Das blaue Kleid - Doris Dörrie - E-Book

Das blaue Kleid E-Book

Doris Dörrie

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Beschreibung

Florian hat seinen Geliebten durch den Tod verloren, Babette ihren Mann. Die Suche nach dem blauen Kleid bringt die beiden zusammen: Geteiltes Leid ist halbes Leid? Wenn es nur so einfach wäre...

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Seitenzahl: 208

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Doris Dörrie

Das blaue Kleid

Roman

Die Erstausgabe

erschien 2002 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Henri Matisse, ›La pose Hindoue‹, 1923

Copyright © Succession H. Matisse/

2013, ProLitteris, Zürich

Foto: Archives Henri Matisse

Für Anna und Daniel

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23376 6 (2.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60383 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Das blaue Kleid, ich will es wiederhaben, denkt Florian, als er an der Tür von Babette Schröder klingelt. Er weiß, daß sie es hat. Am 23.März gekauft. Die Kopie vom Kassenzettel mit ihrer Kreditkartennummer hat er dabei. Die Adresse stand im Telefonbuch. Da hat er Glück gehabt. Sie hätte auch von außerhalb sein können, wie die beiden anderen Kundinnen. Es gab nur drei blaue Kleider, eins in Größe 36, 38 und 40. Alfred ließ immer nur diese drei Größen anfertigen. Er haßte sehr kleine und sehr große Frauen gleichermaßen. Ziegen und Kühe, nannte er sie. Für Ziegen und Kühe mache ich meine Kleider nicht. Und dann reckte er das Kinn und grinste frech und unwiderstehlich. Jetzt bloß nicht flennen, denkt Florian und drückt abermals auf die Klingel. Im März hat Babette Schröder das blaue Kleid gekauft, im Juni ist Alfred gestorben.

Siebeneinhalb Wochen hat Florian gebraucht, um das Geschäft überhaupt wieder zu betreten. Noch am Abend von Alfreds Tod hat er allen Schaufensterpuppen schwarze Kleider angezogen – das kleine Schwarze aus fließendem Baumwolljersey für 759 DM –, einen Zettel gemalt: Wegen Todesfall geschlossen. Leichtfüßig und seltsam fröhlich war er aus dem Krankenhaus hinausgegangen, während oben der nackte, tote Alfred noch in seinem Zimmer lag. Sie hatten [6] es beide geschafft, so fühlte es sich an. Endlich. Wo hätte er jetzt anders hingehen sollen als natürlich ins Geschäft?

Das perfekte kleine Schwarze. Es hieß ›Tiffany‹, weil es laut Alfred aus jeder Frau eine Audrey Hepburn machte. Nun ja, fast. Die Schaufensterpuppen trugen es mit Grandezza und stillem Ernst. Menschen hätte Florian jetzt nicht ertragen. Er spürte um sich herum Alfreds Anwesenheit wie etwas durchaus Lebendiges, sah seine Fußspuren im Teppich, erkannte das Muster seiner Turnschuhe.

Da war er doch. Es war doch alles nicht so schlimm. Mißtrauisch beobachtete er seine Fröhlichkeit, die nicht angemessen schien. Vielleicht, dachte er, war es gar nicht seine eigene, sondern die Erleichterung und Fröhlichkeit des toten Alfred? Er hatte ihn in den Armen gehalten bei seinem letzten Herzschlag, und Florian hatte ganz deutlich gesehen, wie er leichten Schritts in ein helles Licht davonging. Das hatte er gesehen? Vor seinem inneren Auge vielleicht. Sich vorgestellt, sich gewünscht. Daß jetzt alles gut war.

Nach Hause traute er sich dennoch nicht an diesem Abend. Im Schneidersitz setzte er sich auf den Teppichboden und betrachtete die spiegelverkehrte Schrift in der Glastür: Inhaber: Alfred Britsch. Florian Weber. Alfred immer zuerst. Immer kam er zuerst. Er war der Schnellere von beiden, der Phantasievollere, der, dem eine steile Karriere vorausgesagt worden war. Florian sah sich selbst als das Trampolin, auf dem Alfred seine Luftsprünge übte. Und er war gern das Trampolin. Meistens jedenfalls. Und als Alfred keine Luftsprünge mehr machen konnte, übte er mit ihm die kleinen Schritte, bis Alfred wieder in den Laden wanken konnte, um dann rosig und strahlend, als wäre er [7] nur mal kurz verreist gewesen, erneut hinter dem Tresen zu stehen.

Mein tapferes Schneiderlein nannte ihn Florian und küßte ihn vorsichtig, ganz vorsichtig, nur nicht zu fest, denn von der Chemie bekam Alfred Bläschen auf den Schleimhäuten. Seine Lippen schmeckten nach Salviaethymol, das er sich auf die entzündeten Stellen pinselte. Er war Florian dankbar, daß er ihn weiterhin auf den Mund küßte. Sie machten weiter wie gehabt, so gut sie konnten. Alfred schminkte sich, aber das wußte nur Florian. Nur er allein. Kein Mensch ahnte etwas. Alfred sah frisch und rosig aus, und alle Welt trug schließlich Glatze. Florian ließ sich ebenfalls den Kopf rasieren.

Jetzt sind wir hip, sagte er, jetzt sind wir cool.

Meinst du wirklich? Alfred legte seinen kahlen Nacken in Falten. Ich hatte doch so schönes Haar, verdammt.

Jetzt wächst Florians Haar wieder und erinnert ihn mit jedem Millimeter an die Zeit nach Alfreds Tod. Er braucht sich nur über den Kopf zu streichen, dann weiß er sofort: vier Wochen, fünf, sechs, sieben. Siebeneinhalb Wochen.

Nach genau siebeneinhalb Wochen betritt er den Laden wieder.

Es liegt weniger Staub, als Florian erwartet hat. Die Schaufensterpuppen tragen geduldig ihr kleines Trauerkleid. Die Sommerkollektion, die noch an den Stangen hängt, sieht bereits veraltet aus. Wie konnte man nur hellblau und violett tragen? Ihre zehnte gemeinsame Kollektion. Zehn Jahre mit Alfred. Das kommt Florian jetzt vor wie die längste Zeit seines Lebens. An das Leben vor Alfred [8] kann er sich gar nicht mehr erinnern, ein Leben nach Alfred kann er sich nicht vorstellen. Er hatte genug Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, sicherlich. Fast drei Jahre hat Alfred gekämpft wie ein Boxer. Ist immer wieder in den Ring gestiegen, immer wieder zu Boden gegangen, blutend und blind in die Ecke getaumelt, wo ihn sein Trainer Florian versorgt hat, bis er wieder bereit war für die nächste Runde.

Jetzt fühlt sich Florian, als hätte er den Kampf verloren und nicht Alfred. Seine Knochen schmerzen. Keiner hat ihm gesagt, daß Trauer ein Schmerz in den Knochen ist, in jeder Zelle des Körpers. Er legt sich auf den taubenblauen Teppichboden, den sie zusammen für ihr Geschäft ausgesucht haben und der jetzt so aussieht, wie der Teppichverkäufer ihnen vorausgesagt hatte: schäbig, fleckig wie in einem billigen Hotel. Nehmen Sie doch ein elegantes Weinrot. Oder marineblau!

Nein, hatte Alfred geschrien. Ich hasse weinrot und marineblau! Das sind Farben für Witwen und alte Kapitäne!

Und taubenblau, für wen ist das? hatte der Verkäufer süffisant gefragt.

Für Könige, hatte Alfred erklärt und das Kinn in die Luft gereckt. Für Kaiser und Könige.

Natürlich. Der Verkäufer zog die Augenbrauen hoch. Ein Tuntenpärchen kauft sich einen Teppich. Bitte schön. Dann eben taubenblau.

Florian heult in den Teppich, der nach Fleckenschaum riecht und Tränen nicht gut aufnimmt. Sie bleiben an den Fasern hängen wie Tautropfen an Gräsern.

[9] Sag was, verdammt! Er wartet auf einen Kommentar von Alfred über seine pathetische, dramatische Trauer, aber er schweigt beharrlich seit siebeneinhalb Wochen. Florian hat keine Träume, keine Erscheinungen. Nichts. Gar nichts. Andere sehen ihn, sprechen mit ihm, berichten Florian, Alfred habe ihnen im Traum ausgerichtet, es gehe ihm gut. Eine geschwätzige, nervtötende Stammkundin erzählt, er habe glücklich gewirkt und sehr gut ausgesehen. Die hätte Florian am liebsten gewürgt. Was fällt Alfred ein, dieser alten Kuh zu erscheinen, aber nicht ihm? Erscheint er den anderen wirklich, oder erfinden sie diese Träume nur, um ihn zu trösten? Ist Alfred für immer verschwunden, oder gibt es ihn nur noch für diejenigen, die glauben?

Sie haben darüber gesprochen, natürlich. Alfred, der Katholik und ehemalige Messdiener, und Florian, der Protestant, der zum letzten Mal an seiner Konfirmation in der Kirche war. Bei seiner ersten Computertomographie sei ihm in der beklemmenden Röhre mit einem Mal die Jungfrau Maria erschienen, hat Alfred Florian schüchtern erzählt. Sie habe ihm zugenickt, gelächelt und gesagt: Es ist, wie es ist. Besonders aufmunternd kann Florian das nicht finden. Wenn sie schon erscheint, fällt ihr dann nichts Besseres ein?

Später dann hielt Alfred Zwiesprache mit Therese von Konnersreuth, die an Ostern aus den Augen geblutet und sich ausschließlich von Hostien ernährt hatte. Sie riet ihm, auf eine Pilgerreise zu Pater Pio nach Italien zu gehen. Je kränker Alfred wurde, um so katholischer wurde er.

Florian hat ihn darum beneidet, denn ihm blieb nichts als die Angst. Leere, dumme, schreckliche Angst. Florian [10] wartet auf ein Zeichen von Alfred, er wartet drauf, daß er ihm unvermittelt erscheint, in einem absurden, großartigen Kostüm, mit Heiligenschein unter dem Arm, grinsend, als Alfred eben, daß er ihn in seiner Verzweiflung aufsucht und tröstet.

Aber da ist nichts. Gar nichts. Alfred kommt nicht.

Wütend dreht sich Florian auf den Rücken und starrt an die Decke, die schon lange neu geweißelt werden müßte. Wie ein wackliger Dokumentarfilm erscheint auf der grauweißen Fläche die Vision einer kleinen Gedächtnismodenschau für Alfred. Florian sieht bereits das Defilee. Aus jeder Kollektion ein geniales Stück: das tomatenrote Wickelkleid von ’96, die schwarzen Kaschmirschlaghosen von ’98, das cremeweiße Satinetuikleid von ’99, das gehäkelte bodenlange Abendkleid, das kleine Schwarze ›Tiffany‹ natürlich, das gelbe Chiffoncape von 2001, das blaue Kleid ›Azzurro‹ aus der Sommerkollektion 2001. Sein letztes Kleid. Warum haben diese Wörter lange, scharfe Krallen wie wilde Tiere? Sein letztes Kleid. Florian heult.

Dieses Kleid macht aus jeder Frau eine Marilyn, hatte Alfred selbstbewußt behauptet.

Woher nahm er diese Selbstsicherheit? Sie verärgerte Florian mitunter so, daß er den Pessimisten spielte, der er eigentlich gar nicht war.

Blau macht blaß, sagte er. Hart. Es steht nur ganz wenigen.

Ach was, lachte Alfred und hüpfte auf und ab, nicht wild wie ein Popstar auf der Bühne wie früher, sondern nur noch ein ganz klein wenig auf den Zehenspitzen, denn jede Bewegung schmerzte ihn, jedes Nervenende vermeldete Pein.

[11] Mein Kopf fühlt sich an wie ein Nadelkissen, weinte er nachts, und Florian war schlecht vor Hilflosigkeit. Man denkt immer, es gibt Mittel gegen Schmerzen, und wenn nichts mehr hilft, dann gibt es doch Morphium, das muß doch helfen! Aber Alfred jaulte vor Schmerzen manchmal stundenlang wie ein Hund, so daß Florian aus dem Zimmer gehen mußte, weil er es nicht mehr ertrug.

Aber jetzt strahlte er. Ich stelle mir das so vor: ganz schlicht geschnitten, ärmellos, leicht ausgestellt, aus blauem Organza. Leuchtendblau, aquamarinblau, wie ein tiefer See, nein, wie das Mittelmeer, ja, so stelle ich mir das vor.

So ein Blau gibt’s wahrscheinlich nicht auf dem Markt, sagte Florian bedächtig und haßte sich für seine Unfähigkeit, sich Alfreds Begeisterung anzuschließen. Diese blöde kindliche Eifersucht, die er selbst jetzt nicht los wird, wo Alfred doch tot ist. Immer war Alfred der Schönere, Attraktivere, Erfolgreichere, der, der ganz natürlich im Mittelpunkt stand, und durch seine Krankheit erst recht. Alles, alles mußte sich immer um ihn drehen. Und wer hat jemals an mich gedacht? Sich jemals gefragt, wie es mir dabei geht? Ich denke wie ein Charakterschwein. Ich bin ein Schwein. Ich bin das Schwein, das überleben durfte.

Dann erfinden wir es eben! rief Alfred. Wir erfinden das perfekte Blau!

Wir. Das sah dann so aus: Florian kniete vor der Badewanne und schüttete immer neue Farbkombinationen ins Wasser, während Alfred auf der Couch lag und fortlaufend Azzurro von Adriano Celentano hörte, seine Kotzschüssel, wie er sie nannte, auf dem Schoß. Er übergab sich inzwischen so nonchalant, wie andere Leute hüsteln. Florian hielt [12] im Badezimmer weiße Organzastreifen in die blaue Suppe, mischte das Blau auf Alfreds Geheiß mit einem Schuß türkis und grün, präsentierte Alfred die einzelnen Schattierungen, bis spät in der Nacht endlich das richtige Blau gefunden war. ›Azzurro‹, nannte es Alfred.

Azzurro, flüstert Florian in den taubenblauen Teppich.

Am 23.März kam diese graue Maus ins Geschäft, und Alfred hatte natürlich recht. Selbst aus ihr zauberte das blaue Kleid etwas Funkelndes, Strahlendes. Schüchtern strich sie den knisternden Organzastoff glatt. Alfred kicherte, als würde er gekitzelt. Seine Wangen glühten. Elizabeth Arden, Morning blush, erst vor wenigen Minuten frisch aufgelegt.

Florian stand hinter dem Kassentresen und beobachtete ihn.

Untersteh dich, mir die Backen rot zu schminken, wenn ich hin bin. Ich will nicht, daß du einen einzigen Pfennig über das Nötigste hinaus ausgibst. Sie werden trotz Verbrennung versuchen, dir einen teuren Sarg aufzuschwatzen. Wehe, du läßt am Ende deine spießige Ader raus.

Noch vor zehn Minuten beim Tee in ihrer winzigen Teeküche kamen ganz unvermittelt und ohne jede Vorwarnung diese Sätze. Die schoß er aus der Hüfte ab wie ein Cowboy, schnell bevor einer von ihnen von Gefühlen überwältigt werden konnte.

Noch vor zehn Minuten. Und jetzt stand er vor der kleinen, leicht dicklichen, unscheinbaren Frau mit schlecht geschnittenen hellbraunen Haaren und klatschte begeistert in die Hände: Sie sehen aus wie eine Wolke!

Dafür liebte ihn Florian: Alfreds kindlicher Übermut, [13] seine Begeisterungsfähigkeit, seine Naivität, die ihn ein knatschblaues Kleid entwerfen ließ aus einem Stoff, der ständig riß und die Näherinnen in Tschechien zur Verzweiflung trieb, so daß sie schließlich mitten in der Nacht anriefen und mit schwerem Akzent ins Telefon stöhnten: Gäht nicht! Können wir nicht nähen blaue Klaid!

Doch, doch, beruhigte sie Alfred und schnippte nach einer Zigarette, die ihm streng verboten war und die ihm Florian jedoch, ohne zu mucksen, sofort und bereits angezündet reichte. Sollte der Mann denn auf alles verzichten? Trinken konnte er nicht mehr, impotent war er geworden durch die ganze Chemie, was konnte ihm eine Zigarette noch anhaben?

Das schaffen Sie, rief Alfred, ich weiß, daß Sie das schaffen werden! Sie werden das schönste blaue Kleid aller Zeiten nähen und jede Menge Frauen glücklich machen. Ja, das werden Sie!

Er machte eine kleine Pause, und Florian wußte, daß am anderen Ende in Tschechien die Kräfte der völlig erschöpften Näherinnen sich zögernd zurückmeldeten. Niemand konnte einen so wunderbar ermutigen wie Alfred.

Sie nehmen jetzt eine Zeitung, befahl er, ja, genau, eine Zeitung, irgendeine Zeitung, und nähen die Zeitung mit in die Naht. Ja, ganz richtig. Sie nehmen den Futterstoff, dann die Zeitung, dann den Organza. Ja, so ist es richtig …

Beruhigend redete er auf die Näherinnen ein, während er, die Hand auf der Telefonmuschel, Florian zukicherte: Ein bißchen Weltpolitik im Kleid kann nicht schaden!

Stich für Stich führte er die Näherinnen geduldig wie ein Fremdenführer durch seinen Schnitt vom blauen Kleid, bis [14] Florian irgendwann eindöste und von Schlagzeilen und dem Mittelmeer träumte.

Am Morgen lag für ihn ein Zettel im Badezimmer: BLAUES KLEID FERTIG!!!! Mit einem satten Babylächeln auf den Lippen lag Alfred in den hochaufgetürmten Kissen, die Schlafmaske aus der Lufthansa Business-Class über die Augen gezogen. Im gelben Licht der Nachttischlampe sah er aus wie ein Hollywoodstar ohne Perücke, gleich würde das Dienstmädchen mit dem Frühstückstablett hereinkommen und die schweren Vorhänge aufziehen, Madame würde sich ihre Schlafmaske vom Gesicht ziehen und dekorativ gähnen. Jeder überlebte Tag ein Triumph.

Wenn Sie es nicht nehmen, werde ich ernstlich böse, sagte Alfred zur grauen Maus, denn dieses Kleid wird Ihr Leben verändern!

Die graue Maus sah ihn unsicher an.

Ganz bestimmt, sagte Alfred und nahm ihre Hand wie ein Arzt. Sie müssen!

Bis zu dem Tag, als ihr Mann starb, war Babette ein modebewußtes Wesen gewesen. Ihre gesamte Biographie hätte sie in Kleidungsstücken erzählen können.

Ein Dirndl mit dunkelroter Schürze, das sie bekam, als sie fünf war. Schwarze Lackschuhe mit sechs, die sie sich in Brombeerbüschen zerkratzte und einen ganzen Nachmittag darüber heulte. Eine cremeweiße Winterjacke, die ihr ihre Mutter genäht hatte und in der sie aussah wie ein kleiner Eisbär. Ein blauer Frotteebademantel mit einer gelben applizierten Ente. Mit fünfzehn ein paar braune Cordjeans, die [15] so eng saßen, daß sie sich nur mühsam hinsetzen konnte. Auf die zerschlissenen Knie nähte sie grüne Herzen. Eine rumänische, buntbestickte Bluse, die ein bißchen kratzte. Eine weiße Flokatijacke, in der sie zwar aussah wie ein Schaf, aber in der sie sich gern versteckte, weil sie so lange flachbrüstig blieb. Ein hellblaues, fast durchsichtiges Nachthemd, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und in dem sie versuchte, ihren ersten Freund zu verführen. Vergeblich. Er hatte – berechtigte – Angst vor ihrem Vater. Zwei Jahre lang trug sie nichts anderes als Jeans und einen viel zu großen grünen Pullover mit Zopfmuster – von ihrem Vater.

Ihrer ersten großen Liebe begegnete sie ein Jahr lang ausschließlich in einem zerschlissenen Overall der Firma Ford.

Einmal Ölwechsel, bitte, flüsterte ihr Freund, wenn er ihr den Overall an dem langen Reißverschluß aufzog.

Der nächste Mann gestand ihr, daß er sie am liebsten in Kleid und Strapsen gesehen hätte. Ab und zu machte sie ihm die Freude und staunte, daß immer, wenn sie diese Montur trug, Männer ihr die Türen aufhielten und ihre Einkaufstüten trugen, aber sie fühlte sich wie verkleidet. Die Strapse zwickten, es gab einen unangenehmen kalten Luftzug an der nackten Haut zwischen Strumpf und Slip, und sie war heilfroh, wenn sie sich wieder in ihre Jeans werfen konnte. Mit der Zeit liebte dieser Mann sie deutlich weniger in Jeans und deutlich mehr in Strapsen, was Babette so sehr bedrückte, daß sie ihm eines Tages verkündete, sie wolle sich trennen, weil er nicht sie liebe, wie sie wirklich war.

Zu dieser Ankündigung trug sie aus purer Bosheit Strapse.

Der nächste kaufte ihr einen roten Seidenrock, den sie [16] kein einziges Mal trug, aber sich nicht fortzuwerfen traute, weil er so teuer gewesen war.

Der nächste hatte keinerlei Meinung zu ihrem Aussehen, was sie beleidigend fand. Hätte er etwas gesagt, hätte sie es wenigstens ignorieren können. Er selbst trug ausschließlich Jogginghosen, weil er Sportlehrer war. Ab und zu prügelten sie sich, was der Sportlehrer als Teil seines Fitnessprogramms ansah.

Der nächste mochte sie, ganz gleich, was sie trug, und machte ihr dennoch ständig Komplimente. Den heiratete sie und trug von da an nur noch Cowboystiefel wie er. Jedes Jahr kauften sie gemeinsam ein neues Paar, das sie mit Metallplättchen beschlagen ließen. Wenn sie zusammen die Straße entlanggingen, klangen sie gefährlich. Sie fühlte sich stark und unbesiegbar mit den klackenden Stiefeln an ihren Füßen. Nichts konnte sie umhauen. Sie war im Leben dort angekommen, wo sie immer hingewollt hatte, und dort wollte sie auch bleiben, mit ihm, Fritz Bader. Für immer.

Nach sieben Jahren starb er bei einem Verkehrsunfall auf Bali. Wenn sie das sagte, sah Babette oft die Anstrengung in den Gesichtern der anderen, nicht spontan herauszuplatzen: Bali? Ach, wie schön!

Sie ging dazu über zu sagen: bei einem Verkehrsunfall, er starb bei einem Verkehrsunfall, und niemand fragte, wo und wie.

Seine Cowboystiefel warf Babette von einer Gondel aus in die Dolomiten. Unzählige Male waren sie hier gewesen. Das letzte Mal hatten sie vor einer Skihütte in der Sonne gesessen, während unten im Tal dicker Nebel lag wie eine [17] Bettdecke. Wenn man unten im Nebel sitzt und in seinem Dreck wühlt, vergißt man ganz, wie schön es hier oben ist, hatte Fritz gesagt. Dabei könnte alles so leicht sein, wenn man sich nur daran erinnern würde.

An diesen Satz konnte sie sich erinnern. Wenn sie sich anstrengte, spürte sie seine Hand in ihrem Nacken.

In dem Winter hatten sie beschlossen, die nächsten Weihnachten ausnahmsweise nicht im Schnee, sondern in der Sonne zu verbringen. Was hältst du von Bali? Bali. Vier Buchstaben, die Babette unvermittelt aus der Bahn geworfen hatten, als sei sie aus dem Skilift gefallen und sähe den anderen Skiläufern zu, die ruhig und zufrieden an ihr vorbei den Berg hinaufgeschleppt wurden, während sie keinen Fuß mehr vor den anderen bekam.

Am liebsten hätte sie sich aus der schwankenden kleinen Gondel in den düsteren Wald unter ihr fallen lassen. Es wäre so einfach, den Bügel zu lösen, herauszuschlüpfen, zu fallen, zu fallen, nichts mehr zu spüren. So viel einfacher, als weiterzuleben.

Sie trug nur noch Schwarz, was heutzutage nicht weiter auffiel. Als Kind, konnte sie sich erinnern, war es ein klares Zeichen gewesen, wenn eine Frau von Kopf bis Fuß Schwarz getragen hatte. Sogar schwarze Seidenstrümpfe. Mit dieser Frau mußte man vorsichtig umgehen, hieß das, und sie bemerkte, wie sich die Stimme ihrer Mutter veränderte, wenn sie mit diesen Frauen sprach. Seltsam klein und belegt wurde sie, und sie bekam als Kind ein flaues Gefühl im Magen, der Boden gab unter ihr nach, eine Felsspalte tat sich auf, sie sah, wie Menschen anscheinend auf Nimmerwiedersehen dort hineinstürzten. Sie starben.

[18] Mit ihr ging niemand vorsichtig um. Ihre wenigen Bekannten verloren bald die Geduld mit ihr. Warum ging es ihr denn immer noch nicht besser? Warum kam sie nicht ins Leben zurück? Sie brach den Kontakt zu ihnen ab, weil es ihr peinlich war, daß sie so traurig war, zog in eine kleinere Wohnung in der Tengstraße, beendete ihre Arbeit als freie Geschenkpapierdesignerin, weil sie es nicht mehr ertrug, den ganzen Tag allein mit Häschen und Eisbären zuzubringen, und nahm einen Job als Layouterin in einem Verlag für Koch- und Gesundheitsbücher an.

Jetzt lebt sie wie eine Nonne. Oder wie eine alte Frau. Sie wird unsichtbar. Sie sieht sich kaum noch im Spiegel an, versteckt sich unter immer mehr Schichten, und wenn sie sich wäscht, vermeidet sie, ihren Körper zu betrachten. Sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie beneidet die Frauen in streng moslemischen Ländern, am liebsten hätte sie sich unter einem Tschador versteckt. Sie versinkt in ihren schwarzen Kleidern wie in einem schwarzen Loch. Ein dunkler Fleck in ihrem eigenen Leben.

In der Nähe ihrer kleinen Wohnung befindet sich der alte Friedhof von Schwabing, der ihr früher niemals aufgefallen ist. Ganz in der Nähe hat sie vor sieben Jahren in einem roten Minirock und mit braungebrannten Beinen mit Fritz in den Kneipen gestanden, jung, cool und selbstsicher. Ihre Selbstsicherheit von einst ist aus ihr entwichen wie Nagellackentferner aus der offenen Flasche. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist, und es interessiert sie auch nicht mehr.

Jeden Morgen vor der Arbeit geht sie dorthin. Nur da fühlt sie sich einigermaßen wohl. Meistens geht sie fünf Mal um den ganzen Friedhof herum. Bei jedem Schritt denkt sie: [19] Wo bist du? Und dennoch ist es das einzige, worauf sie sich jeden Tag freut. Sie wird ruhig unter all den Toten. Hier versteht man sie. Hier nicken die alten, gebückten Frauen mit den Gießkannen in der Hand verständnisvoll, wenn sie unversehens aufschluchzt. Bald kennt sie jeden Grabstein auswendig. Jeden Namen prägt sie sich ein: Margarethe Baader, Friseursgattin, und Karl Baader, Friseur, Anna Wolfram, Lederhändlerswitwe, Anton Allmer, Lokomotivführer, Franz Auerbach, Uhrmachermeister, Johann Nepomuk, Ludwig und Otto Kröner, Charcutiers und königliche Hoflieferanten. Alles nur noch Namen ohne Körper.

Wo sind die alle hin, fragt sie sich mit ehrlichem Staunen. Fritz Bader, wo bist du hin?

Sie würde gern an irgend etwas glauben, aber niemand hat ihr das beigebracht. Ihre Eltern glauben nicht an Gott, sie war ihr Leben lang nur als Touristin in Kirchen. Ihr Vater war Gott. Er konnte alles. Wenn er zu ihr ins Kinderzimmer kam, um Gute Nacht zu sagen, bat sie ihn: Mach, daß in Afrika ein Mann über die Straße geht, und er schnippte mit den Fingern und sagte: Jetzt geht in Afrika ein Mann über die Straße.

Mach, daß in Japan ein Kind mit einem Ball spielt.

In Japan spielt jetzt gerade ein Kind mit einem Ball, sagte der Vater, und sie sah das Kind und seinen Ball ganz genau in diesem Moment.

Mach, daß eine rote Tulpe aufblüht.

Eine rote Tulpe blüht gerade auf.

Instinktiv spürte Babette, daß sie in diesem Spiel nicht zu weit gehen durfte, aber wie weit? Und mit Herzklopfen bat [20] sie den Vater, immer größere Taten rund um den Erdball zu vollbringen.

Mach, daß ein Baum in China seine Blätter verliert. Ein Schneemann am Nordpol schmilzt. Ein Hund in Honolulu bellt. Eines Tages sagte sie, mach, daß Gott zu uns nach Braunschweig kommt.

Da lachte der Vater sich halb tot, aber er schnippte nicht mit den Fingern, und Babette war enttäuscht. Er konnte eben doch nicht alles.

Sie versucht, nicht darüber nachzudenken, wo und in welcher Form Fritz sich jetzt aufhält. Genausoschwierig ist es allerdings, sich nichts vorzustellen.

Das Nichts ist düster und klebrig, wenn sie daran denkt, wird sie es nicht mehr los, es bleibt an ihr kleben wie Kaugummi unterm Schuh. Also versucht sie, nicht an das Nichts zu denken, was anstrengender ist, als Gewichte heben.

Auf einem Stein in der Mitte des Friedhofs steht: Mein Geliebter, ach komm, daß ich dich wiederhabe wie einst im Mai.

An den Mai und die Vergangenheit zu denken ist noch schlimmer. Sie vermeidet es, diesen Stein von weitem nur zu sehen. Ebenso wie die drei Bänke, auf denen in goldenen Lettern steht: GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG.

Die drei Wörter standen nicht immer dort. Eines Tages waren sie plötzlich da. Jemand muß sie in mühevoller Kleinarbeit in das Holz geschnitzt und golden angestrichen haben. Jemand, der sich auskennt mit Holzarbeiten. Ein Künstler, ein Heimwerker mindestens. Aber warum? Aus Berufung? Mit Auftrag der Stadt? Als gefördertes Kunstprojekt? Babette zieht die Version des berufenen [21] Privatmannes – oder einer Frau? – und Hobbykünstlers vor. Jemand, der trösten wollte und nicht ahnt, welche Schmerzen diese drei Wörter hervorrufen können. Also war’s doch eher ein Mann. Berufen, aber ein bißchen unsensibel.

Von fern hört sie das Verkehrssummen wie eine Erinnerung an die Stadt. Wenn man die Ohren nur auf die enge Umgebung der Bänke richtet, ist es still. Vogelzwitschern. Das Knacken eines Astes, die Tauben rascheln durchs Laub, Flügelschlagen. Geräusche vom Land. Manchmal aus der Ferne ein Autohupen wie ein Ausrufezeichen.