Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug - Doris Dörrie - E-Book

Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug E-Book

Doris Dörrie

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Beschreibung

Vier großartige, liebevolle, traurige, grausame Geschichten: Mitten ins Herz, Männer, Geld, Paradies. Es sind Geschichten, aus denen Doris Dörrie ihre Filme entwickelt, von denen Männer der weltweit erfolgreichste deutsche Film seit Jahrzehnten wurde. Geschichten um eine Kindfrau, um Liebe und Langeweile, um Eifersucht, Geld und Erfolg. Geschichten von befreiender Frische.

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Seitenzahl: 177

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Doris Dörrie

Liebe

Schmerz

und das ganze

verdammte

Zeug

Vier Geschichten

Die Erstausgabe erschien 1987

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Richard Lindner, ›Untitled‹, 1969

Copyright © 2013, ProLitteris, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21796 4 (15. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60384 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Mitten ins Herz  [7]

Männer  [45]

Geld  [75]

Paradies  

[7] Mitten ins Herz

[9] Nach Armins Tod hatte Anna sofort alle elektrischen Geräte im Haus verschenkt oder verkauft und die Steckkontakte entfernen lassen. Außer für einige Hängelampen an der Decke floß im ganzen Haus kein Strom mehr, und so sehr Anna auch den Fernseher, das Tonband, den Schallplattenspieler oder einen Fön manchmal vermißte, so war es ihr doch auf jeden Fall lieber, sich nicht von Elektrizität umgeben zu fühlen und um Jans Sicherheit zittern zu müssen. Sie traute es sich einfach nicht länger zu, mit Strom umzugehen; fast fürchtete sie seine Rache… aber das war albern.

Mit vier Jahren hatte Jan einmal einen leichten elektrischen Schlag bekommen, als er Annas flauschigen Pullover berührte. Es gab einen kleinen Funken, und Jan brach vor Schreck in Tränen aus. Anna nahm ihn auf den Arm, trug ihn in ihr Zimmer und legte ihn aufs Bett. Jan schluchzte laut, zitterte und klammerte sich an sie, und Anna wußte, er stellte sich nicht an, er war zu Recht in Panik. Sie spürte Armin und die Vergangenheit im Rücken und drehte sich mutig und trotzig um, ging zum Schrank und zerrte den Schuhkarton mit ihren alten Fotos heraus.

Jans Schluchzen brach ab, er liebte Bilder über alles, griff sofort nach seinem Lieblingsfoto und betrachtete es aufmerksam, als wolle er überprüfen, ob darauf noch alles beim alten war: Anna mit dem glänzenden Saxophon nach ihrem ersten Konzert. Gerade 16, mit [10] schweißnassen Haaren, häßlich, glücklich. Im Hintergrund der Schlagzeuger. Jetzt fiel ihr noch nicht einmal mehr sein Name ein. Sehr sanft war er gewesen, und auf dem Bauch hatte er ein kleines Büschel sehr langer, schwarzer Haare. Wie Gras. Anna lächelte vor sich hin, und Jan grinste verständnislos zurück, die Tränen waren vergessen. Er kramte in dem Karton. Anna und Thomas in einem Fischerboot in Griechenland. Sie blickten mit gleichgültigen Mienen in entgegengesetzte Richtungen. Ein alberner Mensch mit übertriebenen Bewegungen, der ihr in dem halben Jahr, in dem sie zusammen waren, jeden Tag gesagt hatte, er liebe sie über alles. Anna nahm Jan das Foto aus der Hand. Armin vor dem kleinen roten Fiat, den er ihr zu ihrem 21. Geburtstag geschenkt hatte und den sie jetzt noch fuhr.

»War Papi sehr stark?«

»Nein, mein Schatz – das war er nicht. Aber sehr nett.«

»Was heißt nett?«

»Naja, er war sehr lieb zu mir.«

»Wart ihr Verliebte?« Jan kicherte aufgeregt.

»Nein«, sagte Anna sanft, »das waren wir nicht.«

Jan zuckte mit den Achseln und mischte das Foto wieder unter die anderen. Ihre Mutter Angelika und sie in ihrer Studentenbude in München. Anna hatte die Kamera auf Armeslänge weggehalten, ihre Mutter in den Arm genommen und auf den Auslöser gedrückt. [11] Von ihrem eigenen Gesicht war nur noch die Hälfte zu sehen, und diese Hälfte verriet nichts über den Ausdruck, den sie gehabt hatte. Abschiedsfoto. Sie hatte gar nicht von zu Hause weggewollt. Angelika lächelte in die Kamera. Hatte meine Mutter nach 19Jahren genug von mir? Angelikas Enttäuschung, als Anna die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule nicht bestand. Auf jeden Fall studieren. Dann also in München, so weit weg von zu Hause. Sie haßte die nahen Berge. Das Zimmer war winzig und teuer und lag unter dem Dach. Unkraut in der Regenrinne vorm Fenster. Wasserflecken an der Decke. Tagsüber dunkel, abends recht gemütlich. Die Gasheizung war viel zu groß für den kleinen Raum und ließ sich nicht regulieren. Alle Viertelstunde mußte Anna sie ausmachen und das Fenster öffnen. The American Forces Network im Radio. Gebrabbel gegen die Stille.

Die Uni unterschied sich enttäuschend wenig vom gewohnten Schulalltag. Die Kommilitonen langweilten sie mit ihrer Ernsthaftigkeit. Abends ging sie allein ins Kino oder in eine Kneipe. Der verrückte Amerikaner, der mit seinem Bierglas neben dem Eingang stand und vor sich hin grinste. Sie wußte sofort, daß er Amerikaner war, weil er diese derben Wanderstiefel und eine blaue Daunenweste trug. »Hast du Hunger?« hatte sie ihn gefragt. »Ich gehe jetzt nach Hause und koche mir ein paar Spaghetti.« Wie blöd – aber er hatte tatsächlich Hunger. Schweigend und gutgelaunt gingen sie [12] zusammen über die Leopoldstraße. Er war mindestens 35, hatte lange graue Haare.

Auf der kleinen Elektroplatte kochte sie Spaghetti mit Butter, die er lobte. Er mochte auch Randy Newman. Als sie im Dunkeln im Bett lagen, grinste Anna, den Kopf an seiner Schulter: Sie hatte einen Mann regelrecht »aufgerissen«, er war nett – und eingeschlafen, noch bevor sie sich ausgezogen hatte.

Sie sah ihn nur noch einmal wieder, als sie morgens zur Vorlesung wollte und auf der Treppe im dritten Stock fast über ihn gestolpert wäre. Er schlief dort seinen Rausch aus; hatte es in der Nacht nicht mehr bis in den fünften Stock geschafft. Anna ließ ihre Vorlesung sausen und briet ihm Eier.

Er liebte ein deutsches Mannequin und las alles von Henry Miller, während er darauf wartete, von ihr erhört zu werden.

»Mami, warum hast du auf diesem Foto mit Papi blaue Haare?«

»Komm, Jan. Jetzt laß mich mal für fünf Minuten die Augen zumachen. Ich habe ein bißchen Kopfschmerzen.«

Jan tatschte ihr mit seiner kleinen heißen Hand auf die Stirn. Anna lächelte mit geschlossenen Augen.

[13] Die Arbeiten, die sie damals für Seminare hatte schreiben müssen, hatten sie gequält. Stundenlang hockte sie in ihrem Zimmer vor den Büchern. Es interessierte sie nicht. Sie trank in kleinen Schlucken Cinzano, bis sich ihre Gedanken verwirrten. Schlaf. Oft bis spät abends. Bunte, angenehme Träume, nichts Aufregendes, aber Grund genug, sich gegen das Aufwachen zu wehren. Mit geschlossenen Augen lag sie dann da und wartete darauf, wieder in den Schlaf abzugleiten.

»Mach dir für jeden Tag einen Plan«, ein Rat ihrer Mutter. Wie beschämend für die Menschheit, die eigene Sinnlosigkeit durch einen genauen Tagesplan zu übertünchen.

Ihr alter Lateinlehrer immer wieder: »Anna, Sie sind ein Windhund.« Sie bekam die Stadt nicht in den Griff, verlief sich in der Altstadt, stieg in die falschen Straßenbahnen und Busse. Die zielstrebigen Gesichter um sie herum ließen sie fahrig und ungeschickt werden. Sie trat anderen auf die Füße, verlor einmal den Halt und stützte sich auf dem Kopf eines Sitzenden ab. Erschrocken stieg sie sofort aus. Als wären ihre Gleichgewichtsorgane defekt gewesen. Zuviel Schlaf. Wie eine Krankheit ohne Schmerzen. Oder war sie nur durch und durch träge gewesen? Unangenehmer Gedanke.

[14] Entschlüsse faßte sie nur selten, und wenn, dann kamen sie von weit her über Nacht. Eines Morgens war sie klar und unverquollen aufgewacht und hatte gewußt: Heute lasse ich mir die Haare blau färben.

Es tat ihr gut zu sehen, wie selbst die modebewußten britischen Friseure in der Elisabethstraße von ihrem Vorhaben beeindruckt waren und sich nicht so recht trauten. Lächelnd wartete sie darauf, an die Reihe zu kommen, und blätterte mit leiser Verachtung in einer Frauenzeitschrift. Als dann die stinkende chemische Substanz in ihren Haaren wirkte und noch nicht abzusehen war, wie blau sie wohl werden würden, genoß Anna das heiße, aufregende Gefühl von leichter Elektrizität in ihrem Körper, das sie so sehr mochte, aber das sich nur bei seltenen Gelegenheiten einstellte. Die Trockenhaube wurde abgestellt und zur Seite geschwenkt. Ultramarinblau. Anna strahlte. So wie ein billiger Nylonpullover aus der Grabbelkiste eines Kaufhauses.

Es störte sie nicht, daß auf der Straße und im Hörsaal alle auf sie starrten und über sie flüsterten. Sie hatte sich immer anders als die meisten empfunden, nicht besser, nur anders; und die blauen Haare ließen diese ohnehin vorhandene Empfindung nun in ihrem Kopf zu einem Bild werden: Ein Schwarzweiß-Foto mit einem einzigen Farbklecks – Anna Blume. Eine einsame Existenz, das ahnte sie schon seit langem. Es strengte sie über die [15] Maßen an, sich mit anderen länger zu unterhalten. Vor Langeweile wurde ihr fast schwindlig, dabei redete sie gern, war sich jedoch nie sicher, ob die Weise, in der sie die Wörter gebrauchte, mit der üblichen Gebrauchsform übereinstimmte. Es lag ihr nicht unbedingt daran, verstanden zu werden. Aber anders als im Schlaf ließ sie der Zustand des Wachseins etwas vermissen, was sie nicht benennen konnte.

In den letzten sonnigen Herbsttagen nahm sie das Saxophon mit in den Englischen Garten. Sie freute sich über den weiten Klang. Ein Mann Mitte dreißig in einem schweren teuren Mantel, der ihm eine ganz rechteckige Statur gab, blieb stehen und hörte lange zu. Sie erinnerte sich ganz deutlich daran, daß sie unbewußt einen Schritt zurückgetreten war, um den Abstand zwischen sich und diesem Mann zu vergrößern. Sie spielte nicht für Geld, aber der Mann nahm seine Zeitung, breitete sie vor ihr aus und legte einen Zwanzigmarkschein darauf, den er mit einem kleinen Stein beschwerte. Sein großes Gesicht war gerötet. Sehr ernste helle Augen. Anna sah ihn unterm Spielen an. Er nahm seinen Blick nicht weg, und so wie er da stand und sie ruhig betrachtete, versetzte er Anna in Unruhe. Sie wandte sich ab. Warum ging er nicht endlich weiter? Ihre Hände fingen an, kalt zu schwitzen. Als sie sich umdrehte, war er weg, und sie spielte wieder besser.

[16] Gladiolen. Wie kitschig. Und gleich ein ganzes Dutzend. Sie lagen vor ihrer Tür, als sie spätnachts aufs Klo ging. Und eine weiße Karte mit gespreizter Handschrift: »Ich würde Sie gern morgen abend um 20.30Uhr zum Essen in das Restaurant ›Die Wolke‹ einladen.« Keine Unterschrift. Der rechteckige Mann. Sie war ganz sicher. Verärgert warf Anna die Karte in den Papierkorb und wußte gleichzeitig, daß sie natürlich hingehen würde. Vielleicht das elektrische Gefühl und die Sicherheit, einen ganzen Tag lang zu wissen, was sie zu tun hatte.

Bis sechs Uhr abends blieb sie im Bett. Duschen. Haarewaschen. Die Heizspiralen ihres alten Föns glühten plötzlich gefährlich orange auf, es gab einen kleinen Knall, und Anna ließ den Fön erschreckt fallen. Zwanzig Minuten, um sich die Haare mit einem Handtuch trockenzurubbeln. Weiße Schminke und schwarzes Kajal für die Augen. Jeans. Nicht zuviel Theater.

Das Lokal war klein, vornehm und angenehm gelblich beleuchtet. Der Kellner führte sie sofort zu einem Tisch, schob den Stuhl zurück und blieb hinter ihm stehen, bis Anna sich gesetzt hatte. »Herr Dr.Thal hat angerufen. Er wird gleich hier sein.« Natürlich. Rechtsanwalt oder Arzt. Ihre Achselhöhlen juckten von dem Parfüm. Aufstehen und gehen, sofort.

[17] Er trug wieder seinen schweren Mantel. »Das freut mich«, er gab Anna fest die Hand. Auf seinem Gesicht glänzten Regentropfen. Unter dem Mantel ein hellblauer Kaschmirpullover. Fast kindlich. Armin Thal, Zahnarzt. Anna nickte. Für sie, bitte, Pastete und Hummer. Er bestellte den Wein. Während sie den Aperitif tranken, sah er sie wieder so ruhig und unbewegt an. Anna gab sich einen Punkt, wenn sie seinem Blick standhielt, bis sie langsam bis fünf gezählt hatte, zwei Punkte, wenn sie die Zehn erreichte und drei bei fünfzehn. Wich sie seinem Blick schon vor der Fünf aus, zog sie sich einen Punkt ab.

Erst drei Punkte, als er nach langer Pause begann: »Anna, seit ich Sie gestern im Englischen Garten gesehen habe, habe ich ein sehr starkes Gefühl für Ihre Erscheinung entwickelt. Ich habe gesehen, wie Sie wohnen, weil ich Ihnen gefolgt bin.« Der Ober brachte die Vorspeise, und während er auflegte, fuhr Armin Thal ruhig fort: »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen: Ich wohne auf dem Land in einem sehr großzügigen, umgebauten Bauernhaus. Sie könnten dort ab sofort wohnen, hätten zwei Zimmer zu Ihrer Verfügung und 1500 Mark im Monat. Keinerlei Verpflichtungen.« Sie war gar nicht sehr erstaunt gewesen. »Angenommen, ich hätte keine blauen Haare und Sie hätten mich als normale Studentin und nicht als Saxophonistin kennengelernt – würden Sie mir auch dann noch dieses Angebot machen?« Er lächelte ganz kurz [18] allein mit den Augen. »Sie halten mich für sehr oberflächlich. Nein, mit oder ohne blaue Haare – ich hätte Sie gern um mich, weil ich in Ihrem Beisein etwas von der Aufregung verspüre, die bisher bedauerlicherweise meist in meinem Leben gefehlt hat.« Sie verstand sofort. »Was ist das für eine Aufregung?« Sie lächelte, weil ihr Blut plötzlich schneller floß. »Die Aufregung, doch noch einmal jemand anders zu werden als man ist – durch eine zweite Person.« Jetzt grinste er. »Illusion. Aber um so vieles spannender als die Realität.«

»Aber wenn es nun mit der Aufregung nach wenigen ! Tagen oder auch Wochen vorbei ist… dann kann ich wieder gehen?«

»Nein. Das Risiko für Sie wäre relativ gering. Ich habe mir da zunächst einen Ein-Jahres-Vertrag vorgestellt, 1500 Mark monatlich.«

Anna saugte das Fleisch aus den Hummerscheren, wusch sich die Finger in einer kleinen Keramikschale mit lauwarmem Zitronenwasser.

»2000 Mark«, sagte sie. Ein langer Blick. Drei Punkte.

Er faltete die Hände und legte sie vor sich auf den Tisch. Kurze, runde Finger mit sehr kleinen Nägeln.

»Einverstanden.«

Anna trank einen Schluck Wein.

»Vielleicht.«

Das Gesicht geriet ihr ein wenig außer Kontrolle.

Beim Espresso mit Cognac Atemschwierigkeiten.

[19] Aufrecht erreichte sie die Toilette. Lautes Würgen, Erleichterung danach. Sie wusch sich das Gesicht, spülte sich den Mund aus und setzte sich auf den kalten Steinfußboden. Plötzlich erschöpft. Verschmierte Schminke.

Er bezahlte rasch mit einer Kreditkarte und führte sie zu seinem Wagen. Anna hatte Mühe, ihren Blick zu fokussieren. Unaufgefordert fuhr er sie zu ihrer Wohnung. Beim Treppensteigen fing sie an zu taumeln, und er nahm sie auf die Arme und trug sie schnell und sicher bis in den fünften Stock. Als er ihr die Jeans auszog, versuchte sie zu entscheiden, ob ihr dies unangenehm war, kam jedoch zu keiner eindeutigen Empfindung. Das sichere Bett. Mit geschlossenen Augen merkte sie noch, wie nach wenigen Minuten das Licht ausging.

Sie wachte auf, weil ihr wieder schlecht wurde. Tastete nach dem Lichtschalter, aber da war er schon bei ihr und führte sie zum Waschbecken. Bittere Galle. Er hielt sie und klopfte ihr leicht den Rücken. Ein Arzt. Jeder Gedanke jetzt zu anstrengend. Um sieben Uhr weckte er sie mit Tee und Zwieback. Er fahre jetzt in seine Praxis. Seine Telefonnummer legte er auf den Nachttisch. Ein kurzer, kühler Luftzug wehte ihr über die Stirn, als er die Tür öffnete und ging.

Zwei Stunden später hatte Anna hohes Fieber, das sie in einen angenehmen, weichen Dämmer versetzte. Sie [20] genoß ihre eigene heiße Trägheit, den Blick an die immergleiche schmutzigweiße Decke mit dem großen braunumränderten Wasserfleck. Wenn Armin kam, um nach ihr zu sehen, fiel sie ohne Anstrengung in tiefen Schlaf. Er ließ sie in Ruhe, sorgte für Lüftung und heißen Tee in der Thermoskanne. Nach zwei Tagen erkannte sie ihn schon an seinen Schritten auf der Treppe.

Nach vier Tagen wußte sie, was sie wollte, und das Fieber sank. Armin freute sich mit einem knappen Kopfnicken. Zusammen packten sie ihre Sachen. Belustigung und das Gefühl, in wenigen Tagen viele Jahre älter geworden zu sein. Er trug das Saxophon die Treppe hinunter.

Auf der Fahrt durch die Stadt fühlte sie sich dann doch eher bedrückt und verschüchtert wie eine Entführte. Sie öffnete das Fenster und hielt den Kopf hinaus. Der kalte Wind biß in die Augen und ließ die Kopfhaut zusammenschrumpfen. Ich möchte wild sein – und eine Wilde kennt kein Zögern. Sie stieß einen langen, hohen Schrei aus, den das Auto in seiner Geschwindigkeit wie einen Schweif hinter sich herzog.

Armin war zufrieden. Er strich mit lederbehandschuhten Händen beim Warten an den Ampeln leicht übers Lenkrad.

[21] Das Bauernhaus überraschte sie. Es war stilvoll, aber nicht protzig eingerichtet. Wenige Möbel, große, schöne Teppiche. Kein Hund zum Glück. Aus ihrem Zimmer im ersten Stock sah sie auf Weiden ohne Ende.

An diesem Abend saßen sie zusammen vor dem Videorecorder im Wohnzimmer und sahen sich den Film Only Angels Have Wings an. Jean Arthur wußte auch genau, was sie wollte. Wer weiß, was er will, kompromittiert sich nie. Der Wein war gut. Sie sprachen wenig. Um halb eins stand Anna auf. Aus einer Laune heraus gab sie Armin einen Kuß auf die Stirn, den er gleichmütig und freundlich hinnahm.

Im Bett weinte sie ein bißchen. Nur so, weil sie nicht wußte, was sie fühlen sollte. Er weckte sie um sieben mit Rosentee und zwei kleinen runden Kuchen. Wollte sie mit in die Stadt kommen? Viel zu früh. Anna winkte ab. 2000 Mark und der Vertrag unter dem Frühstücksteller.

Neugierig und mit leichtem Herzklopfen wanderte sie später durchs Haus. In seinem Schlafzimmer ein zweiter Videorecorder. Englische Krimis. Nur wenige Hinweise auf die Person von Armin Thal. Keine Fotos, keine Briefe. Seidene Schlafanzüge. Im Keller nur Weinflaschen und alte Möbel.

[22] Sie las einen Krimi, sah zwei Filme: Vier im roten Kreis und Außer Atem. Telefonat mit ihrer Mutter. Wie erwartet, war sie über ihren Umzug entsetzt.

Armin brachte abends Steaks und Salat mit. Er legte eine Rock'n'Roll Platte auf und fing an, den Salat zu waschen. Erstaunt, daß Anna keinen Rock'n'Roll tanzen konnte. Jerry Lee Lewis – nie gehört. 1957 geboren – woher sollte sie ihn kennen? Ach ja, Armin lachte leise. Er legte die Steaks in die Pfanne.

Nach dem Essen: »Können Sie Schach spielen?« Nein, auch das nicht. Geduldig erklärte er. Feuer im Kamin. Nach zwei Stunden konnte sie sich nicht länger konzentrieren. Sie schwitzte, Schweigen. Er sah sie ruhig an. Sie stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Unruhe im Magen.

Ungeduldig setzte sie sich zu ihm auf die Stuhllehne und legte ihm einen Arm um den Hals. Er sah sie freundlich an, aber bewegte sich nicht. Ihr blauer Kopf an seiner Brust. Angenehm. Wollte er vielleicht wirklich nichts weiter von ihr? Unmöglich. Er hatte dann ja schließlich doch angefangen, sie zu streicheln. Seine Haut war fest, glatt und kühl. An der Decke in seinem Schlafzimmer kein Wasserfleck. Aufgeregt und gleichzeitig gleichgültig, sehr frei hatte sie sich gefühlt. Er war elegant, zärtlich, daran gewöhnt, gut.

[23] Sie wachte erst mittags auf, allein. Ein langes, heißes Bad. Was war denn schon dabei? Keine Liebe, keine Probleme. Sie lachte, und es klang in dem großen gekachelten Badezimmer lauter, als sie beabsichtigt hatte.

Die Vorlesung um drei verpaßte sie, weil der Bus in die Stadt länger als eine Stunde brauchte. Sie fuhr statt dessen zum Markt und kaufte frischen Fisch und Gemüse ein. Schokoladenpudding zum Nachtisch. Armin war begeistert. Seezunge – sein Lieblingsfisch. Anna wurde rot vor Freude.

Sie gewöhnte sich daran, auf ihn zu warten. Oft kochte sie, weil sie Spaß daran fand. Sie verabredeten sich nie. Anna war immer da.

Für das Sommersemester schrieb sie sich nicht mehr ein. Tagsüber saß sie in dem bequemen Ledersessel und las oder sah Filme. Jeder Tag hatte jetzt einen Plan: Armin verließ um 7.30Uhr das Haus und kam gegen acht Uhr abends zurück.

Sie fuhren fort sich zu siezen. Nicht aus Höflichkeit, das wußten beide, sondern weil es sie davor bewahrte, ins Alltägliche abzurutschen.

An einem nassen Juniabend legte Armin nach dem Abendessen zwei Flugtickets nach San Francisco auf [24] den Tisch. Abflug in zwei Tagen. »Vergessen Sie nicht, Ihr Saxophon mitzunehmen.« Sie grinste und kratzte sich am Bein. »Ihr schönes Blau wächst langsam raus.«

Noch vor der Reise ließ sie sich die Haare nachfärben. Sie selbst hätte sich gern mal wieder verändert – aber lieber nichts riskieren. Er kannte sie so. So sollte sie bleiben.

Als sie amerikanischen Boden betraten, sprach Armin nur noch Englisch mit ihr. Fließend und ohne Akzent. Er bewegte sich leichter und lächelte öfter. Paßte er sich nur den Amerikanern an, oder fühlte er sich tatsächlich anders?

Leise rauschten die Klimaanlagen in den teuren Hotels. Manchmal fühlte sie sich wie Jean Arthur, manchmal eher wie Lauren Bacall – sie fühlte sich wohl.

Armin trug ihr Saxophon durch die Stadt, und als er am dritten Tag zwei Schwarze sah, die an der Straßenecke standen und Tenorsaxophon und Gitarre spielten, packte er es aus. Sie sollte spielen? Armin bat sie darum, und die beiden Schwarzen nickten gutmütig. Es war ihr peinlich. Sie spielte für ihr eigenes Gefühl viel zu trocken und fantasielos. Armin fotografierte. Die kindlichen Augen der beiden Musiker. Plötzlich kurze, heftige Magenschmerzen, die ihr die Luft nahmen. Sie kam sich falsch vor. Alles falsch. Schon [25] vorbei. Leute blieben stehen und guckten anerkennend.

Armin lud die beiden Musiker zum Essen ein. Sie hatte keinen Hunger, ihr war heiß und flau. Bei einer ungeschickten Bewegung warf sie das Weinglas um. Die beiden mochten Armin. Seine Ruhe. Nebenbei nahm er behutsam ihr Handgelenk und hielt es einige Minuten fest. Ihr wurde leichter, und sie konnte sich wieder besser orientieren.

Am Ocean Front Walk in Los Angeles. Am Strand, unter Palmen. Armin auf Rollschuhen. Lachte über jeden Sturz. Spielte wie ein kleiner Junge. In München undenkbar.

Im Tropicana-Motel griff Anna nachts im Schlaf nach seinem Arm und rückte näher an ihn heran. Erschrocken wachte sie auf: Die alte Gleichgültigkeit war fort. Ihr Körper veränderte sich, ihre Haut wurde nervös und elektrisch, ihr Herz klopfte. Sie duschte. Die schwarzen Schaben liefen eilig über den Badewannenrand. Manche ertranken. Es war nicht vorgesehen, dumm, gefährlich. Lächerlich. Aber sie wußte, sie würde die Veränderung nicht wieder rückgängig machen können. Was war das? Ein biochemischer Prozeß ?