Alles auf Hochzeit - Hanna Donath - E-Book

Alles auf Hochzeit E-Book

Hanna Donath

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Beschreibung

Bea ist eigentlich nicht der Typ zum Heiraten. Seit Thorsten ihr vor drei Jahren das Herz gebrochen hatte, vergnügte sie sich mit Männern stets nur so lange, bis es zu ernst wurde. Aber jetzt ist es ausgerechnet sie, die nach nur wenigen Monaten beschlossen hat, den Bund fürs Leben zu schließen. Gleich zwei Männer konnten sie davon überzeugen, ihre Bedenken über Bord zu werfen. Das Problem war nur, dass sie sich irgendwann für einen der beiden entscheiden musste. Nun ist alles geplant, die große jüdische Hochzeit soll in einem alten Schloss im Schwarzwald stattfinden. Doch dann taucht Thorsten am Vorabend überraschend auf und bringt Bea aus dem Konzept. Hat sie sich für den Richtigen entschieden? Ist sie wirklich jetzt schon bereit, diesen Schritt zu gehen? An Beas Seite steht die hochschwangere Charlotte, ihre beste Freundin und Trauzeugin, die in Hanna Donaths erstem Roman Wem die Nacht gehört durch die Freiburger Clubs und Kneipen zog, um den Vater ihres Kindes zu finden. Als wandelnde Hormonbombe kommt sie nun ebenfalls ins Grübeln: Kann sie die Verantwortung für ihr Kind wirklich alleine tragen? Und was ist mit ihrem besten Freund Paul? Wo kommen auf einmal diese Gefühle für ihn her, die mit Freundschaft wenig zu tun haben? Auch die anderen Beziehungen im Schloss stehen auf der Kippe: Bei Tim und Steffi ist nach zehn Jahren die Luft im Bett raus – und Beas drei Schwestern haben alle mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen … Alles auf Hochzeit ist eine romantische jüdische Beziehungskomödie mit allem, was dazugehört: Liebe, Freundschaft, Sex und der Frage, wie viel Alltag eine Beziehung verträgt. Ist das Happy End wirklich eine ausgemachte Sache? Wie Bea sich entscheiden wird, bleibt bis zum Schluss spannend. Ein rasant erzählter Roman voller witziger und lebensnaher Charaktere.

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Seitenzahl: 302

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Hanna Donath

Alles auf Hochzeit

Roman

Für Josef und Axel, die das nicht mehr lesen können

1. KAPITEL

Nur noch wenige Minuten

Auf den Steinstufen

»Fuck!« Auch wenn man glaubt, alle Tränen, die das Leben bietet, schon verbraucht zu haben, die Biester kommen immer wieder nach. Schwer atmend sinkt Bea zu Boden, ihre Beine sind so schwer geworden, dass sie die Last des Körpers nicht mehr tragen können.

Bea vergräbt das Gesicht in ihren Händen und versucht, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen, um nicht ohnmächtig zu werden. Nicht heute, an dem Tag, der der schönste ihres Lebens hätte sein sollen. Nicht hier, auf den Treppen zum Schloss. Nicht jetzt, eine halbe Stunde vor der Trauung. Ihrer Trauung. Das Kleid nimmt ihr den Platz zum Atmen, ihr Herz hüpft so heftig, dass es das Korsett unter ihrem Brautkleid zu sprengen droht. Ihr Kopf juckt, der Schleier zerrt an ihren Haaren und Nerven. In einer letzten Verzweiflungstat reißt sie ihn vom Kopf und fühlt sich augenblicklich wie von einer großen Last befreit.

Zusammengesunken sitzt die weinende Braut in einem Traum von Kleid auf den schweren Steinstufen, die vom großen Saal hinunter in den Schlossgarten führen, knüllt den Schleier, den schon ihre Oma, ihre Mutter und ihre große Schwester getragen haben, zwischen den Fingern zusammen und schluchzt in ihn hinein wie in ein billiges Taschentuch.

»Scheiße, verdammte Scheiße, ich kann das nicht.«

Ihr wird übel. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Heiraten ist nun wirklich nicht ihr Ding.

Langsam wird ihre Atmung gleichmäßiger, aber ihr Kopf fühlt sich immer noch so an, als würde ihr Gehirn versuchen, durch die Schädeldecke zu brechen. Unregelmäßig und von ungewohnter Heftigkeit geschüttelt, hebt und senkt sich ihre Brust, der Schleier ist nun vollends zwischen ihren Händen zerknüllt und tropfnass von Tränen und Verzweiflung.

Es ist 17 Uhr an einem warmen Oktobertag.

Die Sonne verschwindet langsam vom Himmel, die Dämmerung legt sich über die Täler und Berge des Schwarzwaldes und das alte Schloss ist nun der einzige beleuchtete Punkt im Umkreis von Kilometern. Im Garten tanzen die bunten Lichter der unzähligen Lampions, drinnen leuchten Kerzen auf den Tischen und ehrwürdige Kronleuchter an den Decken. Auf der Wiese am Fuße der Treppe ist goldglänzend der Baldachin aufgebaut, die Chuppa für die jüdische Zeremonie, unter der die Trauung bei Anbruch der Dunkelheit stattfinden soll. Leise ist die Hochzeitsgesellschaft im Hintergrund zu hören. Und auf der obersten Stufe der großen Treppe sitzt die Braut, in Tränen aufgelöst, und heult in ihren Schleier.

Ein Unbeteiligter mag dieses Bild vielleicht als wunderschön empfinden: Beas blonde Haare legen sich wie ein Schutzfilm um ihren Kopf und glänzen so hell, dass man sie trotz der einsetzenden Dunkelheit noch im Inneren des Schlosses leuchten sehen kann. Ihre blauen Augen funkeln vor Tränen und dieses sündhaft teure Kleid ist ihr buchstäblich auf den Leib geschneidert worden. Es ist so perfekt weiß, dass es scheint, als würden das windige, nasskalte Wetter es niemals beschmutzen oder der Zahn der Zeit je an ihm nagen können. Beas Füße stecken in weißen Heels mit roter Sohle, sie trägt zarte Perlen am Hals und an den Handgelenken. Die cremefarbene Blume in ihrem Haar ist durch die Gewalt, mit der Bea den Schleier vom Kopf gerissen hat, zwar verrutscht, aber immer noch dekorativ platziert. Außerdem wird eine Frau wie Bea selbst beim Weinen nicht unansehnlich.

Das Hinterhältige am Heulen ist ja gemeinhin, dass es dir scheiße geht, weswegen du ja weinst – und dann siehst du auch noch scheiße aus, weil du weinst. Beas Gesicht ist so ebenmäßig, ihre Augenbrauen und Wimpern sind trotz des hellen Naturblondtons ihrer Haare überraschend dicht und dunkel, und selbst die kleine Narbe direkt neben ihrem linken Auge tut ihrer Schönheit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Sie macht dieses perfekt modellierte Gesicht noch interessanter. Und jetzt sitzt diese wunderschöne Frau in diesem wunderschönen Kleid vor dem wunderschönen Schloss und weint sich die Augen aus dem Kopf.

»Ich kann das nicht«, schluchzt sie immer wieder. »Ich. Kann. Das. Nicht.«

Aus weiter Ferne hört sie jemanden ihren Namen rufen: »Bea? Bea?«

Bea hält still, streicht den Schleier glatt und sagt, bestimmter als all die Male zuvor – jeder Zweifel ist aus ihren Worten verschwunden, jede Unsicherheit aus ihrer Stimme: »Verdammte Scheiße. Ich kann das nicht!«

2. KAPITEL

Am Tag davor: 17 Uhr – noch 24 Stunden

Im Schloss

»Beatrix Rebekka Goldmann!« Bea fährt herum. Doch hinter ihr steht nicht wie erwartet ihre Mutter, sondern ihre kleine Schwester Sarah und strahlt sie an.

»Kleines, da bist du ja endlich!« Bea fliegt ihrer Schwester in die Arme. Sarah hat ihre Sachen noch nicht abgelegt und Mühe, sich ob der schwesterlichen Begrüßung auf den Beinen zu halten. Von ihrer rechten Schulter baumelt ein schwarzer Ledersack, am linken Arm hängt eine grüne Louis-Vuitton-Handtasche und in den Händen balanciert sie eine Kiste Muffins.

Bea küsst Sarah und bugsiert sie gleich darauf Richtung Treppenaufgang. »Auf, mach dich fertig, der Junggesellinnenabschied hat schon begonnen.«

»Wohoo, nicht so schnell. Bea, das ist ja traumhaft schön hier.«

Staunend bleibt sie im Eingangsbereich stehen. Das alte Jagdschloss hat bislang jedem der Gäste kurzzeitig den Atem verschlagen. Ein riesengroßer Eingangsbereich öffnet sich in einen herrschaftlichen, holzgetäfelten Saal. Von der Decke baumelt ein Kronleuchter mit den Ausmaßen eines Kleinwagens und an den Wänden hängen goldgerahmte Gemälde und unzählige Spiegel. In den Ecken stehen schwere Ritterrüstungen und riesige Samtvorhänge verdecken einen Teil der bodentiefen Fenster.

»Wo sind denn alle?«, fragt Sarah und schaut sich suchend in den leeren riesengroßen Räumen um.

»Die Jungs sind im Westflügel«, antwortet Bea und deutet nach links. »Die Mädels draußen im Garten. Charlotte wird dir gleich alles zeigen.«

Und da bin ich auch schon und begrüße Sarah, die ich zuletzt vor fünf Jahren gesehen habe. Und wie schon damals angenommen, ist Beas jüngste Schwester zu einer ebensolchen Schönheit herangereift wie Bea selbst. Sie ist jetzt 25 Jahre alt und trägt ihr Haar wie Bea lang, glatt und seidig. Im Gegensatz zu Beas Pracht sind Sarahs Haare aber nicht so hellblond wie die Sonne, sondern tiefrot wie das Fell eines Fuchses. Außerdem hat Sarah die interessantesten Augen, die ich jemals gesehen habe: Eines ist durchdringend blau und leuchtend wie Beas Augen, das andere jedoch ist dunkelbraun, fast schwarz, was ihrem Blick etwas Tiefgründiges, Mystisches verleiht. Sie trägt enge Jeans und einen weiten grünen Pullover, der vor dem Hosenbund aufhört und einen Blick auf ihren verführerischen flachen Bauch freigibt. Dazu gehören wie bei ihrer Schwester die obligatorischen Heels, bei deren bloßem Anblick ich Höhenangst bekomme.

»Oh mein Gott, Lotta!«, stößt Sarah aus. »Wow. Das ist ja … Mensch, bist du … rund!«

Ich nicke.

»Du siehst fantastisch aus«, schiebt sie schnell hinterher. »Darf ich mal anfassen?«

»Klar«, sage ich und strecke ihr meinem Bauch entgegen, obwohl es da nicht viel zu strecken gibt. Er hüpft ohnehin jedem, dem ich näher als fünfzig Meter komme, in seiner vollen Pracht entgegen. Ich trage ein enges schwarzes Kleid und eine schwarze Baumwolljacke, die ich mit einer pastellfarbenen rosa Seidenkrawatte, die ich wie einen Gürtel unter den Brüsten zusammengeknotet habe, auf Form bringen konnte.

»Wow«, sagt Sarah noch einmal und betastet vorsichtig meinen Bauch. »Wann kommt es denn?«

»Errechneter Geburtstermin ist in zwei Wochen.«

»Wow. Steht dir super.«

»Musst erst ihren Arsch sehen, Kleines«, sagt Bea. »Lotta, dreh dich mal um.«

Ich drehe mich wie eine Ballerina auf einem Bein um meine eigene Achse – gut, eine besonders große, dicke Ballerina – und präsentiere meinen Hintern, von dem man unter der Strickjacke natürlich so gut wie gar nichts sieht.

»Beneidenswert«, seufzt Bea. »Hochschwanger, aber man sieht es nur am Bauch. Von hinten gehst du wie immer als sportlich-schlanke Frau durch. Noch nicht einmal im Gesicht hast du zugelegt.« Bea kneift mir freundschaftlich in die Wangen.

Ich winke lachend ab: »Ist ja gut. Heute geht es aber nicht um mich, sondern um dich, Schatz.«

Immerhin sind wir alle wegen Bea zusammengekommen. Meine gute, alte Freundin Bea heiratet. Es ist ein Wunder, sagt Paul. So schnell, sagt Steffi. Paul ist mein bester Freund und ein entschiedener Gegner der Ehe, um genauer zu sein: von jeder Art von Beziehung. Ihm ist es schon zu viel, eine Frau wiederzusehen, nachdem er mit ihr geschlafen hat. Ein zweites Date mit derselben Frau hat in seinem Leben keinen Platz. Eine seiner Weisheiten geht ungefähr so: »Natürlich habe ich kein Problem mit Frauen, mit denen ich Sex hatte. Ich benehme mich wie ein Gentleman, wenn ich ihnen über den Weg laufe, und schaue ihnen in die Augen. Manchen von ihnen sogar zum allerersten Mal.« Eine Ehe hält er konsequenterweise für einen Pakt mit dem Teufel. Sich ein Leben lang an jemanden zu binden erscheint ihm nicht nur völlig veraltet, sondern vollkommen absurd. »Ich liebe Pizza. Ich könnte jeden Tag Pizza essen«, pflegt er zu sagen. »Aber wenn mir jemand sagen würde, ich müsste bis an mein Lebensende jeden Tag Pizza essen, würde ich nie wieder auch nur ein Stück anfassen.«

Steffi ist die Dritte in unserem Mädelsgespann. Sie glaubt im Gegensatz zu Paul fest an die Ehe und an die Liebe. Sie selbst ist mit Tim verlobt, den sie bereits im ersten Semester kennengelernt und bis heute nicht losgelassen hat, obwohl das schon fast zehn Jahre her ist. Allerdings heiratet Bea, die Umtriebige, jetzt sogar noch vor ihr – und das überrascht und erschreckt Steffi gleichermaßen, auch wenn sie sich das nie anmerken lassen würde. Das Letzte, was Steffi will, ist, böses Blut zu provozieren. Sie ist eine typische Waage: Sie fühlt sich nur dann wohl, wenn es allen anderen um sie herum ebenfalls gut geht.

Aber auch ich bin überrascht, dass Bea den Bund fürs Leben eingehen möchte. Sie kennt den Typen kaum, finde ich. Aber immer, wenn ich zu lange darüber nachdenke, fange ich an zu heulen, weil ich schwanger und Single bin und gar nicht weiß, was der Bund fürs Leben überhaupt sein soll. Deshalb denke ich lieber nicht so viel darüber nach und unterstütze meine Freundin als kugelrunde, hormongesteuerte Trauzeugin einfach, so gut es geht.

»Los, Sarah, ich zeige dir dein Zimmer und dann erkläre ich dir mal, wie das hier ablaufen wird«, rufe ich und schnappe mir Sarahs Tasche.

»Bist du verrückt?« Sarah nimmt mir die Tasche sofort aus den Händen. »Du solltest nichts Schweres tragen, das mache ich.«

Gemeinsam stiefeln wir die hintere Treppe nach oben in den ersten Stock und ich steuere eines der vielen Gästezimmer an.

Dieses Schloss ist ein verwunschener Ort: Hinter jeder Ecke geht es noch weiter, überall eröffnet sich wie aus dem Nichts ein weiterer Raum, und wer einmal drinnen ist, kann sich gar nicht vorstellen, dass auch außerhalb dieser Gemäuer so etwas wie eine Welt existiert. Hier gibt es alles, was man für eine Hochzeitsgesellschaft braucht: einen riesigen Speisesaal, einen Tanzraum, der eher ein Ballpalast ist, ein Gemeinschaftszimmer, eine riesige Gastroküche und eine kleinere, in die auch die Gäste Zutritt haben, einen großzügigen Garten, eine ausladende, steinerne Terrasse, die sich über die gesamte Breite des Anwesens erstreckt, und 28 Gästezimmer mit je zwei bis sechs Betten. Das braucht’s aber auch: Es werden etwa hundert Gäste erwartet, alleine Beas Familie nimmt schon zehn der Zimmer in Beschlag: drei Schwestern, teilweise mit eigener Familie, die Brauteltern, dazu noch Cousins, Tanten und Onkel, die aus Israel angereist sind.

Ich zeige Sarah unser Zimmer. Wir werden es heute und morgen Nacht teilen. »Kein Problem«, entgegnete ich Bea, als sie mich danach fragte. »Es werden ja nicht allzu viele Singles da sein und da kann doch die Fast-Mutti mit der Schwester der Braut in einem Raum schlafen.«

»Sind die anderen schon da?«, fragt Sarah.

»Ja, du bist die Letzte«, antworte ich. »Bis auf ein paar, die ohnehin erst zur Trauung anreisen, und den Rabbi, der erst gegen morgen Nachmittag erwartet wird, sind alle Gäste für heute Abend schon eingetroffen.« Ich mache eine Pause, setze mich aufs Bett und schaue Sarah an. »So. Der Plan sieht wie folgt aus: Die Mädels feiern den Junggesellinnenabschied draußen im Garten, es wird gegrillt, es gibt Champagner, Cocktails und Wein. Und Cola, Wasser und so«, sage ich mit einem Blick auf meinen Bauch. Was würde ich darum geben, mit meiner besten Freundin und einem Glas prickelndem Champagner anzustoßen. Aber mein Frauenarzt war eindeutig. Der kleine, kauzige Mann verfolgt eine strikte Jeder-Tropfen-ist-einer-zu-viel-Politik und ich halte mich daran. »Und die Männer feiern drüben im Billardzimmer. Um Mitternacht gibt es eine große Reunion im Ballsaal mit DJ, Tanz und Co. Das wird bestimmt toll.« Ich versuche, selbst daran zu glauben.

»Klingt schon mal gut.« Sarah streift ihre Heels von den Füßen. »Wie ist denn der Dresscode für heute? Du siehst ja schon mal schick aus.«

»Zieh an, was du willst. Wir sind da nicht so, das weißt du doch.«

Sarah entscheidet sich nach kurzem Überlegen für ein kamelfarbenes Kleid mit tiefem Ausschnitt, das verdächtig nach hundert Prozent Kaschmir aussieht, und hohe braune Stiefel. Um den Hals trägt sie eine dünne goldene Kette mit einem Davidstern. Die langen roten Haare bindet sie zu einem strengen Zopf und sieht schlagartig zwei Jahre älter aus, was ihr aber durchaus gut steht. Sie schaut mich lange an, ohne ein Wort zu sagen.

»Was ist?«, frage ich.

»Ich möchte dich etwas fragen.« Sie stockt.

»Ja?«, frage ich und lächle sie aufmunternd an. Ich weiß sowieso, dass es um mein Baby geht.

Sarah gibt sich einen Ruck. »Bea sagt, du willst das Kind alleine großziehen?« Sie steht vor dem Spiegel und wirft mir nur einen kurzen schüchternen Blick zu.

»Ja, das ist der Plan.«

»Was ist denn mit dem Vater?«

Ein schwieriges Thema, ich variiere meine Antwort auf diese unvermeidliche Frage meistens zwischen »Arschloch«, »Mistkerl« und »verdammtes Arschloch«. Felix und ich hatten nur eine Nacht, aus der diese Schwangerschaft hervorging. Als ich ihm dann davon erzählte, ist er mir gegenüber so beleidigend geworden, dass ich beschloss, diesen Mann niemals wiederzusehen. Lieber gar kein Vater als einen, der sein Kind verleugnet, sagte ich mir und beendete dieses Kapitel innerlich. Er hat sich nie wieder bei mir gemeldet und ich komme sehr gut alleine klar. Schließlich habe ich meine Freunde: Steffi freut sich wie eine Wahnsinnige auf das Kind, selbst Bea will unbedingt Babysitter werden und hat sogar Bücher wie Das erste Jahr, Eine Schwangerschaft ändert alles und Mein Baby und ich gekauft und gelesen. Und auch Paul hat versprochen, mich in jeder Hinsicht zu unterstützen. Über Paul kann man sagen, was man will, aber was er verspricht, das hält er auch. Er ist seit elf Jahren eine Säule in meinem Leben und nie würde ich auf die Idee kommen, dass irgendetwas diese Freundschaft erschüttern könnte.

»Schwierig«, sage ich jetzt. »Ich mache das alleine. Aber das geht schon.«

Mein Telefon klingelt. Paul ist dran: »Was würdest du tun – selbst unerträgliche Schmerzen erleiden, von denen du weißt, dass sie bald vorübergehen, oder deiner großen Liebe dabei zusehen, wie sie unerträgliche Schmerzen erleidet, ohne ihr helfen zu können?«, sagt er, ohne Zeit für eine Begrüßung zu verschwenden.

»Hmmm, tricky«, gebe ich zurück. »Ich denke, ich würde selbst die Schmerzen nehmen. Ich könnte nicht dabei zusehen, wie jemand leidet, den ich liebe, ohne ihm helfen zu können. Und du?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nur, ich halte Schmerzen schlecht aus. Bis später.«

»Ciao.« Ich lege auf und sehe, wie mich Sarah irritiert anstarrt: »Was war das denn?«

»Ach, ein Spiel, das Paul und ich spielen. Es geht um große Entscheidungen im Leben.«

»Ach so«, sagt Sarah, zuckt mit den Schultern und überprüft ihren Lidstrich im Spiegel. »Ist er immer noch so bekloppt?«

»Was meinst du?«

»Nun ja, zum Beispiel sein Problem mit dem Wörtchen ›wir‹.«

Paul verwendet das Wort »wir« nicht, es gibt auch kein »uns«, es gibt nur ein »ich« und »du«. Selbst wenn er von seiner Familie spricht, sagt er »sie«.

Ich lache. »Ja, das geht ihm immer noch nicht über die Lippen.« Ich denke daran, dass er es nur ein einziges Mal geschafft hat, »wir« zu sagen, und damit uns beide meinte. Ich hatte fast Tränen in den Augen vor Rührung.

»Sag mal, was wird es denn eigentlich?«, fragt Sarah und deutet auf meinen Bauch.

»Ein Junge. Das, was der Welt gefehlt hat: noch ein Kerl.« Ich verziehe den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Und du? Was macht die Liebe, Sarah?«

»Nichts«, grinst sie ihrem Spiegelbild zu. »Ich lege mich noch nicht fest. Am Ende stehe ich sonst da wie Leah.«

Leah ist die älteste der vier Goldmann-Schwestern und die traditionellste. Sie ist 34 Jahre alt und seit zehn Jahren mit Ari verheiratet. Ari ist orthodoxer Jude aus sehr religiösem Haus. Natürlich hat er eine Jüdin heiraten müssen und so kam ihm die hübsche Leah gerade recht. Die beiden lernten sich im Kibbuz in Israel kennen, und sie zog ihm zuliebe nach Frankfurt. Sie haben vier Kinder – oder sind es drei? – und erziehen sie in gutem Glauben. Ich selbst weiß nur so viel über das Judentum, wie viel man halt weiß, wenn die beste Freundin Jüdin ist, aber Bea lebt definitiv nicht so wie Leah. Am Schabbat bleiben bei Leah und Ari im Haus alle Lichter aus, sie nehmen samstags kein Geld in die Hand und haben ihrem ältesten Sohn erst die Haare geschnitten, als er drei Jahre alt war. Leah trägt in der Öffentlichkeit stets Perücke. Hauptsache, man sieht ihre Haare nicht. Sie essen koscher, das heißt, sie trennen zum Beispiel milchige und fleischige Speisen. Paul ist immer entsetzt, wenn er daran denkt, dass es dann niemals Salamipizza geben kann. Sie haben zwei komplette Geschirr- und Kochsets, zwei Spülen und zwei Garnituren Besteck. Jeweils ein Set für Milchiges und eines für Fleischiges.

Bea, Sarah und die drittjüngste Schwester, Deborah, sehen das Religiöse ganz anders. Gut, Schweinefleisch isst auch Bea nicht. Und an Pessach, dem Fest zum Gedenken des Auszugs der Juden aus Ägypten, isst sie sogar acht Tage lang nur Mazzes, also ungesäuertes Brot, und weder Nudeln noch Waffeln oder Ähnliches. Und an Jom Kippur isst sie 25 Stunden lang gar nichts. Aber das war’s auch schon.

»Der größte Unterschied zwischen uns Juden und den Christen ist, dass wir keine Christen sind«, sagt Bea immer. »Wie verwundert immer alle sind, dass wir kein Weihnachten feiern zum Beispiel. Das sei doch so ein schönes Fest, sagen sie. Ja, das ist es. Aber es hat für uns keine Bedeutung. Es geht vielen nicht in den Kopf, dass Heiligabend für uns nun mal ein Tag ist wie jeder andere auch.«

Beas Eltern, Raquel und Abraham Goldmann, sind wie Aris Leute deutsche Juden, deren Eltern die Verfolgung überlebt haben, und einige der wenigen, die im Land blieben. Sie haben ihre Kinder nie gezwungen, religiös zu leben, ihnen aber dennoch die Riten und Bräuche ihrer Religion vermittelt. »Wir sind so wenige«, sagt Raquel immer mit ihrer markanten Stimme, die stets eine Mischung aus »Jewish drama« und echter Sorge ist. »Da müssen wir versuchen, unseren Glauben weiterzugeben, sonst sterben wir bald aus.«

Vier Töchter sind ein Segen für Raquel und Abraham: Das Kind einer Jüdin ist immer Jude. Welche Religion der Vater hat, spielt dabei keine Rolle. Dennoch gefällt es ihnen natürlich, dass sich nach Leah nun auch Bea für einen jüdischen Bräutigam entschieden hat.

Umgekehrt sieht die Sache aber viel komplizierter aus: Wenn deine Mutter keine Jüdin ist, ist es egal, wer dein Vater ist – du bist dann nicht jüdisch von Geburt an. Das ist der Grund, warum Ari niemals eine Nichtjüdin zur Frau hätte nehmen können. Seine Mutter gehört zu denjenigen, die immer sagen: »Erst wenn deine Enkel auch Juden sind, hast du alles richtig gemacht.«

Leahs religiöser Eifer hat erst in ihrer Ehe seine volle Entfaltung gefunden. Ich kann verstehen, warum Sarah nicht so werden will wie ihre Schwester.

3. KAPITEL

18 Uhr – noch 23 Stunden

Im Garten

Nachdem Sarah noch schnell das Wichtigste – Lippenstift, Handy, Zigaretten – in ihre kleine Tasche gepackt hat, machen wir uns auf den Weg zu den anderen.

Draußen feiern etwa dreißig Mädels. Der Garten ist hell erleuchtet, im Gras stehen große Feuerfackeln und die bunten Lampions baumeln von den Bäumen. Es ist noch angenehm warm und das Essen duftet verführerisch.

Bea steht neben dem Grill und verteilt Würstchen. Sie trägt eine lustige Schürze im Stil eines Brautkleides und hat ein Krönchen auf dem Kopf, dessen Zacken nicht nach oben herausragen, sondern perfekt in ihr Haar gleiten. Neben ihr steht Steffi und verteilt pinkfarbene Pappteller.

»Lotta! Da bist du ja.«

»Steffi, Süße. Alles klar hier?«

»Sicher, wir müssen gleich noch mal kurz reden wegen der Spiele.«

Oje, die Spiele, die hatte ich erfolgreich verdrängt. Ich bin zwar die Trauzeugin, aber Steffi hat als Brautjungfer die Organisation des Abends in die Hand genommen. Ein paar der Mädels haben etwas vorbereitet.

»Spiele? Hell no!« Diese rauchige Stimme erkenne ich sofort. Es ist Deborah, Beas zweitjüngste Schwester. Sie ist drei Jahre jünger als Bea, aber älter als Sarah, und vor ein paar Wochen 28 Jahre alt geworden. Sie verzieht ihr Gesicht zu einer schiefen Grimasse und lässt eine perfekt gezupfte Augenbraue kurz hochschnellen, wobei sie nur für einen Augenblick von ihrem iPhone aufschaut. Im Mundwinkel hat sie lässig eine Zigarette hängen, sie trägt schwere schwarze Boots, eine enge schwarze Jeans im Used-Look, ein graues T-Shirt und eine rote Lederjacke. Sie hat ein Piercing in der Augenbraue, eines in der Lippe und ein riesengroßes Tattoo, das sich von ihrer Hüfte seitlich über den ganzen Körper schlängelt und am Hals herausblitzt. Bea sagt, Juden dürfen sich nicht tätowieren lassen, zumindest dann nicht, wenn sie auf einem jüdischen Friedhof beerdigt werden möchten. Aber das ist Deborah reichlich egal.

Ich mag Beas kleine Schwester seit dem Tag, an dem ich sie kennenlernte, und begrüße sie freudig: »Debbie, hallo, wie geht es dir?«

»Mensch, Lotta, du Wuchtbrumme, hab dich gar nicht erkannt. Warte mal kurz, muss nur schnell noch den Tweet abschicken«, sagt sie und tippt auf ihrem iPhone herum. Schließlich schnippt sie ihre Kippe weg und nimmt mich in den Arm.

»Klasse siehst du aus, Röhre. Der Bauch steht dir.«

»Danke, Debbie. Wo ist denn Melanie?«

Statt einer Antwort höre ich nur ein »Pfff«.

»Sie haben sich getrennt«, flüstert Sarah neben mir und gibt ihrer Schwester zur Begrüßung einen Kuss.

»Hallo, Nesthäkchen«, gibt Deborah zurück. »Brauchst gar nicht zu flüstern, weiß eh jeder, dass ich ohne Melanie hier bin.«

Erstaunlich! Deborah und Melanie waren fast fünf Jahre lang ein Paar. Ich war immer überrascht, wie die toughe Deborah an Melanies Seite zu einer liebevollen und zärtlichen Person wurde. Deborah ist wie ein auf links gedrehter Pfirsich: butterweicher Kern, steinharte Schale. Wer meint, bereits Bea habe mit ihrem Übermaß an »verdammte Kacke, verflixter Dreck, scheiß doch die Wand an« die Ausdrucksweise eines betrunkenen Bauarbeiters, hat ihre kleine Schwester noch nicht kennengelernt.

Deborahs Outing vor zwölf Jahren hat die Familie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Aber die Tage und Monate vergingen, und als sich Raquel mit der sexuellen Vorliebe ihrer Tochter abgefunden hatte und sogar damit anfing, sie auf besonders hübsche Mädchen in der Synagoge hinzuweisen, konnte auch Abraham nicht anders, als seine Tochter so zu akzeptieren, wie sie ist. Spätestens, als Melanie in ihr Leben trat, waren alle zufrieden. Melanie ist ein zuckersüßes Mädchen. Sie ist Ärztetochter, gut erzogen und sieht mit ihren großen Augen, vielen Sommersprossen und kurzen, engelsgleichen braunen Locken so brav aus, dass ich anfangs erstaunt war, was ausgerechnet die wilde Deborah an ihr findet. Deborah ist wie alle ihre Schwestern eine Naturschönheit, was sie aber gut zu verbergen weiß. Das dunkle Augen-Make-up, die jederzeit akkurat knallrot geschminkten Lippen, die vielen Piercings und das Tattoo sorgen dafür, dass man erst auf den zweiten Blick ihre perfekten, dunkel gewellten Haare, die gleichmäßigen Gesichtszüge und die hellblauen Augen bemerkt.

»Ich mach mal ein Bild, das muss ich twitpicen«, sagt sie jetzt und hält ihr iPhone in Richtung Grill.

»Twit, was?«, fragt Sarah.

»Twitpicen«, erkläre ich. »Sie meint, sie postet ein Foto bei Twitter.«

»Was ist jetzt mit den Spielen?«, will Sarah wissen.

»Ich rede mal mit Steffi«, gebe ich zurück und ziehe meine Freundin vom Grill und damit von Bea weg.

»Also? Wie geht’s weiter?«

»Pass auf«, sagt Steffi und wischt sich die Hände an ihren Hosenbeinen ab. Sie pustet sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn und wuschelt durch ihre kurzen Haare. Sie trägt eine enge graue Hose und eine türkisfarbene Bluse mit Schluppe. Ich bemerke, dass die Schleife nicht richtig sitzt, außerdem sind die Knöpfe schief geknöpft. Ich blicke meiner Freundin ins Gesicht. Unter ihrem rechten Auge krümelt die Mascara und ihre Haare stehen am Hinterkopf verdächtig ab. Ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken.

»Diejenigen, die anfangen, wollen … Lotta, was ist los?« Steffi schaut mich irritiert an.

»Ach, nichts«, sage ich und lächele noch breiter.

»Sag schon!« Steffi zieht ihre Hose am Bund zurecht.

»Du scheinst ziemlich durch den Wind zu sein. Wo ist denn Tim?«

»Wo wohl? Drüben bei den anderen Männern im Billardzimmer. Wieso?«

»Du siehst aus, als seist du geradewegs aus dem Bett gestiegen.«

»Oh Mist, sieht man das?« Nervös nestelt sie an ihrer Bluse und versucht, ihre Haare zu glätten. Da aber kein einziges länger als ein Streichholz ist, wippen sie frech wieder in die Position zurück, die ihnen gefällt.

»Aber hallo«, bestätige ich immer noch lächelnd.

»Nun denn, das hat jetzt aber hiermit nichts zu tun«, sagt Steffi unwirsch. Bilde ich mir das ein, oder funkeln ihre Augen böse?

»Erzähl, was ist los?«

»Nichts! Wirklich, Lotta. Wir müssen jetzt mal den Abend planen, meine Probleme haben Zeit.« Sie senkt den Blick und mir entgeht die Sorgenfalte auf ihrer Stirn nicht.

»Probleme haben nie Zeit«, sage ich. »Das ist ja das Problem an Problemen. Komm schon, die fünf Minuten haben wir.«

Ich schnappe mir ein Glas Champagner und ein Wasser und wir setzen uns auf eine Holzbank etwas abseits vom Trubel. Mehr als zwei Dutzend Mädels sind im Garten verteilt, entsprechend hoch ist der Lärmpegel. Obwohl sich der Oktober langsam seinem Ende zuneigt, haben wir einen schönen Tag erwischt. Es sind locker noch rund 15 Grad, und den ganzen Tag hat die Sonne geschienen. Trotzdem fröstelt es mich, als Steffi zu erzählen beginnt.

»Tim und ich«, beginnt sie zögernd und nippt am Champagner. »Du weißt ja, wir sind schon ewig zusammen.«

»Klar, zehn Jahre fast.«

»Eben. Und es wird nicht immer leichter. Weißt du, was ich meine?«

»Um ehrlich zu sein: nein.« Ich runzele die Stirn. Was zum Teufel will sie mir sagen?

»Also, ich erzähle es jetzt einfach«, sagt Steffi und leert ihr Glas in einem Zug. »Seit Monaten haben wir Probleme im Bett. Also, um genauer zu sein, er hat die Probleme. Er kriegt ihn nicht hoch. Gar nicht mehr. Wir hatten seit 13 Wochen keinen Sex.« Sie schaut mich abwartend an. Ich sage erst mal nichts. »Er sagt, es liegt nicht an mir, er liebt mich immer noch, und er weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Und mittlerweile ist es so, dass dieser schlaffe Schwanz uns ständig begleitet, tagein und tagaus. Er ist in unseren Gedanken, wenn wir ins Bett gehen, er ist da, wenn wir morgens aufwachen. Er schaut mich vorwurfsvoll an, wenn wir duschen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll.« Sie dreht das leere Glas zwischen ihren Fingern und starrt auf den Boden. »Tim will nicht darüber sprechen. Er will auch keine professionelle Hilfe. Wenn er sich abends an mich rankuschelt, vergehe ich fast vor Lust, während er friedlich vor sich hin schnarcht. Er sagt, das wird schon. Aber ich glaube, das wird nicht. Und ich platze bald. Ich bitte dich: 13 Wochen! So keusch war ich zum letzten Mal vor meiner Pubertät.«

Steffi atmet hörbar aus und noch tiefer wieder ein. Das leere Glas baumelt verloren zwischen ihren Fingern. »Und wir probieren es immer wieder. Manchmal regt sich ein bisschen was und ich schöpfe Hoffnung, doch ebenso schnell ist es auch schon wieder vorbei. Einen echten, richtigen Steifen hatte er seit Monaten nicht mehr und mittlerweile glaube ich, es ist ihm egal. Es scheint, als habe er sich damit abgefunden. Dabei ist das doch lächerlich. Man kann sich doch nicht einfach auf die andere Seite drehen und denken: Dann ist es eben so. Es ist eben nicht so, so darf es nicht sein. So ein blöder Mist!«

Ich habe ihr die ganze Zeit besorgt zugehört, will sie aber aussprechen lassen. Als sie nur noch einmal »Mist!« wiederholt, hole ich Luft: »Steffi, das tut mir echt leid«, sage ich. Steffi starrt immer noch auf das Gras zu ihren Füßen.

»Was meinst du, woran das liegen kann?«, fragt sie mich und sieht mich an wie ein Kleinkind seine Mutter, nachdem es die hundertste Warum-Frage gestellt hat. Ich bin in meinem Freundeskreis dafür bekannt, dass ich Theorien für Problemursachen präsentieren kann, und ich bemühe mich auch jetzt redlich, sinnvolle Lösungsvorschläge zu machen.

»Das ist in seinem Kopf, verstehst du?«, sage ich. Steffi hebt kurz den Blick. Ich fahre fort: »Ich nehme Folgendes an: Irgendetwas ist in seinem Kopf blockiert und jetzt hat er wahnsinnige Angst, dass es wieder passiert. Es kann schließlich mal vorkommen, dass man keinen hochkriegt. Beim nächsten Versuch hat man vielleicht noch das schlechte Gefühl vom letzten Mal im Kopf, und das macht es sicher nicht einfacher. Männer setzen sich selbst unter Druck, weil sie unbedingt funktionieren wollen. Und dass es dann nicht funktioniert, ist gar nicht so unlogisch. Und wenn sich so etwas über ein paar Wochen hinzieht …«

»Ein paar? 13! Drei-zehn!«

»Gut, über 13 Wochen hinzieht, wird es immer schwieriger. Ich glaube nicht, dass wir es mit einem körperlichen Problem zu tun haben. Tim ist schließlich jung und gesund und hatte sonst nie irgendwelche Potenzprobleme, oder?«

Steffi schaut mich an: »Nicht, dass ich wüsste. Aber woher kommen die jetzt auf einmal?«

»Na ja, nach zehn Jahren Beziehung kann so etwas schon mal passieren. Außerdem seid ihr seit fast einem Jahr dabei, eure Hochzeit zu planen, und jetzt ist euch auch noch Bea zuvorgekommen mit einem Mann, den sie eben erst kennengelernt hat. Vielleicht fühlt sich Tim davon bedroht oder unter Druck gesetzt. Immerhin hat er zehn Jahre gebraucht, um dir überhaupt einen Antrag zu machen.«

»Das kann alles schon sein«, sagt Steffi nachdenklich und dreht ihren Verlobungsring am Finger so heftig, dass sich die Haut darunter verfärbt. »Aber weißt du, was heute passiert ist?«

»Erzähl«, sage ich, erleichtert über den Gesichtsausdruck meiner Freundin, dem endlich wieder mehr Schelm als Sorge zu entnehmen ist.

»Nachdem wir hier im Schloss angekommen waren, haben wir unsere Tasche abgestellt und uns unser Zimmer angeschaut. Die Sonne fiel in den Raum und tauchte ihn in ein besonderes Licht. Das riesengroße Bett in der Mitte des Schlafzimmers, die alten Holzdielen, die hohen Räume, die Atmosphäre im Schloss haben mich einfach umgehauen. Für einen Moment waren alle Sorgen um Tims Standhaftigkeit vergessen. Ich rief: ›Hotelsex!‹ und sprang Tim in die Arme. Er packte mich fest um die Hüfte und wir fielen lachend ins Bett. Ich war schnell aus den Klamotten und knöpfte seine Hose auf. Erst da fielen mir wieder die Probleme der vergangenen Monate ein, als mich ein unmotivierter Penis anschaute. Mir war das aber egal. Hotelsex war für uns immer etwas Besonderes – keine Ahnung, ob das an der Ferienstimmung, an einem fremden Ort oder einem ungewohnten Bett liegt. Aber in Hotels hatten wir bislang immer fantastischen Sex. Ich tat also so, als sei nichts, und liebkoste sein bestes Stück nach allen Regeln der Kunst. Weißt du, nach zehn Jahren kennst du eigentlich die Knöpfe, die du drücken musst. Und wirklich regte sich endlich etwas. Ungeduldig zog ich ihn auf mich, nur leider nicht in mich. Es war Mist, es war wie der Versuch, nach vier Flaschen Wodka einen gescheiten Ständer hinzubekommen – unmöglich. Wir drehten uns in eine andere Position, aber es wurde nicht besser. Tim legte sogar selbst Hand an, aber es brachte einfach nichts. Wirklich deprimierend. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll: Mich auf sein Gesicht setzen?« Steffi schnaubt und streicht sich die Haare aus der Stirn.

»Vielleicht tut euch heute Wodka ganz gut«, sage ich. »Warte mal den Abend ab. Ihr seid beide feiern, dieses Mal aber jeder für sich, vielleicht hat sich dann die Stimmung genug aufgeheizt, damit ihr endlich mal wieder loslegen könnt. Ich drücke dir die Daumen.«

»Danke, Lotta«, sagt Steffi und seufzt.

»Das wird schon«, bestätige ich und hoffe es wirklich. Erst neulich habe ich in einem Frauenmagazin einen Artikel über dieses Thema gelesen. Im Text ging es um Männer, die einfach die Lust verlieren, um Männer, die nach vielen Jahren oder sogar schon nach wenigen Monaten nicht mehr mit ihrer Frau schlafen wollen. Keiner der Herren, die im Artikel zur Sprache kamen, konnte das Phänomen erklären, die meisten hatten weder eine andere Frau am Start noch sonstige Probleme, die den Potenzstreik erklären konnten. Die Lust ging einfach und kam nicht zurück. Bei manchen war sie überhaupt nie da gewesen. Es geht gegen jedes Klischee. Gemeinhin nimmt man an, Frauen würden Sex anders als Männer sehen, für sie sei es ein intimes Erlebnis, das immer etwas Besonderes ist. Für Männer hingegen, so sagt man, sei Sex nur selten echter Gefühlsaustausch. Aber die Zeiten ändern sich: Während die Frauen sich früher vor allzeit bereiten Männern kaum retten konnten, klagen sie heute über Typen, mit denen im Bett nichts los ist. Daher fand ich diesen Artikel so interessant. In den letzten Monaten habe ich mich immer wieder im Internet in diversen Mutti- und Schwangerenforen rumgetrieben. Der Libidoverlust ist dort ein großes Thema, wobei eher die Frauen daran leiden. Viele schreiben, sie hätten seit der Geburt ihres Kindes überhaupt kein Bedürfnis mehr nach Sex. Wenn dir ständig jemand an der Brust hängt, kann ich das sogar verstehen. Ein Rätsel sind mir daher die Frauen, die bestätigen, dass sie nur noch einmal im halben Jahr Sex haben und gleichzeitig verzweifelt darüber schreiben, dass sie nicht ein zweites Mal schwanger werden. Aber bei Tim und Steffi liegt die Sache natürlich ganz anders und ich hoffe, die beiden kommen da durch.

»Sex ist nun mal ein wichtiger Bestandteil einer Beziehung, eine Liebe ohne Sex ist nicht vorstellbar«, sagt Steffi gerade. Ich nicke. Wobei … »Wirklich nicht?«, frage ich.

»No way. Sex gehört dazu. Liebe, Freundschaft, Vertrauen, Loyalität – klar, auch das gehört zur Beziehung. Die Liebe, das Kuscheln, die Zärtlichkeit sind bei uns ja noch da. Sex ist durch nichts anderes zu ersetzen. Das Wir-Gefühl in einer Partnerschaft, dieses unerschütterliche Wissen, dass man zusammen durch dick und dünn geht, komme was wolle, basiert auf dem intimen Moment zweier Individuen – aufgebaut, geschürt und stabilisiert durch körperliche Nähe.« Manchmal merkt man deutlich, dass Steffi die Tochter einer Psychotherapeutin und eines Soziologen ist.

»Hast du mal mit deinen Eltern darüber gesprochen?«, frage ich. Steffis Eltern sind aufgeklärte Alt-68er, freizügig, offen und so tolerant, dass es fast wehtut. Sie finden es wahnsinnig altbacken, dass ihre Tochter vorhat zu heiraten, so wie sie es unerklärlich fanden, dass sich Tim und Steffi eine Einbauküche für ihre gemeinsame Wohnung gekauft haben. Eine Einbauküche – wie spießig! Über Themen wie Oralverkehr und Masturbation wird in ihrer Familie zwischen Frühstückstisch und Abwasch gesprochen.

»Mama hat mir zu Rollenspielen geraten«, bestätigt Steffi. »Sie meint, dadurch käme neues Feuer in eine alte Leidenschaft.«

»Und? Schon ausprobiert?«

»Noch nicht, das hebe ich mir als Notfallexperiment auf, wenn sonst gar nichts mehr geht. Lange wird das aber nicht mehr dauern, schätze ich.«

Steffi richtet den Kragen ihrer Bluse und steht auf. »So, Lotta, lass uns mal zurückgehen. Mal sehen, wie weit die anderen schon sind.« Sie schaut mich an. »Brauchst du Hilfe?«

»Quatsch«, sage ich und erhebe mich so selbstbewusst wie möglich. Seit ich fast so viele Kilos wie Paul auf die Waage bringe, sehe ich beim Aufstehen von alten Holzbänken zwar nicht mehr aus wie eine Kunstturnerin vor der Pubertät, aber immerhin noch nicht wie mein dicker Nachbar Herr Strichkowski, der mir, seit mein Bauch unübersehbar geworden ist, jedes Mal im Treppenhaus den eigenen Wanst entgegenstreckt und lachend verkündet: »Keine Angscht, bei mir isch des nur Flammkuchen und a wenig Schokolad’.«

4. KAPITEL

19 Uhr – noch 22 Stunden

Im Garten

Als wir zu den anderen stoßen, haben sich die Mädels mittlerweile um Bea versammelt, die eine Klobürste in der Hand hält und dämliche Fragen über Haushaltsführung beantworten muss.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und schaue Steffi vorwurfsvoll an.

»Sorry«, wispert sie. »Ich konnte peinliche Sprüche-T-Shirts und einen Tanga-Schnaps-Bauchladen verhindern, dieses Ehetauglichkeitsquiz konnte ich ihnen aber nicht ausreden.«