Alles für Allah - Nina Scholz - E-Book

Alles für Allah E-Book

Nina Scholz

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Beschreibung

Nina Scholz studierte Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und arbeitete u.a. am Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft in Wien. Heiko Heinisch studierte Geschichte und arbeitete am Institut für Islamische Studien der Universität Wien. 2017 war er Koautor des ÖIF-Forschungsberichts zur Rolle der Moscheen im Integrationsprozess. Beide forschten und publizierten zu den Themen Nationalsozialismus und Antisemitismus. Seit mehreren Jahren widmen sich die gefragten Experten integrationspolitischen Fragen sowie dem Themenkomplex Europa, Menschenrechte und Islam.

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Nina ScholzHeiko Heinisch

Wie der politische Islamunsere Gesellschaft verändert

INHALT

COVER

TITEL

AUFTAKT: EINE BESTANDSAUFNAHME

DIE ISLAMISTISCHE HERAUSFORDERUNG

POLITISCHER ISLAM: SEINE URSPRÜNGE UND SEIN SELBSTVERSTÄNDNIS

Ein Brief an den IS

WAS IST POLITISCHER ISLAM?

Islamische Unduldsamkeit

ISLAMISMUS – GESCHICHTE UND GEGENWART

DIE ISLAMISIERUNG DER ISLAMISCHEN WELT

DER WEG NACH WESTEUROPA

DER MARSCH DURCH DIE INSTITUTIONEN

ISLAMISTISCHE GRÜNDERZEIT IN EUROPA

Ein eigener Fatwa-Rat für Europa

Rein in gesellschaftspolitische Bewegungen

Rein in die Parteien

SOZIALES ENGAGEMENT ALS MITTEL DER BEEINFLUSSUNG

IDENTITÄTSPOLITISCHE DISKURSE

MUSLIMIFIZIERUNG – GEWOLLT UND UNGEWOLLT

„Hausmuslime“

OPFERDISKURSE

DIE IDEOLOGIE DER GEWALT

HAT DER TERROR MIT DEM ISLAM ZU TUN?

MUSLIME ALS OPFER ISLAMISCHER AGITATION

MIT ISLAMISTEN GEGEN DEN TERROR?

MEINUNGSFREIHEIT

GEWALT ALS MITTEL DER EINSCHÜCHTERUNG

„RELIGIÖSE GEFÜHLE“

KAMPFBEGRIFF ISLAMOPHOBIE

ANTISEMITISMUS

ANTISEMITISMUS IN DER ISLAMISCHEN WELT

Originär islamische Judenfeindschaft

„Schutzbefohlene“ – eine lange Geschichte

FEHLENDES GESCHICHTSBEWUSSTSEIN

MORAL- UND EHRVORSTELLUNGEN: GESCHLECHT ZÄHLT

MORALVORSTELLUNGEN IM GEPÄCK

DAS KOPFTUCH – AUSHÄNGESCHILD DES POLITISCHEN ISLAM

TRENNUNG DER GESCHLECHTER

PARALLELGESELLSCHAFTEN

PARALLELJUSTIZ

RAN AN DIE KINDER!

Ein islamistisches Lehrstück

Koranschulen

Religiöse Konflikte in der Schule

Erziehung zur Segregation

AUSSICHTEN UND EINSICHTEN

INTEGRATION STATT SEGREGATION

DIE FREIE GESELLSCHAFT VERTEIDIGEN

RELIGIONSFREIHEIT UND MENSCHENRECHTE GELTEN FÜR ALLE

ANMERKUNGEN

IMPRESSUM

AUFTAKT:EINEBESTANDSAUFNAHME

„Es gibt keinen Islam und Islamismus.

Es gibt nur einen Islam.

Wer etwas anderes sagt, beleidigt den Islam.“

Recep Tayyip Erdoğan, 2008

Wir haben ein Problem mit dem islamischen Mainstream. Dieses „Wir“ umfasst alle, die – unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit – in einer freien, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft leben wollen. In den vergangenen 40 Jahren ist innerhalb des Islam eine politische Bewegung herangewachsen, die, auf ältere islamische Konzepte zurückgreifend, im Islam ein ganzheitliches Programm sieht, das den einzelnen Menschen sowie Staat und Gesellschaft von Grund auf bestimmen soll. Diese Entwicklung, die der syrische Islamwissenschaftler Aziz Al-Azmeh als „Islamisierung des Islam“ bezeichnete, hat längst auch die muslimischen Communitys außerhalb der islamischen Welt erreicht. Das vorliegende Buch geht diesen Entwicklungen in Europa, insbesondere in Österreich und Deutschland, nach.

Eine wachsende konservative Bewegung innerhalb des Islam stellt die Werte der europäischen Aufklärung und die pluralistische Gesellschaft infrage, betrachtet sie als Zumutung, als Kränkung und als Angriff auf ihre Identität. Anhänger dieser Strömung wollen zwar in Europa leben, aber nicht als Teil der europäischen Gesellschaft, sondern als nach eigenen Regeln lebende Community.

Im Verbund mit islamistischen Organisationen, Islam-Lobbyisten und -Lobbyistinnen zwingen sie so westlichen Gesellschaften jenen Kulturkampf auf, der seit den 1970er-Jahren in der islamischen Welt tobt und diese in eine Krise geführt hat, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist. Sie erzwingen im Namen der Religionsfreiheit eine permanente Debatte über den Islam, über religiöse Anliegen und Forderungen, indem sie die Gesellschaft, in der sie leben, immer wieder mit den Regeln und Moralvorstellungen des Islam konfrontieren. Gleichzeitig versuchen sie, jede kritische Debatte über islamische Vorstellungen und die in Europa tätigen Islamverbände zu unterbinden und als rassistisch und „islamophob“ zu diskreditieren. Letztlich geht es ihnen darum, dem Islam eine exklusive Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen und für fundamentalistische Communitys Freiräume für ein Leben nach streng islamischen Regeln durchzusetzen. Einem polarisierenden Weltbild folgend, das die Welt in Muslime und „Ungläubige“ einteilt, ziehen sie eine klare Grenzlinie zwischen die Menschen.

Diese Debatten und Auseinandersetzungen sind für europäische Gesellschaften relativ neu, während sie die islamische Welt schon sehr lange beschäftigen. In nahezu allen islamischen Ländern hat eine puritanische islamische Strömung gesellschaftliche Hegemonie erlangt. Wir haben es letztlich mit einer globalen politischen Bewegung zu tun, die von diversen Organisationen und Staaten (vor allem Saudi-Arabien, Katar, Türkei und Iran) getragen wird, die sich oft genug gegenseitig bekämpfen, aber in ihren Utopien Übereinstimmungen aufweisen.

Im Kern laufen diese Utopien auf eine Gesellschaft hinaus, die sich islamischen – als göttlich imaginierten – Regeln unterwirft. Islamisten träumen von einer unter einem Kalifat geeinten idealen islamischen Weltgemeinschaft, von „der Herrschaft Gottes in der ganzen Welt“1, oder, weniger poetisch ausgedrückt, von der Weltherrschaft. Yusuf al-Qaradawi, der Chefideologe der Muslimbruderschaft und wohl einflussreichste Fernsehprediger der arabischsprachigen Welt, offenbarte bereits vor einem Jahrzehnt unverblümt, was in Europa lebende und wirkende Proponenten des politischen Islam antreibt: „Ich erwarte, dass der Islam Europa erobern wird, ohne zum Schwert oder zum Kampf greifen zu müssen – mittels Dawa [Missionierung, Anm.] und durch die Ideologie. Die Muslime müssen zu handeln beginnen, um diese Welt zu erobern.“2

Die Kraft islamistischer Überzeugungen wird von vielen unterschätzt, obwohl die Geschichte reich an Beispielen ideologischer Verblendung, dem Glauben an das vermeintlich „Richtige und Wahre“ und dem daraus resultierenden Eifer ist. Wir brauchen uns nur den Nationalsozialismus, die Beseeltheit seiner Anhänger, die Begeisterung unzähliger Frauen und Männer vor Augen halten, von denen sich allzu viele zu allem bereitfanden. Oder den Fanatismus der Kommunisten unter Stalin, die Verfolgung von Dissens und den Gulag für eine historische Notwendigkeit hielten. Sie alle waren überzeugt, das Richtige zu tun und für eine gerechte Sache zu kämpfen, die am Ende der ganzen Welt zum Heil gereichen sollte.3 Ihre Ideologen meinten, was sie sagten, und ihre Anhänger haben versucht, die Welt in diesem Sinne zu gestalten. Wir sollten davon ausgehen, dass auch die islamistischen Ideologen ernst meinen, was sie sagen, und dass ihre Anhänger ebenso beseelt sind von der Idee, das „gute und richtige Leben“ in die Welt zu tragen. Sie glauben, im Wortsinn, „Alles für Allah“ zu tun. Mit dem Islamismus ist eine neue totalitäre Ideologie in Europa angekommen, die in muslimischen Communitys wachsenden Zuspruch erhält, andererseits jedoch ihre vehementesten Gegnerinnen und Gegner unter denjenigen findet, die selbst oder deren Vorfahren aus islamischen Ländern stammen.

› Europa befindet sich in einer historisch neuen Situation.

Nach langem Ringen hatten westeuropäische Gesellschaften zu einem Konsens des religiösen Friedens gefunden. Dieser Konsens wird durch fundamentalistische Muslime infrage gestellt, die in ihrer Religion nicht alleine eine Anleitung zur persönlichen Lebensführung sehen, sondern ein Regelwerk aus Geboten und Verboten, die gesellschaftlich durchgesetzt werden und dem Islam eine privilegierte Stellung verschaffen sollen. Hinzu kommen extrem patriarchale, gewaltbegünstigende Traditionen innerhalb muslimischer Communitys, die, ob religiösen Ursprungs oder nicht, gegen die Menschenrechte verstoßen, Autoritarismus, der sich auch in Erziehungsmethoden niederschlägt, daraus resultierende Gewaltaffinität, Kompromisslosigkeit und tradierte Frauen verachtende Moral- und Ehrvorstellungen. Diese im heutigen Europa ungewohnte Erfahrung stößt keineswegs nur bei ressentimentbeladenen Teilen der Bevölkerung auf Befremden, Misstrauen und Angst vor religiöser Unduldsamkeit, Intoleranz und Gewalt. Vor ihrer Ausbreitung fürchten sich auch Angehörige anderer Einwanderergruppen und alle Muslime, die es schätzen, frei von Bevormundung durch Tradition oder Religion leben zu können.

Die Gesellschaft scheint in dieser Frage gespalten, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass das Erkennen von Veränderungen immer auch von der eigenen Lebensrealität abhängt: davon, in welchem Viertel man lebt, in welche Schule die Kinder gehen, welcher gesellschaftlichen Schicht man angehört – kurz gesagt, davon, inwieweit man von den Veränderungen, die der fundamentalistische Islam mit sich bringt, persönlich betroffen ist. So werden die Diskussionen mit Menschen aus Stadtvierteln, deren Kinder in „Problemschulen“ von religiösen Peergroups unter Druck gesetzt werden, anders verlaufen als solche mit Eltern, deren Kinder Privatschulen oder angesehene öffentliche Schulen besuchen und die solchen Konflikten bislang aus dem Weg gehen konnten.

„Tun wir nicht länger so, als stünde kein rosa Elefant im Raum. Er geht nicht weg, wenn wir ihn ignorieren“, schreibt die Schweizer Politikwissenschaftlerin Elham Manea am Ende ihres jüngsten Buches „Der alltägliche Islamismus“.4 Streng islamische Lebens- und Gesellschaftsvorstellungen beeinflussen seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmend unser Zusammenleben. Auf die Frage, wie wir als Gesellschaft auf religiös motivierte Forderungen reagieren, auf Moscheen und Koranschulen, in denen zur Segregation vom Rest der Bevölkerung aufgerufen wird, auf islamistische Organisationen und auf Hassprediger, haben Gesellschaft und Rechtsstaat bislang keine angemessene Antwort gefunden. Diesen Problemen, die sowohl rasche Konsequenzen erfordern als auch eine langfristige Strategie, gehen viele politische Entscheidungsträger nach wie vor aus dem Weg; sei es aus Naivität, aus Wunschdenken oder aus wahltaktischem Kalkül.

Die massive Migration aus islamischen Ländern ist ein Novum in der modernen europäischen Einwanderungsgeschichte, obwohl gerade Österreich eine lange Migrationsgeschichte vorzuweisen hat. Spätestens seit 1848 strömten immer mehr Menschen aus verschiedensten Teilen der Habsburgermonarchie in die Hauptstadt Wien, was angesichts der Tatsache, dass damals halb Mitteleuropa zum Habsburgerreich gehörte, zu einem bunten Gemisch aus Menschen verschiedenster Völker führte. Ein echter Wiener ist, wer mindestens eine tschechische Großmutter oder einen ungarischen Großvater hat, behaupten manche. Gängige Familiennamen wie Novak, Swoboda, Novotny oder Horvath legen Zeugnis davon ab.

Auch in Deutschland gab es ähnliche Entwicklungen: Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wanderten circa 500.000 Polen ins Ruhrgebiet ein und stellten dort binnen weniger Jahrzehnte rund 15 Prozent der Bevölkerung. Zwar kam es, wie bei jeder Einwanderung größerer Gruppen, auch hier zu Verwerfungen und Konflikten, aber nach zwei Generationen waren sie bestens integriert. An die Geschichte der polnischen Einwanderung ins Ruhrgebiet erinnern heute nur noch die deutschen Orlowskis, Schimanskis und Kowalskis. Sie waren gekommen, weil sie ein besseres Leben suchten, und die meisten von ihnen waren dem Land gegenüber positiv eingestellt.

Das scheint für einen nicht unerheblichen Teil der Einwanderer aus islamischen Ländern, auch im Unterschied zu anderen aktuellen Einwanderungsgruppen, aber nicht der Fall zu sein, denn im Gegensatz zu diesen bringen viele von ihnen eine Ideologie mit, die in Widerspruch zu der Gesellschaft steht, in die sie einwandern. Wie sollen wir auf Menschen reagieren, die zwar in europäischen Ländern leben wollen, aber die westliche Gesellschaft als unmoralisch und sündhaft verachten und als Gefahr für ihre Kinder betrachten? Was bedeutet die steigende Zuwanderung aus kollektivistischen Gesellschaften jener Länder, die von islamistischen Vorstellungen geprägt sind und in denen der Einzelne und seine Würde eine untergeordnete Rolle spielen, für Europa? Es ist illusorisch, anzunehmen, die Neuankömmlinge würden der Strahlkraft von Freiheit und Selbstbestimmung erliegen, wenn sie ihnen nur gut genug erklärt würde. Das ist nicht nur eine sträfliche Unterschätzung der Macht von Ideologien, es nimmt auch andere und ihre Überzeugungen vom „guten und richtigen Leben“ nicht für voll, sondern hält diese für bloß vorübergehende Erscheinungen.

Der politische Islam ist angetreten, die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Von den Veränderungen, die er für unsere Gesellschaft mit sich bringt, handelt dieses Buch. Darüber hinaus gibt es einen Überblick über die wichtigsten Akteure und ihre Strategien. Die alte Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, stellt sich angesichts eines neuen religiösen Totalitarismus mit aktueller Dringlichkeit. Es geht um nichts Geringeres als einen Gesellschaftsvertrag, der das friedliche und den individuellen und voraussetzungslosen Menschenrechten verpflichtete Zusammenleben der Menschen weiterhin gewährleisten kann.

DIEISLAMISTISCHEHERAUSFORDERUNG

„Nicht der Koran muss mit der Demokratie verträglich sein, sondern umgekehrt, die Demokratie muss mit dem Koran vereinbar sein.“

Der Imam einer Moschee der Türkischen Föderation in Wien, 20175

In den vergangenen 40 Jahren ist es fundamentalistischen Strömungen in nahezu allen mehrheitlich islamischen Ländern gelungen, ihre Auslegung der Religion in die Mitte dieser Gesellschaften zu tragen und diese Lesart zum Mainstream zu machen. Diese Veränderung hat auch Auswirkungen auf muslimische Communitys in Europa. Während diese Entwicklung bis vor wenigen Jahren nur in kleinen Zirkeln zur Kenntnis genommen wurde, sprechen inzwischen auch Politik und Medien immer häufiger vom „politischen Islam“. Der Begriff hat sogar Eingang in das Regierungsprogramm der türkis-blauen Koalition in Österreich gefunden. Unter der Überschrift „Kampf dem politischen Islam“ findet sich dort ein eigenes Kapitel, das unter anderem strafgesetzliche Bestimmungen gegen den politischen Islam ankündigt.6

Man gewinnt jedoch den Eindruck, dass weder Politik (quer durch alle Parteien) noch Medien eine adäquate Vorstellung vom Phänomen politischer Islam oder Islamismus haben. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass es sich hierbei um eine für Europa vergleichsweise neue Gegebenheit handelt. Analyse und Faktenwissen hinken den Ereignissen und der öffentlichen Debatte hinterher. Nicht nur der islamistische Terror, sondern die vielen, dem alltäglichen Islamismus geschuldeten sichtbaren Veränderungen treiben heute immer mehr Menschen in europäischen Ländern um, ohne dass die Politik bislang eine hinreichende Antwort auf diese Herausforderung gefunden hätte.

Mit dem Begriff Islamismus verbinden die meisten vermutlich in erster Linie Bilder von Terroranschlägen aus New York, Madrid, Istanbul, Paris, London, Berlin und unzähligen anderen Städten der Welt; Berichte über die Gräueltaten des „Islamischen Staats“, von Sklavenmärkten, auf denen jesidische Frauen und andere Gefangene verkauft werden, und von bärtigen Männern, die schwer bewaffnet und die schwarzen Flaggen mit weißem Aufdruck des Glaubensbekenntnisses schwenkend laut Allahu Akbar („Gott ist am größten“) in die Kameras schreien. Der gewalttätige Islamismus, oft auch mit dem Begriff Dschihadismus beschrieben, stellt jedoch nur die sichtbare Spitze des Eisberges dar.

› Längst haben sich gewaltfrei und legalistisch vorgehende Islamisten auf den Weg gemacht, die Gesellschaft zu transformieren.

Während der Dschihadismus in Europa in Gestalt sogenannter Gefährder und ihrer Sympathisanten ein sicherheitspolitisches Problem darstellt, ist die Herausforderung durch legalistische islamistische Kräfte eine mindestens ebenso große, wenn nicht größere gesellschaftspolitische Aufgabe. Neben der dschihadistischen Szene hat sich eine vielfältige Bewegung etabliert, die Propaganda in islamische Communitys hineintragen will und damit durchaus erfolgreich ist. Auch wenn Letztere den dschihadistischen Weg als fehlgeleitet betrachten, stellen ihre politischen Ziele eine Gefahr für Demokratie und Pluralismus dar, ähnlich wie andere gewaltfreie extremistische Vorstellungen auch. Als warnendes Beispiel für den islamistischen Gang durch die Institutionen und eine Islamisierung von Staat und Gesellschaft unter Ausnutzung des demokratischen Rechtsstaats kann die Türkei gelten, wie im folgenden Kapitel noch ausgeführt wird.

POLITISCHER ISLAM: SEINE URSPRÜNGE UND SEIN SELBSTVERSTÄNDNIS

Als Islamismus im eigentlichen Sinne wird eine moderne politische Strömung innerhalb des Islam bezeichnet, die 1928 mit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten die Bühne betrat. Politischer Islam und Islamismus sind Begriffe, die in der wissenschaftlichen wie allgemeinen Debatte meist synonym verwendet werden. Mit ihnen wird das Phänomen einer auf dem Islam basierenden politischen Ideologie bezeichnet. Dieses Phänomen ist keine Erfindung von „Islamfeinden“, wie von manchen ins Feld geführt wird. Es waren vielmehr die Väter des Islamismus selbst, die den Islam als eigenständiges politisches Konzept definierten.

Für den Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā (1906–1949), war der Weg des Westens von ökonomischen Krisen und aufsteigenden Diktaturen geprägt. Damit meinte er sowohl die westlichen Demokratien als auch Faschismus und Kommunismus. Dem gegenüber sah er im Weg des Islam eine historisch bewährte und eigenständige politische Alternative. Al-Bannā begriff den Islam keineswegs als rein spirituellen Rahmen, sondern definierte ihn, islamischer Ideengeschichte folgend, als politisch-religiöses Konzept, das die Grundlage der idealen Gesellschaft und des idealen Staates bilden und alle Bereiche derselben umfassen müsste. Um sich von ihren säkular eingestellten Gegnern abzugrenzen, haben in der Folge verschiedenste Gruppen sich selbst als „Islamisten“ (islamiyun) bezeichnet7 und von der islamischen Erweckung (Sahwa) gesprochen.

Einen einheitlichen Islamismus gibt es nicht, aber wie bei anderen Phänomenen gibt es natürlich bedeutungsunterscheidende Merkmale, die es uns erlauben, sie von anderen abzugrenzen und ihr Wesen zu erfassen und zu definieren. Wir haben es beim Islamismus, wie bei jeder anderen größeren politisch-ideologischen Bewegung auch, mit einem Spektrum von verschiedensten Organisationen zu tun. Dazu zählen staatlich-islamische Akteure ebenso wie transnationale und nationale Organisationen, die bei all ihren Unterschieden eine Idee eint: die Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nach islamischen Regeln. Das islamistische Spektrum reicht von dschihadistischen Organisationen wie dem IS oder al-Qaida, die sich als internationale Organisationen begreifen und teilweise weltweit als eine Art Franchisesystem funktionieren, bis hin zu legalistischen, also sich im Rahmen der jeweiligen staatlichen Gesetze bewegenden Organisationen. Zu Letzteren zählt etwa die DMG („Deutsche Muslimische Gemeinschaft“) – ehemals IGD („Islamische Gemeinschaft in Deutschland“) –, die nach Einschätzung des deutschen Verfassungsschutzes als wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft gilt, die versuche, im gesellschaftlichen und politischen Bereich Einfluss zu nehmen.8

Ein weiterer islamistischer Player des legalistischen Spektrums ist die türkische, neo-osmanisch ausgerichtete Millî-Görüş-Bewegung („Nationale Sicht“), die in Deutschland ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wird.9 Sie arbeitet eng mit der Muslimbruderschaft zusammen. Aus der Millî-Görüş-Bewegung stammt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Er vertritt als politischer Ziehsohn des Gründers Necmettin Erbakan (1926–2011) nach wie vor die Ideologie der Bewegung. Von Beginn seiner politischen Karriere an verfolgte er einen Islamisierungskurs entgegen dem in der Türkei herrschenden Kemalismus. Dieser Kurs zeichnete sich schon nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul (1994 bis 1998) ab, als er verlautbarte, man könne nicht gleichzeitig laizistisch und Muslim sein. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt wurde der Alkoholausschank in städtischen Gastronomiebetrieben eingestellt. Seine Absicht, gesonderte Badezonen für Frauen und nach Geschlechtern getrennte Schulbusse einzuführen, stieß jedoch auf zu großen Widerstand. Erdoğan hat aus seiner Einstellung und seinen Zielen nie einen Hehl gemacht und sie bei aller notwendigen Taktik konsequent verfolgt, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollten und ihn aus verschiedenen Motiven als demokratischen Erneuerer begrüßten. Daher verwundert es nicht, dass sich unter seiner Ägide nach und nach auch die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet mit ihren Ablegern in sämtlichen Ländern, in die türkische Musliminnen und Muslime ausgewandert sind (in Österreich unter dem Namen ATIB, in Deutschland unter DITIB bekannt), zu einer islamistischen Organisation entwickelt hat.

› Dschihadismus und gewaltfreier legalistischer Islamismus unterscheiden sich in erster Linie in ihren Methoden und in der konkreten Ausformulierung ihrer Ziele und nicht so sehr in den Grundzügen ihrer Ideologie.

Während die einen zur Waffe greifen, um ihre Utopie gewaltsam herbeizuzwingen, haben sich die anderen auf den berühmten „Marsch durch die Institutionen“ begeben. Sie sind heute in politischen Parteien und NGOs vertreten, arbeiten in den europäischen Ländern, in denen sie leben, mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen zusammen und beginnen, sich in eigenen politischen Parteien zu organisieren.

Ein zentrales Anliegen islamistischer Organisationen ist eine gesellschaftliche Sonderstellung des Islam, die mit einer Teilhabe am demokratischen System bei gleichzeitiger Segregation von der Mehrheitsgesellschaft einhergeht. Was auf den ersten Blick verwirrend erscheint, macht aus islamistischer Logik durchaus Sinn. Freiräume für konservativ-islamische Communitys, innerhalb derer nach islamischen Regeln gelebt werden kann, lassen sich in einem demokratischen System zunächst nur nach demokratischen Regeln erreichen, in der Hoffnung, irgendwann über jene politischen Mehrheiten zu verfügen, die es erlauben, die Regeln selbst zu ändern. Erdoğan hat diese Strategie in einer Wahlkampfrede im Jahr 1998 mit einem Zitat aus dem mittlerweile berühmten Gedicht des türkischen Dichters und Politikers Ziya Gökalp (1876–1924) auf den Punkt gebracht: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Die verschiedenen islamistischen Strömungen weisen neben unterschiedlichen Methoden, wie dieses Ziel zu erreichen sei, natürlich auch eine ganze Menge ideologischer Differenzen auf. Selbst innerhalb einer Organisation treten immer wieder Richtungskämpfe zutage. Dieses Phänomen ist allen größeren politischen Bewegungen eigen, wenn man etwa an die Bolschewiki und ihre internen Richtungskämpfe nach Lenins Tod denkt.

Ein Brief an den IS

Unabhängig von ihrer Einstellung zu Gewalt und Terror eint alle islamistischen Organisationen der Wunsch, Staat und Gesellschaft nach islamischen Regeln umzugestalten und eine ideale islamische Weltgemeinschaft zu errichten. Im sunnitischen Islam ist diese Utopie eng mit jener der Wiedererrichtung des Kalifats als Führung der islamischen Gemeinschaft verbunden. Die schiitisch-iranischen Islamisten hingegen glauben an die Wiederkehr des seit über 1000 Jahren in der Verborgenheit lebenden 12. legitimen Imams, Muhammad ibn al-Hasan al-Mahdī, der schon jetzt offizielles Staatsoberhaupt im Iran ist. Die Mullahs begreifen sich als seine Stellvertreter, bis zu dem Tag, an dem er wiederkehrt und die Weltherrschaft antritt.

Seit Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1924 im Zuge der Konstituierung der Türkei als moderner Nationalstaat das Kalifat abschaffte, ist dessen Wiedererrichtung das Ziel sunnitischer islamistischer Bewegungen jeglicher Couleur. Schon der Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā, hatte eben dieses Ziel vor Augen, als er vier Jahre nach der Abschaffung des Kalifats die Bewegung gründete. Auf die Schriften al-Bannās beziehen sich sunnitische Islamisten weltweit. Darin wird nichts Geringeres behauptet als eine im Koran festgeschriebene Vorherrschaft und Souveränität der Muslime über die ganze Welt. Diese postulierte Weltherrschaft wird zur edlen Vormundschaft idealisiert. Pflicht jedes einzelnen Muslims sei es, für den Islam in den Dschihad zu ziehen.10

Dass diese Haltung weitgehend Konsens unter islamischen Gelehrten ist, zeigt nicht zuletzt der berühmte offene Brief, mit dem sich 2014 über 120 der führenden sunnitischen Gelehrten an den Anführer des IS und selbst ernannten Kalifen, Abu Bakr al-Baghdadi, gewandt hatten. Die der IS-Ideologie zugrundeliegende theologische Position zum Dschihad wird darin nicht grundsätzlich zurückgewiesen, der kriegerische Dschihad nicht infrage gestellt. So heißt es zunächst: „Tatsächlich ist es so, dass du und deine Kämpfer furchtlos seid und ihr bereit seid, euch mit der Absicht des Dschihad zu opfern. Keine aufrichtige Person, welche die Geschehen beobachtet – ob Freund oder Feind –, kann dies ablehnen.“ Der Dschihad sei allerdings nur berechtigt, wenn „die rechten Gründe, die rechten Ziele“ und „das rechte Benehmen“ dafür gegeben seien und er sich nicht gegen Muslime richte. 11 Der IS wird abgelehnt, weil diese Voraussetzungen nicht vorlägen und es sich daher nicht um Dschihad, sondern lediglich um „Kriegstreiberei und Kriminalität“ handele. In der Auseinandersetzung geht es also nur darum, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt das Vorgehen richtig wäre.

Der Brief dieser Gelehrten wurde von Vertretern europäischer Islamverbände als wichtiges innerislamisches Zeichen gegen den Terror gepriesen. Auf der Website der „Islamischen Gemeinschaft in Deutschland“ (jetzt DMG) etwa war zu lesen: „Gelehrte der ganzen Welt haben inzwischen in aller Deutlichkeit die Machenschaften von ISIS verurteilt und mit Belegen aus der Lehre des Islam untermauert. Selten gab es so eine einhellige Meinung.“12 Ein Redakteur der ZEIT, Yassin Musharbash, lobte in einem Artikel die „islamischen Argumente gegen den Islamischen Staat“.13 Der Brief ist jedoch vor allem ein eindrucksvoller Beleg für die Übereinstimmung von legalistischen und dschihadistischen islamischen Gruppen und Gelehrten in Bezug auf die Grundlagen des Glaubens und die grundsätzliche Verbindung von Islam und Politik.

Der Brief befasst sich aus aktueller islamischer Perspektive mit zahlreichen weiteren Details. Zur Veranschaulichung mögen noch zwei Beispiele dienen: Körperstrafen werden nicht abgelehnt, sie seien vielmehr „gemäß islamischem Recht zweifellose Pflichten“, die allerdings an ein „klares Prozedere“ gebunden seien. Dem IS wird vorgeworfen, sich nicht daran zu halten. Die Gelehrten kritisieren ihn dafür, dass er grundlos Muslime zu Nichtmuslimen und damit zu Abtrünnigen erkläre und daraus für sich das Recht ableite, sie zu töten. Man könne Muslime nur zu Nichtmuslimen erklären, wenn diese „offenkundig den Unglauben kundgetan haben“. Das bedeutet letztendlich, dass ein Muslim, der beschließt, dem Islam den Rücken zu kehren, zu konvertieren oder nicht mehr an Gott zu glauben und das öffentlich kundtut, auch nach Meinung dieser 120 Gelehrten verfolgt und hingerichtet werden kann. In den Ländern, in denen Scharia-Recht gilt, ist genau das auch der Fall. Wir haben hier also einen innerislamischen Streit um den Weg, nicht aber um das Ziel vor uns.

Der aufgeschlossene frühere kuwaitische Kommunikationsminister Saad bin Tafla al Ajami schrieb 2014 in einem kritischen Artikel mit dem Titel „Wir alle sind ISIS“, der IS sei das Produkt eines fundamentalistischen Diskurses, der die islamische Welt seit Jahrzehnten dominiere und Intoleranz bis hin zum Hass gegenüber allem predige, was anders sei. „Die Wahrheit, die wir nicht leugnen können“, schreibt er, „lautet, dass ISIS in unseren Schulen gelernt, in unseren Moscheen gebetet, unsere Medien und religiösen Plattformen gehört, unsere Bücher und Texte gelesen hat. Sie folgen den Fatwas, die wir produziert haben.“ Der IS steigere lediglich die Ideologie des politischen Islam ins Extreme, während sich die Welt und die meisten Muslime an die „sanftere“ Variante des politischen Islam bereits gewöhnt hätten.14