoss es, an den festlich gekleideten Leuten vorbeizugehen, die stehen blieben, um die Kapelle zu betrachten. Immer wieder wechselte er die Trommel von links nach rechts und zurück. Auch schleppte er sie mit beiden Händen vor dem Bauch, sodass er mit trippelnden Schritten gehen musste.

»Die Leute gucken, als wenn sie noch nie eine Kapelle gesehen haben«, sagte er zu seiner Nachbarin. »Aber keiner dabei, der mir tragen hilft.«

Hinter der Rückwand des Tanzzeltes machten sie halt, legten ab und packten aus. Henrik stöhnte und ließ sich neben seiner Trommel auf den Erdboden nieder. Ein paar kleine Kinder des Dorfes hatten sich eingefunden und bestaunten die blitzenden Instrumente, die nach und nach aus den Futteralen und Umhüllungen zum Vorschein kamen. Henrik hatte große Mühe, seine Trommel aus der Tragetasche zu befreien. Obwohl es eigentlich nicht schwer ging, jammerte und stöhnte er. Die kleinen Zuschauer mussten den Eindruck gewinnen, als wäre Henrik der wichtigste Mann hier, und das schwierigste an einer Schalmeienkapelle musste es sein, eine Flachtrommel aus ihrer Umhüllung zu holen. Zwei Mädchen halfen ihm dabei.

Wie die anderen hatte den Trommler der bevorstehende Auftritt so in Stimmung versetzt, dass er die ganze Zeit klagte und mit der Aufgabe nicht fertig zu werden schien.

Plötzlich schrie er auf: »Meine Trommelstöcke!«

Den ganzen gestrigen Abend hatte er mit der Vorbereitung dieses Umzuges verbracht. Wieder und wieder hatte er die Messingbeschläge der Trommel poliert. Die Kleidung hatte bereitgelegen. Nur an die Schlegel hatte er nicht gedacht.

Die Mädchen riefen den Musiklehrer Möller herbei. Henrik selbst brachte kein Wort heraus. Er kauerte neben seiner Trommel und hatte den Kopf schützend zwischen den Knien verborgen.

Der kleine Lehrer kam langsam herbei.

Mit Henrik hatte er seit Jahren endlich wieder ein großes Talent in der Kapelle. Der Junge trommelte nicht nur am besten, er konnte zur Aushilfe auch jedes andere Instrument spielen. Vor einiger Zeit hatte der Lehrer seine Klarinette in der Klasse liegen lassen. Als er durchs Schulhaus ging, hörte er sie plötzlich spielen. In sonderbaren Tönen, aber eine Melodie, die er nicht wieder vergaß.

»Na Henrik«, sagte der Lehrer jetzt. »Ohne Schlegel angereist? Das trommelt sich schlecht.«

Henriks Kopf ruckte noch tiefer zwischen die Knie. Nach einer unerträglichen Pause hörte er es klappern. Langsam hob er seinen Blick zur Tragetasche des Lehrers. Dann sprang er auf und riss die Ersatzstöcke an sich. Mit wilden Schlägen bearbeitete er das Fell seiner Trommel. Dabei lachte er erlöst. Der Umzug ohne ihn? Er mochte nicht daran denken.

»Henrik spinnt wieder«, sagte eines der Mädchen. »Wenn Henrik in Form ist, dann spinnt er immer.«

Die Kapelle schloss sich an einen altertümlichen Spritzenwagen an, der von vier Pferden gezogen wurde. Die jungen Feuerwehrleute auf den Sitzbänken trugen Uniformen und Pickelhelme. Links und rechts hingen Eimer aus Leder.

Als die Musik einsetzte, preschten die Pferde ein Stück vor. Auch danach gewöhnten sie sich nur schwer an die lauten Töne. Der Kutscher hatte alle Mühe, sie in der Gewalt zu behalten. Sie warfen ihre Köpfe hoch, trippelten und ruckten krachend in den Kettensträngen.

Neben Henrik lief am Straßenrand ein kleiner Junge. Beim Gehen hüpfte er, damit er sich mit dem Trommler im Gleichschritt hielt.

»Hau ab, Knirps!«, rief Henrik. Aber er freute sich, dass der Junge nicht von seiner Seite wich.

Das Fest nahm auf dem Platz vor dem Spritzenhaus seinen Verlauf. Im Tanzzelt waren lange Tische für den Frühschoppen aufgestellt. Dumpfes Stimmengewirr, von hellem Gläserklirren übertönt, drang aus dem Eingang und durch die Zeltwand nach draußen.

Ein dicker Mann in Feuerwehruniform trat an die Kapelle. »Spielt noch ein paar Stücke zur Unterhaltung, Jungs!«, rief er. »Ihr blast so fein, dass einem das Herz aufgeht. Und wenn ihr fertig seid, kommt rein. Im Zelt ist für euch aufgedeckt. Weißes Tischtuch habe ich angeordnet. Und vom Essen das Beste.«

Der Mann hob die Arme nach vorn, dass es aussah, als wollte er die gesamte Kapelle umarmen.

»Was, noch weiterspielen?«, stöhnte Henrik. »Ich kann nicht mehr!«

Aber voller Ungeduld belästigte er seine Nachbarn mit den Trommelstöcken. Sein Vordermann musste einen Wirbel zwischen den Schulterblättern erdulden. Die linke Nachbarin zog ihren Ellenbogen noch rechtzeitig zurück. Der rechte Nebenmann brachte sein Ohr in Sicherheit. Niemand in der Nähe wurde verschont, dem wild gewordenen Schlagzeuger als Instrument zu dienen.

»Wir müssen ihn fesseln, Herr Möller!«, rief eine Bläserin nach vorn. »Fangen wir mit dem Spielen an, sonst bringt Henrik uns alle um.«

Die Zuhörer des kleinen Platzkonzertes wechselten, aber ständig hielten sich einige Gruppen in der Nähe auf und sahen der Schülerkapelle beim Musizieren zu.

Henrik erblickte seine Schwester Claudia. Sie trug blaue Jeanshosen, die an den Oberschenkeln grau entfärbt waren. Ihre Leinenjacke hatte eine grünliche Farbe, wie die Bretterzäune zur Wetterseite hin; ähnlich ihre Schnürschuhe, bei denen jedoch der bräunliche Ton überwog. Das Mädchen hatte ein Bein wie tastend nach vorn gestellt und hielt das Gleichgewicht, indem sie einen Motorradhelm mit beiden Armen umfasste. Durch seine blendend rote Farbe zog er den Blick von der erdig aussehenden Kleidung weg.

Die Schwester lächelte Henrik zu. Dabei schüttelte sie ihre langen Haare, die von einem glänzenden Stirnband daran gehindert wurden, dass sie die Augen bedeckten.

Henrik winkelte seine Arme ruckartig an und schlug kräftiger zu. Es war nicht das erste Mal, dass die Schwester der Schalmeienkapelle mit dem Moped nachfuhr.

»Ich kenne welche«, sagte sie mal, »die reisen mit den Fußballmannschaften zu den Auswärtsspielen. Andere begleiten die Rockmusiker. Bei jedem Auftritt sind sie dabei und nehmen die ersten Reihen ein. Das sind die Fans. Ich bin der Fan von der Schalmeienkapelle der Hilfsschule Besenau.«

Nach dem Auftritt und dem Essen im Zelt wurden der Treffpunkt und die Abfahrtszeit bekannt gegeben.

Henrik fragte, ob er mit seiner Schwester nach Hause fahren könnte. Der Musiklehrer war einverstanden und bot sich an, die Flachtrommel mit zurückzunehmen.

Henrik sprang mit einigen Laufschritten davon. Dann stoppte er. »Macht’s gut, Leute!«, rief er. »Seid schön artig im Bus. Ich fahre mit meiner Schwester.«

Eine Zeit lang schlenderte er neben Claudia her. Mal trug er ihren Helm, mal gab er ihn wieder aus der Hand. Ständig ging sein Blick jedoch zur Kapelle zurück. Dort traten noch immer Zuschauer heran. Kleine Kinder ließen sich die Instrumente vorführen.

»Ich muss noch mal hin«, sagte Henrik zu seiner Schwester.

»Wir denken, du fährst mit dem Moped«, empfing ihn wie gekränkt Britta, eine Bläserin.

»Mach ich doch!«

Henrik stellte sich neben seine Trommel, die der Lehrer abgelegt hatte.

»Macht’s gut, Kinder«, sagte er bald erneut.

Während er die Schwester suchte, fuhr der Bus mit der Kapelle ab. Zuletzt blieb Henrik nur der Fußmarsch über zwei Dörfer nach Haus. Er wohnte in Hollig Grund, das auf halbem Weg zwischen Temme und der Stadt Besenau lag.

2. Kapitel

Im April sah Henrik den großen Vogel das erste Mal.

Im April wuchs das erste Futter für die Kaninchen.

Im April bekamen die Hilfsschüler zusätzlich eine Woche frei, weil die Lehrer mit dem Aufnahmeunterricht für die Neuen beschäftigt waren.

Henrik nutzte es aus, dass die anderen Kinder aus Hollig Grund in der Schule saßen. Ohne wie sonst Umwege zu machen, konnte er geradewegs auf die besten Futterstellen an den Gräben zusteuern. Niemand beobachtete ihn, keiner folgte seiner Spur.

»Zurück, ihr Büffel«, schimpfte der Junge, wenn er die Maschendrahttür der Buchte öffnete, die Tiere sich vor ihm aufreihten und ihn so daran hinderten, das Futter hineinzutun.

»Das schadet den anderen gar nichts«, sagte er. »Die sitzen jetzt in der Schule. Aber das nützt ihren Kaninchen nichts. An der Wandtafel wächst kein frisches Futter. Zurück, ihr Büffel! Ihr habt es fein, weil euer Henrik ein Hilfsschüler ist.«

Anschließend säuberte er die Ställe.

Gegen Mittag ging er ins Haus und bereitete das Essen. Es war fertig, wenn seine Schwester Claudia kam. Sie arbeitete als Verkäuferin in Besenau und fuhr auf ihrem Moped in der langen Mittagspause nach Haus. Eigentlich sollte sie in dieser Woche für den Bruder kochen. Aber er nahm es ihr ab.

»Schmeckt prima«, sagte Claudia. Sie hatte eine bunte Zeitschrift neben ihrem Teller liegen und las, während sie den Löffel zum Mund führte. »Was ist es denn?«, fragte sie.

»Du müsstest mal auf den Teller gucken, dann weißt du es«, sagte Henrik.

»Das nützt bei deiner Suppe nichts«, entgegnete sie. »Man erkennt keinen Unterschied.«

»Und warum kochst du nicht selbst?«

»Weil das Stehen am Herd für eine Frau unwürdig ist.«

Henrik schaute seiner Schwester zu. Sie las in der Zeitschrift und löffelte weiter, obwohl der Teller bereits geleert war.

Henrik erinnerte sich: Als Claudia noch zur Schule ging, sprachen die Leute in Hollig Grund oft über sie. Die Lehrerin brachte zu den Elternbesuchen immer einen Kollegen mit. Nach einiger Zeit wurde Claudia ins Zimmer gerufen. Darauf war ein lauter Wortwechsel zu hören, und bald kam die Schwester wieder heraus.

»Die Stolper kann einen fertigmachen«, sagte sie das eine Mal zu Henrik und klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich soll meinen Parka im Klassenzimmer ausziehen, sagt sie. Die Frau reist extra von Besenau nach Hollig Grund, um meiner Mutter zu sagen, dass ich im Unterricht meinen Parka anbehalte. Und sie nimmt sich noch den armen Direktor als Verstärkung mit. Die Stolper muss gar nicht wissen, dass ich nur in ihrem Unterricht meinen Mantel trage. Ich behalte ihn überhaupt nicht gern im Gebäude an. Ich schwitze darunter. Aber wie kann ich ihn denn ausziehen, wenn sich die Stolper so schön darüber ärgert?«

Seit Claudia in der Lehre war, sprach kaum noch jemand von ihr. Sie arbeitete dort tüchtig, hatte man gehört. Davon erzählten die Leute nicht so gern wie von den aufregenden Sachen an der Schule damals.

»Die Suppe ist längst alle«, sagte Henrik und zeigte auf den Teller seiner Schwester.

Sie hob den Blick und schaute verdutzt. Sie legte ihren Löffel beiseite. »Und du?«, fragte sie, während sie schon wieder las. »Wie hast du den Vormittag herumgebracht?«

»Ich habe einen Vogel gesehen«, antwortete Henrik.

»Wie bitte?«

»Als ich nach Kaninchenfutter unterwegs war, sah ich plötzlich einen Vogel in der Luft.«

»Fliegen nicht öfter Vögel herum?«

»So einer nicht. Was meinst du, wie groß der war. Als er über mir kreiste und dabei vor die Sonne kam, deckte er sie für einen Moment ganz zu.«

»Vielleicht sehe ich ihn mal, wenn ich auf dem Moped fahre«, sagte die Schwester.

»Ich glaube nicht.«

»Wieso?«, entgegnete sie empört. »Kannst nur du einen besonderen Vogel sehen?«

»Nein. Aber wenn ich jetzt an ihn denke, kommt es mir so vor, als wenn es ihn gar nicht geben kann. Ich habe ihn nicht von Weitem gesehen. Er war auf einmal über mir. Ich verfolgte seinen Weg in der Luft. Er verschwand genauso plötzlich, wie er gekommen war. Es schien, als wenn er sich auf einmal aufgelöst hätte. Wer weiß, ob es diesen Vogel überhaupt gibt.«

Die Schwester nahm ihren roten Motorradhelm vom Stuhl. »Was du manchmal so redest, Henrik«, sagte sie und ging.

3. Kapitel

Am Mittwochnachmittag traf sich die Schalmeienkapelle zum Üben. Danach schlenderte Henrik mit seiner Trommel durch die Stadt. Auf einer Baustelle schaufelte ein junger Bauarbeiter Kies. Er trug einen Helm, der mit einem Bild verziert war. Ein Frosch hielt eine Blume im Maul.

Der Bauarbeiter sah Henrik an. »Warum trägst du eine Trommel bei dir?«, fragte er.

»Weil ich Trommler bin.«

»Stimmt ja«, sagte der Mann und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen seine Kopfbedeckung. »Hätte ich allein draufkommen müssen.

Das heißt, du könntest sie ja zu einem hinbringen, der das Trommeln versteht. Vielleicht kannst du weiter nichts, als sie tragen.«

»Nein, ich trommle selbst«, erwiderte Henrik.

»Dann trommle doch mal.«

Henrik hob das Instrument höher und hielt es schützend unter dem Arm. Er war nicht sicher, wie es der andere meinte.

Als er sich gerade umdrehen wollte, erschien ein anderer junger Bauarbeiter in der Tür des unfertigen Hauses.

»Das ist Martin«, sagte der erste. »Der versteht was von Musik. Er spielt Gitarre in einer richtigen Band. Er singt auch.

Er singt nur einmal. Aber dieses eine Lied, das merken sich alle. Das muss man gehört haben, Kleiner. >Und die Gräser verneigen sich<, heißt das Lied. Du, da hören alle Mädchen auf zu tanzen. Sie bleiben auf einem Fleck stehen und starren zur Band. Der Tänzer hat keine Chance. Seine Freundin sieht ihn nicht mehr. Er kann weggehn und ein Bier trinken. Sie merkt es nicht. Sie sieht nur Martin: wie er die Gitarre spielt und das Lied von den gelben Gräsern singt.«

Henrik sah, dass die Worte dem anderen peinlich wurden. Er nahm seine Mörtelkarre und fuhr woanders hin.

»Ich bin Jan Jakwe«, fuhr der mit dem Bild am Helm fort. »Eigentlich heiße ich Winfried. Aber das höre ich nicht gern. Wer sich gut stellen will mit mir, der nennt mich nicht Winfried.«

Der Meister trat heran.

»Das ist mein Neffe«, erklärte Jan Jakwe unter dem finsteren Blick des älteren Mannes. »Er hat mir mein Vesperbrot gebracht. Sie wissen doch, Meister. Ohne Vesperbrot falle ich hier tot um.«

»Betriebsfremde haben auf der Baustelle nichts verloren, Winfried«, sagte der Meister und verschwand.

»Aber er ist doch mein Neffe«, flehte Jan Jakwe hinterher. »Gleiches Blut fließt in unseren Adern. Wie kann er da betriebsfremd sein?«

Henrik ging zur Straße. Der andere begleitete ihn bis auf den Gehweg.

»Ich kenne dich nämlich, Trommler«, sagte er und hielt ihn am Arm zurück.

»Woher?«

»Ich mag eure Kapelle. Wenn ich euch irgendwo spielen höre, dann komme ich manchmal in die Nähe. Vielleicht hast du mich schon bemerkt. Die Schutzbleche von meinem Motorrad habe ich verchromen lassen. Die Spiegel sind so hoch angebracht, dass es gerade noch erlaubt ist.

Vom Sehen kenne ich euch alle. Mir geht es wie einer älteren Frau in einer braunen Kittelschürze. Die treffe ich, wenn ich anhalte. >Die Kinder spielen zu schön<, sagt sie immer. >Dabei sind sie von der Dummenschule. Vor dem Lehrer muss man Achtung haben. Was der denen trotzdem beibringt, das ist allerhand.<

Du musst es der Frau nicht übel nehmen, Trommler, dass sie Dummenschule sagt. Sie kennt es nicht anders. Es hat nichts genützt, dass ich ihr den richtigen Namen schon zehnmal gesagt habe.

Du gefällst mir besonders, Trommler, weil du am meisten bei der Sache bist. Du verteilst die Notenblätter. Du spannst für die anderen die Trommel nach. Ich habe gesehn, dass du auch auf der Schalmei blasen kannst. Aber du bist auch der, der am häufigsten ermahnt werden muss.

Neulich kam der schwarze Hund bei euch vorbei. Da sah ich, wie du deine Trommel sachte auf den Boden gelegt hast. Geduckt, im Schutze der Kapelle, hast du dich entfernt und bist hinter dem Hund her. Vor dem letzten Lied warst du wieder dabei.«

»Ach so, der«, erinnerte sich Henrik. »Der kommt manchmal hinter uns her. Wenn wir anfangen, legt er sich in ein Gebüsch und jault. Er hebt seine Nase in die Luft und jault und jault.«

Henrik drehte sich um und ging.

»Wenn ich das nächste Mal in eure Nähe komme, gebe ich ein Zeichen!«, rief der junge Mann ihm nach.

Henriks Blick fiel auf das Motorrad. Die Spiegel ragten wie die Fühler eines Insekts hoch über den Lenker hinaus. Die Schutzbleche streuten das Sonnenlicht überall hin.

Henriks Tornister kannte in der Schule jeder. Dem braunen Leder hatten die Regengüsse mit der Zeit verschiedene Schattierungen verliehen, sodass die Tasche einem Leopardenfell glich. Der Griff fehlte. Die Schlösser funktionierten nicht mehr. In das eine musste er einen spitzen Gegenstand hineinstecken, damit es aufschnappte. Das andere rastete gar nicht ein und klapperte nur noch. Seine Aufgabe hatte ein Gummiband übernommen, das an mehreren Stellen Knoten aufwies. Dies war nicht Henriks erste Schultasche. Die früheren ähnelten ihr sehr und wurden von den Eltern immer wieder durch neue ersetzt.

Henriks Tornister stand im Schulhaus überall herum. Der Junge stellte ihn ab, wo er sich gerade befand, wenn er eine seiner vielen Aufgaben erledigen musste.

Morgens lehnte er sie an die erste Treppenstufe. Dann setzte er mit vier Sprüngen in den Heizungskeller.

»Morgen, Henrik«, sagte der Hausmeister, mit dem er befreundet war. Der Junge brachte ihm oft Löwenzahn für seine Kaninchen oder reichte ihm beim Sägen das Holz zu. Henrik durfte dafür an dem kleinen Tisch Platz nehmen, der in der Nähe des Ofens stand.

Der Hausmeister hatte in einen Globus eine Glühlampe montiert, sodass die Erdkugel den dunklen Raum mit einem matten Licht erfüllte. Henrik war der einzige, der sich in diesem geheimnisvollen Winkel aufhalten durfte. Die Lehrer bekamen nur einmal im Jahr Zutritt. Wenn der Hausmeister Geburtstag hatte.

Oft stand der Tornister vor dem Kartenraum, denn Henrik gab die Landkarten und die Anschauungsmittel für den Erdkundeunterricht aus.

Der Tornister hing auch am Schulgartenzaun, denn Henrik hatte es übernommen, an den Tomaten die überflüssigen Triebe abzukneifen oder andere Arbeiten zu erledigen, die regelmäßig anfielen. Es war kein Wunder, dass Henrik seine Schultasche bei Unterrichtsbeginn manchmal gar nicht bei sich hatte.

So am Dienstag nach der freien Woche.

Es begann mit der Rechenstunde bei Fräulein Görs. Die Schüler blieben in ihren Bänken stehen. Die Lehrerin stellte Kopfrechenaufgaben. Wer das Ergebnis sagte, durfte sich setzen.

»Was steckt in 210?«

»7 mal 30!«, rief Britta, die beste Schülerin der Klasse, noch ehe Henrik sich die Zahl vorstellen konnte.

»Was steckt in 240?«

Wieder kam die richtige Antwort, und der zweite Schüler durfte sich setzen.

Henrik zog seinen Stuhl zurück und schob ihn wieder an den Tisch. Er trippelte mit kleinen Schritten auf der Stelle, wie ein Läufer, der sich warmhalten musste.

»Was steckt in 320?«

»4 mal 30!«, rief Henrik rasch und schleuderte seinen Arm in die Höhe.

»4 mal 80!« kam es von einem anderen richtig hinterher.

»Ach!«, stöhnte Henrik. Er ballte seine Hand zur Faust und ließ sie im Bogen vor der Brust durch die Luft sausen.

Henrik mochte solch einen Wettbewerb gern. Er fesselte ihn, aber er regte ihn auch so auf, dass er nicht leicht auf das Ergebnis kam. Als zehnter von vierzehn Schülern durfte er sich setzen.

Nachdem das Kopfrechnen beendet war, holte ihn die Lehrerin an die Tafel vor, um die Vierzigerfolge zu wiederholen.

1 mal 40 ist gleich 40.

2 mal 40 ist gleich 80.

3 mal 40 ist gleich ...

Henriks Blick fiel auf seine Bank. Er richtete sich auf Zehenspitzen hoch und reckte seinen Hals. Die Mappenablage war leer. »3 mal 40, Henrik!«, forderte die Lehrerin ungeduldig.

Da schlug sich Henrik mit der flachen Hand an die Stirn, dass es klatschte. »Meine Tasche!«, jaulte er auf. »Meine gute, treue Mappe.«

»Was hat deine Schultasche mit der Aufgabe zu tun?«, fragte die Lehrerin unsicher.

»Sie ist weg.«

»Wo ist sie denn?«

»Ich weiß nicht. Wenn sie nun einer gestohlen hat«, sagte Henrik mit ängstlichem Gesicht.

»Ha, ha!«, kam es aus der Klasse. »Deine Tasche klaut keiner. Bessere liegen in der Aschenkuhle haufenweise rum.«

»Ob ich sie mal holen dürfte, Fräulein Görs?« Der Junge sprang aus der Klasse.

Vor dem Kartenraum stand die Mappe nicht. Sie lag auf dem kleinen Tisch im Heizungskeller.