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Doris Dörrie

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Beschreibung

Ein Sommer in Spanien, nach dem nichts mehr so sein kann, wie es war. Vier äußerst unterschiedliche Menschen, alle auf der Suche nach der Sonnenseite des Lebens. Aber kann man das Glück buchen wie einen Urlaub, Alles inklusive? Ein herzzerreißend komischer Roman über Mütter und Töchter, über die Zumutungen der Liebe und das Glück der Freundschaft, und über unsere ewige Sehnsucht nach dem Süden. "

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Seitenzahl: 299

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Doris Dörrie

Alles inklusive

Roman

Die Erstausgabe

erschien 2011 im Diogenes Verlag

Das Gedicht Nicht müde werden

von Hilde Domin, das auf Seite 171

zitiert wird, stammt aus: Hilde Domin,

Gesammelte Gedichte, S. Fischer,

Frankfurt a.M. 1987

Umschlagfoto:

Copyright ©Doris Dörrie

Für Patchicha,

Lieselotte, Carlchen

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24193 8 (4. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60222 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Danke für Ihren Besuch

Apple

Ich habe ein paar Dinge gesehen. Ich sollte am Pool bleiben mit dem fremden Jungen. Seinen Namen hatte mir meine Mutter vorher gesagt, aber ich hatte nicht zugehört. Jetzt traute ich mich nicht mehr, ihn danach zu fragen.

Apple, bleib doch am Pool, sagte meine Mutter. Wann hast du schon mal die Gelegenheit, in einem Pool zu schwimmen? Bleibt ihr beide hier und spielt ein bisschen. Karl zeigt mir kurz mal das Haus.

Sie hob ihre dicken Haare im Nacken an, wedelte sich darunter Luft zu und stöhnte über die Hitze. Die war jeden Tag dieselbe, und ich verstand nicht, warum sie sie auf einmal erwähnte.

Sie winkte mir noch einmal zu, was sie sonst auch nie tat, und ging mit Karl, dem Vater des Jungen, ins Haus. Ich hörte sie kichern, dann war es still.

Der fremde Junge zeigte mir den Unterschied zwischen seinem braunen Bauch und der weißen Haut unter seiner Badehose. Ich zeigte ihm meinen Unterschied, der besser war als seiner. Wenn ich mich nach vorn beugte, wurde mein Bauch schwarz, und die Haut unter meiner Bikinihose war so weiß wie die von Schneewittchen. Wir tranken pipigelbe, lauwarme Limo und schubsten uns abwechselnd in den Pool, und dann gab es plötzlich nichts mehr zu tun.

[6] Der Hund, ein Irish Setter, war am Rand des Pools auf und ab gelaufen, jetzt gähnte er, rollte sich im Schatten zusammen, legte den Kopf auf seine Pfoten und schloss die Augen. Ich verstand ihn. Er wollte seine Ruhe haben, mit niemandem spielen, mit niemandem sprechen.

Der fremde Junge las ein Micky-Maus-Heft. Ich sah in den blauen Himmel, bis schwarze Flecken vor meinen Augen tanzten wie Mücken. Ich warf rote Bougainvillea-Blüten ins Wasser, und niemand sagte: Lass das. Ich ging ins Haus. Der Steinboden war angenehm kühl unter meinen Füßen, mein feuchter Bikini klebte an meiner Haut, und dann sah ich die nackten Beine meiner Mutter über der Sofalehne. Ich stand da, die Kälte schoss durch meine Fußsohlen hoch bis in meinen Bauch. Die Beine meiner Mutter zuckten und tanzten in der Luft, hinter der Lehne beugte sich der Vater des fremden Jungen tief über sie.

Spanische Stimmen riefen laut aus dem Fernseher. Es kümmerte die beiden nicht.

Der Hund kam ins Zimmer und stieß seine nasse Schnauze in meine Hand. Ich ging mit ihm zurück an den Pool und legte mich auf den heißen Beton, der meine Haut aufheizte, aber das kalte Gefühl im Bauch blieb. Der Hund legte sich neben mich und sah mich ruhig an.

Seine Augen glänzten braun wie Malzbonbons. Er sagte zu mir: Du hast nichts gesehen. Alles ist gut. Ich verliebte mich in diesen Hund. Meine Mutter mochte keine Hunde.

Meine Mutter war die Strandkönigin von Torremolinos. Ihr nackter Busen war der schönste von allen, das konnte jeder sehen. Er war kugelrund und fest, mit einem leichten [7] Schwuppdich nach oben. Ich betete, dass ich einen Busen bekäme wie sie, aber bisher war von vorne nichts zu sehen, nur von der Seite eine winzige Vorwölbung, und auch nur, wenn ich den Bauch einzog. Ich trug immer meinen Bikini, blau mit rot-weißen Streifen, ich war die Einzige, die nicht nackt war an unserem Strand. Auf der anderen Seite der Bucht sind die Spießer, sagte meine Mutter. Mit ihren bunten Badeanzügen lagen sie dort wie Smarties in der Sonne. Ich wäre gern dort auf der anderen Seite gewesen. Dort waren auch Karl und seine Frau, sein Sohn und der Hund. Meine Mutter hätte von mir aus den Vater und den Sohn haben können, wenn ich den Hund bekäme. Und meinetwegen auch die Frau. Sie war nett und trug einen schönen Badeanzug.

Vielleicht hatte meine Mutter ähnliche Träume. Vielleicht träumte auch sie manchmal von einem Haus mit richtigen Betten und kühlen, weißen, glattgebügelten Laken, von einem Badezimmer mit Klo und Dusche und Süßwasser, das aus allen Hähnen sprudelte.

Wir schliefen in stinkenden Schlafsäcken in einem Zelt unter Kiefernbäumen, gleich hinter dem Strand. Die Kiefernnadeln stachen in die Füße, und es roch nach verfaulten Bananen.

Ich war einsam, meine Mutter war einsam, und wir wussten es voneinander, das war das Schlimmste.

Unser Zelt war gelb, und wenn ich morgens vor meiner Mutter aufwachte und die Sonne schon am Himmel stand, waren wir beide gelb im Gesicht. Auf der Zeltwand bewegten sich die Schatten der Kiefernzweige im Wind. Die anderen Kinder saßen in Ferienhäusern und durften [8] Zeichentrickfilme im Fernsehen schauen. Meine Mutter schnarchte leise, und manchmal seufzte sie im Schlaf.

Wir waren hier nicht in den Ferien, sondern um Geld zu verdienen. Zu Hause, in Göttingen, arbeitete meine Mutter in einer Studentenkneipe und roch abends, wenn sie nach Hause kam, nach Bier und Toast Hawaii. Dort hatte sie gehört, man könne in Spanien im Sommer tonnenweise Geld mit Schmuck verdienen.

Ich half ihr, Perlenketten aufzuziehen, und klaute Gabeln aus Restaurants, die sie in den heißen Sand legte, bis sie ein wenig weich geworden waren, und dann mit einer Kneifzange zu Armreifen verbog. Das war ihre Erfindung, und im Sommer zuvor waren sie ein Riesenhit gewesen, aber dieses Jahr wollte sie bereits niemand mehr haben.

Deshalb durfte ich diesen Sommer in der Strandbar von Gustavo keine bocadillos mehr essen, die waren zu teuer. Wir kauften Brot und Wurst in einem Supermarkt, die Wurst färbte die Finger und das Brot orangerot. Gustavo gab mir ab und zu eine Limo umsonst und Kartoffelchips, dafür räumte ich die Tische ab und sammelte die zerknüllten Servietten aus dem Sand, auf denen in dünner blauer Schrift stand: Gracias por su visita. Danke für Ihren Besuch, so viel Spanisch hatte ich inzwischen aufgeschnappt.

Meine Mutter breitete jeden Tag ein Tuch für ihren Schmuck beim großen Felsen aus, in dessen Schatten ich am Nachmittag oft ein Nickerchen hielt. Auf der anderen Seite der Bucht gab es Sonnenschirme und Liegen. Meine Mutter war immer nackt bis auf die bunten Ketten, die sie um den Hals trug, und die vielen gebogenen Gabeln bis hinauf zum Oberarm.

[9] Die Männer grüßten sie mit Küsschen, die Frauen übersahen sie gern, strichen dafür mir durchs Haar und steckten mir alte, klebrige Bonbons zu. Wir blieben bis nach Sonnenuntergang am Strand. Kurz bevor die Sonne ins Meer tauchte – lange Zeit dachte ich, sie leuchte unter Wasser weiter und die Fische bekämen nachts Licht, so wie wir am Tag –, kamen Leute mit Bongotrommeln und Kisten voller Bier und trommelten, bis die Sonne verschwunden war und alle applaudierten, als habe die Sonne es wieder besonders gut gemacht. Die Frauen und meine Mutter tanzten, und ich bewachte den Schmuck, denn abends gab es manchmal noch ein ganz gutes Geschäft. Ich sah meine Mutter nicht gerne tanzen, sie wirkte dann so, als vergesse sie alles um sich herum, auch mich.

Nachts im Zelt weinte sie oft und versuchte, es vor mir zu verbergen, aber ich hörte es immer. In Spanien durfte ich nicht Mutti zu ihr sagen, sondern Ingrid. Als Ingrid fühlte sie sich nicht richtig an wie meine Mutter.

Am Wochenende fuhren wir auf einen staubigen Hippiemarkt und verbrachten dort den ganzen Tag in glühender Hitze auf unserer Decke. Es kamen Busladungen voller Touristen, die manchmal einen Gabelarmreif in die Hand nahmen, sich auf Deutsch nach dem Preis erkundigten. Wenn meine Mutter ihnen den Preis nannte, legten sie ihn meist wieder hin. Manche fragten mich, ob ich nicht in die Schule müsse und wann ich mir denn mal die Haare wüsche. Andere fanden meine Rastalocken süß. Ich mochte sie nicht, meine Haare verfilzten im Meerwasser immer mehr, und ich hätte sie gern abgeschnitten, aber das erlaubte meine Mutter nicht. Manchmal schüttete ich mir heimlich teures [10] Mineralwasser aus der Flasche über die Haare, aber das half nur kurz. Ich sehnte mich nach Süßwasser so sehr wie nach meinen Freunden und kühlen Regentagen in Göttingen. Ich hasste die spanische Hitze, die mir morgens schon wie ein Hammer auf den Kopf schlug, wenn ich aus dem Zelt kroch, mir den ganzen Tag Durst machte, mir in die Augen stach, mich platt und müde und schwitzig werden ließ.

Ich versuchte, so viel wie möglich zu dösen, mich nach Hause zu träumen, zusammengerollt lag ich auf der Decke, inmitten des Schmucks meiner Mutter, wie ein Hundchen.

Apple, sagte meine Mutter, wach auf, und hilf mir zusammenräumen.

Sie zählte seufzend das wenige Geld, das sie eingenommen hatte. Und obwohl ich sehen konnte, dass sie müde, staubig und verschwitzt war und das alles nur tat, um uns beide durchzubringen, hasste ich sie, weil sie mir meinen deutschen Sommer wegnahm.

Zu Hause laufe ich barfuß am Morgen über die Wiese, da ist das Gras noch nass und kalt, die Nacktschnecken kommen langsam über die Wege gekrochen, und wenn ich sie mit dem Finger antitsche, ziehen sie erschrocken die Fühler ein. Ich klaube sie auf, sie fühlen sich feucht und glitschig an wie die eigene Zunge, wenn man versucht, sie sich aus dem Mund zu ziehen, nur kälter. Ich setze sie mir aufs Bein und warte, bis sie denken, dass die Luft rein ist, ihre Fühler nacheinander wieder ausfahren und weiterkriechen. Ihre Schleimspur trocknet silbrig in der Sonne und schimmert wie Schmuck auf meiner Haut. Hintereinander, in einer geraden Schlange wie brave Kindergartenkinder, ziehen sie mein Bein herauf, [11] man darf nicht schreien, nicht kichern, sie nicht abschütteln, sonst hat man verloren.

Im Blumengarten werfe ich mich ins Gras und schaue dem Klatschmohn von unten zu, wie er von fetten Hummeln besucht wird, die zitternd vor Gier in ihn hinabtauchen und seine roten Blütenblätter zum Beben bringen.

Die Hummeln sehen aus, als trügen sie ein Hummelkostüm wie zu Fasching, und ich stelle mir vor, dass sie es abends ausziehen und an den Nagel hängen, sich nackt, dünn und grau an einen winzigen Tisch setzen und Honig löffeln, bis sie nicht mehr können.

Ich gehe durch die Himbeerhecken wie durch einen hohen Wald, die Früchte hängen rechts und links von mir in Augenhöhe, ich stopfe sie in mich hinein und werde nicht satt. Man kann sie auf jeden Finger setzen wie kleine Hüte und sie nacheinander mit den Lippen abzupfen, manchmal windet sich eine kleine weiße Made im Inneren der Beere, ich esse sie ohne Abscheu mit und versuche, sie herauszuschmecken, aber Maden schmecken einfach nach gar nichts.

Ich bin so klein, dass ich im Himbeerwald verschwinde und niemand mich finden kann. Ich schlage mich hindurch wie ein Krieger durch den Dschungel, auf der anderen Seite wachsen die Stachelbeeren. Es gibt gelbe und schwarze, die schwarzen haben eine dickere Haut, und das Glück ist vollkommen, wenn man eine erwischt, die wirklich reif ist. Dann explodiert die Süße betörend im Mund. Die gelben haben einen weichen Pelz, den reibe ich an meiner Backe wie ein kleines Tier. Die Stachelbeerbüsche zerkratzen mir Arme und Beine, die Stacheln bleiben stecken im Fleisch, mutig muss ich sie herausziehen und bin danach ganz stolz.

[12] Johannisbeeren sind immer ein wenig enttäuschend, weil sie nie süß sind und ihre Kerne bitter, aber man kann sie so schön vom Stengel abstreifen und die roten Beeren in der hohlen Hand tragen wie Glasperlenschmuck. Keine einzige darf man zerquetschen, man muss den Schatz nach Hause tragen, bis unter die Rotbuche, deren Äste bis zum Boden hängen und einen verbergen. Dort wohne ich, dort hause ich, jeden Tag wieder. Wenn es regnet, wird man hier nicht nass, wenn es dunkel wird, lasse ich alle nach mir rufen, bis sie aufgeben und ins Haus zurückgehen, dann bin ich beleidigt, dass sie nicht mehr weitersuchen, und komme heraus und trinke Himbeersirup in der großen Küche, deren Steinfußboden so kalt ist, dass einem die Füße weh tun.

Abends werden die Kühe von der Weide zurück in den Stall getrieben, ihre schwarzen Hufe sind zu klein für ihren Körper, wie zu enge Stöckelschuhe, vorsichtig tappen sie über den Asphalt, sie haben es nicht eilig, sehen sich neugierig um, stupsen mich mit ihren grauen, feuchten Mäulern an, schlecken meine Hand mit ihren kratzigen Zungen und atmen langsam aus, als würden sie seufzen. Mit beiden Füßen springe ich in einen frischen, warm dampfenden Kuhklack hinein und schaue zu, wie der grünbraune Brei zwischen den Zehen hervorquillt, dazu muss man schreien und kreischen, so laut man kann, dass sich die Kühe noch einmal nach einem umdrehen und milde lächeln über das große Sommerglück.

Auf dem Hippiemarkt sah ich Karls Frau zum ersten Mal, da war ich schon in ihrem Haus gewesen, war in ihrem Pool geschwommen, hatte auf ihrem Stuhl gesessen, an ihrem [13] Tisch gegessen. Ich wusste nur, wer sie war, weil ihr Sohn dabei war, dessen Namen ich mir nicht merken konnte.

Sie blieb vor unserer Decke stehen. Sie trug ein weißes, enges Kleid und einen passenden Sonnenhut, ihre Haare hingen nicht einfach nur glatt herunter wie bei allen anderen Frauen, die ich kannte, sondern waren kompliziert frisiert, ihr Lippenstift war rosa und ihre Handtasche mit weißen Blüten verziert. Sie ging elegant in die Hocke, nahm einen Armreif und sagte zu ihrem Sohn, der ein deutsches Fußballhemd trug und gelangweilt neben ihr stand und so tat, als kenne er mich nicht: Guck mal, das ist doch wirklich originell!

Der Junge hatte den schönen Hund an seiner Seite, der mich ebenfalls nicht erkennen wollte, was mich schmerzte, als sei es ein Verrat. Der Junge zuckte mit den Schultern und sah weg.

Cuánto cuesta?, wandte sie sich an mich, und als ich ihr auf Deutsch den Preis nannte, lächelte sie und fragte: Lässt du mit dir handeln?

Darf ich nicht, sagte ich. Meine Mutter kommt aber gleich wieder.

Wenn’s mehr kostet, muss ich meinen Mann fragen.

Sie richtete sich auf und sah sich suchend um, und nur wenige Sekunden später trafen Karl und meine Mutter zeitgleich aus verschiedenen Richtungen ein, und ich sah ihnen dabei zu, wie sie aufeinander zuflogen. Jeder konnte es sehen, dachte ich. Wieso sieht es denn keiner?

Aber seine Frau lächelte meine Mutter freundlich an, und meine Mutter lächelte zurück. Meine wilde, zottelige, schöne Mutter im Batikfetzen, und auf der anderen Seite dieser [14] gutaussehende Mann mit seinem strahlend weißen, gebügelten Hemd und den akkurat geschnittenen braunen Haaren. Er sah so anders aus als die zugewachsenen Freunde meiner Mutter, die mit ihren langen Haaren und dichten Bärten für mich manchmal schwer auseinanderzuhalten waren. Perfekt und fremd standen Karl, seine Frau, sein Sohn und sein Hund meiner Mutter und mir gegenüber. Neid stieg in mir auf und fühlte sich an wie Übelkeit.

Wie heißt du denn?, fragte mich Karls Frau.

Karl und ihr Sohn schwiegen eisern, und ich antwortete nicht, weil ich mich meines dämlichen Namens schämte.

Meine Mutter sagte: Apple, wie der Apfel.

Wie hübsch, sagte die Frau zu mir. Ich liebe Äpfel.

Karl kaufte seiner Frau den Armreif, legte seine Hand auf ihre Schulter, als sie gingen, und dann sah er sich noch einmal um. Sein Blick traf mich ebenso wie meine Mutter, für die er bestimmt war.

Am nächsten Tag besuchte er meine Mutter wieder an unserem Strand. Er trug immer eine blaue Badehose, und so war ich nicht mehr die Einzige, die nicht nackt war. Er schüttelte mir die Hand. Na?, sagte er. Wie geht’s dem Apfel?

Ich schwieg verlegen. Meine Mutter strahlte.

Sie warteten, dass ich ins Wasser gehen würde, deshalb ging ich nicht, bis meine Mutter mich wegschicken musste und ich sie vorwurfsvoll ansehen konnte. Unter Wasser tat ich so, als gäbe es die Welt über Wasser nicht. Ich hielt mich in der Strömung an einem Felsen fest, die Wellen bewegten meinen Körper, ich hörte meinem lauten Atem im Schnorchel zu. Durchsichtige Krabben wanderten über den [15] Meeresboden, blaue Fischchen zupften zaghaft an meinen Armen. Ich wollte unter Wasser leben wie der kleine Wassermann aus meinem Lieblingskinderbuch, nie mehr an die Oberfläche kommen, aber meine Finger wurden weiß und wellig, als sei ich bereits tot. Ich weinte versuchsweise unter Wasser in meine Taucherbrille und probierte den Schrecken aus, der plötzlich auftauchen würde, da war ich sicher, so wie man im warmen Meer tief unten mit den Füßen eine eiskalte Strömung spüren kann.

Wenn ich an den Strand zurückkam, waren sie fort. Meine Lippen waren taub, mein Mund schmeckte nach Gummi, meine Zähne schmerzten vom Zusammenbeißen des Schnorchels. Die Decke mit dem Schmuck war ordentlich zusammengefaltet und mit einem Stein beschwert. Gustavo gab mir eine Limo und manchmal auch ein bocadillo und sah mich mitleidig an. Gracias por su visita.

Ich buddelte im Sand, baute Burgen und wusste, dass ich zu groß dafür war. Es funktionierte nicht mehr wie früher, es blieben bescheuerte Sandburgen, in denen keine Prinzessinnen mit Fröschen im Bett lagen.

Immer kam sie allein zurück und tat so, als hätte sie etwas Wichtiges zu erledigen gehabt.

Diesmal erkannte der Hund mich wieder. Er lag vorm Supermarkt und stand auf, als er mich sah. Mein Herz klopfte vor Freude. Meine Mutter war schon hineingegangen, und die Frau von Karl kam mit Tüten bepackt heraus. Auch sie erkannte mich.

Hat es dir gefallen bei uns?, fragte sie. Timmie hat mir erzählt, du hast ihn neulich besucht.

[16] Ich war verwirrt, denn ich dachte, es wäre ein Geheimnis gewesen. Der Pool ist schön, sagte ich, und meine Stimme klang piepsig wie von einem Kleinkind.

Möchtest du mit uns an den Strand fahren? Tim würde sich bestimmt freuen. Er langweilt sich, weil er hier keine anderen Kinder kennt. Ich frage deine Mutter, ob du darfst.

Sie ging wieder hinein. Mir wurde schwindlig, ich wusste nicht, wen ich warnen sollte, sie oder meine Mutter.

Der Hund schleckte meine Hand, und ich fing an zu weinen vor Angst.

Die beiden Frauen kamen zusammen heraus wie Freundinnen.

Meine Mutter küsste mich auf den Kopf. Warum heulst du denn?

Ich heule nicht, sagte ich. Ich hab entzündete Augen vom Meerwasser.

Sie lebt praktisch unter Wasser, lachte meine Mutter, sie ist der kleine Wassermann, bald bekommt sie Schwimmhäute. Sei nett zu Frau Birker. Tschüss und viel Spaß!

Sie winkte, als wir an ihr vorbeifuhren. Ich saß auf dem Beifahrersitz, und der Hund schnupperte an meinem Nacken. Das Verdeck war offen, Frau Birker trug ihren weißen Sonnenhut und eine weiße Sonnenbrille, meine Haare wehten mir ins Gesicht, über mir flog der Himmel immer schneller. Warum fuhren Frau Birker, der Hund und ich nicht einfach davon?

Ich brauche noch schnell einen Espresso, sagte sie.

Wir setzten uns in ein Café am Straßenrand, sie kaufte mir ein Eis. Jeder denkt, sie ist meine Mutter, dachte ich stolz und schleckte das Eis so langsam wie möglich. Frau Birker [17] trug den Gabelarmreif, der so hell in der Sonne blinkte, dass er mich blendete.

Apple, sagte sie, und so, wie sie meinen Namen aussprach, klang er nicht so schlimm wie sonst. Was macht eigentlich dein Vater?

Ich log schneller, als ich denken konnte. Er muss arbeiten, er ist Arzt.

Ach, wirklich?, sagte sie und nahm ihre Brille ab. Das ist ja traurig für euch, dass er gar nicht mit in die Ferien kommen kann.

Ja, schon, aber er bekommt sowieso immer Sonnenbrand, plapperte ich, erst ist er schneeweiß und dann puterrot. Ich muss ihm immerzu den Rücken eincremen, aber das hilft nichts.

Da geht es ihm ja wie mir, sagte Frau Birker. Aber seine Haut hast du zum Glück nicht geerbt.

Das Meer kann er auch nicht ausstehen, fügte ich schnell hinzu.

Ich mag’s auch nicht besonders, sagte sie. Ich habe Angst vorm Meer. Wenn ich schwimme, denke ich, unter mir sind riesige Fische, die mich von unten anschauen und mich fressen wollen. Ich fühle mich beobachtet, und plötzlich kann ich gar nicht mehr richtig schwimmen und bekomme Todesangst. Weißt du, was ich meine?

Ich nickte und verstand kein Wort.

Mein Mann lacht mich aus, sagte sie. Er findet mich lächerlich. Er findet mich durch und durch lächerlich. Er sagt, ich bilde mir Dinge ein. Ich halluziniere, ich bin hysterisch.

Danke für das Eis, Frau Birker, sagte ich.

[18] Du kannst mich ruhig Heike nennen, sagte sie, aber das tat ich dann nie. Nur in Gedanken. In Gedanken nannte ich sie noch oft so.

Tim und Karl, den ich jetzt brav Herrn Birker nannte, warteten bereits am Strand. Sie hatten zwei Strandliegen gemietet und einen Sonnenschirm, sie tranken kalte Cola, und Herr Birker las ein Buch. Ich sah jetzt von der anderen Seite auf unseren Strand, wo es keine bunten Punkte gab, weil alle dort nackt waren, nur weiße, hellbraune und dunkelbraune Flecken, die mit dem Sand verschmolzen, und wo meine Mutter wahrscheinlich wie immer auf ihrem Tuch mit ihrem Schmuck saß.

Lass deine Mutter auf die Liege, sagte Herr Birker, ohne von seinem Buch aufzublicken. Tim stand auf und warf sich in den Sand. Der Hund legte sich in den Schatten, und ich kraulte sein warmes Fell. Frau Birker zog ihr Kleid aus und hängte es sorgfältig über die Innenstäbe des Sonnenschirms. Sie trug einen weißen Bikini mit roten Mohnblüten. Ihre Haut war tatsächlich schneeweiß und hob sich kaum von ihrem Bikini ab.

Warum spielt ihr nichts?, fragte sie Tim.

Tim sah mich nicht an. Er ließ Sand auf die Beine seines Vaters rieseln. Gehst du mit ins Wasser?, fragte er. Gehst du mit ins Wasser? Gehst du mit ins Wasser? Herr Birker hielt sich sein Buch weiter vors Gesicht.

Jetzt komm schon, Karl, sagte Frau Birker. Und nimm beide Kinder mit.

Er seufzte, stand auf, ging zum Meer und zog eine blaue Luftmatratze hinter sich her.

[19] Geh nur, sagte Frau Birker freundlich zu mir.

Ich legte mich mit Tim auf die Luftmatratze, und Herr Birker spielte den Wal, der unter der Matratze hindurchtauchte und sie umwarf. Wir kreischten, so laut wir konnten. Beim dritten oder vierten Mal begann es mir Spaß zu machen. Ich krallte mich an Tim fest und er sich an mir, und wir warfen uns auf den Rücken des Wals. Er schnaufte und spritzte, schüttelte uns ab, und kaum lagen wir wieder auf der Matte, griff er von neuem an. Ich schlang meine Arme um Karls Hals und ließ nicht mehr los. Ich ritt auf seinem breiten Rücken und spürte seine nasse Haut. Er klaubte mich von seinem Rücken und hielt mich einen Moment lang in den Armen. Ich legte mein Gesicht an seine Brust. Er warf mich hoch und ins Wasser, ich ging unter, wurde durchsichtig wie eine Krabbe, ich sah seine behaarten Beine und seine blaue Badehose. Ich wollte unter Wasser bleiben, denn über Wasser war alles nur kompliziert. Als ich wieder auftauchte, war Karl schon auf dem Weg zurück an den Strand. Er zog seine Badehose hoch und schüttelte das Wasser aus seinen Haaren. Allein wussten Tim und ich nicht, was wir miteinander anfangen sollten. Wir liefen Karl hinterher.

Frau Birker reichte Karl ein Handtuch.

Ach, Heike, sagte er barsch, das ist ja voller Sand!

Entschuldigung, der Herr, sagte sie.

Ich wälzte mich nass im Sand. Paniertes Schnitzel, nannte meine Mutter das. Ich schloss die brennenden Augen, und der Hund legte sich wie ein großes haariges Kissen an meine Seite.

Ich geh mal ne Zeitung holen, sagte Herr Birker.

[20] Ich öffnete die Augen. Er trug sein weißes Hemd und streckte die Hand aus.

Frau Birker holte die Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. Aber bleib nicht wieder endlos weg, sagte sie, ich verdorre hier sonst wie eine Primel. Sie lachte nach einer kleinen Pause kurz, als habe sie vergessen, rechtzeitig zu lachen.

Er griff nach den Schlüsseln, aber sie behielt sie noch in der Hand. Sie reckte ihm ihr Gesicht entgegen.

Kuss, sagte sie.

Er küsste sie flüchtig und ging davon. Wir sahen ihm hinterher.

Gracias por su visita, murmelte ich.

[21] Herr Hase

Tim

Immer noch rufe ich im Traum nach ihr: Mama! Wo bist du? Mama!

Ich habe sie damals gefunden, und ich finde sie immer noch, obwohl es mehr als dreißig Jahre her ist. Ich laufe durchs Haus, die kühlen Fliesen unter den Füßen, draußen zittert das Wasser im Pool und wirft wacklige Sonnenkringel an die weißen Wände. An unseren Hund erinnere ich mich nicht. Er ist wie gelöscht. Wo war denn damals unser Hund? Warum lief er nicht aufgeregt herum, warum hat er nicht gebellt, mich nicht gewarnt?

Oft liegt sie im Schlafzimmer, bei zugezogenen Vorhängen, sie nennt es Migräne, aber ich weiß, was es ist. Ich finde sie nicht im Schlafzimmer, nicht im Wohnzimmer, nicht in meinem Zimmer. Sie legt sich manchmal in mein Bett, es riecht so glücklich, sagt sie. Ich mag es nicht, wenn sie so etwas sagt. Ich mag es noch weniger, wenn sie weint und mich so fest an sich drückt, dass ich kaum Luft bekomme. Ich spüre ihren Schmerz wie eine Brandwunde, die nichts kühlen kann. Verzeih mir, verzeih mir, weint sie, ich bin so dumm. Stumm wie ein Stein werde ich, wenn sie so weint, ich möchte sie trösten, aber ich weiß nicht, wie. Sie lässt mich los, wirft sich auf mein Bett und drückt mein Schlaftier auf ihr Gesicht, Herrn Hase, er kann sie besser trösten [22] als ich. Ihr zuliebe lasse ich ihn in meinem Bett liegen, er ist mir peinlich, der Herr Hase, ich bin doch schon zwölf. Er hat keine Ohren mehr und sieht aus wie ein alter, brauner Waschlappen. Er erinnert mich an Zeiten, als ich noch so klein und doof war, dass ich glaubte, alles ist gut und nichts wird sich je verändern in meinem Leben.

In der Nacht, wenn ich sie mit ganz hoher Stimme mit meinem Vater streiten höre – meinen Vater höre ich dabei fast nie, deshalb denke ich, nur sie streitet, sie ist an allem schuld –, hole ich Herrn Hase dann doch unter dem Kissen hervor und kaue an seinen kaputten Ohren. Aber Herr Hase kann nicht mehr helfen. Er spricht nicht mehr mit mir wie früher, oder ich kann ihn nicht mehr hören. Er ist stumm geworden und lässt mich mutterseelenallein.

Ich rufe sie im Traum: Mama! Wo bist du denn? Ich laufe in meinen Träumen durch dieses Haus, als wäre keine Zeit vergangen. Wenn ich aufwache, bin ich immer noch zwölf, mein Inneres ist verschlungen und verknotet und schmerzt, dann sehe ich meinen alten Arm mit seiner knittrigen Haut auf dem Kissen und staune, dass ich überlebt habe.

Ich laufe durchs Haus, und als ich keine Antwort bekomme, rufe ich sie wie mein Vater: Heike! Heikchen! Herrgottnochmal! Alles immer hintereinander. Heike, Heikchen, Herrgottnochmal. Sie hat sich versteckt, manchmal spielen wir Verstecken, uns ist langweilig in diesem Haus. Mein Vater ist so oft nicht da. Wir wissen nicht, wo er ist, was er macht. Ohne ihn können wir noch nicht einmal an unseren Lieblingsstrand fahren, denn er hat das Auto. Wir sitzen in dem Haus wie in einem Gefängnis, auf das die Sonne scheint. Ich schwimme so lange im Pool, bis ich das Chlor auf [23] meiner Zunge schmecke, meine Augen brennen, die Haut sich von meinen Fingerkuppen löst. Dann gehe ich ins Haus und langweile mich. Sie liegt nicht in meinem Bett. Vielleicht ist sie im Schrank. Dort hängen die Hemden meines Vaters wie weiße Segel. Jeden Tag zieht er ein frisches weißes Hemd an. Wenn ich mich im Schrank verstecke, bewegen sie sich über mir und streichen mir leicht übers Gesicht. Ich rieche die Wäschestärke. Wenn sie zu Hause in Hannover seine Hemden bügelt, mache ich am Tisch daneben meine Schulaufgaben. Das Bügeleisen zischt, Dampfwölkchen steigen auf wie Drachenatem. Tief atme ich den Geruch ein, er beruhigt mich, solange meine Mutter seine Hemden bügelt, ist alles in Ordnung. An ihrem Unterarm prangt ein dunkles Dreieck, dort hat sie sich mit dem Bügeleisen verbrannt. Scheiße, hat sie laut gerufen, diese Scheißhemden! Was bin ich für eine Idiotin, dass ich seine Scheißhemden bügle! Sie wurde ganz rot im Gesicht und legte den Kopf auf das Bügelbrett. Ich sah, wie sich ihr Rücken hob und senkte, und hielt den Atem an. Das Bügeleisen fauchte leise vor sich hin. Schließlich hob sie den Kopf und sah mich ruhig an. Manchmal muss man Scheiße sagen, sagte sie. Mach dir keine Sorgen, alles ist wieder gut.

Ich nickte, und sie bügelte weiter.

Ich laufe durchs Haus, öffne alle Türen. Mein Zimmer, das Schlafzimmer, das Gästezimmer, in dem nie ein Gast übernachtet hat. Meine Eltern haben keine Freunde. Ich laufe die Treppe hinauf auf die Terrasse, dort ist der Boden so heiß, dass ich mir die Fußsohlen verbrenne. Von hier aus sieht man das Meer. Deshalb sagt mein Vater in Deutschland, [24] unser Haus in Spanien liegt am Meer. Ich laufe zurück in mein Zimmer und lege mich in mein Bett. Der Sonnenbrand auf meinem Rücken kratzt auf dem Laken. Die Luft ist schwül und stickig, es ist dunkel, die Fensterläden in der Mittagshitze geschlossen. Es hat nichts zu essen gegeben an diesem Tag, das bin ich inzwischen gewohnt. Sie will abnehmen und isst nur noch Ananas. Nimm dir in der Küche, was du willst, sagt sie zu mir, ich darf gar nicht in die Küche gehen, sonst fange ich an zu fressen. Vielleicht bin ich eingeschlafen, ich weiß es nicht mehr. Ich hätte sie doch sehen müssen, ich war doch gerade noch im Pool.

Als ich vom Bett aufstehe, benommen von der Hitze und vielleicht auch vom Schlaf, gehe ich zum Fenster und öffne die Läden, von hier aus sehe ich auf unseren Pool, und da schwimmt sie ja. Sie trägt ihren weißen Bikini mit den Mohnblüten, sie liegt auf dem Rücken, dünne, rote Bänder an den Handgelenken, die sich im Wasser auflösen, hübsch sieht das aus, denke ich. Der Moment, in dem man dann versteht, ist der Moment, den man nie mehr vergisst. Der Körper versteht lang vor dem Gehirn.

Die Sanitäter holten sie aus dem Wasser. Auf ihren roten Jacken stand in weißen Buchstaben das Wort Ambulancia. Ihre Bikinihose war ein wenig heruntergerutscht, und als sie auf der Trage lag, sah ich den schwachen Unterschied zwischen ihrer spanischen, leicht gebräunten und ihrer deutschen, weißen Haut. Ich werde nicht braun, jammerte sie immer, ich werde einfach nicht braun. Sei froh, dass du die Haut deines Vaters geerbt hast. Sie gab sich alle Mühe, legte sich beharrlich jeden Tag in die Sonne, wurde rosa, rot, nie richtig braun.

[25] Aber darum ging es doch: schön braun zu werden. So braun wie unter deutscher Sonne niemals.

Zeigt euren Unterschied, rief sie am Frühstückstisch neben dem Pool. Am Morgen war die Sonne schon so stark, dass man der Butter zuschauen konnte, wie sie schmolz. Wir frühstückten in der Badehose. Zeigt euren Unterschied! Und dann zogen mein Vater und ich unsere Hosen ein Stückchen herunter, und sie ihren Bikinislip. Mein Vater und ich lachten sie aus, weil sie immer noch so blass war, während wir dunkelbraun waren, fast schwarz, sagte mein Vater, wie die Kalmücken, Ich verstand nicht, warum er uns mit Mücken verglich. Sie lächelte und sagte: Ich bin eben vornehmer als ihr.

Oh ja, sagte mein Vater, und sein Ton veränderte sich, das ist mir wohl bewusst. Das brauchst du mir nicht jedes Mal wieder reinzureiben.

Ach, Karl, sagte sie, das war ein Spaß. Verstehst du denn gar keinen Spaß?

Ich sah von einem zum anderen wie bei einem Pingpongspiel und wartete darauf, dass der Ball vom Tisch fiel.

Ich verstehe sehr viel Spaß, sagte mein Vater, nur vielleicht nicht das, was du für Spaß hältst. Er stand vom Frühstückstisch auf und sprang in den Pool. Wie ein Motorboot pflügte er durchs Wasser. Ich wollte kraulen lernen wie er.

Sie räumte den Tisch ab und ging in die Küche, auf ihrer Bikinihose blühte ein roter Klatschmohn. Ihre Lieblingsblume. Hat sie in Spanien nie gesehen, im Frühling die Mohnfelder unter den Olivenbäumen.

Herrlich!, hätte sie gerufen. Wir kamen nur im Sommer. Drei Sommer lang. Und dann war schon alles vorbei.

[26] Herrlich!, rief sie immer, wenn ihr etwas sehr gefiel. Mein Vater nannte sie deshalb Heike Herrlich. Herrlich!, rief sie jeden Morgen, wenn die Sonne schien.

In Spanien war der Sommer zuverlässig Sommer.

In Hannover fuhren wir bei Nieselwetter los, drei Tage später verbrannte mir die Sonne die Schultern, die Nase und die Ohren, obwohl meine Mutter mich mit Piz-Buin-Sonnencreme aus einer braunen Tube einrieb. Die Creme war gelb, stank und ließ sich schlecht verreiben. Sie fuhrwerkte mir damit im Gesicht herum und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, wenn ich nicht stillhielt.

Sie konnte jähzornig sein. Das hab ich von ihr geerbt, diese wild aufflackernde Wut, die niemand bei ihr vermutet hätte, sie war doch sonst so schüchtern und zurückhaltend. Ich hörte sie nachts schreien und mit Gegenständen nach meinem Vater werfen. Geschirr zerbrach, dumpf knallte etwas an die Wand wie ein Fußball. Am nächsten Morgen fand ich nie Spuren, als hätte ich nur geträumt. Es schien wieder die Sonne. Herrlich!, rief sie.

Sie lernte auf der langen Fahrt von Hannover nach Torremolinos Spanisch aus einem gelben Langenscheidt-Büchlein. Buenos días, buenas noches, gracias, dónde están los servicios. Jedes Jahr wieder. Ich saß mit dem Hund, der aus dem Maul stank, auf dem Rücksitz und starrte drei endlose Tage lang auf die Hinterköpfe meiner Eltern. Meine Mutter trug ein Haarteil in ihrer Hochsteckfrisur, ein kleines Nest aus braunem Haar, sie nannte es Beppi. Wenn ich ihren Beppi klaute, mir verkehrt herum auf den Kopf setzte, dass ich [27] aussah wie ein Hirtenhund, und damit in der Wohnung herumlief, brachte ich sie zum Lachen. Ich konnte sie sehr viel besser zum Lachen bringen als ihr Mann. Mein Vater war oft düster, in seiner Anwesenheit fühlte man sich schnell albern.

Als er selbst albern wurde, war das ein schlechtes Zeichen. Er ließ sein Hemd aus der Hose hängen und rasierte sich nicht mehr.

Karl, sagte mein Mutter, das sieht albern aus. Du bist doch kein Hippie.

Heute wirkt mein Vater unsicher und erstaunt, als habe ihn das eigene Alter überrascht. Er sieht immer noch gut aus. Er ist der Star im Altersheim von Torremolinos. Er wollte raus aus dem Haus, er meinte, er werde schrullig darin, so ganz allein. Ich habe ihn dort nie besucht, nie mehr wollte ich dorthin zurück. Jetzt sehe ich ihn regelmäßig im Altersheim, wenn ich da arbeite. Ich verbringe Zeit mit ihm, aber frage mich manchmal, ob ich ihn überhaupt mag. Er scheint keine Gedanken an damals zu verschwenden. Mich verlassen sie keinen Tag.

Was hast du dir damals gedacht?, habe ich ihn erst vor kurzem gefragt. Er wusste sofort, wovon ich sprach.

Ich habe nichts gedacht, das war es doch gerade, antwortete er.

Du musst dir doch irgendwas dabei gedacht haben.

Nein, sagte er. Das war es doch gerade. Man dachte sich nichts. Man durfte nicht nachdenken, dann war man spießig. Das kannte ich alles doch nicht. Ich hatte schon als junger Mann eine Ehe, eine Familie, eine Rentenversicherung.

[28] Er hat jetzt ganz helle, immer leicht tränende Augen. Früher waren seine Augen dunkler. Sie werden immer nordischer, sie vertragen das gleißende Licht Spaniens nicht mehr. Er sieht aus, als weine er, aber er weint nicht. Hat er nie.

Spanien war ihr Traum, nicht seiner. In den Süden! Wir fahren in den Süden!, sang sie laut. Ist das nicht herrlich?

Mein Vater und ich verdrehten die Augen. Heike Herrlich war uns beiden ein bisschen peinlich. Er trug auf der Fahrt immer seine blöde Kapitänsmütze, um bei geöffnetem Verdeck keinen Hitzschlag zu erleiden. Wenn die Sonne schien, wurde sofort das Verdeck aufgemacht. Wozu hatte man es sonst? Ich bekam auf dem Rücksitz Ohrensausen vom Fahrtwind, aber das kümmerte sie nicht.