Alles umsonst - Walter Kempowski - E-Book

Alles umsonst E-Book

Walter Kempowski

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Beschreibung

Ostpreußen im Januar 1945: Hunderttausende Menschen fliehen vor den Russen in Richtung Westen. Doch die schöne Katharina von Globig, Herrin auf Gut Georgenhof, verschließt vor der Realität die Augen. Sie zieht sich in ihr Refugium aus Büchern, Musik und Träumen zurück. Als der Dorfpastor sie bittet, für eine Nacht einen Verfolgten zu verstecken, willigt sie ein. Kurze Zeit später wird der Mann aufgegriffen, Katharina wird verhaftet. Die trügerische Idylle ist dahin. Mit Sack und Pack macht sich der Rest der Familie auf den Weg. Die große Flucht wird zu einem Albtraum.

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Seitenzahl: 471

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Buch

Der sechste Kriegswinter ist kalt auf Gut Georgenhof weit in Ostpreußen. Die Front wird nach Westen zurückgedrängt, die Rote Armee schiebt einen gewaltigen Treck Fliehender vor sich her. Doch Katharina von Globig, die schöne Herrin auf dem Georgenhof, läßt die Realität nicht an sich heran.

Sie zieht sich in ihr Refugium aus Büchern, Musik und Nichtstun zurück. Das Alltagsgeschäft überläßt sie dem »Tantchen«, einer energischen Verwandten, und den Ostarbeitern Wladimir, Vera und Sonja. Um den zwölfjährigen Sohn Peter kümmert sich Studienrat Dr. Wagner, der die Stunden mit dem ernsthaften Jungen genauso schätzt wie die dicken Wurstbrote und die verträumte Mutter. Daß etwas in der Luft liegt, ist für alle Hausbewohner spürbar. Panzerkolonnen fahren vorüber, ab und zu fällt der Strom aus, Fremde bitten auf dem Weg nach Westen um Einlaß, um sich kurz zu wärmen, und erzählen Erschreckendes. Doch die Bewohner des Georgenhofs verschließen noch immer die Augen vor der heraufziehenden Katastrophe.

Wohl niemand ist berufener als Walter Kempowski, der »Chronist des Jahrhunderts« (Die Zeit), das Drama der Flucht aus Ostpreußen in einem großen Roman darzustellen. Auf bemerkenswert unideologische Weise setzt er sich ohne Schuldzuweisung und moralische Wertung mit diesem schwierigen Kapitel deutscher Vergangenheit auseinander.

 

Autor

Walter Kempowski, 1929 in Rostock geboren, wurde 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen verbüßte. Mit seiner mehrbändigen Deutschen Chronik, zu der Romane wie »Tadellöser & Wolff« (1971), »Aus großer Zeit« (1978) und »Herzlich willkommen« (1984) gehören, wurde Kempowski zum Bestsellerautor und Chronisten des deutschen Bürgertums. Seine monumentalen Echolot- Collagen etablierten ihn als einen der bedeutendsten zeitgenössischen deutschen Schriftsteller. Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007.

 

Walter Kempowski

Alles umsonst

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

 

 

 

 

1. Auflage

Genehmigte Taschenbuchausgabe Juni 2008,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2006 by Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: bürosüd nach einem Entwurf von Uwe C. Beyer Umschlagmotive: © Arnim Schindler

ISBN 978-3-641-01350-9V003

 

www.btb-verlag.de

 

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

 

 

 

 

 

Für Jörg

 

 

 

 

 

Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben;

es ist doch unser Tun umsonst

auch in dem besten Leben.

MARTIN LUTHER (1524)

Inhalt

Der Georgenhof

Der Ökonom

Die Geigerin

Das Tantchen

Pete

Katharina

Mitkau

Der Maler

Drygalski

Der Fremde

Der eine Tag

Die Offensive

Der Baron

Die Flüchtlinge

Ein Lehrer

Polizei

Aufbruch

Rast

Wladimir

Die Alten

Unterwegs

Allein

Ein Museum

Die Barkasse

 

Der Georgenhof

Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen jetzt im Winter wie eine schwarze Hallig in einem weißen Meer.

Das Gut war nur klein, die Ländereien waren bis auf einen Rest verkauft worden, und das Gutshaus war alles andere als ein Schloß. Ein zweistöckiges Haus mit halbrundem Giebel in der Mitte, den ein ramponierter blecherner Morgenstern krönte. Hinter einer alten Mauer aus Feldsteinen lag das Haus, das früher einmal gelb gestrichen war. Nun war es gänzlich von Efeu bewachsen, im Sommer hausten darin Stare. Jetzt, im Winter 1945, klapperte es mit seinen Dachziegeln: Ein eisiger Wind fegte kleinkörnigen Schnee von weither über die Äcker gegen den Gutshof.

«Gelegentlich müssen Sie den Efeu abmachen, der frißt Ihnen den ganzen Putz kaputt», war schon gesagt worden.

An der brüchigen Feldsteinmauer lehnten ausrangierte rostige Ackergeräte, und in den großen schwarzen Eichen baumelten Sensen und Rechen. Das Hoftor war vor längerer Zeit von einem Erntewagen angefahren worden, es hing seither schief in den Angeln.

Der Wirtschaftshof mit seinen Stallungen, Scheunen und dem Kütnerhaus lag etwas seitab. Die Fremden, die auf der Chaussee vorbeifuhren, sahen nur das Gutshaus. Wer mag dort wohnen? dachten sie, und ein bißchen Sehnsucht kam auf: Warum hielt man nicht einfach mal an und sagte guten Tag? Und: warum wohnte man selbst nicht in einem solchen Haus, das sicher voller Geschichten steckte? Das Schicksal ist doch ungerecht, dachten die Leute.

«Durchgang verboten» stand an der großen Scheune: ein Durchgang zum Park hin war nicht gestattet. Hinter dem Haus sollte Ruhe herrschen, der kleine Park dort, der Wald dahinter: Irgendwo muß man auch einmal zu sich kommen.

 

«4,5 km» stand auf dem weiß gekalkten Kilometerstein an der Chaussee, die am Haus vorbei nach Mitkau führte und in der entgegengesetzten Richtung nach Elbing.

 

Dem Gut gegenüber, jenseits der Chaussee, war in den dreißiger Jahren eine Siedlung gebaut worden, mit Häusern eines wie das andere, sauber ausgerichtet, jedes mit Stall, Zaun und einem kleinen Garten. Die Menschen, die hier wohnten, hießen Schmidt, Meyer, Schröder oder Hirscheidt, das waren sogenannte kleine Leute.

 

Die Leute, denen der Georgenhof gehörte, hießen von Globig. Katharina und Eberhard von Globig, wilhelminischer Beamtenadel von 1905. Das Gut war von dem alten Herrn von Globig vor dem Ersten Weltkrieg mit gutem Geld gekauft und in Zeiten der Prosperität um Wiesen und Wald vermehrt worden. Der junge Herr von Globig hatte dann alle Ländereien, Wiesen, Äcker und Weiden bis auf einen kleinen Rest verkauft und das Geld in englischen Stahlaktien angelegt, außerdem hatte von Globig eine rumänische Reismehlfabrik damit finanziert, was den Eheleuten nicht gerade ein üppiges Leben ermöglichte, aber immerhin. Ein Wanderer-Wagen wurde angeschafft, ein Auto, das sonst niemand im Regierungsbezirk hatte, und damit fuhren sie vor allem in den Süden.

Eberhard von Globig war jetzt im Krieg «Sonderführer» der Deutschen Wehrmacht, die Uniform stand ihm gut, im Sommer gar der weiße Rock? Wenn auch die schmaleren Schulterstücke ihn kenntlich machten als Wirtschaftsoffizier, der mit Waffen nichts zu schaffen hatte.

Seine Frau wurde als verträumte Schönheit gerühmt, schwarzhaarig mit blauen Augen. Nicht zuletzt ihretwegen stellten sich im Sommer auf Georgenhof gelegentlich Freunde und Nachbarn ein, die sich zu ihr in den Garten setzten und sie unverwandt anschauten; Lothar Sarkander, der Bürgermeister von Mitkau – steifes Bein und Schmisse an der Wange –,Onkel Josef mit den Seinen aus Albertsdorf oder Studienrat Dr. Wagner, ein Hagestolz mit Spitzbart und goldener Brille. Wegen seines Spitzbartes sah er so aus, als ob man ihn kennt. Selbst Fremde grüßten ihn auf der Straße. An der Klosterschule von Mitkau unterrichtete er Knaben der oberen Jahrgänge in Deutsch und Geschichte, Latein im Nebenfach.

 

In den Sommerferien kam gelegentlich die Kusine Ernestine aus Berlin, mit den Kindern Elisabeth und Anita, die immer so gern ritten und sich bei den schweren Sommergewittern ins Haus verkrochen und dort die saure Milch aufaßen, die auf dem Fensterbrett in der Küche stand, mit Fliegen obendrauf. Die Heuwagen, wenn die so angeschwankt kamen ... Und Blaubeeren suchen im Wald.

Jetzt im Krieg kamen sie vorwiegend zum Hamstern. Mit leeren Taschen kamen sie, und mit vollen fuhren sie davon.

 

Die beiden Globigs hatten einen Sohn, dem sie den Namen Peter gegeben hatten: schmaler Kopf, gekräuseltes blondes Haar. Er war zwölf Jahre alt: still wie die Mutter und ernst wie der Vater.

 

Krauses Haar – krauser Sinn, sagten die Leute, wenn sie ihn sahen, aber daß es blond war, das Haar, machte alles wett. Seine kleine Schwester Elfie war vor Jahren an Scharlach gestorben, das Zimmer stand noch immer leer, das ließ man unangetastet, mit der Puppenstube, die nun schon Staub angesetzt hatte, und dem Kaspertheater. Alle ihre Sachen hingen noch in dem mit aufgemalten Blumen verzierten Kleiderschrank.

 

Jago, der Hund, und Zippus, der Kater. Pferde, Kühe, Schweine und eine große Hühnerschar mit Richard, dem Hahn.

Sogar ein Pfau war vorhanden, der hielt sich immer etwas abseits.

 

Katharina, die schwarze Schönheit, ganz in Schwarz, strich dem Jungen übers Haar, und Peter hatte es gern, wenn ihm die stille Mutter übers Haar strich, aber seit kurzem wehrte er sich denn doch dagegen mit einem energischen Kopfruck. Lange blieb Katharina nie bei dem Jungen stehen, sie ließ ihm seine Ruhe, sie selbst wollte ja auch ihre Ruhe haben.

 

Zur Familie gehörte noch das «Tantchen», ein ältliches Fräulein, sehnig, mit Warze am Kinn. Sommers lief sie in einem labberigen Waschkleid durch das Haus, stets auf Trab! Jetzt trug sie wegen der Kälte eine Männerhose unterm Rock und zwei Strickjacken. Seit Eberhard als Sonderführer «im Felde stand», wie es ausgedrückt wurde, obwohl er doch nur in der Etappe zu tun hatte, sorgte sie für Ordnung auf Georgenhof. Ohne sie wäre es nicht gegangen. «Es ist alles nicht so einfach ... », sagte sie, und damit meisterte sie den Tag.

«Die Küchentür muß zugehalten werden!» rief sie durchs Haus, das habe sie auch schon tausendmal gesagt. «Das zieht doch durch alle Zimmer!» Dagegen könne man nicht «anheizen». Über die Kälte klagte sie, warum war sie bloß in Ostpreußen gelandet? Weshalb um Himmels willen war sie nicht nach Würzburg gegangen, damals, als sie noch die Wahl hatte?

Im Ärmel steckte ein Taschentuch, das sie immer und immer an die rote Nase führte. Es war alles nicht so einfach.

 

Mit Kriegsausbruch versiegte der Fluß des Geldes: englische Stahlaktien? Reismehlfabrik in Rumänien? Da war es gut, daß Eberhard den Posten in der Wehrmacht bekommen hatte. Ohne das Gehalt, das er bezog, wäre es nicht gegangen. Die paar Morgen Land, die noch übrig waren, drei Kühe, drei Schweine und Geflügel schafften ein gutes Zubrot, aber man mußte dafür sorgen! Von nichts kam nichts!

Wladimir, ein nachdenklicher Pole, und zwei muntere Ukrainerinnen hielten den Betrieb in Gang. Die korpulente Vera und Sonja, ein blondes Mädchen mit Kranz um den Kopf. Um die Eichen kreisten Krähen, und in den Vogelhäuschen, die jetzt im Winter ziemlich regelmäßig beschickt wurden, holten sich «Piepmätze» ihr Teil. «Piepmätze», das war ein Ausdruck, den Elfie gebraucht hatte, nun schon zwei Jahre tot.

 

Die Eheleute hatten sich, als das Geld noch reichlicher floß, im ersten Stock eine gemütliche Wohnung eingerichtet, drei Zimmer, Bad und kleine Küche. Ein Wohnzimmer mit Blick auf den Park, warm und gemütlich, hier konnte Katharina Briefe schreiben oder Bücher lesen. Und wenn Eberhard kam, war man ungestört. Da konnte man «die Tür hinter sich zumachen», wie das genannt wurde. Da brauchte man nicht immerfort mit dem Tantchen zusammenzusitzen, unten in der Halle, die sich in alles einmischte und alles besser wußte. Die dauernd aufstand, um noch was zu holen, und sitzenblieb, wenn es störte.

Jetzt im Januar 1945 stand in der Halle noch der Weihnachtsbaum. Peter hatte ein Mikroskop geschenkt bekommen, von seiner Patentante in Berlin. Er saß in der schummrigen Halle, an einem Tisch unweit des rieselnden Tannenbaums. Durch den Tubus sah er sich alles mögliche ganz genau an, Salzkristalle und Fliegenbeine, ein Stück Faden und die Spitze einer Stecknadel. Neben sich hatte er ein Notizbuch gelegt, und darin notierte er seine Beobachtungen: «Donnerstag, den 8. Januar 1945: Stecknadel. Vorne schartig.»

Seine Füße hatte er in eine Decke gehüllt, da es zog. In der Halle zog es immer, weil der Kamin mit seinen brennenden Scheiten Luft ansog und weil «stets und ständig» die Küchentür offenstand, wie das Tantchen es ausdrückte. Es waren die Ukrainerinnen, die das Schließen der Türen nie lernten. Eberhard hatte die beiden im Osten besorgt. Ob sie nach Deutschland wollten, groß und mächtig, hatte er sie in ihrem Dorf gefragt. Berlin, mit Kinos und U-Bahn? Und dann waren sie in Georgenhof gelandet.

 

Peter stellte den Tubus des Instruments rauf und runter, und zwischendurch schob er sich auch mal eine Pfeffernuß in den Mund.

«Na», sagte das Tantchen, wenn sie durch die Halle eilte, «forschst du tüchtig?» Eigentlich hätte ja der Schnee vom Eingang weggefegt werden sollen ... Aber ehe man jemanden um so etwas bittet, tut man es lieber selbst. Außerdem: der Junge war ja beschäftigt, wer weiß, vielleicht würde die Leidenschaft, die er für dieses Gerät hatte, später Früchte tragen? Die Universität in Königsberg war nicht weit? Wenn der Junge untätig herumgelungert hätte, wäre das etwas anderes gewesen.

«Laß ihn in Ruhe», hatte Katharina gesagt, als das Tantchen ihn einen Stubenhocker genannt hatte.

 

Als Peter sich nicht mehr mit dem Mikroskop beschäftigen wollte, stellte er sich ans Fenster und guckte sich die Vögel an, die ratlos herumschwirrten, weil die Vogelhäuschen mal wieder nicht beschickt worden waren, und dann sah er mit dem Fernglas seines Vaters in die Weite, was er eigentlich nicht sollte. Dieses Glas sei kein Spielzeug, wurde gesagt. Immer und immer werde mit fettigen Fingern auf die Linsen gefaßt, vom Verstellen des Glases ganz zu schweigen. «Da hat wieder einer mein Glas angefaßt», sagte von Globig, wenn er mal – selten genug – nach Georgenhof kam.

 

Peter sah nach Mitkau hinüber, wo neben dem Kirchturm der Schornstein der Ziegelei auszumachen war. Die Schule war wegen der Kälte geschlossen. «Kälteferien», dieser Ausdruck war neu. Die Jugend durfte zu Hause bleiben, aber die Hitlerjugend sorgte dafür, daß sie nicht unbeschäftigt blieb. Auch Peter hatte man an einem klaren Frosttag herausholen wollen aus der Stube, zum Schneeschippen an der großen Mitkauer Kreuzung. Aber da war es eben wieder einmal die Erkältung gewesen, unter der Peter litt, die machte es ihm unmöglich, an dieser Aktion teilzunehmen. «Er hat wieder seinen Katarrh», war gesagt worden.

Husten und Schnupfen hinderten ihn allerdings nicht daran, mit dem Schlitten den kleinen Abhang hinter dem Haus hinunterzufahren, immer wieder. Vor dem Haus schien die Sonne, da wäre es schöner gewesen, aber das hatte man ihm verboten, weil gelegentlich ein Auto vorüberflitzte.

Dann beschäftigte er sich wieder mit dem Mikroskop. Der Hund Jago hielt sich an ihn und legte die Schnauze auf seinen rechten Fuß, und der Kater barg sich in dessen Fell.

Das sei ein Bild für die Götter, wurde gesagt: wie die Katze da auf dem Rücken des großen Hundes liegt?

 

«Was haben Sie für einen netten Sohn», sagten die Besucher aus Mitkau, die sich gern in Georgenhof sehen ließen, obwohl das ein Fußmarsch von anderthalb Stunden war, «so ein hübscher Junge!» Mit leeren Taschen kamen auch sie, und mit vollen gingen sie wieder davon.

Der «Hagestolz», Studienrat Dr. Wagner, guckte öfter mal ein. Der kümmerte sich um den Jungen, jetzt, wo der Schulbetrieb eingestellt worden war.

Wenn Jugend durch den Kreuzgang der Mitkauer Klosterschule an ihm vorübertobte, hielt er den «Blondschopf» gerne an und sagte: «Na, mein Junge? Hat dein Vater mal wieder geschrieben?» Und jetzt, in den Kälteferien, «kümmerte» er sich um ihn.

 

Im schönen, warmen Sommer war er mit seinen Quartanern schon mal durch die gelben Getreidemeere gewandert, an das stille, von Weiden umstandene Flüßchen Helge, das in großen Links- und Rechtsschwüngen durch das Land floß. Dort hatten sie sich die Hosen und Hemden vom Leibe gerissen und waren hineingestürzt in das dunkle Wasser. Manches Mal hatte es sich ergeben, daß die kreischende Jugend durch den Wald lief und in Georgenhof landete, wo sie Himbeerwasser vorgesetzt bekam und auf den Rasen im Park gelagert ihre Stullen essen konnte: muntere Sommervögel!

Der Studienrat zog dann seine silberne Querflöte aus der Tasche und blies Volkslieder, vom Haus aus hörte Katharina ihm zu.

Jetzt, im kalten Winter des sechsten Kriegsjahres, kam Studienrat Dr. Wagner öfter mal vorbei, zu Fuß, trotz Eis und Schnee, und auch er pflegte mit einer leeren Tasche zu kommen und mit einer gefüllten wieder davonzuwandern. Äpfel nahm er mit, oder Kartoffeln. Auch mal eine Steckrübe. Die er übrigens bezahlte, denn das Tantchen pflegte zu sagen: «Die wächst auch nicht für Gotteslohn.» Für eine Steckrübe berechnete sie zehn Pfennig.

Mit Katharina saß er gern ein wenig zusammen, wenn sie sich denn sehen ließ. Gern hätte er ihre Hand gefaßt, aber es gab keinen rechten Anlaß dazu. Das Tantchen pflegte Schubladen aufzuziehen, wenn er kam, und mit Aplomb wieder zuzustoßen. Daß es immer was zu tun gibt, sollte das bedeuten, in einem so großen Haushalt, auch wenn es so aussieht, als ob man müßig in den Tag hineinlebt.

 

Wagner kümmerte sich ein wenig um den Jungen, wie er es ausdrückte. Ging also mit ihm auf seine Stube und brachte ihm Dinge bei, von denen in der Schule nie die Rede gewesen war.

 

Fernglas und Mikroskop? Im Physiksaal der Klosterschule stand ein kleines Teleskop, man könnte es nach Georgenhof schaffen und dort mit dem Jungen die Sterne begucken? Niemand würde den Verlust bemerken, und man trüge es ja auch wieder zurück, wenn alles vorüber ist?

 

Ganz uneigennützig kümmerte sich Dr. Wagner um den Jungen. Er verlangte jedenfalls keine fünfzig Pfennig für die Unterrichtsstunde. Er begnügte sich mit ein paar Kartoffeln oder einem halben Kopf Kohl.

Der Ökonom

An einem dunklen Abend klingelte es an der Haustür, ein älterer Mann war es, der die Glocke gezogen hatte, er trug eine lustige Mütze und stützte sich auf zwei Krücken.

Wladimir hatte ihn in der Dunkelheit schon mit der Taschenlampe auf dem Hof herumstreichen sehen, und die beiden Ukrainerinnen hatten innegehalten und aus dem Küchenfenster gespäht, wer das da ist, der sich dem Hause nähert?

Jago hatte sich erhoben und ein-, zweimal angeschlagen, und nun stand der Fremde in der Tür, die Schneppglocke machte noch einmal pling!, und Katharina öffnete ihm. Schon stakste der Mann mit seinen Krücken an ihr vorüber in die Halle hinein und auf und ab, die Beine vor- und zurückschwingend, von Jago Schritt für Schritt begleitet. Er trug eine grüne Bauernjoppe mit schrägen Seitentaschen und schwarze Ohrenschützer. Die Ohrenklappen der Mütze wurden oben auf dem Kopf mit einem Schleifchen zusammengehalten. Um den Leib hatte er einen Lederriemen, und an diesem Riemen hing eine schwere, akkordeonartige Aktentasche.

 

Er möchte sich nur eben ein wenig aufwärmen, sagte er zu Katharina und zu dem Tantchen, das gerade die Abendsuppe hereintrug, ob er das dürfe? – Kein Bus, kein Zugverkehr, Strecke unterbrochen und ein eisiger Wind? Aus Elbing kam er, und von Harkunen war er zu Fuß bis hierher gestakst: Was für Verhältnisse! Wer hätte das gedacht! Fünfzehn Kilometer!? Bei diesem Wetter? und zu dieser Stunde?

Nach Mitkau wollte er, und er hatte damit gerechnet, daß ein Gasthaus an der Straße läge, das «Waldschlößchen», das auf seiner Karte verzeichnet war, ein Ausflugsort für Familienfeiern?

Er war auch tatsächlich daran vorbeigekommen, aber alles verriegelt und verrammelt. Fremdes Volk trieb sich dort herum. Allerlei unartikulierte Sprachfetzen, Tschechisch, Rumänisch ...?

Hände in den Taschen, ihm nachgesehen ...

 

Der Mann hieß Schünemann, und er war schon lange unterwegs, per Bahn, und das letzte Stück von Harkunen aus mit einem Bauernwagen, und den allerletzten Rest zu Fuß! Und das bei diesem Schnee!

Er wolle sich nur ein wenig aufwärmen und verschnaufen, dann verdufte er sofort. Irgendwo werde er schon noch unterkommen, sagte er und blickte sich um ...

Was hatte ihn geritten, sich um diese Jahreszeit im Lande herumzutreiben? Ausgerechnet nach Mitkau?

 

Katharina sah sich den Mann an. Besuch zu dieser Tageszeit? Und auch der Mann betrachtete sie nicht ohne Interesse. Donnerwetter! Was sich so alles auf dem Lande versteckt ... Diese Frau gehörte doch von Rechts wegen sonstwohin? Berlin! München! Wien!

Er stakste zu ihr hin, mit den Beinen vor- und zurückschwingend, und sagte, er heiße Schünemann und sei Ökonom von Beruf, Nationalökonom, und – keine Angst! – er wolle nur ein wenig verschnaufen ...

«Ah, Wärme ... », sagte er und hakte die Mappe vom Schulterriemen ab und schwang sie neben den Kaminsessel. Dann öffnete er die Jacke und stellte sich, von den Krücken befreit, ans Feuer und ließ Wärme an seinen Körper strömen. Wärme! Der Hund stellte sich neben ihn, was der Mann da in das Feuer zu gucken hat, er wedelte kurz mit dem Schwanz: Es mochte seine Richtigkeit mit ihm haben.

Nun kam auch der Kater herbei: Was hier schon wieder los ist.

 

Der Mann setzte sich an den Kamin und zündete sein Pfeifchen an und verfluchte den Tag, an dem er sich entschlossen hatte, «Nationalökonomie» zu studieren, sein Vater hätte ihn immerfort gedrängt.

«Wär’ ich doch bloß Tischler geworden ... » sagte er, sich der Tante zuwendend. – «Aber ausgerechnet Nationalökonom!» rief er, als müsse er die Leutchen zu Zeugen seiner Lebensdummheit anrufen.

 

Peter fragte ihn, was das ist, ein «Ökonom».

«Tja», antwortete der Herr, «das ist gar nicht so einfach zu erklären. Wär’ ich man Tischler geworden ... » – Ob er mal durchgucken dürfe durch das Mikroskop. Der Spiegel sei ja völlig falsch eingestellt ...

 

Ihm sei die Ruhe im Osten nicht geheuer – schon seit Wochen diese eigentümliche Ruhe? sagte er und stellte den Kopf schief, als müsse er lauschen, ob nicht was zu hören ist, und weil ihm diese Ruhe nicht geheuer sei, wolle er keineswegs nach Insterburg weiterziehen, wie er es ursprünglich vorgehabt habe, sondern er werde ein paar Tage in Mitkau bleiben. Und dann schnellstens nach Elbing zurück und über Danzig nach Hamburg, er habe dort einen Vetter wohnen. Bei dem werde er unterkriechen.

«Haben Sie letzte Nacht den Feuerschein gesehen, gnädige Frau?» fragte er Katharina, die eine Petroleumlampe auf den Tisch stellte, weil mal wieder Stromsperre war, und sich setzte – es war ja Abendbrotzeit.

Feuerschein? Sie wußte davon nichts ... Es war alles so kompliziert und verwickelt ... Wer je das Wort an Katharina richtete, mußte es erleben, daß sie vom Himmel fiel. Sie hatte niemals von irgendwas gehört, geschweige denn eine Ahnung. «Sie hat keinen Schimmer», wurde gesagt, «aber schön ist sie ... sehr schön.» In jeder Gesellschaft war sie die Hauptperson, obwohl sie kaum je etwas sagte.

Aber sonst? Verkroch sich nach oben in ihr «Boudoir», und was sie dort trieb, wußte der liebe Himmel. Lesen tat sie viel, oder besser «schmökern», denn von Goethe und Lessing konnte keine Rede sein bei ihrer Lektüre. Sie hatte als junges Ding mal bei einer Buchhändlerin ausgeholfen, und seit damals war es ihre Gewohnheit, Bücher «anzulesen», nach allzu Sperrigem griff sie nicht.

 

Jetzt mußte jedenfalls erst einmal gegessen werden. Minus 16 Grad zeigte das Thermometer, und das Barometer gab an, daß es wohl noch kälter werden würde.

Vielleicht zögerte man ein wenig zu lange, den Herrn an den Tisch zu bitten, die Suppenterrine stand ja schon da, aber dann tat man es eben doch: Man lud ihn auf ein paar Löffel ein, und er klopfte das Pfeifchen aus und trat flink näher, setzte sich, rieb sich die Hände und sagte wieder und wieder, daß er nur eben ein wenig verschnaufen wolle.

Gegenüber von Katharina nahm er Platz und betrachtete sie. Eine südländische Schönheit in dieser Einöde? Wo Fuchs und Has’ sich gute Nacht sagten? – Anselm von Feuerbach, dessen Bilder kannte man ja.

Katharina sah aus, als wolle sie sagen, sie könne es ja auch nicht ändern. Einen Schlüssel hielt sie in der Hand, mit dem spielte sie herum, das war der Schlüssel zu ihrem Boudoir, das sie immer verschlossen hielt. Er war schon ganz blank vom nervösen Hantieren. Da oben hatte niemand etwas zu suchen.

 

Er habe sich etwas leichtsinnig auf den Weg gemacht, die Ausfallstraßen würden ab morgen kontrolliert, habe es geheißen, er sei grade noch so durchgewitscht. Und er habe gedacht, ein Wagen picke ihn vielleicht auf unterwegs, aber die Straße sei wie ausgestorben gewesen – und kein Gasthaus weit und breit! Am Waldschlößchen schon gedacht: Hier laßt uns Hütten bauen ... Und da habe er im letzten Augenblick das Gutshaus gesehen, wie es da geduckt hinter der Mauer liegt, unter den schwarzen Eichen, und er habe gedacht, hier könne er verschnaufen und sich aufwärmen. Und dann weiter die paar Kilometer noch bis Mitkau.

Die werde er auch schon noch schaffen.

 

Das Waldschlößchen? Du lieber Himmel! Früher war das Waldschlößchen ein Ausflugslokal gewesen, mit Kaffeegarten, für Familien und für Schulklassen ideal, der große Wald, und dahinter der von Weiden gesäumte Fluß? Jetzt waren die großen Aussichtsfenster mit Brettern zugenagelt, jetzt diente das Waldschlößchen als Heim für Fremdarbeiter: Rumänen, Tschechen, Italiener – Menschen, die von Einheimischen als «Gesochs» bezeichnet wurden. Die Rumänen wuschen sich die Füße nicht, und die Italiener waren gar zum Verräter am deutschen Volk geworden, im Ersten Weltkrieg schon und nun noch einmal. Das waren also Menschen, denen man nicht über den Weg trauen konnte.

Die beiden Ukrainerinnen liefen ab und zu hinüber und blieben länger dort, als angängig war.

Georgenhof: Dieses Haus hier habe etwas Geheimnisvolles an sich, wer weiß, was mich da erwartet, habe er gedacht. Und nun sitze er hier am Tisch mit so lieben, netten Menschen zusammen, und, das sei noch das Schönste, man habe sich nie zuvor gesehen, und jetzt schon so vertraut!

Mit einer «Atzung» habe er gar nicht gerechnet, das sei hier wohl noch gute alte Gastfreundschaft?

Er entnahm seiner Brieftasche Lebensmittelmarken und reichte sie der Frau von Globig, hielt sie dann aber doch dem Tantchen hin, die war wohl eher zuständig für so was. Katharina mit ihrem hochgesteckten dunklen Haar faßte sich an die Brosche: Lebensmittelmarken ...? schien sie zu denken. Es war alles so kompliziert...

«Die stecken Sie man wieder ein», sagte das Tantchen und füllte ihm Suppe auf. Sah dann aber, daß es «Urlaubermarken» waren, die nicht verfielen und die man jederzeit und überall abkaufen konnte. Die nähme sie denn doch ganz gern.

«Wer weiß, was noch alles kommt?»

Es sei alles nicht so einfach!

 

Der Mann bedankte sich und sagte: Mal sehen, wie’s weitergeht, erst nach Mitkau, vielleicht doch noch Insterburg, sonst Allen- stein. Und dann aber schleunigst nach Elbing zurück, und von da nach Danzig und nach Hamburg. Und dann ab in den Süden. Nun aber erst mal Suppe essen, und er sagte wieder und wieder: «Ahhh ... » und rieb sich die Hände, und er beobachtete genau, was es war, das ihm da aus der Kelle auf den Teller schwappte. Ziemlich fett war die Angelegenheit, und etwas Fleisch schwamm auch darin herum.

Daß es in diesem Haus üblich war, ein Tischgebet zu sprechen, kam ihm gerade recht. In der Kindheit hatten die Eltern es doch auch immer so gehalten. Oh, er wisse es noch!

Das eifrige Tantchen, der blonde Junge und die ratlose Katharina mit blauen Augen und Flaum unter der Nase, und auf dem Tisch die Terrine mit der fetten Suppe.

Bamm! schlug die Standuhr, bamm!

 

Die Suppe war heiß. Der Ökonom, in Göttingen studiert und lange im Fichtelgebirge gelebt, bis er auf die unsinnige Idee gekommen war, sich in Ostpreußen herumzutreiben, wie er sagte, blies über den Löffel hinweg, daß die Petroleumlampe auf dem Tisch blakte. Er wog den silbernen Suppenlöffel in der Hand und sagte: «Ah! Kultur!» und er drehte ihn um und zeigte dem Jungen den Stempel, er habe sofort bemerkt, daß der Löffel aus reinem Silber ist. «Schau mal her, was steht da? – Achthundert! » Und er hob auch Peters Suppenlöffel in die Höhe: «Jeder Löffel achthunderter Silber! – Und die Suppenkelle, ein wunderbares Stück ... Was meinst du, mein Junge, was die wert ist?»

Und das Porzellan! – «Das ist ja – ist das nicht ... ?» – Den Teller umdrehen, das ging ja nun nicht. Aber daß darauf in blauer Farbe eine vollständige Landschaft gemalt war, trat während des Auslöffelns allmählich zutage, das war dem Jungen bisher noch gar nicht aufgefallen. Bäume, ein Weiher mit Kranichen und ein Boot mit einem Fischer, der gerade sein Netz aus dem Wasser zieht.

 

Katharina dachte an Berlin, an die Tauentzienstraße, daß sie dort in ihrer Brautzeit dieses Geschirr gekauft hatte – Georgenhof? hatte sie gedacht, vielleicht würde man ja dauernd Gäste bewirten müssen? Viele Gäste? Auf Gütern feierte man doch Feste, soviel sie wußte? In Sälen, mit flackernden Kerzen?

Und deshalb hatte sie das Geschirr gekauft für vierundzwanzig Personen. «Was willst du denn mit dem ganzen Geschirr?» hatte ihr Mann gefragt, als nach der Hochzeit die Mitgift in Georgenhof eintraf.

Aus Berlin stammte Katharina, und in Ostpreußen war sie vorher nur ein einziges Mal gewesen, im Ostseebad Cranz, da war es gewesen, daß sie Eberhard zufällig kennengelernt hatte, bei Kaffee und Kuchen. «Steige hoch, du roter Adler!» hatte die Strandkapelle gespielt. «Heil dir, mein Brandenburger Land!» Florentiner hatten sie gegessen, und Eberhard hatte Zigaretten aus einer angekokelten Meerschaumspitze geraucht: darauf ein Schnitzwerk: Mann und Frau. Und am Abend dann in der Stranddiele Foxtrott getanzt.

 

Silber? Porzellan? – Der Ökonom wunderte sich, daß all diese Kostbarkeiten noch in Gebrauch waren und nicht schon längst weggepackt, irgendwo versteckt oder nach Berlin geschickt oder weiß der Himmel wohin? «Wenn nun die Russen kommen?» Und bei dem Gelichter hier nebenan? Die Nase lief ihm, und deshalb holte er eine Art Taschentuch hervor, und da fiel auf, daß er einen Brillantring am kleinen Finger trug.

«Was glauben Sie, was hier los ist, wenn es mal andersherum kommt?!»

Den Löffel leckte er nicht gerade ab, aber man sah es ihm an, daß er gerne mehr gegessen hätte, und da hob die Tante die Terrine mit beiden Händen und schüttete ihm den Rest der Suppe platschend auf den Teller.

Katharina lachte ein wenig darüber, aber sie wußte nicht so recht, ob sie das darf, daß sie darüber lacht, ob die Tante das nicht vielleicht krummnimmt?

«Wie konntest du in diesem Augenblick nur lachen? Wie konntest du das tun? »

«Andersherum kommt»? Was meinte der Mann damit?

Die Russen meinte er damit, die an der Grenze lagen. Jeden Tag konnten sie losschlagen, «und dann wehe uns»!

 

Eine Schale mit Äpfeln wurde auf den Tisch gestellt, und auch davon durfte der Gast sich nehmen, und er rühmte Duft und Aroma der Früchte. Und er nahm weitere Urlaubermarken aus der Brieftasche und reichte sie über den Tisch.

«Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich ... », wurde gesagt. Ja, dem war aus vollem Herzen zuzustimmen.

 

Ah! wie er das genieße! sagte der Mann: Familienleben! «Der Gatte ist wohl an der Front?» Und er schälte mit seinen gepflegten Händen den Apfel, den man ihm gereicht hatte. Und als er den Apfel verputzt hatte, reichte man ihm einen zweiten.

Nein, nicht an der Front, weit weg, in Italien war der Gatte, und er hatte von dort schon manches Schöne geschickt, und wann immer es ging, rief er an.

«Zuerst war er im Osten, und nun ist er in Italien.»

«Und diese Obstteller!» rief Schünemann. Jeder mit einer anderen Frucht bemalt, gefällig arrangiert, Bananen mit blauen Trauben und Mandeln, und: eine Pampelmuse, Johannisbeeren, Feigen ... Er zeigte es dem Jungen, wie sorgfältig die Malerei ausgeführt war, und erklärte ihm, was ein Granatapfel ist.

 

Wieder und wieder wunderte sich der Mann über den Leichtsinn, diese Teller noch in Benutzung zu haben und das Tafelsilber – sofort wegpacken alles! Herrgottnochmal! Auch die mit Hirschhorngriff versehenen Obstmesser! Das Gelichter da drüben, dem war doch nicht über den Weg zu trauen.

«Wenn es mal andersherum kommt ... »

Wer könne denn wissen, was noch kommt? Der Russe? Wer weiß? Im Augenblick läge die Front ja noch in tiefstem Schlaf, aber das könne sich schnell ändern, er habe so ein komisches Gefühl ... Er werde morgen nach Mitkau machen und dann Insterburg und dann so schnell wie möglich wieder zurück. Vielleicht noch Allenstein. Was er in Mitkau und in Insterburg eigentlich zu tun hatte, sagte er nicht.

 

«Alles wegpacken!» rief er, so als ob ihm selbst etwas abginge, wenn man es nicht täte. Am besten mit Stroh in eine Kiste schichten und vergraben. Oder das Silber Stück für Stück nach Berlin schicken oder nach Bayern, oder besser noch nach Hamburg. Vielleicht kann er ja bei seinem Vetter mal nachfragen, der könnte das alles bei sich unterstellen?

Dann legte er den Finger auf die Lippen, als verrate er ein Geheimnis, und flüsterte: Silber behalte immer seinen Wert. Die größeren Stücke wegschicken, aber die Teelöffel vielleicht besser behalten, die würden wie Münzen zu verwenden sein. «Das ist doch bares Geld!» Als Flüchtling, wenn man beispielsweise über einen Fluß gesetzt werden will, dem Fährmann einfach einen Teelöffel hinhalten! Silber! So ein Mensch greife doch mit beiden Händen danach? Wer wolle denn noch Geld in dieser Zeit?

 

Katharina drehte sich eine Zigarette, und das Tantchen brachte das Geschirr in die Küche, so genau hatte sie sich die Teller noch gar nicht angesehen ... Silber? Wegschicken? Es war ja alles nicht so einfach. Die Obstteller würde man ab heute am besten selber abwaschen und nicht den Mädchen überlassen, die womöglich alles durch die Gegend kegelten.

In der Küche stritten die beiden Ukrainerinnen mit gellender Stimme – Vera und Sonja. Sie stritten den ganzen Tag, weiß der Himmel, worum’s ging. Vielleicht stritten sie sich ja auch gar nicht, vielleicht klang das ja nur so in ihrer verzwickten Sprache.

Oder ging es um die Rumänen im Waldschlößchen? Unter diesen Leuten dort, den Rumänen, Tschechen und Italienern, gab es kräftige Burschen. Man konnte sie singen hören. Wenn man am Hotel vorüberging, hörte man bestimmt irgendjemanden singen. Und wenn sich die Mädels sehen ließen, schoben sie die Mütze in den Nacken. Der Italiener hatte sich sogar eine Feder an die Mütze gesteckt!

 

Herr Schünemann besichtigte die Porträts, die hier in der Halle hingen, groß und schwarz, sie stellten würdige Menschen aus Potsdam und aus der Tucheler Heide dar. Wenn man auch nicht genau wußte, wen.

Soso, Berlin. Wilmersdorf?

Als «Wilmersdorf» erwähnt wurde, guckte Katharina zur Seite. Sie hatte zu Weihnachten Peter dorthin schicken wollen – wer weiß, was noch alles kommt –, aber die Wilmersdorfer hatten abgewinkt.

Die Berliner ließen nur was von sich hören, wenn sie was haben wollten ... Kartoffeln, Gemüse, alles hatte man hingeschafft, Jahr um Jahr, zum Fest sogar eine Gans, aber den Jungen hatten sie nicht nehmen wollen. Vielleicht ja auch besser so, bei den verheerenden Angriffen dort?

Im letzten Sommer noch die beiden Töchter hergeschickt, Elisabeth und Anita, die hatten sich so gut erholt.

«Das Tischtuch ist für immer zerschnitten!» sagte das Tantchen, «ein für allemal!», und der Ökonom sagte: «Aha.»

Nach dem Essen setzte der Herr zu einer Besichtigungstour an. Er schwang zwischen den Krücken artistisch die Halle auf und ab, stieß gar die Tür auf nach nebenan: von dort kam kalte Luft herein! Das war der Sommersaal, vor dem Krieg gebaut, vom Verkauf der Ländereien bar bezahlt und nie so richtig benutzt. Jetzt stand er voll Kisten und Kasten.

Er machte eine Runde in dem eiskalten Saal: «Was sind denn das für Kisten?» sagte er und stieß mit der Krücke dagegen, aber dann ließ er das bleiben, schloß die Tür und kehrte zurück zu den anderen.

Ein weiterer Raum war noch zu erkunden: Was? – Ein Billardzimmer! ... Ein reguläres Billard, grün bespannt ... Am Fenster Spieltische mit polierter Platte, und in der Ecke ein Schrank, dessen Tür mit Intarsien verziert war. In dem wurden wahrscheinlich Weine und Zigarren aufbewahrt?

 

Die an den Wänden aufgereihten Jagdtrophäen – Gehörn, Geweih, eins neben dem andern, und ein ausgestopfter Sauen- kopf – stammten noch von dem alten Globig. Unter der Decke gar eine Lampe aus ineinander geflochtenen Geweihen? Der alte Globig war ein großer Jäger gewesen, sein Drilling und das teure Repetiergewehr hingen in einem modernen Glaskasten, der hier eigentlich gar nicht herpaßte.

Das Tantchen blieb dicht hinter dem Mann, immer dichtauf, man kannte sich doch gar nicht! Und sie erklärte ihm, daß hier die Herren in früheren Jahren immer ihre Zigarren geraucht und Whist gespielt hatten. «Nun machen wir die Tür wohl besser zu.»

Drüben im Saal seien Feste gefeiert worden, sagte sie ... Was gar nicht stimmte, man hatte Feste dort feiern wollen, aber dann war der Krieg gekommen. Und nun standen dort Kisten mit Hab und Gut der Berliner.

Das Tantchen schob den Gast wieder in die Halle, und der schwang sich an seinen Krücken rundum und besichtigte den Weihnachtsbaum, von dem die Nadeln rieselten, und er schlug mit der Krücke ein Eckchen des Teppichs um: «Echt?»

Endlich sah er sich auch die schräg gestellten Tassen in der Schatulle an, sagte: «Darf man?» und öffnete die Glastür und betrachtete sie eine nach der anderen. Manch eine war mit einer Landschaft bemalt, im Vordergrund Jungen, die auf dem Eis Schlittschuh liefen. In mancher lagen vertrocknete Fliegen. – Hier lag auch Eberhards Meerschaumspitze, etwas angekokelt, aber interessant. Vor den Tassen standen, in schnörkelige Drahtrahmen gesteckt, braune Fotos, Großväter, Großmütter. Der Ökonom fragte nach den dargestellten Personen, und, da er keine Antwort bekam, sah er Katharina an, aber die stand nicht auf, die «trat nicht näher», die saß am Tisch, rauchte und spielte mit der Streichholzschachtel.

 

Das Tantchen ließ sich herbei und zeigte auf das Foto eines zaristischen Offiziers von 1914, in verschnürter Litewka, mit Reitgerte in der Hand. Von ihm gingen allerlei Geschichten um. Daß er beim Russeneinfall 1914 auf Georgenhof einquartiert worden war, ein anständiger Mensch und hochgebildet. Fließend französisch! Man hatte ihm viel zu danken gehabt: den Hof vorm Brandschatzen gerettet! Auch mit ihm war Billard gespielt worden.

In den zwanziger Jahren war er hier unversehens noch einmal aufgekreuzt, über Finnland den Sowjets entwischt. «Abgerissen» hatte er ausgesehen, jegliche Eleganz passé, eine Pelzmütze auf dem Kopf. Hatte nach Osten gezeigt und immerfort: «oh! oh! oh! » gesagt. Hatte sich noch Geld geliehen und war für immer verschwunden. Die Persianermütze, weiß, hatte er dagelassen.

Auf der Klappe der Schatulle stand auch das Foto des Hausherrn, in weißem Uniformjackett, mit dem Verdienstkreuz auf der Brust, wenn auch ohne Schwerter. «Ist das Ihr Gatte, liebe gnädige Frau?» rief Herr Schünemann Katharina zu. Ja, das war ihr Gatte, allerdings!

Eberhard von Globig war einer der Fachleute, die halfen, die Versorgung der deutschen Bevölkerung aufrechtzuerhalten, die Ausschöpfung des östlichen Wirtschaftsraums zugunsten des Großdeutschen Reiches. Das lief in diesem Krieg ganz anders als 14/18, als die Deutschen sich von Steckrüben hatten ernähren müssen. Dieses Mal sollte die Bevölkerung nicht unnötig gereizt werden, ein ausreichendes Maß an Ernährung wollte man ihr zukommen lassen. Brot, Butter, Fleisch, und ganze Güterzüge voll Melonen! Die Ukraine, Weißrußland. Da war allerhand zu holen gewesen. Weizen, Sonnenblumenöl und wer weiß was noch alles. Jetzt lagen da allerdings nur noch rauchende Trümmer.

Katharina erinnerte sich an ein Paar bunt bemalte Holzschuhe, die ihr Eberhard geschenkt hatte, Volkskunst, die hatte sie nie getragen.

 

«Soso, in der Ukraine», sagte Dr. Schünemann zu Katharina mit Bedeutung. «Gut, daß Ihr Mann jetzt in Italien ist ... Das ist sehr, sehr gut, hören Sie.»

Er faßte mit kundigem Griff in die Schatulle hinein, befingerte die kleinen Schubladen: ein Geheimfach!

Ein Geheimfach? Womöglich goldene Gulden oder Schweizer Franken darin? – Nein, das Geheimfach war leer.

 

Neben Eberhards Foto lag dessen letzter Brief, er war mit einer blauen Luftfeldpostmarke versehen. Schünemann hob den Brief in die Höhe und nahm ihn mit an den Tisch, zog die Petroleumlampe heran: Diese Briefmarke...? – Täusche er sich? Ein Fehldruck? Die rechte Schwinge des abgebildeten Flugzeugs von einer Scharte verunstaltet? Ein Plattenfehler? Nein? Na, dann nicht. Der Schatten seiner Hände huschte über die Wände, wie er den Brief da unter die Lampe hielt.

 

Daß er den Feldpostbrief beschnupperte, ging ein bißchen zu weit. Hätte nicht viel gefehlt, und er hätte den Brief aus dem Umschlag herausgezogen! Das merkte er schließlich selbst. «Wie kann man nur so indiskret sein», sagte er, «aber die Leidenschaft, der Eifer ... » Er schwang sich wieder zu Katharina hin und erzählte von Menschen, die sich von allerlei Sammelleidenschaften hinreißen ließen, alte Bücher, Münzen, und er wußte sogar von Morden, die von Menschen begangen worden waren, um ihre Sammlungen zu vervollständigen! Der Magister Tinius, der in Leipzig eine vermögende Witwe erschlagen hatte. Alles ein paar alter Bücher wegen ...

Mit der Krücke gestikulierte er, und der Feuerschein warf sehr seltsame Schatten an die Wand.

Die Jagdtrophäen an der Wand, diese Dinger, eine neben der anderen, die hätten ja auch mit Sammeln und mit Morden zu tun!

 

Katharina dachte an die Weizentransporte, die ihr Mann abgefertigt hatte, Jahr um Jahr, und an die Güterzüge mit Muttererde, die von der Ukraine nach Bayern geschafft worden waren. Die Humusschicht der fetten Äcker stellenweise ein Meter dick! Abgeschält und in langen Güterzügen nach Bayern geschickt.

Hin und wieder hatte Eberhard auch privat etwas abzweigen können, braunen Zucker zum Beispiel, einige Zentner braunen Zucker.

Und nun war er in Italien und sorgte für Beschlagnahme und Abtransport von Wein und von Olivenöl.

Katharina erhob sich mit ihren langen Gliedmaßen, und sie richtete im Aufstehen ihr Haar. Schwarze Jacke, schwarze Hosen, Stiefel! Sie stellte dem Gast eine Schale mit Pfeffernüssen hin, vom Weihnachtsfest übriggeblieben.

Die doch nicht, mochte die Tante denken, das waren doch die guten, aber sie ließ es hingehen, handelte es sich bei dem Gast doch immerhin um einen Akademiker.

«Sie sind Professor?» fragte sie.

«Nein, Professor bin ich nicht. Ich bin Nationalökonom.» Er wär’ lieber Tischler geworden oder Grafiker ...

 

Der Gast legte den Brief zurück und entschuldigte sich für seine Indiskretion: Wenn er Briefmarken sehe, vergesse er alles um sich herum. Auch er sei nämlich ein Sammler, seine Leidenschaft sei die Philatelie ... Und dieses Stück hier ... wenn ihn nicht alles täusche ...

Er langte sich seine Ledertasche und nahm ein Briefmarkenalbum heraus, das dort zwischen Unterhosen und Hemden steckte. Er blätterte es auf und sagte, er sammle nur das Feinste, nur das Beste! Altdeutschland sei sein Spezialgebiet. Und dieses Album hier, das habe er in Harkunen gekauft, gestern morgen. Er habe gedacht: Was ist das denn ...

Aus der Westentasche zog er eine Pinzette und erklärte dem Jungen die altertümlichen Briefmarken, meist Zahlen darstellend, aber auch Wappen und Kronen. Vom Verkauf dieser Briefmarke – sagte er, und er zeigte mit der Pinzette auf eine Marke, die den sächsischen König Johann darstellte – könne man gut und gerne einen Monat leben.

Mecklenburg, Preußen und Sachsen ... Wie gemütlich es doch damals zugegangen war im guten alten Deutschland, und von Elle, Fuß und Meile sprach er, und von Postkutschen, mit denen man von einem Land ins andere gefahren sei, ohne Paß und ohne Visum, und von Kreuzer, Gulden und Schilling. Und er machte sogar das Signal des Postkutschenhorns nach.

Die Preußen hätten diese wundervolle Vielfalt dann ja leider zunichte gemacht ... «Seid einig, einig, einig!» Die «Germania- Kopfmarke», etwas Einfallsloseres könne man sich ja kaum vorstellen. Die Germania in Rüstung? Vor den Brüsten so Teller aus Eisen?

Für die alten Kolonialmarken werde man sich nach dem Krieg noch interessieren müssen, dann wären sie aber wohl unbezahlbar ... Deutsch-Neuguinea ... «Nach dem Krieg», sagte er, und er blätterte das Album durch, und er seufzte auf.

Wenn man bedenke, daß die Briten dem Hitler sogar die Kolonien hatten zurückgeben wollen ... Aber nein.

 

Peter lief hinauf in sein Zimmer und holte sein Schaubeck-Steckbuch und hielt es dem Gast hin und zeigte auf einzelne Marken, ob die auch was wert seien? – Da mußte der Herr herzlich lachen: Gott im Himmel, lieber Junge!

Wie alt er sei? zwölf? Gerade das richtige Alter, man könne nicht früh genug mit dem Sammeln anfangen. Aber diese Marken seien wirklich nur ein paar Pfennige wert.

«Du hast ja sehr viele Hitlermarken, mein Junge.» Wenn die Russen kämen und diese Marken sähen ... was die wohl dazu sagten? Lauter kleine Hitlerporträts ... Er wisse nicht so recht, und er wandte sich urplötzlich an Katharina: «Könnte doch sein, daß man Ihnen dafür das Haus überm Kopf anzündet, liebe Frau?»

«Hol deinen Tuschkasten», sagte er zu Peter. Und dann bat er um einen Napf Wasser und nahm sich die Hitlermarken vor und tupfte mit schwarzer Farbe einen Punkt auf jedes Hitler-Gesicht. Peter brauche nur alle Hitlerbriefmarken schwarz zu betupfen und nach dem Krieg die Farbe wieder abzuwaschen, dann gäb’s keine Probleme. Diese Marken unbehandelt zu lassen, also ... Wenn ein Russe das Album öffnet, und es grinst ihm hundertfach der Führer entgegen?

Die Russen? Ja, kämen die denn noch hierher? fragte das Tantchen, und sie stellte die Tassen in der Schatulle wieder richtig hin. Ihr mochte es in diesem Augenblick klar geworden sein, daß dies in der Tat der Fall sein könnte. Im vorigen Krieg waren sie ja auch nach Georgenhof gekommen.

Der Weltkrieg 14/18 war ja aber ein ganz anderer Krieg gewesen. Da war die Menschheit noch nicht so verhetzt. Diesmal werde es wohl nicht so zivilisiert zugehen.

«Wir Deutsche, wir sind ja auch kein Kind von Traurigkeit ... », sagte Schünemann und zog die Brauen in die Höhe, und er machte Andeutungen, die niemand in diesem Haus verstand. Aber still wurde es, und das Feuer knackte.

 

Nun kam dem Herrn eine Idee. Er wog das Album, das er gerade eben in Harkunen für billiges Geld gekauft hatte, in der Hand – ganz schön schwer das Dings – und bat um ein Kuvert, und dann löste er die Marken aus dem Album, eine nach der anderen, vorsichtig, vorsichtig, und schob sie in das Kuvert. «Da schleppt man sich mit dem schweren Album ab, und dies ist doch viel einfacher.» Obschon – eigentlich schade ...

Zum Schluß zeigte er mit der Pinzette eine kleine braune Marke herum, legte sie auf den Tisch, hielt die Lupe drüber und rief den Jungen herbei. «Na? » – Was: na? Was sollte sein? – Er bat um eine Taschenlampe und hielt sie über die Zähnung links unten. «Na? merkst du nichts?»

Und dann zeigte er es ihm, daß die Zähnung repariert worden war! Einen einzelnen fehlenden Zahn hatte man ergänzt. Das Papier angehobelt, so dünn es auch war, und einen winzigen Zahn von einer ganz anderen Marke angeklebt. – Da rückten sogar die beiden Frauen vor, das Tantchen links und Katharina rechts, das wollten sie denn doch mal sehen ... Und sie animierten Peter, sein Mikroskop zu holen, vielleicht könnte man darunter den Betrug noch genauer betrachten?

Bei dieser Gelegenheit nahm der Herr denn auch wahr, daß Katharina einen sauberen Atem hatte, was man vom Tantchen nicht gerade sagen konnte.

 

Über die Geschicklichkeit des Menschengeschlechts sprach der Ökonom, leise lachend, Geldscheine fälschen! ... Falsche Tinten, präpariertes Papier... Er wisse noch, wie er als Kind mal die Unterschrift seines Vaters gefälscht habe, auf einem «blauen Brief», das sei ohne weiteres durchgegangen, kein Mensch habe was gemerkt. Und er lebe heute noch! Abitur, Studium, alles wunderbar. Manchmal denke er, daß man ihm womöglich irgendwann alles aberkenne, nur weil er als Kind die Unterschrift seines Vaters gefälscht hat?

«Nationalökonom», eine Schnapsidee seines Vaters. «Tischler hätte ich werden sollen. Oder Drechsler ... oder was weiß ich.»

 

Jetzt hatte er alle Marken in den Umschlag geschoben. Wohin mit dem leeren Album? Ein Adler vorn drauf, mit ausgebreiteten Schwingen. Ins Feuer damit? Er trat an den Kamin, und er betrachtete die Scheite, die da singend ihre Wärme abgaben. Er legte das ausgeleerte Album auf die Scheite und sah zu, wie der Adler allmählich Feuer fing und dahinsank. Das gute alte Deutschland, wie sinkt’s dahin ...

Dann steckte er den Umschlag mit den Marken in seine Brieftasche und sagte: «Tja, denn ... »

Es lagen eine Menge Geldscheine in der Tasche, das war ohne weiteres zu sehen.

 

Der Nationalökonom schickte sich an aufzubrechen, aber man hielt ihn zurück. Jetzt hinausgehen in die Dunkelheit? Das kam ja gar nicht in Frage, man würde ihn nicht in Finsternis und Kälte hinausstoßen. Wind heulte ums Haus! und irgendwo brummte ein einsames Flugzeug. Die Nacht könne er doch ohne weiteres auf dem Kanapee verbringen. Gastfreundschaft. Wie viele Menschen hatten in diesem Hause schon übernachtet! Oben im ersten Stock, das Zimmer von Elfie? Aber das war ja jetzt eiskalt.

Peter bat den Herrn Schünemann um die Erlaubnis, sich mal eben mit dessen Krücken durch die Halle schwingen zu dürfen – «Mußt Doktor sagen, Junge», sagte die Tante, «Doktor Schünemann», und dann machte es sich der Herr auch schon auf dem Sofa bequem. Katharina trug Decken und Kissen herbei, die sich der Ökonom unter den Kopf schob. Die Familie stand um ihn herum, ob er auch richtig liegt oder noch was braucht? Man verabschiedete sich, und als er endlich allein war, rollte sich der Mann in die Decken und sah zu, wie sich das Feuer im Kamin allmählich beruhigte.

 

Ob es in Mitkau ein Briefmarkengeschäft gebe?, wollte er noch wissen. – Soviel sie wisse: ja, sagte das Tantchen.

 

Am nächsten Morgen war er verschwunden.

Als Katharina ihm das Frühstück bringen wollte, fehlte natürich nichts, aber von dem Feldpostbrief des Hausherrn war die Marke ausgerissen. Da hatte der Mann nicht widerstehen können. Dafür lagen auf dem Tisch mehrere Bogen mit Urlaubermarken.

«Das sind so Sachen ... », sagte das Tantchen. «Das sind so Sachen ... »

Die Tür stand offen. Die hätte er wenigstens schließen können. Jago natürlich wieder mal verschwunden, der hatte die Gelegenheit genutzt.

Die Geigerin

Den nächsten Gast sah man schon von weitem gegen den Horizont hin, von Schnee eingewirbelt, über den Acker daherkommen, Krähen stießen mit ausgefransten Flügeln auf die flatternde Gestalt herab. Dieser Mensch war eine junge Frau. Sie zog einen Schlitten mit zwei Koffern hinter sich her. Über die verschneiten Erdschollen zog sie den Schlitten, der immer wieder umkippte. Gegen die heftigen Böen hatte sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten, ihr Mantel klappte von den Windstößen auseinander, und es dauerte eine Weile, bis sie schließlich den Gutshof, der hinter den schwarzen Eichen wie eine letzte Zuflucht lag, erreicht hatte. Die junge Frau trug auf dem Rücken einen Geigenkasten, weshalb ihr auch die Leute aus der Siedlung hinterherguckten.

 

Sie klopfte ihre Schuhe aus, schob mit beiden Händen die Strickmütze grade, holte tief Atem und öffnete die Haustür. Jago sprang freundlich an ihr empor, und weil weiter niemand erschien, rief sie laut «Heil Hitler!» ins Haus. Hier war ja wohl die Welt stehengeblieben?

Sie wuschelte den Hund ein wenig zu derb, und da kam auch schon das Tantchen herbei aus der Küche, wo sich die beiden Ukrainerinnen mal wieder heftig stritten – daß so etwas nicht leiser abzumachen war? ... Eine fremde Frau mit Geigenkasten mitten in der Halle? Hat sich die Schuhe abgeputzt, wie man sieht, immerhin ... Peter sprang die Treppe herunter, immer drei Stufen auf einmal. Besuch!

Nun erschien auch Katharina, ganz in Schwarz: schwarze Hosen, schwarzer Pullover, schwarze Stiefel und auf der Brust ein ovales Medaillon, golden mit einer brillantenen Träne drauf. Sie hatte sich gerade etwas hingelegt, und nun war sie neugierig, was denn nun schon wieder los war.

 

Wie sich herausstellte, kam die junge Frau aus Mitkau. Gisela Strietzel hieß sie – «Ich bin die Gisela.» Sie hatte wochenlange Truppenbetreuung in Lazaretten hinter sich, und jetzt mußte sie sich nach Allenstein durchschlagen, drei Tage Königsberg, drei Tage Insterburg und zwei Tage Mitkau: Lazarettabende, auf denen sie den dankbaren Verwundeten Freude spendete. Soldaten, die es erwischt hatte: Arme und Beine weiß eingepackt, mancher mit umwickeltem Kopf!

Nun würde noch Allenstein zu bewältigen sein, eine Woche, und danach gehe es endlich mal wieder nach Haus, nach Danzig, der Papschi wartete schon. Aber die Bahnstrecke war durch einen Bombentreffer unterbrochen, und das Auto, mit dem sie hätte befördert werden sollen, hatte auf sich warten lassen, kein Benzin. Und weil ihr das zu lange dauerte, hatte sie sich einen Schlitten für das Gepäck geliehen und war losgezogen, querfeldein: Was kost’ die Welt? Den Schlitten würde man irgendwann dem Lazarett wieder zustellen müssen. Das war auch noch so ein Problem ... Vielleicht wären ihr ja die Herrschaften behilflich?

Danach würde dann auszukundschaften sein, wie man nach Allenstein kam. Das müßte doch mit dem Deibel zugehn?

 

Weshalb das Fräulein nicht die reguläre Chaussee genommen hatte, blieb ein Rätsel. Querfeldein? Warum denn das? «Ich schlag’ gern mal über die Stränge», sagte sie, und das mußte man wohl akzeptieren.

Sie zog die Handschuhe aus, die Schuhe und den Mantel und band die Koffer vom Schlitten. Der Schlitten konnte im Windfang stehen bleiben, und der ließ sich abschließen. Seit einigen Tagen hatte sich die Landstraße belebt, hochbepackte Wagen, einzeln, und dazwischen Menschen mit Fahrrad oder Kinderwagen. Alle von Ost nach West. Für einen Schlitten hatte in diesen Zeiten jeder Mensch Verwendung.

 

Es war klar, daß man sie nicht gleich wieder auf die Straße setzen konnte, wochenlange Lazarettbetreuung und eine junge Frau? Ein Mensch, der seine ganze Seele hingab, Freude zu spenden unglücklichen Männern, die sich das Soldatenleben ganz anders vorgestellt hatten?

Damit man sie nicht sogleich wieder hinauskomplimentierte – in dieser schweren Zeit hat ein jeder mit sich selbst zu tun –, öffnete sie einen der beiden Koffer und holte ein «Frontkämpferpäckchen für den Großeinsatz» heraus, das man ihr in Mitkau noch mit auf den Weg gegeben hatte. Sie legte das Päckchen auf den Tisch und öffnete es: Schokolade, Kekse, Zigaretten und Traubenzucker. Katharina von Globig, Peter und das Tantchen sahen zu. Peter kriegte die Zuckertäfelchen, und dem Tantchen wurde die Dose mit der Fliegerschokolade hingeschoben. Von den Zigaretten steckte sich Katharina sogleich eine an.

Ob er Führer sei bei den Pimpfen, fragte das Fräulein Strietzel den Jungen. Nein, das war er nicht, und es war für das Fräulein schwer zu verstehen, daß es hier auf dem Lande nicht so genau genommen wurde mit dem Dienst. Drüben in der Siedlung ja, aber hier nicht? Erkältung? War das denn ein Grund, sich hinter dem Ofen zu verstecken? Was sollten da unsere Soldaten sagen? In Schnee und Eis?

Der Junge steckte sich ein Täfelchen Traubenzucker in den Mund, und Katharina sog an der Zigarette. Das Fräulein Strietzel trat an das Fenster, ob der Wagen nicht vielleicht doch noch kommt, aber es wurde dunkler und dunkler, und schließlich zeigte man ihr das Sofa neben dem Kamin, auf dem sie sich ohne weiteres würde langmachen können und ein bißchen verschnaufen, bis zum Abendessen sei noch Zeit, und sie tat es, sie legte sich hin und schlief sofort ein. Sie wachte erst wieder auf, als der Pole Wladimir Kaminholz brachte und neben ihr auf den Fußboden warf und sich bei der Gelegenheit den neuen Gast besah. Ein Handbeil legte er neben das Holz.

 

Als der Duft von Bratkartoffeln in ihre Nase stieg, wurde sie ganz wach. Daß ein Pole hier so ohne weiteres ein und aus ging, wunderte sie. Wurden diese Leute nicht frech, wenn man ihnen den kleinen Finger reichte, ihnen Freiheiten einräumte, von denen die in ihrer Steppe doch nur träumen konnten? War das nicht überhaupt verboten? Man wußte es doch noch, daß die Polen am Blutsonntag in Bromberg Volksdeutsche massakriert hatten ...

 

Beim Schein der Petroleumlampe – es war mal wieder Stromsperre – bekam also jeder seine Bratkartoffeln auf den Teller, Gurke und eine Scheibe Blutwurst dazu, und dann saßen die Globigs am Tisch und schauten zu, wie es dem Fräulein schmeckt, die ja wohl eine richtige Künstlerin war. Schlechte Zähne hatte sie, das war bei dieser Gelegenheit zu sehen.

 

Daß in diesem Haus vor Tisch gebetet wurde, kam dem Fräulein wunderlich vor, sie schurrte mit den Füßen dazu. Sich mit dem «Himmelskasper» beschäftigen und beten? So was lehnte sie ab. Daß es ein Höheres Walten gebe, sei ihr klar, Schicksal oder Vorsehung, wie auch immer, in der Musik sei etwas davon zu spüren – die Kirche hingegen sei für sie nichts als ein großes Geschäft. Zu Hause hätten sie ein Heft mit Sinnsprüchen, aus dem ihr Papschi so manches Mal Weisheiten zum besten gab, Goethe, Schiller, Dietrich Eckart ... Und Peter wurde gefragt, ob er Tischsprüche kennt? «Es ißt der Mensch, es frißt das Pferd, doch heute ist es umgekehrt»?

 

Sie aß mit vollen Backen und zeigte zwischendurch mit der Gabel auf die schwarzen Porträts an der Wand. Als Schinken bezeichnete sie die Bilder nicht gerade, aber sie sagte doch, die seien wohl von Anno Tobak, «Graf Koks von der Gasanstalt»? Und dann erkundigte sie sich, ob sie noch eine weitere Scheibe Blutwurst haben kann? Sie sei so furchtbar verfressen ... Lebensmittelmarken aus der Tasche zu holen, das kam ihr nicht in den Sinn, in den Lazaretten war sie auch nicht danach gefragt worden. In den Lazaretten hatte man ihr ohne Marken immer einen Schlag extra gegeben.