Alles geschieht heute - Jesse Browner - E-Book

Alles geschieht heute E-Book

Jesse Browner

4,8

Beschreibung

"Wo bist du?" Das weiß Wes selbst nicht immer so genau bei seinem intensiven Leben in Roman- und Vorstellungswelten. Aber am vergangenen Abend ist er von Lucy gefunden worden - gegen seinen Willen. Oder doch nicht ganz? Wie war das auf der Party, die er am liebsten verdrängen möchte? Wer und wo ist dieser Wes vierundzwanzig Stunden später?

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Jesse Browner

Allesgeschiehtheute

Deutsch von Anne Brauner

Für Sophie und Cora

Erhasche jeden Glücksmoment, lass dich lieben, verliebe dich selbst! Das ist das einzig Wahre auf der Welt – alles andere ist Unsinn. Und nur damit sind wir hier beschäftigt.

Lew Tolstoi,Krieg und Frieden

Inhalt

Inhalt

Wenn man den weiten Weg von der Upper East Side nach Greenwich Village zu Fuß gelaufen ist, und das mitten in der Nacht, sollte man sich eigentlich freuen, wenn man endlich zu Hause ist. Davon war Wes weit entfernt, als er sich die Treppe vor dem Haus hochschleppte. Er hatte vergeblich gehofft, dass ihm der lange Spaziergang durch die dunkle stille Stadt einen Weg aufzeigen würde. Unter anderen Umständen hätte es ein Abenteuer sein können, doch jetzt fand er sich wie im Nebel; seine Gedanken waren so windig wie Plastiktüten und gehörten ebenso wie sie in den Müll. Wäre er eine Figur in einem Roman gewesen – zum Beispiel Fürst Andrej in Krieg und Frieden –, hätte er sich die Gelegenheit zu einer Runde herber, aufrichtiger Gewissensprüfung nicht entgehen lassen, die zwangsläufig zu einer umwerfenden neuen Erkenntnis bezüglich der menschlichen Natur im Allgemeinen und seiner eigenen schwachen moralischen Haltung im Besonderen geführt hätte. Doch er war nicht Fürst Andrej – er war nur Wes, der Idiot Wes, der Junge, der gerade sein Leben für immer ruiniert hatte, und er war noch genauso verwirrt und unglücklich wie vor zwei Stunden, als er Lucys Wohnung verlassen hatte. Auf der Türschwelle blieb er stehen und holte Luft, doch auch das half nicht: Die Traurigkeit ging nicht weg. Schlimmer noch, sie trieb ihm eine Träne ins Auge und er legte die Stirn an den kalten, klammen Lack der Haustür.

Wes wusste, wie schrecklich es war, wenn jemand in seinem jugendlichen Alter so traurig war. Es war eine Mischung aus Erschöpfung, Scham, Hoffnungslosigkeit und einem Gefühl von Verlust. Ein Teenager sollte sich nicht so fühlen. Er hatte damit zwar nicht viel Erfahrung, doch instinktiv spürte er, dass seine Traurigkeit die eines viel älteren Menschen war, entstanden aus Reue, verklärten Erinnerungen und den vertanen Chancen eines halben Lebens. Es war die Sorte Gefühl, die ein Loser mittleren Alters bei der Feststellung empfinden könnte, dass er zwanzig Jahre zuvor eine schlechte Entscheidung getroffen hat und alles, was seitdem schiefgelaufen ist, darauf zurückzuführen ist. Es war die Sorte Gefühl, die sich Wes ohne Weiteres bei seinem Vater vorstellen konnte. Eine weitere Träne rollte aus seinem Auge und blieb in den Wimpern hängen, sodass er alles verschwommen sah. Obwohl er den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt hatte, änderte Wes jetzt seine Meinung und setzte sich auf die oberste Stufe.

Er war wie gelähmt, weil er in seiner Erschöpfung zu keinem Entschluss kam. Er hatte die Nacht durchgemacht, doch müde war er nicht. Er könnte zum Fluss gehen, der nur fünf Minuten entfernt war; er könnte sich in der aufgehenden Sonne vom frischen Wind durchpusten lassen und an diesem reinigenden Balsam gesunden. Die Chancen waren gering. Wes bezweifelte, dass er sich je wieder sauber fühlen würde. Normalerweise mochte er diese Tageszeit am liebsten und ging oft schon vor Sonnenaufgang mit Crispy Gassi. Er liebte die Straßen im Village, wenn noch niemand vor der Tür war und er sich wie auf einer leeren Bühne fühlte, die ihm allein gehörte, doch jetzt hatte er sich das verdorben. Die Morgendämmerung erschien ihm verhängnisvoll und düster, als würde der neue Tag die nächtlichen Ereignisse in Stein meißeln – die sich, wenn die Nacht kein Ende nähme, vielleicht noch ungeschehen machen ließen. Solange er draußen im Dunkeln verharrte, beschränkten sie sich auf die Welt der Träume, doch wenn er ins Haus ging und die Tür schloss, würde er die Ereignisse sich selbst überlassen und ihnen ein Eigenleben ermöglichen, das ihm einen anderen Ausgang des Geschehens verweigerte. Egal wie, er saß in der Scheiße.

Werktags kurvten die Pendler auch um diese Uhrzeit auf der Suche nach einem freien Parkplatz um den Block, doch an einem Samstagvormittag waren die Straßen in diesem Viertel leer und verlassen. Fernes Grummeln von der Allee; der Wind, der vom Fluss aufkam, raschelte mit den wenigen welken Blättern, die noch an den Ginkgos hingen, dass sie zischten und seufzten wie Schieferstücke in der Flut. Einige Spätherbstwolken, die von der City angestrahlt wurden, hoben sich vom purpurroten Himmel ab und färbten sich zusehends von Gelbweiß nach Rosa. Ein Mann im Kapuzenshirt, die Schultern hochgezogen, Hände in den Taschen, sah zu Wes hoch, ging aber nicht langsamer und war gleich außer Sicht. Wes fragte sich, wie er auf einen Passanten wirkte, der nichts über ihn wusste. Würde er ihn fälschlicherweise für einen Junkie halten, einen verschmähten Liebhaber, einen obdachlosen Irren? Wes stellte sich gerne vor, wie andere ihn sahen, ganz egal ob Freunde oder Fremde; manchmal stand er vor dem Spiegel und versuchte, sich so zu sehen, doch es funktionierte nicht. Für sich selbst war er vollkommen unsichtbar. Kurz überlegte er, ob sich so ein Vampir fühlte – aller Hoffnung beraubt, die Ewigkeit vor Augen, die sich wie ein lebloses gefrorenes Meer vor ihm erstreckte. Alle Mädchen in seinem Umkreis lasen Bis(s); er würde stets einen großen Bogen um ein solches Buch machen, aber wetten, dass er ihnen eine Menge über Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erzählen konnte? Wes stöhnte und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Eins war klar: Kein Fremder, der auf dem Bürgersteig an seinem Haus vorbeilief, würde ihn sehen, wie er wirklich war: ein Siebzehnjähriger, der gerade seine Unschuld verloren hatte. Er stand auf, drehte sich wieder zu der schwarz glänzenden Tür, schloss auf und ging ins Haus.

Selbstverständlich war niemand aufgeblieben, um auf ihn zu warten. Im Flur war es dunkel, nur ein Schranklicht leuchtete trüb in der Küche, und ein Klecks vormorgendlicher Helligkeit schien durch das bleiverglaste Oberlicht. Totale Stille bis auf das Knarren der Dielen und das Brummen des Kühlschranks – sogar der Boiler im Keller war noch nicht angesprungen. Wes war zu Hause. Jetzt war die Nacht wirklich vorüber und er konnte nicht mehr vor ihrer Wahrheit davonlaufen oder ihren Folgen ausweichen, weil sie nicht länger ihm gehörte. Das, was er getan hatte, die Fehler, die er begangen hatte, zählten von nun an für immer zu der manifestierten Vergangenheit – jener Vergangenheit aus Schulbüchern, Wikipedia-Einträgen und Tweets. Er konnte nicht so tun, als wäre nichts passiert; spätestens am Montagmorgen würde die ganze Schule Bescheid wissen, und er würde niemals, nie wieder – und wenn er noch so lange lebte, ganz unabhängig von allem, was er tat oder wohin er flüchtete, bis zu seinem Todestag – derjenige sein, der er noch am Freitagmorgen gewesen war: jemand, der zwei Versionen der Zukunft zur Auswahl hatte, beide strahlend vor berechtigter Hoffnung. Fast alle Jungen, die er kannte oder die er sich in seiner Situation vorstellen konnte, hätten an seiner Stelle gejubelt. Wie viele Filme hatte er schon gesehen, in denen Nerds mit einem goldenen Herzen verzweifelt versuchten, ihr erstes Mal zu erleben? Und wenn es dann passierte – und es passierte natürlich am Ende immer –, war alles anders. Besser natürlich. Alle Leute, die er kannte, verließen sich auf diese Filme – vorher geil und verpickelt, nachher männlich und diskret. Und das Traurigste an diesem ganzen Durcheinander war, dass er selbst an diese Initiationsnummer geglaubt hatte – als krassen Ausdruck von Selbstbewusstsein, eine Quelle angenehmer Erinnerungen aus dem ewig sprudelnden Brunnen der Jugend. Also wirklich, sagte er sich, habe ich nun die Nacht mit einem schönen willigen Mädchen verbracht, das mich auserkoren hat und nach dem ich noch immer rieche, oder nicht? Bin ich nun noch unberührt oder nicht und werde ich in meinem Leben je wieder unberührt sein oder nicht? War es überhaupt wichtig, dass sie das allerletzte Mädchen war, das dafür infrage kam?

Doch es nützte alles nichts, und das wusste Wes. Je länger er gegen das Gefühl ankämpfte, dass er gerade jegliche Aussicht auf Glück und moralische Orientierung zerstört hatte, die ihm je gegeben war, umso fester schnürte es ihm das Herz zu – eine chinesische Fingerfalle, allerdings eine, aus der man nicht durch Zusammendrücken befreit werden konnte. Wes zog die Sneakers aus und stellte sie leise an die Garderobe. Er war schon mit den Zehenspitzen auf der ersten Stufe, als in der Küche jemand mit Papier raschelte.

Dort traf er seinen Vater an, barfuß, in Jogginghose und T-Shirt, beide Hände auf die Arbeitsplatte gestützt. Das bläuliche Licht des Einbauschranks betonte den Ansatz einer kahlen Stelle unter seinem schütteren Haar und beleuchtete die Architektenpläne in seinen Händen. Wes kannte diese Entwürfe für eine Kernsanierung der Küche, die wegen der Krankheit seiner Mutter auf unbestimmte Zeit verschoben worden war. Im Aquariumslicht der Schranklampe wirkte sein grübelnder Vater wie ein ungeschickter Verbrecher, den man auf frischer Tat ertappt hatte, erst recht, als er, überrumpelt von seinem unvermuteten Auftritt, die Pläne hektisch zusammenfaltete und zur Seite legte.

«Hey, du bist früh dran.»

«Du auch.»

«Ich konnte nicht schlafen. Schlechtes Gewissen, wahrscheinlich.» Es lag auf der Hand, dass der Witz nicht ankam.

«Ich auch nicht.»

«Kommst du oder gehst du?»

«Bin gerade gekommen.»

«Musst du nicht zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein?»

«Nein.»

Sein Vater nickte, legte den Kopf in den Nacken und trank einen großen Schluck aus dem Wasserglas, um das peinliche Schweigen zu überspielen. Merkwürdig: Sein Vater war kerngesund, soweit Wes wusste, und auch nicht nervös oder ungeschickt, doch seine Hand zitterte immer sichtlich, wenn er etwas trank. Dadurch wirkte er wie ein Alkoholiker oder zumindest wesentlich älter, als er war. Wes stellte sich vor, wie in einer zukünftigen Welt seine einzige Erinnerung an seinen Vater sein würde, dass seine Hand beim Trinken gezittert hatte. Das oder wie ihm stets die Tränen kamen, wenn Brown-Eyed Girl im Radio gespielt wurde.

«Wie war’s?»

«Wie war was?»

«Deine Party oder so.»

«Ach, das.»

Als ein porzellanhelles Klirren aus dem Gartenzimmer erklang, als rutsche eine Teetasse auf einer Untertasse, drehten sie sich beide zu der angelehnten Tür um. Dort unten hatte sein Vater eine eigene kleine Wohnung. Wes erhaschte einen Blick, oder dachte es zumindest, auf einen Schatten, der über die Wand an der Treppe glitt, und sah seinem Vater direkt in die Augen. Doch nur ganz kurz, denn es hatte keinen Sinn, und das wussten sie beide. In dieser Nacht würde es keine Geständnisse geben.

«Crispy wahrscheinlich.»

«Ich gehe mit ihr raus, wenn ich aufgestanden bin. Nacht.»

«Nacht, Wes.»

Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock blieb Wes lauschend stehen, um etwaige Anzeichen widerspenstiger Wachheit aufzufangen. Seine Mutter hatte einen unruhigen Schlaf und wurde oft von leisen Geräuschen oder ihrem eigenen Missbefinden geweckt. Selbst um diese Zeit konnte es passieren, dass sie etwas von einem wollte, falls man sie störte. Wes war gerne früh dran, doch an Werktagen hörte er oft, wie sie Narita mit ihrer kleinen Glasglocke weckte, noch bevor er aufgestanden war. Narita war das egal – dafür wurde sie bezahlt –, und theoretisch machte es ihm selbst auch nichts aus. So schlimm war es nun auch wieder nicht, dass er einmal in der Woche für seine Mutter zuständig war und ihr beispielsweise etwas zu essen machen musste – aber trotzdem. Obwohl er wusste, dass es nicht stimmte, kam es ihm manchmal so vor, als wache seine Mutter samstags extra früh auf. An diesem Tag übernachtete Narita bei ihrer Familie in Ozone Park und die Glasglocke schellte nicht für sie, sondern für ihn, Wes. In der aufbrechenden Dunkelheit konnte er sich leicht vorstellen, wie seine Mutter auf der anderen Seite der Zimmertür an die Decke starrte und Wellen bohrenden Bewusstseins bis in die letzte Ecke des Hauses sandte. Jetzt tat sie es jedoch nicht; ihre Tür stand einen Spalt offen und aus ihrem Zimmer hörte er, wie sie gleichmäßig verschnupft atmete. Dennoch würde sie ihn bald brauchen. Wes ging an Naritas Zimmer vorbei in den zweiten Stock, wo sein Zimmer lag.

Der oberste Treppenabsatz unter der Kuppel des Oberlichts war die hellste Stelle im Haus, doch die Scheibe war so lange nicht geputzt worden, dass selbst an einem strahlenden Sommertag nur bleiches, beschädigtes Licht hindurchdrang. Der gräuliche Fleck, der jetzt die Morgendämmerung ankündigte, spiegelte Wes’ Stimmung perfekt wider, als würde er nicht nach einer langen anstrengenden Nacht in New York City ins Bett gehen, sondern als sähe er einem Tag hoffnungslosen Schuftens in einem sibirischen Kohlebergwerk entgegen. Er wankte in sein Zimmer und warf sich aufs Bett, weil er auf der Stelle einschlafen wollte. Doch fast sofort fand er, dass die Kleidung an ihm klebte und er sich irgendwie schmutzig fühlte; also stand er auf, zog sich bis auf die Unterhose aus und legte sich auf die Bettdecke. Aber sogar seine Boxershorts, die er erst vor zwölf Stunden aus dem Trockner genommen und angezogen hatte, noch warm und duftend wie frisch gebackenes Brot, fühlte sich unangenehm und verunreinigt an. Nachdem er sie im Liegen abgestreift hatte, wühlte er sich nackt unter die Decke. Doch nun war es sein Körper, der vor fauligen Ausdünstungen zu pulsieren schien, seine eigene Haut mit ranzigem Öl beschmiert, darüber eine Schicht aus Straßendreck, Zigarettenrauch, abgestandenem Wodka und biologischem Verfall. Innerlich seufzend begriff er, dass er nicht in den Schlaf finden würde, solange er sich so schmutzig fühlte. Er wälzte sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. In der antiken Badewanne mit den Klauenfüßen nahm er Noras Lavendelduschgel, stellte sich unter den Duschkopf und drehte das Wasser auf. Während er sich von Kopf bis Fuß einseifte und Shampoo und Spülung ins Haar massierte, versuchte er an nichts zu denken und daran zu glauben, dass seine Sorgen dem gesammelten Schweiß dieses ereignisreichen Tages glichen und einfach abgewaschen und durch den Abfluss gespült werden konnten. Doch das war auch nicht gut, denn wenn man sich selbst und seine eisernen Prinzipien verriet, wurde man für immer ein anderer Mensch, und das Duschgel musste erst noch erfunden werden, das diesen Makel entfernen könnte. So wurde sogar Haarewaschen zu einer ausgemachten Heuchelei. Also war er zu allem Überfluss auch noch ein Heuchler. Er kehrte in sein Zimmer zurück, ließ das Handtuch fallen, ging ins Bett, zog die Bettdecke hoch, drehte den Kopf zur Wand und schlief ein.

Im Traum saß er mit einem Notizblock an einem langen polierten Tisch im Rose-Lesesaal der Stadtbibliothek. Die bereits beschriebenen Seiten aus gelbem Papier waren umgeschlagen und die aufgeschlagene Seite war mit mathematischen Gleichungen und Diagrammen in Schönschrift gefüllt. Er konnte sich nicht erinnern, sie notiert zu haben, zumal alles so fein gezeichnet war, dass es unmöglich von ihm sein konnte. Er gehörte zu einem Team von Effizienz-Experten, die ausrechnen sollten, wie viele Glühbirnen in den Kronleuchtern an der Decke steckten. Als er den Blick schweifen ließ, stellte er zudem fest, dass der Raum die Wirklichkeit gewordene Facebook-Seite eines anderen Nutzers war. Daraus ergab sich die Zusatzaufgabe, den Besitzer dieses Profils zu ermitteln, indem man die vielen hundert Menschen an seinem und den anderen Tischen triangulierte. Indem er ausrechnete, wie viele gemeinsame Freunde sie und der unbekannte Nutzer hatten, konnte er den Fremden identifizieren und gleichzeitig die Anzahl der Glühbirnen bestimmen. Er ging beim Rechnen davon aus, der Nutzer sei Barack Obama, doch als er aus einem der riesigen Bogenfenster sah und einen Linienjet entdeckte, der mit der Nase nach unten auf die westliche Fassade der Bibliothek zuflog, begriff er, dass das Facebook-Profil keinem anderen als Fürst Andrej gehörte und er deshalb nie im Leben die Anzahl der Glühbirnen würde ausrechnen können. Beim Aufwachen lag er auf dem Rücken und schloss aus dem Winkel, in dem das Licht vom Hof ins Zimmer fiel, dass er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Die Nacht war vorbei, es war tatsächlich geschehen, und plötzlich stand der neue Tag vor der Tür. Er weinte wieder, still und ohne Tränen – als müssten seine Augen trocken würgen.

In der Zeit, in der er geschlafen hatte, war der Boiler angesprungen; die alte Heizung fauchte und klirrte und im Zimmer war es zu eng und zu warm. Wes stand unvermittelt auf und öffnete das Fenster am Fußende. Dann legte er die Hände aufs Sims und reckte den Oberkörper ins Freie. An diesem frischen Spätherbsttag lag ein Hauch von Holzfeuer und Wald in der Luft. Der Himmel war nunmehr wolkenlos und hatte das Magenta der Stunde vor Sonnenaufgang bewahrt. Kühl hing die Sonne in den kahlen Ästen. Von hier konnte Wes alle Hinterhöfe ihres Häuserblocks sehen sowie das Durcheinander aus Dächern, Schornsteinen und Wassertürmen von halb Greenwich Village. Einige Höfe waren heruntergekommen, verwahrlost und verschandelt von verlotterten Schuppen, kaputten Ziegelsteinen oder Schieferplatten, überwuchert von skelettartig verheddertem Stacheldraht und kräftigem Efeu, schiefen Balken aus Kalkstein und bröckelndem Putz. Diese Häuser gehörten den Alteingesessenen wie Wes’ Familie, die schon vor der Sanierungswelle hier gewohnt hatten. Es gab aber auch andere Hinterhöfe, die mit neuen rückwärtigen Fassaden aus Dickglas mit massiven Drehtüren aus gebürstetem Stahl, mit neuer Stuckverzierung und Terrassen, Übertöpfen aus Zedernholz und teuren Gartenmöbeln ausgestattet oder von sorgsam gestutzten Hortensienhecken einer alten Sorte gesäumt waren, wenn sie nicht gleich als japanische Steingärten daherkamen. Diese Häuser waren im Besitz von Bankern, Hegde-Fonds-Managern und Medienmogulen.

Wes blickte in den eigenen Hinterhof. Unter der uralten Platane ganz hinten konnte nichts wachsen, dort war nur Schmutz, das Stück Erde, wo der Hund hinpinkelte, wenn alle zu faul waren, mit ihm rauszugehen. Weiter vorne standen ein alter windschiefer Schreibtisch und ein Stuhl, auf dem sein Vater an sonnigen Tagen saß. Durchs Kellerfenster schlängelte sich eine weiße Verlängerungsschnur dorthin. Der Hof hatte im Laufe der Jahre mehrere utopische Bauprojekte über sich ergehen lassen müssen, zum Beispiel ein Baumhaus, einen Hühnerstall, Kaninchenställe und einen holzbefeuerten Backofen zum Brotbacken. Diese Vorhaben waren alle bis zu einem gewissen Grad vorangetrieben worden, doch am Ende wurden alle aufgegeben und wieder zerstört. Nichts war geblieben außer ein paar schlappen Beeteinfassungen mit Taglilien und Frauenfarn, einer Sitzgruppe aus Gusseisen, die mit grünem Gummi überzogen war, und einem alten Kugelgrill, der sich mühsam auf seinen drei Beinen hielt. Und Nora war da – sie saß mit angezogenen Knien auf der Bank, die den Stamm der Platane einrahmte, hielt eine Mädchenzeitschrift in der linken Hand und lutschte an ihrem rechten Daumen. Beim Lesen wiegte sie sich hin und her, nicht irgendwie gestört, sondern eben vertieft.

«Hey, Mäuschen!», rief Wes zu ihr hinunter.

Nora hob den Kopf und lächelte. «Hi Großer.»

«Was machst du da?»

«Ich lerne alten Slang auswendig.»

«Ist Mom schon wach?»

«Mmmm.»

«Schon gefrühstückt?»

«Mmmm.»

«Und der Hund?»

«An die Liane, Tarzan.»

Wes lächelte sie noch mal an und pustete ihr einen Kuss zu. Er konnte gar nicht anders. Immer wenn er seine Schwester ansah, überflutete ihn eine Woge der Liebe. Sie war das fröhlichste, lockerste, verlässlichste, freundlichste und intelligenteste Kind auf diesem Planeten, und er wollte sie vor allem auf der Welt beschützen und dafür sorgen, dass sie nicht zu schnell und schon gar nicht in schlechter Gesellschaft heranwuchs. Sie sollte bis in alle Ewigkeit «Großer» zu ihm sagen, doch dann fiel ihm ein, dass auch er jetzt kein guter Umgang mehr für sie war, sondern die schlechte Gesellschaft, vor der kleine Schwestern beschützt werden mussten. Vielleicht musste sie auch vor ihm beschützt werden. Er rutschte ins Zimmer zurück, ging wieder ins Bett, legte sich auf den Rücken und deckte sich zu. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und betrachtete den abblätternden Putz an der Decke.

«I’m fixing a hole where the rain gets in and stops my mind from wandering.» Als Kind hatte Wes diese Zeile nie verstanden. Warum sollte ein Loch ihn davon abhalten, seine Gedanken schweifen zu lassen? Im Gegenteil: Er brauchte ein Loch, um dadurch in die Außenwelt zu flüchten. Doch jetzt, da er älter war und an seiner eigenen Zimmerdecke einen Riss entdeckt hatte, verstand er den Satz besser. Durch seinen Riss regnete es nicht herein, doch er musste immer wieder konzentriert hinsehen, was ihn davon abhielt, in endlose Tagträume abzuschweifen. Falls es irgendwann doch durchregnen sollte, würde es richtig stören, weil er sich dann noch intensiver darauf konzentrieren müsste. Wenn Geist und Verstand sich frei entfalten sollten, möglichst noch produktiv, brauchten sie einen abgeschlossenen Ort, wo man sich sicher und zufrieden fühlte und einen niemand ablenkte. Darum hatte Wes es immer schon für einem Fehler gehalten, dass Paul McCartney sein Zimmer bunt gestrichen hatte, um seine Gedanken zum Abschweifen zu ermuntern, während schlichte weiße Wände doch viel mehr dazu einluden, oder nicht? Vielleicht war das mit der Farbe ein Generationenproblem. Allerdings hatte Wes mit den Beatles gemeinsam, dass auch er in seinem Zimmer am besten aufgehoben war. Er hatte das Gefühl, hier bis in alle Ewigkeit leben zu können, ohne sich jemals zu langweilen, und wenn er noch so treulos und oberflächlich wäre.

Wes fiel der Traum wieder ein. So etwas hatte er noch nie geträumt, und er hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte. Zwar hatte er in letzter Zeit viel über Fürst Andrej nachgedacht, doch was konnten er oder der Rest des Traums mit Wes’ augenblicklicher Lage zu tun haben? Er versuchte es auf die Bezüge herunterzubrechen. Barack Obama – gut, für den interessierten sich zurzeit alle. Facebook – dito. Auch der Rose-Lesesaal ließ sich erklären, denn dort verbrachte er sehr viel Zeit, es war möglicherweise sein absoluter Lieblingsplatz. Aber was hatte es mit den Glühbirnen und der Schönschrift auf sich? Und welche Rolle spielte das Flugzeug? Warum entwickelte sich ein so vollkommen sonderbarer und rätselhafter Traum plötzlich zum Albtraum?

Wes’ letzter richtiger Albtraum lag noch nicht lange zurück. Ein Atomkrieg war ausgebrochen und eine Atombombe hatte New York getroffen. Wes befand sich in einem trostlosen Betonschlafsaal und wusste, dass er gestorben und zur Hölle gefahren war. Man erklärte den Neuankömmlingen, dass sie sich in der Stadt frei bewegen dürften, Hauptsache sie waren um Punkt sechs Uhr wieder im Schlafsaal. Die Strafe bei Nichterscheinen blieb der Fantasie überlassen. Wes wusste nicht mehr genau, wie der Traum danach weitergegangen war, außer dass seine neue Heimat eine kleine ehemalige Industriestadt unter einem stets bedeckten dunkelbraunen Himmel war und er irgendwann in einem Bus auf die Uhr gesehen hatte. Sie zeigte zehn vor sechs an, und er merkte, dass er im falschen Bus saß, ohne jedoch zu wissen, wo er war und wie er jemals bis sechs Uhr in diesen Schlafsaal zurückkehren sollte. Dann war er mit klopfendem Herzen hochgeschreckt. Später hatte er dann begriffen, dass nur eine haarfeine Grenze das wirkliche Leben von der Hölle trennte, zum Beispiel, wenn man einen Abgabetermin nicht einhielt und man erst merkte, dass man die Linie überschritten hatte, wenn es zu spät war. Ein Fehler reichte aus, um bis in alle Ewigkeit ziellos durch eine öde Wüste wandern zu müssen, verzweifelt und ohne Freunde. Jetzt verstand er die Botschaft.

Und dann fiel ihm auf, dass der Rose-Lesesaal in dem neuen Traum ganz anders ausgesehen hatte als in Wirklichkeit; die hohen Kuppeldecken mit den Kronleuchtern erstreckten sich in unermesslichen Höhen und Weiten über den glänzenden Tischen. Es war ein bisschen so wie in der Kurzgeschichte über die Bibliothek von Babel. Das war eine überraschende Wendung. Borges beschrieb die Bibliothek als unendlich in dem Sinne, dass sie nicht nur jedes bereits geschriebene Buch enthielt, sondern auch alle Bücher, die hätten geschrieben werden können oder die noch geschrieben werden. Wes fand das interessant, weil der Unterschied von Zeit und Raum in dieser Vorstellung von Unendlichkeit aufgehoben war. Es gibt keinen Unterschied zwischen etwas, das unendlich groß, und etwas anderem, das unendlich alt ist, so wie es keinen Unterschied zwischen einem Ding gibt, das immer schon da gewesen war, und einem anderen, das für alle Zeiten da sein würde. In seinen Tagträumen war Wes schon oft durch diese Bibliothek spaziert, die aus einer unendlichen Zahl sechseckiger Galerien bestand, die in der Waagerechten durch Gänge und in der Senkrechten durch Entlüftungsschächte miteinander verbunden waren. In jedem Gang führte eine spiralförmige Treppe aufwärts und abwärts in die angrenzenden Etagen. Außerdem gab es jeweils eine Art Toilette für die «Bibliothekare». Borges sagte nicht, was die Bibliothekare aßen, wo sie schliefen oder ihre anderen körperlichen Bedürfnisse befriedigten. Ihre Kleidung konnten sie wahrscheinlich in den Toiletten waschen und die nassen Sachen dann an dem jeweiligen Geländer um den Entlüftungsschacht aufhängen, doch man konnte ja wohl davon ausgehen, dass es in diesen Schächten sehr zugig war – möglicherweise herrschte dort ein ganz eigenes Klima –, sodass die Bibliothekare Wäscheklammern brauchten, damit die Wäsche nicht wegflog, von Waschmittel ganz zu schweigen – und wo sollten all diese Dinge herkommen? Einige Bibliothekare waren anscheinend sesshaft, andere Nomaden, die ihr Leben lang auf der Suche nach einem bestimmten Buch waren. Wie kamen sie zu neuen Schuhen, wenn die alten abgetragen waren? Gab es männliche und weibliche Bibliothekare, und wenn ja, schliefen sie miteinander, wenn sie sich über den Weg liefen? Blieben sie ein Leben lang zusammen oder hatten sie nur kurz Sex? Was passierte, wenn eine Bibliothekarin schwanger wurde? Verhielten sich die Männer dann anständig und treu oder schwach und prinzipienlos, nur zu gern bereit, die Geliebten im Stich zu lassen? Baby-Bibliothekare kamen bei Borges ebenso wenig vor wie Bibliothekars-Kinderärzte oder Bibliothekars-Schulen. Wes wusste selbst, wie albern diese Überlegungen waren, doch es ärgerte ihn, dass Borges die Bibliothekare mit Toiletten in allen Gängen ausgestattet, es aber versäumt hatte, sie mit allem anderen zu versorgen, was sie in ihrem unendlichen Raum-Zeit-Kontinuum brauchen würden.

Seit Wes die Geschichte vor drei Jahren entdeckt hatte, hatte er oft darüber nachgedacht. Obwohl er sie mehrmals gelesen hatte, war er sie nicht leid geworden. Er hatte in der unendlichen Bibliothek von Anfang an eine Metapher für die Vorstellungskraft gesehen, für die unbegrenzte kreative und intuitive Kraft des Geistes. Wahrscheinlich hatte diese Kurzgeschichte ihn auch erst darauf gebracht, seinen Geist als unerschöpfliche – oder nahezu unerschöpfliche – Quelle von Ideen und Erkenntnissen zu betrachten. Der Geist bildete ein Ökosystem für sich und schuf sein eigenes Binnenklima, so wie die Bibliothek, und da er der alleinige Schöpfer aller Probleme und Lösungen war, war es sehr gut möglich, dass er tatsächlich auch das Universum erschaffen hatte. Aus diesem Grund spielte es keine Rolle, wo der Geist in der «realen» Welt verhaftet war – allein in einem abgeschlossenen Kämmerchen oder in einer riesigen Bibliothek mit unendlich vielen Galerien und Gängen, denn es kam auf das Gleiche heraus. Schon immer hatte Wes gedacht, er würde einen glücklichen Mönch abgeben, denn er fühlte sich nur selten einsam.

Doch was nützte ihm das heute? Er hatte ein echtes Problem, das sich im Gegensatz zu einem pseudo-mystischen Science-Fiction-Rätsel zu einer Tragödie auswachsen konnte. Er hatte die Frau, die er liebte, betrogen und mit einer anderen geschlafen, die ihm nichts bedeutete, ja, die er nicht einmal besonders gern hatte. Sein Geist war an diesem Problem unschuldig; es war ihm nicht auf seinen Spaziergängen im Labyrinth seiner Einbildungskraft begegnet; es war auch nicht Bestandteil einer metaphysischen Übung. Das Problem war real – doppelt real, verglichen mit der Realität, ein Loch zu reparieren. Was das heißen sollte? Dass andere Menschen mit ihren Gefühlen beteiligt waren, dass er nichts ungeschehen machen konnte. Dass er den Konsequenzen nicht aus dem Weg gehen konnte, indem er die Welt wie einen Magic Eight Ball schüttelte, bis sie die gewünschte Antwort lieferte. Man kann es sich noch so sehr wünschen, das Leben ist nicht die Bibliothek von Babel – man kann nicht einfach in einen Gang schlendern und einen seltenen intellektuellen Schatz heben. Man muss einen Ort organisieren, wo man seine Wäsche wäscht oder seine Schuhe reparieren lässt. So lebte sein Vater seit Jahrzehnten, und Wes hatte sich geschworen, es ganz anders zu machen. Und nun war es das, was ihn für den Rest seines Lebens erwartete. Niemals, nie wieder – nicht, wenn er aufs College ging, wenn er herausgefunden hatte, womit er seinen Lebensunterhalt verdienen würde, nicht, wenn er die Romane schrieb, die das Schicksal für ihn vorgesehen hatte, und wenn er heiratete und selbst Kinder hatte – würde er sich einreden können, dass er wenigstens besser war als sein Vater.

Wes schüttelte den Kopf, um all die unwesentlichen Gedanken und Abschweifungen zu verscheuchen, die ihn davon abhielten, sich mit dem eigentlichen Problem zu befassen. Es bestand kein Anlass, über Träume oder Bibliotheken und schon gar nicht über seinen Vater nachzudenken. Vielmehr sollte er ergründen, wie er in diese schlimme Lage geraten war, und was, wenn überhaupt, er dagegen unternehmen konnte. Er beschloss, methodisch vorzugehen, Schritt für Schritt, und sich zu erinnern, wie das alles passiert war, ab wann es den Bach runtergegangen war und welche unüberwindlichen Charakterschwächen ihn zu diesem grässlichen Fehler verleitet hatten. Es war zu spät, um etwas zurückzunehmen, und er bezweifelte, dass er es sich je verzeihen würde, doch er hatte die vage Vorstellung, dass die Gestrauchelten auf eine klägliche Weise durch den Versuch geadelt werden könnten, einen billigen Anteil an Erlösung aus den Trümmern ihres moralischen Scheiterns zu retten. Er musste ganz vorne beginnen.

Es wäre übertrieben gewesen zu behaupten, dass der Freitag besonders hoffnungsvoll angefangen hatte, doch andererseits hatte auch nichts darauf hingedeutet, dass es kein normaler Tag werden würde. Da er um 7.50 Uhr einen Beratungstermin bei Mrs Fielding hatte, musste er mit der Erledigung seiner morgendlichen Pflichten zwanzig Minuten früher beginnen, doch das war kein Problem. Im Gegensatz zu den meisten Menschen in seinem Umkreis war er Frühaufsteher, konnte im Dunkeln aus dem Bett springen und voll da sein. Seine Gedanken federten aufgewärmt, bevor er mit den Füßen den Boden berührte. Morgens konnte er am besten denken, und immer, wenn er spätabends über einer komplizierten Hausaufgabe grübelte, war er schlau genug, sie auf den Morgen zu verschieben, wenn sie besser zu verdauen war. Manchmal, wenn er sich so richtig festgelesen hatte, legte er das Buch um Mitternacht weg, schloss die Augen und las um vier Uhr weiter, als wären nur fünf Minuten vergangen. Sein Vater hatte ihm einmal mit seiner gewohnten Wehmut und Bitterkeit gesagt, dass man nie wieder Bücher mit der Leidenschaft und Intensität eines Jugendlichen las, und das leuchtete Wes absolut ein. Morgens arbeitete nicht nur sein Verstand hervorragend, er fühlte sich insgesamt besser – sauberer, stärker, moralisch gefestigter, wie der zitternde Pfeil eines guten Kompasses. Er war gern als Einziger auf der Welt schon wach und freute sich, wenn er mit dem Hund in den stillen Straßen Gassi ging, die noch nicht von den ermüdenden Massen überschwemmt waren, wo er so tun konnte, als wären Touristen, Banker und Immobilienhändler nur harmlose Abstraktionen. Als er noch jünger gewesen war, war das ungenutzte Potenzial eines Tages fast körperlich zu spüren gewesen, so köstlich und unwiderstehlich, dass er wie von einem Sprungbrett hineintauchen wollte. Mittlerweile gab ihm ein neuer Tag immer noch das Gefühl, voller Möglichkeiten zu sein, und er ging ihn noch immer energisch an, doch mit weniger Leidenschaft als früher. Es war eher so, wie wenn man in ein frisch gemachtes Bett kroch, das nach Waschmittel duftete und sich wunderbar unbenutzt anfühlte. Sauber und unversehrt.

Genauso hatte es sich am Freitagmorgen um halb sechs angefühlt. Er musste mit dem Hund raus, duschen, Nora wecken, ihr Frühstück machen und dafür sorgen, dass sie gewaschen und ordentlich angezogen war. Das hätte Narita auch übernommen, doch er wollte sich persönlich um Noras Wohl kümmern. Wenn die Zeit ausreichte, wollte er selbst noch etwas essen und die Zeitung lesen, bevor er um viertel nach sieben das Haus verlassen musste. – Er freute sich auf diese Pflichten oder empfand sie zumindest nicht als Unterdrückung oder Ausbeutung. Dieses Gefühl verstärkte sich stets noch gegen Ende der Woche, wenn das Kreuzworträtsel in der Times immer schwerer wurde, bis er es freitags manchmal trotz aller Anstrengungen nicht vollständig lösen konnte. – Wegen seines Beratungstermins würde er das Kreuzworträtsel diesmal wohl auf den Abend verschieben müssen. Außerdem gab es fast immer etwas bei Wikipedia nachzuschlagen, was ihm in der Nacht eingefallen war und ihn im Schlaf gestört hatte. Bei solch einer Recherche war er ja auch erstmals auf die Bedienungsanleitung gestoßen.

Er hatte seine Freitagmorgen-Pflichten mit dem üblichen Schwung erledigt. Am Vortag hatte er sich mit seinem besten Freund James darüber gestritten, wie viel Wasser der menschliche Körper enthielt. James hatte behauptet, es wären neunzig Prozent, während er selbst die Menge viel niedriger eingeschätzt hatte. Das war ihm erst am Morgen wieder eingefallen, und fünfzehn Sekunden bei Google hatten ausgereicht, um zu beweisen, dass er recht hatte: plus/minus sechzig Prozent. Ein Sieg, den man nicht überbewerten sollte, aber damit waren die Weichen für den Tag richtig gestellt. Als er quer durch die Stadt zur U-Bahn-Station Union Square gegangen war, hatte er zur Belohnung auf dem iPhone If Your’re Feeling Sinister von Belle & Sebastian gehört. Es war nicht neu, aber momentan sein Lieblingsalbum, und er teilte es sich ein, damit er es sich nicht leid hörte und richtig auskosten konnte.

Als er vor der Schule angekommen war, hatte er noch nicht darüber nachgedacht, warum Mrs Fielding ihn so früh am Morgen einbestellt hatte. Wes hatte Mrs Fielding recht gern, aber er mochte eigentlich alle Lehrer, nachdem er kapiert hatte, dass die unangenehmen, aber unausweichlichen Dinge in der Schule, zum Beispiel Naturwissenschaften, viel leichter zu ertragen waren, wenn man den Lehrern, die man sonst nicht ausstehen konnte, Mitleid und Erbarmen entgegenbrachte. Wes hatte schon früh begriffen, dass gemeine oder ungeduldige Menschen fast immer unglücklich waren, vielleicht sogar proportional zu ihrer Gemeinheit, und danach hatte er sich angewöhnt, die Lehrer zu bemitleiden, die ihn weniger gern hatten, weil er in ihrem Fach nicht so gut war. Das betraf alle Naturwissenschaften und Mathe, von Fußball ganz zu schweigen. In Englisch war alles anders, weil er in diesem Fach als einer der besten Schüler der ganzen Schule galt; er selbst sah sich jedoch nicht so. Klar, er las gerne und wusste, dass er bestechend flüssige Texte schreiben konnte, die jedoch nicht selten oberflächlich waren. Das traf jedenfalls auf die Facharbeit für Mrs Fielding zu – er hatte sie im Bett geschrieben, in einem Rutsch. Er wusste aber auch etwas über sich, das wegen seiner gefälligen Texte nur die scharfsinnigsten Lehrer durchschauten: nämlich, dass er faul und undiszipliniert im Denken war und sich allzu oft auf die funkelnde Oberfläche der Wörter verließ, unter denen er seine Verachtung für wissenschaftliche Frömmelei verbarg. In letzter Zeit hatte Mrs Fielding angedeutet, dass sie ihm allmählich auf die Schliche kam. Es war unwahrscheinlich, dass sie ihn herzitiert hatte, um ihn für seine jüngsten Ergüsse über den grünen Klee zu loben.

Am Freitagmorgen hatte sie in Raum 405 an ihrem Schreibtisch auf ihn gewartet. Sie hatte ein nettes Gesicht und eine blassblonde Ponyfrisur, die den gehässigen Mädchen in seiner Klasse zufolge das Werk eines herausragenden und exorbitant teuren Farbspezialisten war. Wes hatte keine Ahnung von solchen Dingen. Überdies waren sie ihm vollkommen egal. Seiner Meinung nach zielten sämtliche Bemerkungen über die äußere Erscheinung von Lehrern nur darauf, eine Person zu entmenschlichen, die für wenig Geld einen schwierigen Job erledigte, und das – jedenfalls auf der Dalton – sehr gut. Wes wusste seine Lehrer zu schätzen, auch wenn sie es nicht merkten, doch er fand, es gab einen Unterschied zwischen Schmeichelei und der Absicht, es jemandem nicht allzu schwer zu machen. Er glaubte, dazwischen gut jonglieren zu können. Schüler, die sich einschmeichelten, wurden sowohl von ihren Mitschülern als auch von den Lehrern mit Verachtung gestraft und nur selten dafür belohnt. Doch mit dem Termin bei Mrs Fielding hatte Wes unbekanntes Terrain betreten. Er war es nicht gewohnt, in der Schule Ärger zu machen oder zu bekommen, und hatte nicht genau gewusst, wie er sich verhalten sollte. Mrs Fielding hatte ihn durchaus offen angelächelt; sie hatte pinkfarbenen Lippenstift auf einem Schneidezahn und Wes hatte sofort weggesehen, nur um noch einen pinkfarbenen Fleck in Lippenform am Rand ihrer himmelblauen Kaffeetasse mit Motiven aus der griechischen Antike zu entdecken. Die vor zwei Tagen abgegebene Arbeit hatte neben der Tasse auf dem Schreibtisch gelegen. Es war geradezu unheimlich, dass nirgends rote Tinte zu sehen war. Als er Mrs Fielding erneut angesehen hatte, hatte sie nicht mehr gelächelt, obwohl man fairerweise auch nicht sagen konnte, sie hätte Missbilligung ausgestrahlt.

«Guten Morgen, Wes», hatte sie gesagt und auf den Stuhl gegenüber gezeigt. «Danke, dass Sie so früh gekommen sind.»

Wes hatte sich hingesetzt und nicht gewusst, wohin mit seinem Blick.

Mrs Fielding schien zu erwarten, dass er etwas sagte – er hatte immer etwas zu sagen –, doch als er weiterhin schwieg, hatte sie seine Arbeit weiter nach vorne geschoben, bis sie zwischen ihnen lag.

«Sie wissen vermutlich, warum ich um dieses Gespräch gebeten habe.»

«Ist mit der Arbeit etwas nicht in Ordnung?»

Mrs Fielding hatte zart geschnaubt und dann, nachdem ihr diese Reaktion wohl doch unangemessen erschienen war, leise geseufzt.

«Nein, das kann man so nicht sagen», hatte sie zögerlich angesetzt. «Sie ist gut geschrieben, ohne Rechtschreib- und Grammatikfehler, sauber aufbereitet, durchdacht und stellenweise provokant. Aber sie bezieht sich nicht auf die Aufgabe, und das wissen Sie genau.»

Wes hatte wieder nicht gewusst, was er sagen sollte.

«Bitte lesen Sie mir die Aufgabe noch einmal vor, ja, Wes?»

Er hatte die Arbeit an den Rand des Schreibtischs gezogen und sich darübergebeugt, als könnte er durch ernsthafte Konzentration auf ihre Aufforderung beweisen, wie sehr er bei der Sache war, und auf diese Weise seinen Frevel mildern. Er hatte sich geräuspert und leise und ernst die Aufgabe vorgelesen, die oben auf der ersten Seite stand.

«Die Autoren von Candide oder der Optimismus, von Stolz und Vorurteil und Die Nase betonen die Bedeutung ihrer sozialen und psychologischen Themen sowohl über den Sprachstil und die Erzählstrukturen als auch über den Handlungsverlauf und die Figurencharakterisierung. Schreiben Sie unter Zuhilfenahme des kritischen Instrumentariums, das Ihnen zur Verfügung steht, eine entsprechende Erörterung zu einem literarischen Werk Ihrer Wahl.»

Darauf folgte eine lange Pause, die Mrs Fielding offenbar nichts ausmachte.

«Verstanden?»

Wes hatte es verstanden – selbstverständlich war es ihm schon beim Schreiben klar gewesen, aber er hatte gedacht, er würde damit durchkommen –, doch der Form halber nahm er eine gewisse Verteidigungshaltung ein.

«Da steht ‹Werk Ihrer Wahl› », murmelte er lahm.

« ‹Ein literarisches Werk Ihrer Wahl›, Wes. Wir sind hier im Literaturkurs.»

Wes hatte sie absichtlich missverstanden. «Ich weiß, es stammt nicht aus Europa, aber …»

«Es ist mir ganz egal, ob es aus Europa stammt oder nicht. Sonst hätte ich geschrieben ‹ein Werk Ihrer Wahl aus der europäischen Literatur›. Doch da stand ‹literarisches Werk›, und Sie haben es vorgezogen, über ein nicht literarisches Werk zu schreiben. Insofern haben Sie die Aufgabe verfehlt.»

«Ich halte es schon für literarisch.»

Mrs Fielding hatte mit allen zehn Fingerspitzen an den Rand der Schreibtischplatte geschlagen, wie Wes es schon tausend Mal erlebt hatte, wenn ein Schüler die einfachsten Dinge nicht begriff. «Mensch, Wes, wie viele Kurse hatten wir beide im Lauf der Jahre schon zusammen? Kampf, Entschlossenheit, Wachstum, Selbsterkenntnis, Anmaßung, Unterwerfung, die Ilias, Romeo und Julia, Der stille Amerikaner. Sie sollten mich kennen. Und Sie sollten sich für so etwas zu schade sein.»

«Ich dachte … ein Bruch mit der Tradition …»

«Nein, Sie haben sich für überschlau gehalten und waren dabei selbstgefällig und faul. Sie dachten, Ihre Bilderstürmerei und Ihr Scharfsinn würden mich blenden, sodass ich nicht merken würde, dass Sie kaum aus dem Bett aufgestanden sind, um das hier zu schreiben. Und deshalb verlange ich, dass Sie die Facharbeit noch mal schreiben. Nicht, weil die Bedienungsanleitung für das M16 der amerikanischen Armee kein geeignetes Thema für einen Projektkurs in Europäischer Literatur darstellt, obwohl auch das zutrifft, sondern weil Sie mit etwas durchkommen wollten, was Ihrer nicht würdig ist.»

«Okay.»

«Geben Sie sich Mühe, Wes. Strengen Sie sich an. Sie sind zu jung und zu intelligent, um den Weg des geringsten Widerstands zu wählen. Wenn Sie sich jetzt schon, in Ihrem jugendlichen Alter, auf Ihren Lorbeeren ausruhen, wird nie was aus Ihnen.»

«Danke, Mrs Fielding. Ich weiß das zu schätzen, wirklich. Wann muss ich abgeben?»