Diebe und Vampire - Doris Dörrie - E-Book + Hörbuch

Diebe und Vampire E-Book

Doris Dörrie

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Beschreibung

Sie lernen sich in Mexiko am Strand kennen und treffen sich nachher in San Francisco: Alice, eine junge deutsche Studentin, und die dreißig Jahre ältere Amerikanerin, die Alice insgeheim »die Meisterin« nennt. Denn sie ist alles, was Alice gerne wäre. Elegant. Selbstbewusst. Souverän mit Männern. Und vor allem: eine Schriftstellerin. Ein berührender Roman über die Vorbilder, die wir wählen – und was das Leben aus ihnen und uns macht.

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Seitenzahl: 204

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Doris Dörrie

Diebe und Vampire

Roman

Die Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Illustration von Cecilia Stevens,

›Ruby-Throated Hummingbird‹, 2008

Copyright © Cecilia Stevens

Foto: Copyright © Danielle Stevens

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24365 9 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60454 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Autorenbiographie

Mehr Informationen

[5]I

[7]Ich habe sie immer »die Meisterin« genannt, nie  bei ihrem richtigen Namen, und wenn ich heute an sie denke, denke ich immer noch an sie als »die Meisterin«, und wenn ich über sie schreibe, kann ich nur so über sie schreiben.

Es war in Mexiko, 1984, als ich sie zum ersten Mal traf. Ich war Studentin, verknallt in einen siebzehn Jahre älteren, verheirateten Mann, der mich auf diese Reise eingeladen hatte. Wir wohnten in einem Vier-Sterne-Hotel hoch auf den Klippen, und jeden Morgen nach dem Frühstück stiegen wir eine steile Steintreppe hinunter ans Meer. Der Mann, den ich liebte, war Dermatologe und machte eine Zusatzausbildung als Schönheitschirurg, weil er sich davon zusätzliche Einnahmen erhoffte, um seine Scheidung und Unterhaltszahlungen für die drei kleinen Töchter zu bezahlen. Bisher hatte er aber seiner Frau noch nicht gesagt, dass er vorhatte, sich scheiden zu lassen. Er nannte es seine Taktik. Ich war unglücklich und verwirrt und wusste nicht, wie [8]mein Leben mit oder ohne ihn weitergehen sollte. Und mitten in dieser Verwirrung fand ich in Mexiko meine Meisterin.

Sie kam die steile Treppe heruntergeschwebt in einem eleganten, schwarzen Badeanzug, weitkrempiger Sonnenhut über einem weißen, um den Kopf gebundenen Seidenschal, schwarze Sonnenbrille. Ihre Haut war blass, ihre Beine lang und schlank. Sie war vielleicht Anfang fünfzig, so alt wie meine Mutter, aber das kam mir damals nie in den Sinn, weil sie so anders war. Sie trug eine mit Blüten bestickte Basttasche über dem Arm, gefüllt mit Büchern. Gefolgt wurde sie von ihrem Mann, er war deutlich jünger und im Gegensatz zu ihr tief gebräunt. Mit seinen kurzen Beinen und seiner breiten, dunkelbraunen Brust erinnerte er mich an ein Brathendl. Sie waren ein seltsames Paar, so wie der Dermatologe und ich in ihren Augen wohl auch ein seltsames Paar waren. Wir passten optisch schlecht zusammen, er hatte bereits die ersten grauen Haare und wirkte seriös, ich dagegen sah zu meinem Ärger immer noch aus wie ein Teenager. Manchmal hielten die Leute uns für Vater und Tochter, was ihn amüsierte und mich entsetzte.

Auch seinen Namen werde ich hier nicht preisgeben, weil ich immer noch Angst vor seiner Frau habe. Ich werde ihn Pe nennen.

[9]Mitten in der Nacht kamen wir in Acapulco an.  Die schwüle Hitze erkannte ich wieder, dunkelviolette Bougainvilleen, groß wie Bäume, leuchtend rote Hibiskusblüten, bleiche Geckos, die über die Wände huschten, und natürlich die Sprache – all das erinnerte mich an Ferien in Spanien als Kind. Das war noch gar nicht so lang her, ich war erst zweiundzwanzig, aber ich redete bereits von »meiner Kindheit«, was Pe jedes Mal amüsierte. Meine Mutter durfte nichts von ihm erfahren, denn sie hätte unerträglich liebevoll auf mich eingeredet und sich dabei gedacht: Was will mein junges, einigermaßen hübsches Kind mit diesem alten Sack? Ich wusste es selbst nicht genau, bildete mir ein, ihn zu lieben, obwohl ich im Grunde genommen nur verliebt war, aber ich kannte den Unterschied noch nicht. Die richtigere Frage wäre gewesen, was Pe eigentlich mit mir wollte. Er hatte seine Frau verlassen, weil das Leben mit ihr ihn erstickte, erklärte er, nicht, weil er sich in mich verliebt hatte. Ob er überhaupt in mich verliebt war, wusste ich nie genau, dabei lebten wir schon fast zwei Jahre zusammen. Ab und zu, meist aus heiterem Himmel, liebte er mich so, wie ich es mir immer erträumt hatte, und danach litt ich wochenlang darunter, dass es nicht mehr so war.

Er war erfolgreicher Arzt mit Praxis in guter [10]Lage, ich hatte weder Geld noch Plan. Er bezahlte Miete, Strom und Lebensmittel, und ich jobbte bei McDonald’s, um mir Zigaretten, Kino und Secondhand-Klamotten leisten zu können. Unser finanzielles Ungleichgewicht störte mich, aber mir fiel nichts ein, womit ich es grundlegend hätte verändern können. Ich spielte die Rolle der flippigen, jungen Frau, weil ich wusste, dass ihm das gefiel. Auf unserer Reise trug ich tagein, tagaus eine grüne, seidene Pyjamahose zu einer grauglänzenden Smokingjacke, die in Amerika shark skin jacket genannt wurde, nur deshalb hatte ich sie mir gekauft. Sie sollte mich beschützen, mir die gefährliche Haut eines Hais geben, die ganz glatt aussieht und einem die Finger aufschlitzt, wenn man sie berührt. Ich hatte sie in einem Laden in Los Angeles gefunden, der nach Mottenkugeln stank und in dem ich jeden Tag vorbeischaute, denn Pe machte eine Fortbildung zu faceliftings, wie sie in Deutschland noch unbekannt waren. Morgens fuhr ich ihn im Leihwagen zu seinem Kurs und ließ mich dann den ganzen Tag im Auto durch die Riesenstadt treiben wie in einem Fischstrom. Abends holte ich ihn wieder ab. Da war er meist müde, wollte nur noch essen und ins Bett gehen. Er vertröstete mich auf Mexiko, zwei Wochen in Mexiko am Strand, kurz vor Weihnachten. Ich vermied die Frage, wo er dann Weihnachten [11]feiern würde, mit mir oder mit seiner Familie wie im letzten Jahr. Ich hatte, wie immer, den Heiligabend mit meiner Mutter verbracht, die sich wie immer betrank und irgendwann anfing zu weinen, und wie immer hatte ich geschworen, nie wieder Weihnachten mit ihr zu verbringen.

Und? Was hast du den ganzen Tag gemacht?, fragte er mich jeden Abend.

Nichts. Nada. Nothing, antwortete ich jedes Mal.

Nach einer Weile beantwortete er sich seine Frage selbst, und ich lächelte nur noch dämlich. Nichts. Nada. Nothing.

Zum Abschluss des Kurses gab es eine Dinnerparty der Teilnehmer mit Ehefrauen, zu der ich in Haijackett und Pyjamahose erschien, was mit Befremden aufgenommen wurde, aber Pe sichtlich freute. Durch mich unterschied er sich von all den anderen respektablen Ärzten und ihren ältlichen Ehefrauen mit ihren kunstvoll operierten Gesichtern. Er sah sich, obwohl er ein konventionelles Leben führte, gern als Anarchist, was ich bedrohlich fand, denn es bedeutete doch wohl, dass er nichts von einer festen Beziehung hielt. Dank mir fühlte er sich exotisch und provokant, und dieses Spiel spielte ich gern mit, denn es funktionierte umgekehrt für mich ähnlich. Meine Altersgenossen fanden es unmöglich, einen so arrivierten und alten [12]Liebhaber zu haben, beneideten mich jedoch um teure Restaurantbesuche und besonders um diese Reise nach Amerika und Mexiko. Ich liebte den Luxus mit Pe und verabscheute mich pflichtgemäß dafür, aber nur ein bisschen. Alles war krumm und schief an dieser Beziehung, doch da ich fest von meiner Liebe überzeugt war, sah ich es nicht, sondern spürte es nur ab und an wie einen leicht ziehenden Zahnschmerz.

Ich benutzte die schwierige Liebe zu Pe, um nicht darüber nachzudenken, wo ich eigentlich hinwollte mit meinem Leben. Lustlos studierte ich Amerikanistik und Ethnologie vor mich hin und träumte gleichzeitig von etwas, das fast obszön klang und das ich kaum vor mir selbst auszusprechen wagte: Ich wollte schreiben. Ich schleppte ein amerikanisches Schulheft mit schwarzweiß marmoriertem Einband mit mir herum und machte Notizen für Geschichten, die ich dann nie schrieb oder schnell wieder aufgab, weil sie mir so banal vorkamen. Mit niemandem sprach ich über diesen Traum, denn er erschien mir ähnlich absurd, als hätte ich vorgehabt, Synchronschwimmerin zu werden oder Harfespielerin – nur hätte ich in diesen beiden Fällen gewusst, was zu tun wäre: nämlich zu üben. Beim Schreiben war mir unklar, wie das gehen sollte. Wie sollte ich etwas üben, was man entweder konnte oder nicht? [13]Es gab keine Ausbildung für Schriftsteller, denn es schien etwas Naturgegebenes zu sein, das man war oder nicht, aber nicht werden konnte. Deshalb klang der Satz ›Ich will Schriftstellerin werden!‹ maßlos und auch dumm, und ich verbot ihn mir.

In Los Angeles hatte ich einen Buchladen auf dem Sunset Boulevard gefunden, der ›Book Soup‹ hieß. Stunden über Stunden hatte ich mich dort herumgetrieben, mich kreuz und quer durch alles gelesen, was mich interessierte, vornehmlich Kurzgeschichten von Fitzgerald, McCullers, Cheever und besonders die von Raymond Carver, von dem ich schließlich ein Buch klaute, weil sie mir so gut gefielen.

Dort hatte ich auch immer wieder die Regale mit den How to-Büchern durchstöbert, die Titel hatten wie How To Write a Novel and Sell it, How To Find a Literary Agent, How To Write a Screenplay – aber die Ratschläge, die dort aufgelistet waren, erschienen mir so fremd und kompliziert wie französische Saucenrezepte. Halbbetäubt stolperte ich den Sunset Boulevard entlang, vorbei an einem Altersheim, wo hutzlige, alte Menschen in Rollstühlen auf dem Balkon saßen und hinter großen gelben Brillen in die harte kalifornische Sonne starrten. Keiner von ihnen las. Nie. Das weiß ich noch, dass mir das auffiel.

[14]Ich selbst konnte mir nicht vorstellen, ohne Buch das Haus zu verlassen. Ich wäre in Panik geraten. Ohne Buch irgendwo zu stranden hätte bedeutet, dem Schrecken der Einsamkeit vorgeworfen zu werden wie einem Rudel Wölfe. Zwei Waffen hatte ich dagegen: Bücher und Männer.

In einem überfüllten Bus fuhren wir durch die fremdartig heiße Nacht. An den vielen Stopps in kaum beleuchteten Dörfern reichten Frauen und Kinder aufgeschnittene Papayas, Mangos, Ananas und Kokosstücke an die Busfenster, Erdnüsse und tamales. Ich hatte Hunger, war quengelig wie ein Kind, aber Dr.Pe verbot mir, etwas zu essen oder etwas anderes zu trinken als warme Cola, die ich hasste, weil er meinte, ich bekäme sonst sofort Moctezumas Rache. Als wir endlich morgens um vier in dem kleinen Fischerort ankamen, der uns  als Geheimtipp von einem seiner Kollegen in Los Angeles genannt worden war, brannte nirgendwo Licht, als sei im ganzen Ort der Strom mit einem einzigen Schalter abgedreht worden. Die Passagiere, die mit uns ausstiegen, verschwanden lautlos und schnell in der Dunkelheit, wir stolperten durch das Dorf. In offenen Hauseingängen brannten Kerzen, in deren Schein große Familien zu erkennen waren, die auf dem Boden hockten oder lagen. Man [15]wies uns freundlich den Weg zum Hotel ›La Florida‹, das vier Sterne besaß und für mich niemals bezahlbar gewesen wäre.

Auch im Hotel brannten nur ein paar Kerzen an der Rezeption, und ein schlafzerknautschter Nachtportier suchte nach unseren Namen, Mrs.and Mr.Pe, was ich mit Genugtuung registrierte, denn es gab ja noch Pes echte Ehefrau, die sich weigerte, sich als seine Ex-Ehefrau zu betrachten. Ich hatte sie nur zweimal gesehen, sie erschien mir steinalt und verhärmt mit ihren vierzig Jahren, ich nannte sie die Backpflaume. Die drei Töchter waren verwöhnte Schnecken, die Klavier- und Ballettunterricht bekamen und frisch gebügelte Kleidchen trugen. Sie machten mich eifersüchtig bei den wenigen Besuchen, die ihnen von der Mutter gestattet wurden, und ich war froh, wenn sie wieder verschwanden. Ich wollte Pe für mich allein und ohne sein Vorleben, das er anfangs so gern abschütteln wollte wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Bis ihn dann die Sehnsucht nach seinen Gören packte und er erweiterte Besuchsrechte aushandelte.

Hier in Mexiko hatte ich ihn allein, ganz allein  für mich, hier spielte ich seine Ehefrau, obwohl es mir nie in den Sinn gekommen wäre, ihn zu heiraten. Überhaupt jemals zu heiraten. Der Nachtportier murmelte lo siento, lo siento, es tue ihm leid, [16]nichts zu machen, er finde unsere Reservierung nicht, aber wir dürften uns an den Pool auf die Liegen legen, bis der Tagportier komme. Er gab uns zwei Handtücher zum Zudecken, obwohl es immer noch drückend heiß war. Pe schlief sofort ein, wofür ich ihn hasste, denn so fühlte ich mich verlassen in dieser tintenschwarzen Nacht, in der fremde Vögel unverhofft schrien wie Babys. Das Einzige, was geholfen hätte, wäre mein Buch gewesen, doch es gab nirgendwo Licht. Mein Herz begann schneller zu schlagen, ich bekam Angst, ich könnte von dieser Erde verschwinden, ohne noch irgendjemandem Bescheid sagen zu können. Ich fühlte mich beängstigend allein, aber wagte nicht, Pe zu wecken, weil ich seinen Zorn fürchtete, der Tage anhalten konnte. Erst der Sonnenaufgang ließ die Angst verblassen. Die Sonne stieg viel schneller auf als zu Hause, und bald hatte sie eine solche Kraft, dass sie jeden anderen Gedanken ausbleichte. In der Hitze erkannte ich die beruhigende Welt der Ferien wieder, den schläfrig vor sich hin schmatzenden Pool, die Insekten, die wie Minihubschrauber nahten, das Klappern von Geschirr aus der Küche, energisches Fegen in den Fluren, und da kam auch schon der erste Gast, ein Amerikaner, wie ich an seinen Boxershorts erkannte, und stürzte sich in den Pool, um seine Morgenbahnen zu schwimmen. Ich fühlte mich [17]verklebt und stinkig von der langen Reise, immer noch schlief Pe. In der Umkleidekabine zog ich meinen Bikini an, versuchte, meinen Bauch, den ich so verabscheute, zu ignorieren, ging nicht unter  die Dusche, um mich nicht den Blicken des Amerikaners auszusetzen, und sprang ebenfalls in den Pool. Der Schock des kalten Wassers machte mich mit einem Schlag glücklich, ich legte mich auf den Rücken und blickte in einen Himmel wie aus blauem Glas. Verstand meine Nachtängste nicht mehr, war ein anderer Mensch. Als ich mich wieder auf den Bauch drehe und an den Beckenrand schwimme, sehe ich sie zum ersten Mal. Nur ihre Beine. Ihre eleganten Beine. Sie geht am Pool entlang, winkt dem schwimmenden Amerikaner zu und ruft: Bis gleich beim Frühstück! In der Hand hält sie ein Buch.

Zum Frühstück wurde kunstvoll ein riesiges Obstbuffet aufgebaut, eingerahmt von Blumensträußen, vor denen Kolibris zitternd in der Luft standen. Es gab Tortillas in Bastkörbchen mit Spitzendeckchen und zehn verschiedene Eierspeisen zur Auswahl, von denen ich huevos rancheros bestellte. Sie saßen am Nebentisch, die Meisterin und der Mann aus dem Pool. Pe war müde oder schlecht gelaunt oder auch einfach nur gar nichts, das war für mich [18]nie zu unterscheiden. Ich bekam Angst vor ihm, wenn er nicht sprach. Abwesend trank er schwarzen Kaffee und rauchte eine Gauloise, während ich Tortillas in mich hineinstopfte, Eier, aufgewärmte schwarze Bohnen, die zwar aussahen wie ein Kuhklack auf dem Teller, aber köstlich schmeckten. Ich war immer glücklich, wenn ich essen konnte, und verstand Menschen nicht, denen es anders ging. Um Pe aufzutauen, plapperte ich vor mich hin: Ich hatte nur dieses eine Stückchen Schokolade geklaut, aber mein Vater hat mich mit einer Reitpeitsche verhauen, so einer ganz dünnen, sie pfiff durch die Luft. Er war ganz rot im Gesicht vor Anstrengung, aber ich hab nur auf diesen Ton gehört, dieses Pfeifen in der Luft. Hab nicht geweint, keine einzige Träne, und als er fertig war, bin ich aus dem Haus gelaufen und hab vor Wut gleich wieder geklaut. Ein Nappo. Kennst du wahrscheinlich nicht.

Pe schüttelte nur den Kopf.

Ist so ’ne klebrige Süßigkeit, ganz hart, Plombenzieher haben wir die genannt. Ich hab mein Nappo gelutscht und gedacht, ich hör erst auf zu klauen, wenn ich es will.

Pe lächelte, ich lächelte. Wir hatten wieder Kontakt, und nur deshalb hatte ich ihm diese Geschichte erzählt. Sie war ausgedacht, bis auf das Nappo. Ich dachte mir gern Geschichten aus. Ich liebte [19]Geschichten. Man hätte auch sagen können, ich log gern, aber ich dachte, dass ein gewisses Talent zur Lüge als Grundvoraussetzung fürs Schreiben nicht das Schlechteste war. Pe strich mir über den Kopf. Kasper, sagte er. Wie auf ein Zeichen erhob ich mich und setzte mich auf seinen Schoß. Ich nahm seine Polaroidkamera und machte ein Selbstporträt von uns.

Während ich das Foto durch die Luft wedelte, damit es sich schneller entwickelte, sah ich in die Richtung der Meisterin. Sie nickte mir leicht zu, als habe sie etwas wiedererkannt. Sie hatte ihren Hut abgelegt, ihre silbergrauen Haare waren zu einem akkuraten Bob geschnitten, sie trug roten Lippenstift, der beim Essen nicht verschmierte. Der Mann an ihrer Seite redete laut auf sie ein, während sie anmutig ihre Gabel zum Mund führte. Sie aß nur Obst, sonst nichts. Ich saß auf dem Schoß von Pe, die Kellnerinnen starrten uns an. Auf dem Foto erschienen langsam wie aus dem Nebel eine ängstlich wirkende junge Frau und ein düsterer Mann, die mir beide unbekannt waren. Eigentlich sah Pe gut aus, er hatte dichte, tiefbraune Haare, die immer länger wurden, seit er nicht mehr bei seiner Frau wohnte, blaue Augen, die je nach Stimmung weich oder stechend wirkten, er war athletisch gebaut, hatte sich aber in der letzten Zeit einen kleinen [20]Kugelbauch angefressen, den er unbekümmert vor sich hertrug, während ich unter meiner Wampe litt. Scharfäugig sah ich sein Alter, wie man es nur sieht, wenn man sehr jung ist. Seine schlaff werdende Haut, die Linien, die sich bereits in sein Gesicht eingegraben hatten, selbst in seine Ohrläppchen. Wie konnte man alte Ohrläppchen haben? Auf den Arschbacken hatte er, wenn man ganz genau hinsah, Zellulitisstreifen wie eine Frau, von denen er selbst nichts wusste und von denen ich ihm auch nichts erzählte, sie waren mein Geheimnis. Erbarmungslos betrachtete ich ihn, wenn er seinen Nachmittagsschlaf hielt, ehe er wieder in seine Praxis musste. Ich war hellwach, weil ich meist bis mittags schlief, und so lag ich neben ihm und studierte mit leisem Abscheu seine fortschreitende Alterung, die mir wie ein geheimnisvoller Prozess vorkam. Jeden Tag schien er schon wieder älter geworden zu sein, ich jedoch nicht. Noch nicht. Jeden Tag stand ich vor dem fleckigen Spiegel in der Diele, den der Vormieter nicht mitgenommen hatte, und suchte in meinem Gesicht nach dem Beginn des Alters. Wer würde ich sein, fragte ich mich, wenn ich so alt  wäre wie Pe? Sobald er die Augen wieder aufschlug, wirkte er jünger, als fände die Alterung nur im Schlaf statt. Manchmal schob er mir, bevor er zurück in die Praxis ging, noch im Halbschlaf die [21]Hose runter und legte sich auf mich. Ich mochte diesen verschlafenen Sex, er war verträumt und zärtlich. Oft wachte Pe aber auch auf und schob mich wortlos zur Seite, zog sich an und ging, ohne sich zu verabschieden. Manchmal wurde er auch wütend, weil er wieder arbeiten musste und ich den ganzen Tag nur im Bett gelegen und gelesen hatte, das Frühstücksgeschirr noch herumstand, seine Schlafanzughose auf dem Boden lag, wo er sie am Morgen hatte fallen lassen. Du tust den ganzen Tag nichts, schrie er, kannst du nicht wenigstens aufräumen? Ich bin nicht deine Hausfrau, brüllte ich zurück, und fügte insgeheim hinzu: Ich muss träumen, denn ich will schreiben! Das sagte ich natürlich nie laut, denn er hätte gelacht, und sein Lachen hätte mich vernichtet. Ich hatte tatsächlich die nebulöse Vorstellung, ich müsse nur genug vor mich hin träumen, dann würden irgendwann die Gedankenfetzen, Bilder, Töne und Geschichten schon ihren Weg aufs Papier finden.

Am Strand lag ich gekrümmt wie eine Krabbe auf einem Handtuch im Schatten, während Pe auf einer Liege seine Lehrbücher studierte. Ich hatte mich nach Meer und Sonne gesehnt, jetzt war mir zu heiß. Kein Lüftchen wehte. Im Zimmer gab es keine Air-Condition, nirgendwo entkam man der [22]Hitze. Selbst Lesen war in diesem Brutofen unmöglich, bewegungslos schwitzend lag ich da, langweilte und hasste mich. Ab und zu stand ich auf und  ging ins Meer, aber allein zu schwimmen machte mich traurig. Ich trottete am Strand entlang und traf einen alten Mann mit einem Krokodil, das er an einem Halsband spazieren führte. Er wollte mir das spanische Wort für Krokodil beibringen, cocodrillo, und lachte, weil ich immer wieder crocodillo sagte. Er streichelte das Tier und nannte es chiquita, Mädchen. Es sei völlig ungefährlich, nur einen Hund habe es neulich verspeist, einen amerikanischen Pudel. Ich nickte freundlich, unser Gespräch erstarb. Pe saß in der Ferne unterm Sonnenschirm, er drehte sich nicht nach mir um. Ich ging weiter wie ein trotziges Kind, das sich nichts mehr wünscht, als dass man nach ihm sucht. Die Palmen wiegten sich über mir, ihre struppigen Wipfel sahen aus wie grüne Riesenköpfe mit Punkhaarschnitt. Ich phantasierte, wie sich eine Kokosnuss aus dem Wipfel über mir löste, mir auf den Kopf fiel und mich erschlug. Dekorativ und mit eingezogenem Bauch lag ich da, Blut rann mir aus dem Mund. Stundenlang fand mich niemand, Pe wunderte sich noch nicht einmal, wo ich blieb. Nichts hatte er bemerkt, gar nichts, auch den aufgeregten älteren Herrn nicht, der etwas von einer chica turista muerta rief, und [23]erst als man mich auf einer Bahre aus Palmenwedeln den Strand entlangtrug, sah Pe blinzelnd von seinen Lehrbüchern über Schönheitsoperationen auf. War er schockiert? Ja. Weinte er? Ein bisschen sogar. War er traurig? Nicht lange. Seufzend stand ich auf und tapste zurück zu Pe, legte mich wieder auf mein Handtuch.

Hast du Hunger?, fragte ich ihn.

Nein, wir haben doch gerade gefrühstückt.

Ich würde gern eine Kokosnuss probieren.

Dann kauf dir eine.

Ich wollte ihn hauen, so ekelhaft fand ich ihn, heulen vor Wut und Langeweile – da schwebte die Meisterin die steile Treppe herab, gefolgt von ihrem Mann, und legte sich auf eine Liege. Sie holte ein Buch aus ihrer Tasche, während er ans Wasser ging und Übungen zu machen begann. Immer derselbe Ablauf: Er presste die Hände vor der Brust zusammen, so dass sein Bizeps anschwoll, dann legte er sie auf seine Hüften und spannte die Oberschenkel an, ging in die Knie und drückte die Hände darauf, dann auf den Rücken, hinter den Nacken und wieder von vorn. Wieder und wieder. Die Meisterin beachtete ihn nicht. Sie las. Nach etwa einer Stunde stand sie auf und ging schwimmen. Im Vorbeigehen küsste sie ihren Mann, der weiter mit seinen Übungen beschäftigt war. Er ging nie im Meer [24]schwimmen, auch an den folgenden Tagen nicht, er plantschte nur ein wenig wie ein Kind im flachen Wasser. Wenn sie zurückkam, trocknete sie sich kurz ab, nahm Basttasche, Hut und Sonnenbrille und stieg langsam wieder die Treppe zum Hotel hinauf. Ich hätte sie gern angesprochen, weil sie las, so elegant und selbstgenügsam aussah, aber nie ergab sich eine Gelegenheit, miteinander bekannt zu werden oder ein paar Worte zu wechseln. Sie wirkte auch nicht besonders kontaktfreudig, sondern fast gleichgültig ihrer Umgebung gegenüber, weil sie ja immerzu las. Auch mit ihrem Mann sprach sie kaum.

Umso überraschter war ich, als sie mich am vierten oder fünften Tag am Frühstücksbuffet auf die mir fremde Jicama hinwies, die so aussah und schmeckte wie süßer Sellerie und die ich von da an jeden Tag aß. Nie wieder in meinem Leben sollte ich Jicama essen, ohne an die Meisterin zu denken.

Als sie an diesem Tag an den Strand kam, lächelte sie mir kurz zu, und als sie dann schwimmen ging, hatte ich das plötzliche Verlangen, ihr zu folgen. Ich lief an ihrem Mann vorbei durch das flache Wasser, warf mich hinein. Sie schwamm weit hinaus, ich ihr hinterher, bis uns auf allen Seiten nur noch schwarzblaues Wasser umgab und niemand mehr in unserer Nähe war. Sie legte sich auf den Rücken, ich machte [25]es ihr nach. Ich fing an zu frieren und wünschte, sie würde bald umkehren. In einem Bogen schwamm ich um sie herum, um nicht wie eine Verfolgerin zu wirken. Sie sah in meine Richtung, hob den Arm und winkte mir zu. Ich winkte zurück und war plötzlich so froh, als hätte ich eine Freundin gefunden. Als sie endlich umkehrte und wir fast nebeneinander zurückschwammen, stand am Strand Pe neben dem Mann der Meisterin und machte die gleichen Übungen wie er. Die Meisterin war schneller als ich und erreichte die beiden zuerst. Sie wechselte kurz ein paar Worte mit ihnen, und als ich aus dem Wasser kam, war sie bereits zu ihrer Liege gegangen und trocknete sich ab. Unschlüssig blieb  ich bei den Männern stehen, die sich erstaunlich ähnlich sahen, fast wie Brüder, was mir zuvor gar nicht aufgefallen war. Sie mussten etwa im gleichen Alter sein, Ende dreißig, kurz vor der Vergreisung aus meiner Sicht. Die Meisterin hingegen wirkte auf mich nie alt. Pe unterbrach seine Übungen nicht. Alice, sagte er, wobei er mit dem Kinn auf mich deutete und meinen Namen englisch aussprach.

Nice to meet you. Der Mann der Meisterin streckte seine große Hand aus. I’m Blake.

Isometrische Übungen, sagte Pe auf Englisch. Wenn man sie jeden Tag macht, bekommt man Muskeln aus Stahl.

[26]That’s correct, sagte Blake.

Mach doch auch mal, sagte Pe zu mir. Ich drückte die Handflächen zusammen, und Blake legte mir die Hände auf die Schultern. And press, press, press,