Hundstage - Walter Kempowski - E-Book

Hundstage E-Book

Walter Kempowski

4,4
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein heißer Sommer, eine Reise aufs Land und ein Idyll, das zum Gefängnis wird

»Hundstage« – die heißesten Tage des Sommers. Diese Zeit will der Schriftsteller Alexander Sowtschick auf seinem schönen Anwesen in Norddeutschland verbringen. Allein, ohne seine Ehefrau und ganz auf sein neues Werk konzentriert. Aber die geplante Idylle wird gründlich gestört: Es kommt zu einer Reihe unvorhergesehener Ereignisse – bis hin zu einem Mord. Und Alexander Sowtschick nähert sich immer mehr den Abgründen der eigenen Seelenlandschaft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 648

Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
11
4
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

»Hundstage – irgendwann gibt es in jedem Sommer diesen Tag, von dem man weiß, dies ist der Sommertag an sich, an den werde ich noch lange denken. Für die Hitze, die über den Feldern steht, hat man das Wörtchen Glast erfunden, in dem schwingt etwas von Glut und von der Last heißer Tage.« Der Schriftsteller Alexander Sowtschick wird diese Tage allein auf seinem schönen Anwesen im norddeutschen Flachland verbringen. Seine Ehefrau ist nach Frankreich aufgebrochen, ans Meer, wo sie eine Freundin treffen will. Sowtschick ist über diesen Umstand nicht unglücklich, kann er sich doch so ganz auf das Schreiben seines neuen Romans konzentrieren. Aber die geplante Idylle wird gründlich gestört, das geliebte Anwesen und seine Umgebung werden zum Schauplatz einer Kette von unvorhersehbaren Vorfällen – bis hin zu einem Mord. Unter dem Druck der äußeren und inneren Ereignisse nähert sich Alexander Sowtschick immer mehr den Abgründen der eigenen Seelenlandschaft. Gefährliches, Unkontrollierbares bricht auf, und der Sommertraum endet in Chaos und Sprachlosigkeit. Es ist Herbst.

Autor

Walter Kempowski, geboren 1929 in Rostock, 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen verbüßte. Mit seiner deutschen Chronik, zu der so erfolgreiche Romane wie Tadellöser & Wolff und Aus großer Zeit gehören, etablierte er sich als Bestsellerautor und Chronist des deutschen Bürgertums. Seine monumentalen Textcollagen Das Echolot und Das Echolot. Fuga Furiosa waren eine literarische Sensation. Walter Kempowski lebt und arbeitet in Nartum.

Walter Kempowski

Hundstage

Roman

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 1988 by Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Filmsatz Schröter, München

Covergestaltung: bürosüd

Covermotiv: Mauritius Images / Helmut Meyer zur Capellen; www.buerosued.de

KR · Herstellung: Augustin Wiesbeck

ISBN 978-3-641-05922-4V003

www.btb-verlag.de

Hundstage (dies caniculares) nennt man seit alters her die Zeit vom 23. Juli bis zum 23. August. Die Sonne steht um diese Zeit in der Nähe des Sirius, eines riesigen, acht Lichtjahre entfernten Fixsterns, auch «Hundsstern» genannt. Im alten Griechenland schrieb man dieser Stellung die sommerliche Hitze zu. Auch heute noch gelten die Hundstage als eine Periode größter Hitze, die meisten Schulen haben zu dieser Zeit Ferien, im Mittelalter wurde dann sogar der Gottesdienst eingestellt.

Alexander Sowtschick stand am Tor. Er blickte seiner Frau nach. Soeben war Marianne in ihrem Golf die Pappelallee hinuntergefahren und war, von Dorfhunden verfolgt, im Staub der Straße verschwunden.

Den ganzen Vormittag über war im Haus herumgerannt worden. Türenschlagen, treppauf, treppab, dies noch vergessen, das. Nun war alles ausgestanden, nun war alles in Fluß: Marianne würde die Autobahn erreichen und mit größer werdender Geschwindigkeit dahinfahren, immer weiter, immer weiter, dem an langen Winterabenden erarbeiteten Urlaubsziel entgegen: Isle de Camps an der Atlantikküste, weiß Gott weit weg! Das Meer, nicht wahr? Die schäumenden Wogen und im nahen Städtchen ein Lokal, in dem es ungewöhnliche Leckereien zu essen geben würde.

In früheren Jahren waren die Eheleute gern gemeinsam gefahren. Italien, Spanien, Schottland. «Morgens eine, mittags zwei und abends drei Kirchen», wie sie scherzten. Sogar eine Kreuzfahrt hatten sie unternommen, in die Karibik, mit Bingo und Captain’s Dinner – doch ohne rechten Gewinn. Sowtschick war kein Urlaubsmensch. Unter dem folkloristischen Getrommel von Eingeborenen, im Menschengewimmel eines Bazars oder in der abgeschiedenen Ruhe eines kühlen Museums hatte er seiner Frau nörgelnd die schönsten Tage verdorben, alle schönsten Tage. Im letzten Jahr: die Tour durch Burgund, romanische Kirchen … Abgesehen davon, daß es die ganze Zeit geregnet hatte, waren es die Kirchen selbst gewesen, die Sowtschicks Abscheu erregten: alle Skulpturen geköpft, Bischöfen und Königen die Augen ausgekratzt: das Werk rachsüchtiger Revolutionäre; im Reiseführer hatte davon nichts gestanden. Sowtschick war laut geworden, im Hotelzimmer, nachts, und Marianne hatte geweint. Am nächsten Tag war man sich einig gewesen: Nie wieder Urlaub gemeinsam. Und so hatte sich Marianne denn für dieses Jahr die französische Atlantikküste ausgesucht. Man würde zur Ruhe kommen, Marianne in der Ferne und Alexander zu Hause.

Sowtschick würde tun und lassen können, was ihm beliebte: Morgens vor Sonnenaufgang tief atmend auf die Terrasse treten oder erst zu Mittag aufstehen, vom Schnabelwetzen der Vögel an Zeit und Ewigkeit erinnert. Nächtelang im Hause auf und ab gehen, ohne gefragt zu werden: «Hast du was?» Nach Hamburg fahren, ohne etwas mitbringen zu müssen, zu fasten oder zu schwelgen, ohne Tabletten hingeschoben zu bekommen.

Während Marianne ihren Körper der Sonne preisgab, irgendwo im Westen, fern im fernen Frankreich, käme er in der Stille seines Hauses ganz zur Ruhe, unrasiert und – ja, warum denn nicht – auch einmal ungewaschen.

Alexander Sowtschick schloß das Tor. Das weiße Gartentor – auf den Pfosten große Kugeln – war ein herrschaftliches Gartentor, und das Haus, das seine Großzügigkeit nicht so ohne weiteres preisgab den Blicken der Vorübergehenden (wie es in der Architekturzeitschrift «Form» gestanden hatte), lag hinter den vom Wind bewegten Bäumen breit und behaglich da.

Sowtschick sah noch einmal die Dorfstraße hinunter, in der sich der Staub bereits verzog – die Hunde hatten längst die Verfolgung aufgegeben –, er hob eine zerknüllte Bierdose auf, die irgend jemand auf sein Grundstück geworfen hatte, und schleuderte sie auf die Straße. Dann nahm er die Post aus dem Kasten und ging, die Briefe wie Spielkarten sortierend, über den Kiesweg dem Hause zu. Seine drei Hunde gaben ihre für den Abschied dosierte Lebhaftigkeit auf und liefen voraus: zwei Corgies mit langen Ohren und kurzen Beinen, die jedermann für Promenadenmischungen hielt, und ein Collie, schon ein wenig angejahrt, nichtsdestoweniger freundlich lächelnd.

Sowtschick und seine Hunde traten in das Haus. Sie durchquerten die dunkle Halle und verschwanden in der Küche, wo Sowtschick den Kühlschrank öffnete, den er «Eisschrank» nannte. Während die Hunde sich setzten, entnahm Sowtschick ihm einen Stoß Salamischeiben und fütterte abwechselnd sich damit und die Tiere, wobei er streng darauf achtete, daß die Corgies «Männchen» machten, so wie er es ihnen beigebracht hatte. «Männchen» war schließlich das mindeste, was man verlangen konnte. Dem Collie war dies erlassen. Abgesehen davon, daß es fraglich war, ob die Anatomie des Tieres diese Position überhaupt zuließ. Eine solche Demutshaltung von einem älteren Herrn zu verlangen, wäre Sowtschick unziemlich erschienen. Es gibt Grenzen, die der Takt vorschreibt.

Im Kühlschrank standen, auf Plastikgefäße verteilt, die «Gerda» hießen, verschiedene Mahlzeiten, im voraus gekocht, eine Linsensuppe, kalte Frikadellen, grüne Bohnen und eine Schüssel Pellkartoffeln, die bei äußerster Einschränkung für drei Tage je ein Bratkartoffelgericht ergeben würden. Auf der Linsensuppe stand ein Kärtchen. Liebster Mann! war darauf zu lesen, in den vertrauten runden Buchstaben, etwas fliehend und an den lieben runden Kopf erinnernd mit den klaren Augen, an den man den eigenen lehnen konnte in schweren Stunden. Liebster Mann!

Sowtschick nahm das Kärtchen an sich. Er warf die Tür des Kühlschranks zu und seufzte einmal tief auf, so wie die Hunde es taten, die ihren Dressurakt in sich zusammenfallend aufgaben, um sich gleich darauf in der Halle vor dem bis zum Boden reichenden Fenster auf die roten Fliesen zu legen, wo sie bereits von Stubenfliegen erwartet wurden.

Alexander Sowtschick ging in sein Arbeitszimmer hinüber, vom Architekten «Studio» genannt, einen saalartigen Flachbau, der durch einen Büchergang mit dem Wohnhaus verbunden war. Der Büchergang war zweiundzwanzig Meter lang, Sowtschick maß ihn immer wieder aus, er freute sich, daß in der Architekturzeitschrift gestanden hatte: «Minutenlang geht man hier an Büchern vorüber …»

Mitten in dem Studio, das mit seinen alten Möbeln an ein Refektorium erinnerte, stand der Schreibtisch, an dem Sowtschick, durch breite Fenster auf norddeutsche Wiesen blikkend, das Schreiben seiner Bücher zelebrierte, denn, dies ist nachzutragen, Alexander Sowtschick war Schriftsteller. Was er der Welt zu sagen wußte, floß ihm zwar nicht leicht, aber doch regelmäßig aus der Feder, und die Welt nahm es an, wovon das Haus zeugte, mit Halle, Büchergang und Studio und diversen, in den von der Zeitschrift als «Park» bezeichneten Garten sich vorschiebenden gläsernen Anbauten.

Sowtschick legte die Postsachen zu anderen Briefen, die bereits auf dem Schreibtisch lagen, wodurch der Stapel ins Rutschen geriet. Sich auffächernd, glitten die Briefe über die glatte Tischplatte und segelten auf den Fußboden: Ansichtskarten, Briefschaften verschiedenen Formats, Air-Mail-Letters, besetzt mit fremdartigen Frankaturen, und breite Drucksachen, Kataloge enthaltend, in denen sehr billige oder sehr teure Bücher angepriesen wurden, Investitionsangebote «nach dem Bauherrenmodell» oder Hochglanzprospekte mit großäugigen Kindern auf dem Deckblatt: «Denkt an die Dritte Welt». Der Hinweis auf «Adhäsionsverschluß» führte gewöhnlich dazu, daß Sowtschick die Drucksachen ungeprüft in den Papierkorb warf.

Sowtschick hatte den Briefen zugesehen, wie sie über den Fußboden rutschten. Er bückte sich nicht, um sie einzuschaufeln: Bücken — nie wurde er die Vorstellung los, daß ihm beim Bücken eine Ader platzen würde im Kopf, heiß und elektrisch, und daß er womöglich, eine unleserliche Ansichtskarte aus Kairo in der Hand, am Boden verröchelte.

«Hätte man ihn sofort gefunden, dann wäre er vermutlich noch zu retten gewesen …»

Eine solche Feststellung in seinem Nekrolog wäre Sowtschick stillos erschienen: Er dachte eher daran, daß sein Leben jenseits der Achtzig ganz allmählich ausliefe. Und er sah sich auf dem Sterbebett liegen, den Blick verlöschend auf ein über ihn gebeugtes Mädchen gerichtet, das ihn liebevoll anschaut: Blond müßte es sein, das wäre wünschenswert.

Sowtschick setzte sich an den Tisch und faltete die Hände unter dem Kinn. Die Wiener Bronzen (ein Hahn und zwei Hennen), das Briefmesser mit dem Jadegriff, das Paperweight aus Bristol – so war man denn nun allein. Mit der sich vergrößernden Entfernung zwischen der dahinsausenden Marianne und ihm fielen Magendruck und Puls ab, die Stirn glättete sich, und ein Lächeln erheiterte seine Züge. Sechzig Jahre alt, die Steuern gezahlt. Es war, als ob er in jüngere Jahre hinunterliftete, hinauf oder hinunter, wie man’s nimmt.

Es fehlte nicht viel, und er hätte den Hausmantel auseinandergerissen und frei! geschrien. Ich bin frei! Von diesem Ausruf hielten ihn sein Temperament und der Anblick der Briefe auf dem Boden ab, die er in den nächsten Tagen beantworten mußte, denn Frau Nerger, die sich sonst um seine Korrespondenz kümmerte, war schon vor Tagen nach Gran Canaria geflogen. Der stetig anwachsende Postberg würde seiner Freiheit Schranken setzen. Wieso eigentlich? fragte er sich. Hatte er nicht ebenfalls einen Urlaub verdient? Warum mußte er sich schinden?

Auf Angebote zur Beteiligung an Anthologien verzichtete er gern, und Briefe zu lesen, in denen stand, daß seine Romane sich wie eine kühle Hand auf eine heiße Stirn legen, darauf war er nicht erpicht. Er wußte, daß auch jener lila Brief, der bis unter den Flügel gerutscht war, nicht das Liebesgeständnis einer jungen Dame enthielt, eines («Teenagers», wie er immer noch sagte, oder einer «Tussi», wie es neuerdings hieß, was er einem Handbuch der Jugendszene entnommen hatte, mit der er sich eventuell, Literarisches vorschützend, irgendwo mal treffen könnte. Dieser Brief, lila und mit grüner Tinte adressiert, dessen Absender allerdings und offensichtlich eine «Tussi» war, würde das Geheimnis enthalten: «Ich habe Sie mir gewählt …», als Thema für eine Semesterarbeit nämlich. Und dann eine endlose Reihe von Fragen, womöglich schon bis nächsten Donnerstag zu beantworten: «Warum schreiben Sie?» Oder: «Welche Position nimmt der Erzähler in Ihrer Prosa ein?» Oder gar: «Wann endlich wenden Sie sich heutigen Zeiten zu?» Es genügte seinen Lesern nicht, daß er in ziemlich dicken Romanen «Vergangenheit aufarbeitete», vergnüglich aufarbeitete, wie es Sowtschick vor einigen Tagen in einer Reklame seines Verlages hatte lesen müssen, nein, die Leser wollten ihr jetziges Leben beschrieben, eigenes Tun und Treiben gespiegelt, ja gedoppelt sehen.

Alexander Sowtschick ließ die Briefe liegen, wo sie lagen, er setzte sich an den Flügel, in dessen schwarzer Politur sich die Landschaft spiegelte, und blätterte in den Noten: die D-Dur-Sonate von Mozart. Seit er in einem Godard-Film diese Sonate gehört (und gesehen) hatte, auf einem Bauernhof dargebracht, neben Misthaufen und Schweinestall, liebte er sie. Köchelverzeichnis 576, «Jagdsonate» genannt, vom Komponisten selbst als leicht zu spielen bezeichnet, trotzdem heikel für einen Laien wie Sowtschick.

«Wann endlich wenden Sie sich zeitgemäßeren Themen zu?» … War Mozart etwa nicht zeitgemäß? Oder Shakespeare? Hatte der «Mann mit dem Goldhelm» die Welt verändert, und war nach der «Fünften» alles besser geworden? Sowtschick fühlte sich jenen Riesen zugehörig, die laut Nietzsche über die öden Zwischenräume der Zeiten hinweg, ungestört von mutwilligem lärmenden Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, hohe Geistergespräche führten, die nicht von heute, hier und jetzt handelten, sondern von den ehernen Gesetzen des Lebens. Ach, während Sowtschick die Sonate spielte, genauso nachlässig übrigens, wie es bei Godard geschah, wenn auch nicht so fehlerfrei, wurde ihm klar, daß er mit seinen Büchern nicht zu den von Nietzsche beschriebenen Riesen gehörte, die sich über dem Gezwerge hinweg was zurufen, auch wenn er danach immer wieder zielte, jeden Tag acht Stunden lang. Vier Stunden lang, wenn er ehrlich war, aber er hatte es sich nun einmal angewöhnt, acht Stunden zu sagen, was er gelegentlich sogar auf zehn steigerte.

Von seinem Klavierspiel ermuntert, kamen die Hunde herbei. Erst die Corgies, Doris und Jockel, dann der zottige Percy mit seiner grauen Schnauze. Über die ausgestreuten Briefe liefen die Tiere, und sie legten sich neben den Flügel. Dies war auch für sie schön: das still-nachdenkliche Herrchen, eines der angenehmeren Klanggebilde spielend, an Jagdhörner und an Wald erinnernd. Es war zu hoffen, daß es ihm nicht einfallen würde, jenes andere Klavierstück hervorzuholen, von dem sie als Hunde natürlich nicht wissen konnten, daß es von einem Russen namens Prokofjew stammte, jenes wild-laute Stück, mit dem Sowtschick seine Gäste gern verblüffte.

Sowtschick spielte täglich Klavier, wenn auch nicht drei oder gar fünf Stunden, wie er es den Journalisten gern erzählte. Er übte ganz regulär mit kleinen Selbstbestrafungen, wenn er bei kniffligen Stellen versagte. Er tat dies nicht, um Virtuose zu werden, er hatte nie vorgehabt, anderen Menschen damit zu imponieren. Er verleibte sich Kulturgut ein, aus einem freudigen Pflichtgefühl heraus, wobei ihn ein kindliches Vergnügen am Melodischen bei der Stange hielt. Manche Stücke mied er, weil sie dieses Bedürfnis nicht befriedigten. Andere übte er ausdauernd, um es seiner zänkischen Klavierlehrerin heimzuzahlen. «Dann hat er also doch Talent?» hörte er sie sagen, und das freute ihn. Immer hatte er imaginäre Zuhörer bei seinem Spiel. Den Vater mit dem goldenen Zwicker oder die Mutter, an den Türrahmen gelehnt, leise mitsummend, nun schon so lange tot … Manchmal stellte er sich vor, daß Rubinstein durch ein tückisches Schicksal das Augenlicht eingebüßt hätte und mit von Gicht verknoteten Fingern neben ihm säße, und ihm allein, Sowtschick, sei es vorbehalten, dem Virtuosen noch ein letztes Mal jene Klänge in Erinnerung zu rufen, mit denen er sich und der Welt Glanz verschafft hatte.

«Mein Mann spielt jeden Tag, Stunde um Stunde», erzählte Marianne ihren langgliedrigen Freundinnen, deren Männer dies eben nicht taten, geschweige denn, daß sie Bücher lasen (Sowtschicks Bücher lasen sie schon gar nicht). Sie war stolz auf das Klavierspiel ihres Ehemannes, was diesen zwang weiterzumachen, auch wenn er längst seine Grenzen erreicht hatte.

An diesem Tag spielte er die «Jagdsonate» von Mozart, und er spielte sie gut, wenn man von den Fummelstellen im langsamen Satz absieht, die ihm noch nie recht geglückt waren. Er ließ den Schlußakkord nachhallen, und dann sah er auf die Uhr und stellte fest, daß es bereits auf zwei zuging. Marianne müßte jetzt, so rechnete er aus, in der Gegend von Münster sein. Noch würde sie den Sog von zu Hause spüren, bald aber würde sie schneller fahren, schnell und immer schneller.

Sowtschick schloß alle Türen ab und entschied sich, in der Hitze dieses Sommertages erst einmal Siesta zu halten. Das Schlafzimmer lag im ersten Stock, und zwar nach Osten. Es standen zwei Betten darin, Ehebetten der Erstausstattung, aber nach fünfundzwanzig gemeinsamen Jahren hatte es sich eingebürgert, daß Marianne im zweiten Stock schlief, «unterm Dachjuchhe», wie das genannt wurde. Sowtschick hatte das andere Bett belegen können mit Büchern und Zeitschriften jeder Art. Da lag all das, was er gern lesen wollte oder was er schon längst hätte lesen müssen, germanistische Zeitschriften und allerhand Philosophisches, wozu er sich jedoch nicht zwingen konnte.

Nun bin ich sechzig Jahre alt und habe das alles nicht gebraucht, da werde ich wohl auch ferner durchkommen ohne diesen Schmond, so etwa dachte er, was ihn jedoch nicht vor Gewissensbissen bewahrte. Der schreckliche Gedanke machte ihm zu schaffen, er könnte bei einer Fernsehdebatte mal ganz direkt gefragt werden: «Kennen Sie überhaupt Karl Marx?»

Gern griff er zu Kunstbänden, in denen gezeigt wurde, wie das Kloster Sowieso vor fünfhundert Jahren ausgesehen hatte, und daß es später Pferdestall oder Schnapsfabrik geworden war, vom Kreuzgang nur noch phantasieanregende Reste. Manchmal las er auch Biographien berühmter Männer, wobei er sich stets zuerst den Schluß vornahm, um zu erfahren, wie sie zu Tode gekommen waren. Polarexpeditionen und sibirische Gefangenschaften – das war die rechte Lektüre für heiße Tage. Für diesen Sommer hatte sich Sowtschick ein Buch herausgesucht, das er schon mehrmals gelesen hatte, es hieß «Unternehmen Cerberus» und handelte von deutschen Schlachtschiffen, die im Februar 1942 den Ärmelkanal unter den Augen der Briten in Richtung Heimat passieren, ein verblüffendes Husarenstück, wie es seit den Tagen der spanischen Armada nicht mehr versucht worden war: Berge aus Stahl durch das aufgewühlte eisige Wasser stampfend … Das war für Sowtschick eine angenehm-gruselige Vorstellung, die ihn die sommerliche Hitze und das Frei-Offene seines Hauses noch behaglicher erscheinen ließ, als es ohnehin der Fall war.

Sowtschick legte sich auf das Bett, las ein paar Seiten, dann klappte er das Buch zu und sah an die Holzdecke. Der Architekt hatte den Fehler gemacht, ihn beim Einzug auf zwei zusammengehörige Bretter hinzuweisen, die sich trotz allen Umstapelns an der Zimmerdecke direkt nebeneinander wiedergefunden hatten: An Astknorren war das zu erkennen. Sowtschick suchte, wie er es immer tat, die Bretter ab, ob sich nicht doch noch ein Paar finden ließe. Es wäre doch sonderbar, dachte er, wenn es ihm nach all den Jahren gelänge, doch noch ein Paar zu finden. Wenn Marianne wiederkäme, würde er sie ins Schlafzimmer führen und es ihr zeigen, das kleine Wunder: «Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden.»

Vor dem Fenster regte sich die große Pappel. Als Sowtschick die Augen zumachte, sah er auf den geschlossenen Lidern fotozellenartig den Fensterrahmen mit dem Geäst der Pappel sich abzeichnen und allmählich verblassen. Dies habe ich der Welt abgetrotzt, hatte er noch Zeit zu denken, daß ich hier am hellichten Tag liegen kann und schlafen … Die Zellen seines Körpers, im Gehirn und in den Gliedmaßen, wurden durch Erschlaffung und Schwerkraft zusammengedrückt, sie schoben sich dichter an- und aufeinander, sie ließen sich

Erst gegen vier Uhr wachte Sowtschick auf. Langsam, dann immer schneller wurde sein Körper angekurbelt. Die Moleküle erhoben sich vom modrigen Grund des Schlafes und zogen zuerst matt, dann kräftiger ihre Bahn, nach denselben Gesetzen etwa, wie Sterne am Firmament es tun. Wer das nachweisen könnte, daß die Moleküle des Fleisches sich nach denselben Gesetzen umeinanderdrehen, wie die Gestirne, der würde die Krone der Wissenschaft empfangen, dies war Sowtschicks Ansicht. Das All in uns und das All um uns. Eine Ver-Allung der ganzen Existenz.

Sowtschick lag schwer und erhitzt auf seinem Bett. Er wußte: Er hatte zu lange geschlafen, das würde sich in der Nacht rächen. In die flirrende Pappel vor seinem Fenster blickend, ließ er die Bilder des Traumes, der ihn eben beschäftigt hatte, an sich vorübergleiten. Wieder war es der Kriechtraum gewesen, der ihn so häufig heimsuchte, durch einen Felsspalt hatte er sich zwängen müssen, immer in Gefahr, steckenzubleiben. Als die Eheleute noch nebeneinander schliefen, sie das Haar zum Zopf gedreht und seitlich auf dem Kissen deponiert, er in «Königshaltung», also auf dem Rücken liegend, geschah es manchmal, daß er im Traum zu mümmeln begann. Dies war der Vorbote dafür, daß es gleich hoch hergehen würde. Das sich rasch verstärkende Mümmeln mündete nämlich in sehr laute Hilfeschreie, die Sowtschick auch dann noch ausstieß, wenn er merkte, daß er bereits aufgewacht war: Seine Frau sollte wissen, daß er es selbst im Schlaf nicht leicht hatte.

Sowtschick griff nach einem Buch, um sich vollends aufzuwecken, es waren Baudelaires Tagebücher, und er las nur wenige Zeilen: Von jungen Mädchen war da die Rede, daß sie kleine Schlunzen seien. In ihnen liege die ganze Verworfenheit von Straßenjungen und Pennälern … Dies belebte ihn. Er erhob sich und stellte sich, die Hosen anziehend, ans Fenster. Die knospende Schönheit, die es nicht nötig hat, sich herauszuputzen, die sich rüde geben kann und unvermittelt: Das war es, was ihn an kleinen Mädchen so entzückte.

Einen weiten Blick hatte Sowtschick von seinem Fenster aus über einen Teil des Gartens hinweg, über Wiesen und Kornfelder bis hin zum Wald, dem sich ein Sandweg mit zögernden Rechts- und Linksschwüngen entgegenschlängelte.

Auf den Fensterbänken des Obergeschosses hatte Sowtschick verschiedene Ferngläser stehen. Mit dem im Schlafzimmer deponierten Hapag-Fernglas von 1923 suchte er den sichtbaren Rand der Landschaft ab. Vielleicht ließen sich ja die beiden Pferdemädchen sehen, die hin und wieder in weitem Bogen um sein Haus herumjagten: die eine blond, die andere krisselig-schwarz, entzückende Kinder, zwölf, dreizehn Jahre alt, Raubritter, wie er sie auch nannte, ganz im Sinne der Baudelaireschen Definition: Kleine freche Schlunzen, wild und erregend. Die beiden hatten übrigens nur ein Pferd zur Verfügung, ein Pony. Jeweils eines der Mädchen war gezwungen, auf dem Fahrrad hinterherzustrampeln.

Die Mädchen waren nicht zu sehen, und auch vom Bad aus nicht, wo Sowtschick mit einem perlmuttbeschichteten Opernglas den Waldrand absuchte. Nur Kühe waren zu betrachten auf der benachbarten Weide, wo sie mit ihren runden Bäuchen impressionistisch auf der Wiese lagen und verdauten, den Kopf der Sonne abgewandt.

Er ging hinunter in die Küche, um sich Kaffee zu machen. Die Hunde begrüßten ihn, als hätten sie ihn tagelang nicht gesehen. Die Corgies sprangen wie Gummibälle an ihm empor, und Percy stieß mit der Schnauze an seinen Unterarm, er solle doch nicht so sein, er solle doch mal eben mit rauskommen. Sowtschick beutelte die Tiere ein wenig, aber dann schickte er sie fort, strenger als nötig. Er hatte Kaffee zu machen, und das hatte was mit Pflicht zu tun, und laut schimpfte er vor sich hin, weil er die Kaffeemaschine nur über eine Stuhllehne hinweg bedienen konnte, wobei er in einen Korb mit Kartoffeln trat. Auch reichte der gemahlene Kaffee in der Dose nur für eine einzige Tasse, weswegen Sowtschick in der Speisekammer «eine Suchaktion starten» mußte, wie er es schimpfend ausdrückte: «Muß man hier eine Suchaktion starten, nur weil man eine Tasse Kaffee trinken will!» Manchmal ertappte er sich, daß er gröbste Ausdrücke in die Gegend schrie, doch wenn er merkte, wen er damit meinte, mäßigte er sich. Die liebe Marianne, ach, er sah es wohl, hatte in der Speisekammer Vorsorge getroffen, Kaffee war genügend da, magenschonender Kaffee, eine Packung neben der anderen. Filterpapier und auch Kondensmilch.

Laß es dir schmecken, Liebster!

Sowtschick stellte den Kaffee auf ein Tablett und ging hinüber. Am Ende des Bücherganges, in dem, wie in den anderen Zimmern und Fluren seines weitläufigen Hauses, verschieden große Glöckchen von der Decke hingen, die ihm meldeten, daß jemand zu ihm wollte, stand ein kleiner runder Tisch mit grünem Loriot-Sofa. Hier, unter einem erst kürzlich erworbenen, sehr großen, in Gold gerahmten Schafbock, hielt Sowtschick gern seine Kaffeestunde, die ihm zur Vorbereitung seines dichterischen Aderlasses diente.

Die Hunde legten sich auf den Teppich, und Sowtschick öffnete das «Grammophon», wie er noch immer sagte. Er legte das Sextett von Dvořák auf. Dann zündete er eine Kerze an, obwohl es doch heller, heißer Juli war, setzte sich auf das Sofa und ließ den Blick über das Kaffeegeschirr hinweg an all seinen Büchern entlangschweifen.

Was die Musik betraf, die sehr leise aus den übergroßen Boxen kam: Es hatte für ihn lange die Ansicht gegolten: Je weniger Musiker, desto ungenießbarer ist das, was sie hervorbringen. Irgendwann hatte er aber gemerkt, daß es lächerlich ist, bei der «Neunten» Waffelgebäck in Milchkaffee zu tunken, und da hatte er es dann mit Kammermusik versucht, und er hatte an ihr Geschmack gefunden. «Der Tod und das Mädchen» oder den «Heiligen Dankgesang eines Genesenden»; oder – warum eigentlich nicht? – auch einmal Dvořák.

Das Kaffeegeschirr samt Aschenbecher und Leuchter stammte aus einer berühmten Porzellanmanufaktur. Sowtschick erzählte seinen Besuchern gern, daß er es von dem Fabrikanten persönlich geschenkt bekommen hätte, was leider nicht stimmte. Bei einer Stehparty hatte er den Herrn kennengelernt, und er hatte ihn so verstanden, daß er, der aufgeschlossene Fabrikant, ihm, dem liberalen Schriftsteller, bei einer sofortigen Porzellanbestellung jeden Wunsch erfüllen werde. Dies könnte den Anfang einer Allianz signalisieren zwischen Künstler und Unternehmern, die, Gott sei’s geklagt, immer noch Fachwerkhäuser abrissen, um Platz zu schaffen für seelenlose Fabrikanlagen. Siebenhundertachtzig Mark hatte Sowtschick dann letzten Endes doch überweisen müssen, und das hatte ihm weh getan. Lange hatte er mit einem Gefühl der Bitterkeit seinen Nachmittagskaffee getrunken, und Marianne, der er unvorsichtigerweise davon erzählt hatte, war wie wild auf die Tassen losgegangen, deren Dekor im übrigen, wie auf der Verpackung zu lesen stand, nicht spülmaschinenfest war.

Sowtschick trank einen Schluck und lauschte dem freundlichen ersten Satz des Sextetts, der ihn ein wenig an «Der Mai ist gekommen» erinnerte. Dem Tschechen Dvořák war hier etwas sehr Deutsches gelungen, Ludwig-Richter-Ähnliches, so kam es Sowtschick jedenfalls vor. Diese Musik rief ein Bild junger Menschen in ihm auf, die blumenbekränzt durch Wald und Feld schweiften …

Sowtschick nahm die Zeitung auf. Über die immer gleiche Litanei der «Kreuzthaler Nachrichten» ärgerte er sich jeden Tag: Eindämmung des Asylantenstroms und Forderungen nach dem Gegenteil, Verdammung der Atomkraftwerke und deren Anpreisung, Anwachsen der Arbeitslosenziffer, Luftverschmutzung, Frauenparität, Waldbrand an der Mittelmeerküste.

Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet, Der immerfort an schalem Zeuge klebt …

So ging das Tag für Tag, und Sowtschick ärgerte sich darüber, weil er keine Möglichkeit sah, auch nur den winzigsten Teil dieser Mißstände abzustellen.

Im Lokalteil der «Kreuzthaler Nachrichten» stand an diesem Tag allerdings eine Meldung, die ihn aufmerken ließ. Zum edlen Klang von Violinen las er, daß der Zahnarzt Ohltrop im Nachbarort, mit dessen Tochter seine Kinder zur Schule gegangen waren, nachts in seinen eigenen vier Wänden von Einbrechern überfallen und mit einem Obstmesser erstochen worden war. Sowtschick schüttelte den Kopf. Überfallen? Nachts? Dann ging das also jetzt hier los? Knirschende Schritte auf dem Kiesweg, ein klirrendes Fenster … Nicht Harburg oder Oberhausen als Schauplatz von Bluttaten, sondern die friedliche Sassenholzer Börde?

Sowtschick ließ die Zeitung sinken: Im Aquariumkasten seines Gehirns stoben die Fische durcheinander. Wie in einem Stummfilm sah er den Zahnarzt, von Stichen getroffen, gegen den Wäscheschrank taumeln und auf das Bett sinken. Hingestreckt lag er da: Rembrandts «Anatomie».

Eine Warnanlage muß her, dachte Sowtschick, eine gelbe Drehleuchte über der Tür oder eine Sirene oder beides. Mit Schalter am Bett. Koste es, was es wolle. Beim kleinsten Geräusch einfach drücken das Dings, und dann kommt das ganze Dorf gelaufen mit Knüppeln und Äxten.

Was das Sextett von Dvořák anging, das allmählich wieder die Oberhand gewann: Wenn er sich zyklisch die wichtigere Kammermusik des Abendlandes bis hin zum Nachsingenkönnen einverleibte, dann wäre er in einer eventuellen Fernsehdebatte, bei der man ihn überfallartig nach Karl Marx fragte, in der Lage, mit musikalischen Querschüssen zu kontern, «Opus 132» etwa sagen, schlicht und einfach, ohne Angabe des Komponisten. Dann knickten sie zusammen, diese Fernsehleute, das war ihm bei ähnlichen Anlässen schon aufgefallen, denen sagte «Opus 132» nichts, weil sie ihre musikalischen Bedürfnisse mit Rock und Pop befriedigten.

Der Roman, an dem Alexander Sowtschick in diesem Sommer arbeitete, trug den Titel: «Winterreise». Er wollte einmal abweichen von all dem, was seine Leser sonst von ihm kannten und, wenn auch mäkelnd, von ihm erwarteten. Eine Art Selbstbildnis hatte er sich vorgenommen, die Geschichte eines Schriftstellers also, mit Namen Gottfried Fingerling, der «ausbricht» aus seinem normalen Tageslauf, alles stehn und liegen läßt und eine Winterreise unternimmt, die ihn mit all dem Elend konfrontiert, das moderne Zeiten der Menschheit bescheren. Einen Roman hatte sich Sowtschick vorgenommen, in dem er allegorisch die Kälte vorführen wollte, der ein Mensch ausgesetzt ist, wenn er sich der Zeit stellt.

Sowtschick war mit seinem Roman auf Seite 14 angelangt, was einem Druckseitenvolumen von 15,829975 Seiten entsprach. Das hatte er mit einem extra hierfür gekauften Taschenrechner herausbekommen.

«Falls ich jetzt sterbe», hatte er zu seiner Frau gesagt, «dann könnt ihr diese Blätter als Fragment herausgeben – soweit bin ich immerhin schon», und er hatte sich die nach seinem Tode zu veranstaltende Gesamtausgabe seiner Werke vorgestellt, die dann allerdings im letzten Band, ähnlich wie «Die Kunst der Fuge», mit Pünktchen enden müßte: «Hier ist dem Dichter die Feder aus der Hand geglitten …»

Wenn seine inneren Nöte nahten, in kummervollen Stunden, ausgelöst durch Kritiken, in denen von «Fleißarbeit» die Rede war oder gar von «Bastelei» und seinen als «brav» bezeichneten Büchern Strickmuster unterstellt wurden, Stunden, in denen er an sich selbst irre wurde, rechnete er zusammen, wieviel Seiten diese Gesamtausgabe bereits umfassen würde, und er war auf die stattliche Zahl von 2576 gekommen. Wer immer ihm Qualität abspräche, der mußte doch wenigstens die Quantität zur Kenntnis nehmen.

In eitlen Stunden hatte er sogar schon einen Entwurf für ein, dann ja allerdings von jemand anderm zu verfassendes Nachwort gemacht. Eine Nacht hatte es gegeben, in der er auf den Dachboden gestiegen war. Hier hatte er aus einem Karton repräsentative Fotos von sich herausgesucht und in einen Umschlag gesteckt: «Nach meinem Tode zu verwenden».

Was Sowtschick immer wieder beschäftigte, war die Frage, welchen Biographen er bekäme, wenn alles vorbei sein würde. Er hatte sich vorgenommen, diese Sache nicht dem Zufall zu überlassen. Ausgerechnet in Australien wohnte ein Wissenschaftler, der einmal Erstaunliches über sein Werk gesagt hatte, etwas Umfassendes und das gesamte Werk von einer einzigen Seite her Durchdringendes. Eingeleuchtet hatte ihm das, wenn es auch irgendwie nicht stimmte und in einigen Teilen selbst ihm, dem Urheber des Untersuchungsgegenstandes, völlig unverständlich war. Dieser Australier war es, der imstande wäre, eine solche Biographie zu verfassen, aber, würde er das auch wollen?

Etwas anderes war es mit seinem Freund Engelbert von Dornhagen, der in Hamburg wohnte und leicht zu erreichen war, wenn es um Dinge des literarischen und politischen Zusammenrückens ging. Die Freundschaft zu von Dornhagen reichte bis in die Zeit seines ersten Buches zurück, «Kaum einen Finger breit». Dornhagen war es gewesen, von dem die allererste Kritik seines allerersten Buches gekommen war, und sie war positiv gewesen. Seither war von Dornhagen Freund Nummer eins. Es war so wohltuend, daß von dieser Seite im wesentlichen nur Bestätigendes kam! Kritik natürlich auch, aber mehr auf Randgebiete bezogen, in denen Frontbegradigungen riskiert werden konnten … Vielleicht gehörte von Dornhagen nicht gerade zu jenen Riesen, denen Sowtschick über öde Zwischenräume hinweg was zurufen konnte, er war jedoch ein angenehmer Gesellschafter, der jedenfalls nicht zu dem lärmenden Gezwerge zu rechnen war, das sich überall breitmachte. Mit dem gebildeten von Dornhagen konnte man selbst entlegenste Gebiete durchplaudern. Und wenn das Gespräch doch einmal stockte, dann brauchte man nur zu sagen: «Und Napoleon?», dann war das Schifflein wieder flott: Von Dornhagen hatte nicht weniger als fünf Bücher über Napoleon geschrieben, und er würde weitere folgen lassen.

Leider kam es auf der Dvořák-Platte nun zu hektischen Allegri. Offensichtlich verfolgte der Komponist damit die Absicht, die Idylle zu brechen: So ist es ja nun nicht, daß die Welt ein Zuckerschlecken ist …

«Muß das sein?» fragte Sowtschick laut. Er stellte die Sache leiser. Er konnte zu dieser Stunde keine Aufregung vertragen, er näherte sich nämlich dem kritischen Moment: Ohltrop gleichviel, Asylanten und Atomkraft wie auch immer – das Aufstehen und Hinübergehen an den Schreibtisch war fällig, auf dem der Winterroman lag. Alle Sinne hatte er auf die Arbeit zu richten, die geschafft werden mußte, wenn er seine Existenz nicht gefährden wollte.

Als er eben aufgestanden war, um hinüberzugehen, rannten die Hunde bellend nach vorn: Ein Wagen stand vor Sowtschicks Einfahrt, ein Opel-Ford mit laufendem Motor. Ein südländischer Mann saß darin, der aus dem Fenster heraus das Angebot zu machen hatte, Messer zu schleifen für fünf Pfennig das Zentimeter.

Sowtschick ließ den Wagen auf den Hof und holte aus der Küche alle möglichen Messer, kleinere mit Holzgriff und sehr große, spitze. Eine junge Frau stieg aus dem Wagen, öffnete den Kofferraum, in dem der Schleifstein stand, der vom Automotor angetrieben wurde, und begann die Klingen zu schärfen. Sie trug eine schmuddelige weiße Cordhose und hatte rostrotes Haar.

Während Sowtschick sich nachdenklich die Frau anguckte, erkundigte sich der Mann, unrasiert und nach Schweiß und Alkohol riechend, ob hier noch jemand wohne?

«Nein», sagte Sowtschick, «ich bewohne dieses Haus allein, im Augenblick sogar ganz allein.» Sein Sohn sei Arzt in Stuttgart, die Tochter Graphikerin im Westfälischen. Und die Frau sei verreist, sonnenhungrig, «wie die Frauen so sind».

Oh, oh! sagte der Mann, das Haus sei aber ziemlich groß! Und er wiegte den Kopf, als ob er sagen wollte: Wenn das man gutgeht!

Es sei ihm noch nie zu groß vorgekommen, antwortete Sowtschick, und daß es ihm gut gefalle, mal ganz allein zu sein, nächtelang auf und ab zu gehen und die Stunden wie die Perlen eines Rosenkranzes durch die Hand gleiten zu lassen … Er sei nämlich Schriftsteller, und als Schriftsteller brauche man Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe. Er sei so sensibel, daß schon die bloße Anwesenheit eines zweiten Gehirns seine Gedankengänge magnetisch durcheinanderbringe. Dies redete so aus ihm heraus und in Richtung auf die Scherenschleiferin.

Der Mann zeigte sich interessiert. «Schriftsteller?» fragte er, die Hose hochziehend. Das sei wohl ein schwieriges Geschäft? Könne man davon leben?

«Wie Sie sehen», sagte Sowtschick und wies auf das Haus, das er, wie gesagt, allein bewohne, und zwar ganz allein. Merkwürdigerweise fügte er noch hinzu, daß es zum Garten hin noch einen zweiten Ausgang gebe, daß er also hinten hinausspringen könnte, wie das tapfere Schneiderlein, wenn sich von vorn jemand nähere, zum Beispiel der Gerichtsvollzieher! Denn so sei das ja nun nicht, daß er im Geld schwimme. Während er das so vor sich hin redete, saugte er das Bild der Frau in sich ein, die da, den kleinen Finger abgespreizt, seinen Klingen Funken abzwang.

Der Mann nahm ihr das Messer weg, das sie da grade schliff, sagte: «So doch nicht!» und zeigte ihr, daß man das anders machen muß. Dabei redete er zu Sowtschick hin von seinen hohen und höchsten Kunden, die auch alle große und größte Häuser bewohnten, mit Bodyguard allerdings, einem Chauffeur also oder einem Gärtner. Er komme nämlich weit herum in der Welt, Shilly Billy zum Beispiel, der sei sein Kunde, und der Fernseharzt Dr. Klaasen, der übrigens eine Doggenzucht besitze.

Zum Schluß maß er die geschärften Klingen mit einem Zollstock nach, was schwieriger zu sein schien als das ganze Schärfen, und verlangte schließlich 6,40 Mark.

Die von den Hunden bedrängte Frau schloß den Kofferraum, und Sowtschick lief ins Haus, um seine Brieftasche zu holen, was eine Weile dauerte, da er nicht genau wußte, in welchem Jackett sie steckte. Als er zurückkam, sah er, daß der Mann in den Rhododendron urinierte. Es mußte also gewartet werden, Zeit, sich der Frau zu nähern.

Ob sie viel auf Achse seien, fragte Sowtschick, und die Frau sagte: «Geht so.» Und dann kam auch schon der Mann. Man wünschte einander guten Tag, und das seltsame Paar fuhr, einen Ölfleck hinterlassend, auf und davon. Die 6,40 Mark würden dem Fiskus nicht gemeldet werden, das war klar. Dieser Mann würde kein Steuerfiasko erleben wie Sowtschick im letzten Jahr.

So wach war Sowtschick immerhin, daß er sich die Autonummer notierte, und zwar so, daß die beiden es mitkriegen mußten, daß er das tat. Er steckte den Zettel für alle Fälle in den Rahmen des barocken Garderobenspiegels, und dann setzte er sich nochmals in die Kaffee-Ecke. Die Frau war es, die ihn beschäftigte. Er versuchte ihr Bild so lange es irgend ging, scharf zu halten, doch leider verblaßte es rasch. Nur die Erinnerung an eine schmuddelige Hose behauptete sich. Sie ward zu der Sammlung anderer Unvergeßlichkeiten getan, die Sowtschick in seinem Inneren verwahrte.

Nachdem er die letzte Tasse Kaffee geleert hatte – der Plattenspieler stellte sich klickend ab –, fiel es ihm ein, Engelbert von Dornhagen anzurufen, der jetzt gewiß in seiner Studierstube saß und an seinem Buch über Rustan, den Mamelucken Napoleons, schrieb. Beim ersten Klingeln des Telefons würde er denken: Das ist doch gewiß mein lieber Freund Sowtschick … Und dann würde es zu einem großen Gespräch kommen, über die dahinkrebsende literarische Landschaft hinweg, in der sich die sonderbarsten Existenzen breitmachten, aus dem hervorginge, daß ihrer beider Dasein einmalig, wenn nicht gar einzig sei.

Leider hob in Hamburg niemand ab.

Ein anderes Telefongespräch verlief ebenfalls ergebnislos, auch mit seinem Verleger war kein hohes Geistesgespräch zu führen.

«Herr Dr. Hessenberg» sei «nicht ahnweßent», wurde ihm von der bayerisch sprechenden Sekretärin mitgeteilt.

Wo isser denn? hätte Sowtschick am liebsten gefragt, statt dessen sagte er laut, nach Auflegen des Hörers natürlich erst: «Da sitzt man hier und schuftet, und dieser saubere Herr ist nicht anwesend.» Wahrscheinlich war er wieder mal ins Ausland gefahren, um zweitrangigen Autoren um den Bart zu gehen, statt sich zu freuen, daß er ein so gutes Pferd im Stall hatte wie ihn, Sowtschick, einen Schriftsteller, der pünktlich Manuskripte ablieferte, die von der Welt angenommen wurden, der keine Vorschüsse verlangte und außerdem in jeder Beziehung mit sich reden ließ, wenn man seine Werke allerdings nicht kurz zuvor als «vergnüglich» bezeichnet hatte.

Sowtschick sah einen Augenblick den flinken Schwalben zu, wie sie ihre Jungen mit Insekten versorgten, und dann startete er einen dritten Versuch, mit der Welt Kontakt aufzunehmen. Auch dieser verlief negativ. Seine Freundin Carola Schade war ebenfalls «nicht anwesend», jedenfalls nahm sie nicht ab.

Sowtschick lauschte dem Rufzeichen, und er dachte dabei an die weit zurückliegende Hotelsache, die ihn mit dieser Frau verband und an die sie einander zeitweilig lächelnd erinnerten.

Draußen schmorte das Land unter der Hitze, der Himmel war weißgrau. Die Schwalben fuhren fort, ihrer Brut Mücken in den Hals zu stopfen, die Kühe lagen wiederkäuend auf dem verdorrten Gras. Sowtschick schlug den Hörer auf. Es

In diesem Augenblick erhob sich eine der Kühe, erst hinten, dann vorne, und trottete schwerfällig, doch zielstrebig auf sein Fenster zu. Es war die schöne Bianca, Sowtschicks Freundin. Sowtschick nahm den Salzstein aus der Schublade, befeuchtete ihn und trat hinaus in die Hitze, die auf ihn niederschlug: Die Zuneigung der freundlichen Kuh wollte er nicht enttäuschen. Er hielt ihr den Stein hin, mit beiden Händen, und sie tat zwei, drei gewaltige Schlecker mit ihrer großen groben Zunge und guckte ihn, von Fliegen umschwärmt, treu und ergeben an.

Nun kamen auch die Hunde aus dem Innern des Hauses gesprungen und verbellten das Tier. Das hatte Sowtschick nicht so gern. Er stellte sich vor, daß der Bauer, hinter einem Baum versteckt, das bemerken und wegen eines eventuellen Milchsturzes im Euter seiner Kuh beanstanden würde. Auch meinte er, es müsse dem Tier doch lästig sein, so angegeifert zu werden. Bianca aber guckte ihren Gönner unverwandt an, sie beachtete die Hunde nicht.

Weil sie nicht abließen von seiner Freundin, setzte Sowtschick, von der Kuh jenseits des Zauns mit schwingendem Euter begleitet, zu einem Gartenspaziergang an. Zufällig vorüberkommende Passanten hätten in diesem Augenblick Glück gehabt, sie wären «des weißgekleideten Schriftstellers ansichtig geworden», wie sie dann in ihr Tagebuch geschrieben hätten.

Zuerst ging Sowtschick die Birkenallee entlang. Diese Allee war vom Architekten beim Hausbau gleich mitkonzipiert worden. Sie führte zunächst durch den gepflegteren Teil des Anwesens, in dem Büsche und Bäume nach ihrer Laubfarbe und Statur um einen großen Rasen herum zu Gruppen komponiert waren, dann durch das, was Sowtschick seinen Urwald nannte, ein wild bewachsenes, ziemlich großes Stück Land, das nicht aus Liebe zur Natur so wüst belassen wurde, sondern weil niemand Lust hatte, sich darum zu kümmern. Für die Kinder war das ein Paradies gewesen, Schitti und Klößchen hatten sich hier eine Laubhütte gebaut, in der sie tagelang lebten und sogar nachts schliefen.

An ihrem Ende war die Allee von einem weißen Gartentor begrenzt, das ebenfalls mit großen Kugeln verziert war. Von hier aus gelangte man in den Wald, der nach Norden hin in Moor und Heideflächen überging.

Sowtschick verließ selten sein Grundstück. In seinem Garten hatte er sich einen Rundweg anlegen lassen, auf dem er manchmal wie Don Perlimplin dahintrottete, immer rundherum, durch seinen Urwald zunächst, dann durch die gepflegteren Teile, am Haus vorbei und wieder zurück, vorüber an Grabsteinen, die er sich von aufgelassenen Gräbern besorgt hatte – ein aufgeschlagenes Buch aus Marmor, über das eine Eidechse dahinhuschte, abgebrochene Säulen und ein Engel mit einem Palmzweig im Arm. Wilde Rosen, Holunderbeeren, gelber Rainfarn und prachtvolle Lupinen.

Der Rundweg war geschottert, doch hartnäckige Pflanzen brachen immer wieder daraus hervor, was Sowtschick zwang, seinen Hacken auf ihnen umzudrehen, er ging von Löwenzahn zu Löwenzahn, von Distel zu Distel, und immer drehte er seinen Hacken um, was von fern sehr seltsam aussah. Übrigens war es vergebens, das Zeug war nicht kleinzukriegen. Irgendwann würde man hier eben doch mit Gift kommen müssen.

Der Weg wurde ihm an diesem Tag sauer: Wenn die Hitze wenigstens bräunen würde, dachte er. Er ärgerte sich über das Unkraut auf dem Weg, über Maulwurfshaufen und Unterwühlungen, und leider lagen in Zaunnähe wieder einmal Bierdosen. Er schleuderte sie auf die Straße, wo sie von vorüberfahrenden Treckern plattgewalzt werden würden. Diese Bierdosen waren Aggressionsakte der Dorfbevölkerung, die ihm seinen Besitz neidete. Manchmal zeugte zerdrücktes Unterholz davon, daß sich sogar ein Liebespärchen auf seinem Grund und Boden verlustiert hatte: Immer war Sowtschick hinter so was her, doch nie konnte er einschreiten.

Auf seinem Rundgang kam er auch an den beiden Schafen Sonja und Amalie vorüber, die auf der durch Büsche gegen Einsicht geschützten Liegewiese als lebende Rasenmäher ihre Arbeit taten. Er winkte den aufmerkenden Tieren zu und ging weiter, von den Schafen mit Blicken verfolgt. Er drehte eine zweite und eine dritte Runde, mal so rum und mal so, den Spaziergang durch Abzweigungen variierend, und beruhigte sich allmählich.

An einer bestimmten Stelle schlug er sein Wasser ab. Mit Wohlbehagen stellte er sich vor, wie gut das dem Erdreich täte, daß es hier Ammoniak und Harnsäure warm und freundlich erhält.

Schließlich setzte er sich auf eine Bank am äußersten Ende des Gartens, auf einer Anhöhe gelegen, und sah auf das in der Hitze wabernde Dorf hinunter. Das Kirchlein in der Mitte, mit seinem stumpfen Turm, und die Bauernhäuser breit darum herum. Aus der Ferne holten riesige Hochspannungsmasten in schwer hängenden Kabeln Strom herbei, um ihn weiß Gott wohin zu befördern. Ein gewaltiger Anblick! Das Foto eines dieser von Fanatikern gefällten Riesen hatte Sowtschick zu Tränen gerührt.

Zu seinen Füßen lag sein Haus. Behaglich und charaktervoll sah es aus. Seine Romane waren es, die ihm den Bau ermöglicht hatten, und hier, wo diese Bank stand, würde ein Mausoleum zu errichten sein, ein sechseckiges, von wilden Rosen umrankt, mit den sterblichen Überresten des Dichters, also seinen, und mit Bronzereliefs, auf denen die Stationen seines Lebens aufgezeichnet wären: den noch jungen und den schließlich alten Eltern, der intakten und der dann brennenden Heimatstadt, dem eisigen Sibirien, in dem er zwei Jahre hatte zubringen müssen und der Sonne der Freiheit über seinem Haus, Marianne mit den Kindern und die Hunde allesamt: fünf bronzene Reliefs. Und in der Mitte des Mausoleums, auf einem Piedestal sein Bildnis, das man hoffentlich nicht köpfte eines Tages. Vielleicht, das dachte er jetzt, könnte er das Mausoleum mit einem Türmchen krönen, mit einer Glocke, die zu den Glöckchen des Hauses einen gewichtigen Kontrast abgeben würde. Zuvor war aber noch viel zu tun übrig, der Winterroman, zum Beispiel, der auf seinem Schreibtisch lag, der mußte noch geschrieben werden.

Eigentlich hätte Sowtschick nun ins Haus gehen müssen und mit der Arbeit beginnen. Er zögerte noch. Er sah sich noch einmal sein Haus an, und dabei dachte er, wie es gewesen war im Krieg, wenn mit der 2,2-cm-Kanone Häuser in Brand geschossen wurden damals, nun schon so lange her.

Während er da auf der Bank saß, machten sich die Hunde in den Karnickelterritorien zu schaffen. Sie versuchten in die Katakomben einzudringen. Da unten sitzen sie nun und beten, dachte Sowtschick. Er stellte sich eine Karnickelkrypta vor mit flackerndem Kerzenschein und einem greisen Karnickelpatriarchen, an dessen Brust sich die verschreckte Gemeinde birgt, dem Knurren lauschend, das von draußen zu ihnen dringt.

Die Hunde versuchten es mal von dieser, mal von jener Seite – vergeblich! Wie immer. Schließlich ließen sie ab von ihrer Wühlerei und lagerten sich hechelnd um den weißgekleideten Sowtschick, während sich in den Katakomben der Krampf löste: Vielleicht nutzte der Patriarch den Schrecken, sein Volk zu weiterem Ausbau des Höhlensystems anzustacheln: Man kann nie genug Röhren haben, wie schon die Väter sagten. Wenn allerdings das Frettchen kommt, ist alles vergebens.

Plötzlich hatte Sowtschick das Gefühl: Jetzt geht das Telefon! Also doch von Dornhagen, dieser prachtvolle Mensch! Natürlich von Dornhagen! Hat gespürt, daß er gebraucht wird, und meldet sich.

Sowtschick sprang, von den Hunden wild verfolgt, federnd ins Haus. Die beiden Schafe hielten im Kauen inne, und auch Bianca verhoffte. Im Haus jedoch war alles still. Das Telefon sah unschuldig aus, und die Hunde guckten ihren Herrn fragend an.

Das kann doch nicht sein? dachte Sowtschick, sollte ich mich so getäuscht haben?

Er wählte die Nummer seines Freundes – nichts regte sich. Auch andere Telefonate waren vergebens: Carola nahm nicht ab, und der Verlag hatte Büroschluß, wie ein Tonband vermeldete. Hinze in Mölln und Kargus in Sankt Peter-Ording – nichts. Selbst willkürlich gewählte Nummern brachten kein Ergebnis.

Sowtschick hatte das Gefühl, daß niemand in der ganzen Welt zu Hause ist.

Aus! dachte er. Es ist alles aus! Alles weicht vor mir zurück.

Während die Karnickel die eingestürzten Ausgänge ihrer Burg freischaufelten – noch einmal davongekommen –, die Schafe weiterfraßen und die Kühe verdauten, verfluchte Sowtschick seine Freunde der Reihe nach. Und wenn es nicht so heiß gewesen wäre, hätte er wohl auch Teile seiner Einrichtung zerstört: Eine Tasse des Siebenhundertachtzig-Mark-Geschirrs hatte er schon in der Hand.

Die Standuhr drüben in der Halle schlug fünf mit hellem Schlag. Wenn er sich jetzt nicht sofort an die Arbeit setzte, war der Tag nicht mehr zu retten.

Er stellte die kostbare Tasse, die er eben noch an die Wand hatte schmettern wollen, auf den Tisch zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Ohne einen Blick auf die Wiesen zu werfen, die sich vor seinem Fenster, durch Zaunpfähle markiert, leicht ansteigend ausbreiteten, nahm er ein duftendes Bündel frisch gespitzter Bleistifte aus der Schublade und konzentrierte sich auf den neuen Roman, die «Winterreise», 15,8 Druckseiten, der Anfang war gemacht. Die Bretter waren ausgelegt über den schwankenden Grund. «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.» Sowtschick stellte sich das Chaos des ungeordneten Stoffes wie einen Sumpf vor, in dem es gluckste. Das andere Ufer würde er erreichen müssen, sonst würde es ihn hinabziehen in den schleimigen Morast.

Als der letzte Schlag der Uhr verhallte, schrieb Sowtschick bereits Zeile um Zeile. Und was er schrieb an diesem heißen Tag, handelte von Schneeflocken, die vom Himmel segelten, und von einer Hundekälte: Gottfried Fingerling, der alternde Schriftsteller, stapft in einer von Kurgästen leergefegten kleinen Stadt sinnend durch den Schnee. Die Rodelbahn, der Skihang – alles menschenleer. An sich hätte es hier zu dieser Jahreszeit von Menschen wimmeln müssen – «Ski und Rodeln gut» –, aber Sowtschick sah keine Menschen, er sah nur Gottfried Fingerling, den alternden Schriftsteller, und zwar durch den Schnee «stapfen»: Das Leben hat seine Last. Schneebedeckte Tannen, eingeplusterte Gärten, dünenartige Schneewehen mit scharfgeschnittenem Kamm, und dazwischen als graudunkler Fleck der einsame Gottfried Fingerling.

Der Dichter, den Sowtschick vor Augen hatte, trug eine schwarze Pelerine, und die Landschaft war eine Postkartenidylle, auf der Winter zu besichtigen war, wie es Winter nicht gibt. Sowtschick amüsierte sich darüber, daß es ausgerechnet eine Kitschpostkarte war, an der er sich orientierte, und er versuchte, wenn dem nun schon so sei, den Eindruck des Geschönten in seinem Text zu reproduzieren. Ihm fiel es ein, den Leser mit der Schilderung einer Märchenwelt einzulullen. Die Kritiker sollten das anstreichen und mit einem Fragezeichen versehen. Sie sollten glauben, daß Sowtschick die Kontrolle über sich verloren hat. «Dieser Mensch ist ja betulich! » sollten sie ausrufen und ihm damit auf den Leim gehen. Oh! Er wollte seine Bilder schon noch brechen.

Einen speziellen Zettel hatte er auf seinem Schreibtisch liegen mit Katastrophenthemen, die vorkommen sollten in dem Roman: die Fragwürdigkeit der Atomkraft, der sogenannte Rüstungswahnsinn, Aids und Smog und das Abbrennen des südamerikanischen Regenwaldes. Das alles würde er einarbeiten in sein «Gespinst», doch das hatte Zeit. Fürs erste galt es, den winterlichen Kurort recht putzig darzustellen. Das Brüchige der Erscheinungen müßte dann später wie ein Knüppel-aus-dem-Sack herausfahren, die Idylle hinwegfegen und voreilige Kritiker beschämen.

Im übrigen markierten drei Leuchtzeichen den Weg seines Schreibens, auf die mußte er achtgeben. Auf der einen Seite ragte «The Magic Mountain» auf. Diesem gewaltigen Zentralmassiv durfte Sowtschick nicht zu nahe kommen, das hatte er kapiert. Jahre war es her, daß er das Buch gelesen hatte, und immer noch war da ein Bild von frisch gefallenem Schnee, das Sowtschick niemals übertreffen konnte.

Das zweite Leuchtzeichen war, und Sowtschick lachte, wenn er daran dachte, der Roman «Drei Männer im Schnee», lustig zu denken, daß auch dieses Buch in seiner Orientierung eine Rolle spielte, aber es war so, denn Sowtschick gedachte, nicht nur etwas von der Bedeutsamkeit jenes Zentralmassivs in sein Buch einzubringen, das Pro und Contra seiner Weitsicht, sondern auch die aufgekratzte Stimmung des Drei-Männer-Buches. Das hatte er Marianne wieder und wieder erklärt, damit sie es eines Tages dem Biographen berichten könnte.

Manche Trän’ aus meinen Augen Ist gefallen in den Schnee; Seine kalten Flocken saugen Durstig ein das heiße Weh.

Was die Atmosphäre anging, da hatte er sich Schubert verordnet, und zwar die «Winterreise» – sie lieh seinem Roman den Titel –, und das war das dritte Leuchtzeichen. Leider waren die Schallplatten, die von einem Sonderangebot stammten, ein Fehlkauf gewesen. Der Solist überinterpretierte den Text kurios-unerträglich, knödelig bis dorthinaus.

Alexander Sowtschick saß an seinem Schreibtisch und schrieb. Mit seinem Bleistift wirkte er an «seines Liedes Riesenteppich» zwischen den drei Leuchtzeichen dahinzirkelnd sacht und geschmackvoll fort. Um es musikalisch auszudrücken: Melodie, Akkord und Konstruktion seines Textes brachte er in Einklang. Er dachte außerdem noch an den Verleger, der recht viele Exemplare dieses Buches verkaufen sollte, und an die Leser, die sein Buch eines Tages in Händen halten würden, und er freute sich für sie: Das wird ihnen Spaß machen, dachte er, und er überlegte, womit er sie sonst noch erfreuen könnte.

Vor ihm auf dem Schreibtisch stand neben Wiener Bronzen, Hahn und Hennen, ein Foto seiner Frau, Blumen pflükkend war sie darauf zu sehen, den Arm voll Rosen, das Haar im Wind. Daneben ein Foto seines Sohnes Michael und eines von Susi. «Um die brauchen wir uns keine Sorgen zu machen», sagten die Eheleute, woran zu erkennen war, daß sie es eben doch taten.

Nachdem Sowtschick zwei Stunden lang «die Bilder seiner Vorstellung ins Wort erlöst hatte», wie er gern den Vorgang des Schreibens definierte, also Balken über den Morast vorgeschoben hatte, ermüdete er plötzlich. Es war, als wiche alles zurück: Das war das Zeichen, sofort aufzuhören. Hier ließe sich nichts mehr erzwingen. Sowtschick legte den Bleistift hin, zählte die Blätter und stieß sie auf. Sechs Seiten hatte er beschrieben, die würden der stagnierenden, wenn nicht gar rückläufigen Kultur Europas einen deutlichen Ruck nach vorn verpassen. Vorausgesetzt allerdings, ihm gelänge es, seine Katastrophenthemen einzuarbeiten, deren einzelne Posten er auf dem Zettel einstweilen mit Ausrufungszeichen und Unterstreichungen versah, das Brüchige, Doppelbödige, Aufrüttelnde: Wie schwefliger Ruß müßte es auf den Schnee herniederrieseln.

In diesem Augenblick schlug die Uhr sieben, Zeit für Sowtschick, ein Bad zu nehmen, und das war einfach: Sein «Besitztum», wie das Haus auch schon genannt worden war, schloß nämlich ein Schwimmbad ein, genauer gesagt, einen Schwimmgang. Sowtschick hatte dem Architekten vorgerechnet, daß ein gewöhnliches Schwimmbassin mehr Wasser enthalte als fürs Schwimmen nötig. Er hatte einen wassergefüllten Gang vorgeschlagen, zwei Meter breit, einsachtzig tief, in welchem er, statt dauernd umkehren zu müssen, jeweils zwanzig Meter geradeaus schwimmen konnte. Diese Erfindung, die etliche Kubikmeter Wasser sparte, hatte er gegen den Architekten durchgesetzt – «so was geht nicht» –, sie war denn auch in der Zeitschrift «Form» entsprechend herausgestellt worden.

In ruhigen Zügen schwamm Sowtschick den kleinen Fluß hinauf und hinunter, an Blattpflanzen und Teilen von antiken Skulpturen vorüber, dem Körper gebend, was des Körpers ist, wo er doch für seinen und anderer Leute Geist schon gesorgt hatte. Mit jedem Schwimmzug steigerte sich seine Befriedigung: 21 Seiten Prosa lagen nun schon vor. Wie gut, daß er sich nicht in Frankreich aufhielt, einem Land, in dem die Polizisten komische Mützen aufhaben, und daß er nicht in einem Ferienbungalow hausen mußte, dessen Besitzer auf seine Kosten in Paris wohnt und sich hämisch die Hände reibt über das schöne Geld, das er den dummen Boches aus der Tasche zieht.

Während er aufrecht hin- und herschwamm, das Zählen dabei vermeidend, lächelte er über den Vorschlag des Architekten, in den Schwimmgang eine Gegenstromanlage zu installieren. «Bin ich ein Hamster in einem Tretrad?» hatte er den Architekten gefragt. Ein anderes wäre es, den Gang noch zu verlängern, ins Freie hinaus. Die Schwimmhalle durch eine Art Affenklappe verlassen und ins Land hineinschwimmen, immer weiter und weiter, bis man sich im Schein der Abendsonne verliert… Er hatte auch schon daran gedacht, Fische in das Wasser zu setzen, Karpfen, die ihn erwarten würden, wenn er an das Becken tritt. Fröhlich würden sie ihn begleiten, mal vor und mal zurück, und traurig würden sie sein, wenn er sie verließe.

Plötzlich klingelte das Telefon, einmal, zweimal, dreimal. Die Welt hatte sich besonnen, sie erinnerte sich an ihn! Sowtschick wußte, er würde es nicht schaffen, aber versuchen mußte er es trotzdem: Er stemmte sich aus dem Wasser und rannte triefend an den Apparat, und in der Tat, es war wieder einmal «aufgelegt», und das Rätselraten blieb, wer das denn

Sowtschick ging in die Küche und machte sich das Abendessen. Es bestand aus sommerlichen Butterbroten, Tomaten und Gurken, drei in Scheibchen geschnittenen Radieschen, Schwarzbrot mit krossem Griebenschmalz und einer auf dem Brot breitgequetschten kalten Frikadelle.

Liebster Mann!

Das Schmalz stammte von einer Leserin, samt irdenem Topf und herzlichen Grüßen. (Das rote Schleifchen war noch dran.) Sowtschick hatte es für sich reserviert, davon aß nur er allein, und er teilte es sich zu, damit es recht lange vorhielte.

Mit den in mundgerechte Happen geschnittenen und auf einem Brett gefällig angeordneten Schnitten ging er hinüber und setzte sich in seine Fernsehecke. Nun käme der angenehmere Teil des Tages, der erquickende, Verknotungen lösende Abend.

Sowtschick war ein sogenannter «Vielseher». Obwohl auch sein Gerät Röntgenstrahlen von sich gab, wie auf der Rückseite vermerkt war – «entspricht jedoch der RÖV» –, sah er gerne fern. Das war ein Laster, das er zu verheimlichen suchte: «Jeden Abend saß der Dichter vor dem Fernsehapparat …», eine solche Passage würde sich nicht besonders gut ausnehmen in seiner Biographie. Marianne setzte sich selten dazu, weil er mit der Fernbedienung ständig den Kanal wechselte, was er auch dann tat, wenn er wußte, daß im Ersten Schlagersänger Treppen hinauf- und hinunterstiegen, daß im Zweiten in «Ehen vor Gericht» einfältige Gatten zu sehen waren, die gegen aufgedrehte Gattinnen Unrecht bekamen, und im Dritten eine Talkshow lief, in der ganz normale Politiker mit Schlips und Nadelstreifen irgendwie niedergeschrien wurden. Nacht für Nacht gab er sich der Bilderflut hin: An zunehmenden Vergeßlichkeiten war zu bemerken, daß sie bereits Auswaschungen in seinem Gehirn hervorgerufen hatte.

Sowtschick schaltete die Tagesschau ein, er hoffte auf Kameraschwenks über dreißig Kilometer Autostau oder auf vandalistische Akte, Gewaltszenen mit vermummten Polizisten, die auf vermummte Demonstranten einschlagen, aber er wurde enttäuscht. An diesem Abend war nach der nahezu vollzähligen Abhandlung jener Problemfelder, die für die «Winterreise» bereits auf seinem Merkzettel standen, nur von Gewerkschaftssachen die Rede, kein Großfeuer, keine Massenkarambolage mit – leider – zugedeckten Leichen, kein Flugzeugabsturz, bei dem verwirrte Überlebende unter huschenden Blinkleuchten gefragt werden, ob sie, als sie nach Miami starteten, damit gerechnet hätten, auf einer Autobahn notzulanden? Nichts von alledem. Gewerkschaftssachen dürrster Art. Von Zwei-Komma-vier war die Rede, beziehungsweise mehr oder weniger. «Fortbestand des sommerlichen Wetters» hieß es am Schluß, und der Meteorologe zeigte es auf der sich ruckartig verschiebenden Computerkarte, daß über Mitteleuropa ein Hoch liegt, an das die Tiefs über England und Frankreich nicht herankommen.

Danach war im Dritten eine Sendung zu sehen, die sich «Rock-Palast» nannte. «Out», sang ein Sänger:

Out! Out! und vorbei! Out! Out und vergessen …

Sowtschick tastete blind nach seinen Broten und sah eine Weile dem schreiend-schwitzenden Sänger zu, der in eine mit kleinen Spiegeln bestickte Uniform des Siebenjährigen Krieges gekleidet war. Durch Verzerrungen des Gesichts machte dieser Mann es deutlich, daß das ziemlich anstrengend ist, hier so zu schreien, aber daß er das schafft. Scheinwerfer huschten über jubelnde Kindfrauen, die auf den Schultern jubelnder Jünglinge saßen.

Im Zweiten Programm wurde ein australischer Film gesendet, in dem es um zwei Jünglinge ging, die ein Auto stehlen und es allmählich zu Schrott fahren. Nur seiner Kanalwechselei hatte es Sowtschick zu danken, daß er hineingeriet in diesen immer besser und besser werdenden Film. Witzig gemacht war die Sache (ein Kotflügel nach dem andern fliegt ab) und gut fotografiert: originelle Zwischenschnitte von ländlicher Idylle und im Hintergrund blaßfarbene, ausschwingende Landschaften.

«Das ist ja gut!» rief Sowtschick und sah sich um, ob nicht einer da ist, mit dem er dieses Erlebnis teilen könnte. Aber es war niemand da außer den drei Hunden, die ihrem Herrn hierher gefolgt waren, weil sie ihm beim Essen zusehen wollten.

Dies war also ein australischer Film gewesen. Nun ja, immerhin. Man würde es sich merken müssen, daß die Australier, die sich sonst damit beschäftigten, ihr Wappentier auszurotten und die Urbevölkerung unter Alkohol zu setzen, gute Filme machen können, genauso wie man sich die Tatsache gemerkt hatte, daß es an der Universität Adelaide einen Professor gab, der sich mit Sowtschicks Werken befaßte, wenn auch irgendwie irrig.

Sowtschick verzichtete auf die zweite Ausgabe der Tagesschau, auf die nochmalige Vorstellung der gängigen Problemfelder: Er stellte den Apparat aus, wobei ihm auffiel, daß das kleine indische Kugelspiel, das sonst auf dem Apparat stand und klickende Geräusche von sich gab, wenn man es anstieß, fehlte.

Merkwürdig, dachte er, alles schleppen sie weg …

Er räumte die Reste seines Abendbrots in die Küche und pfiff die Hunde herbei – zehn Uhr? Das Gassigehen war fällig.

Es war eine wollüstige Nacht, warm, voll Korngeruch. In der Ferne schrie eine Kuh, und über den dunkelroten Himmel flog blinkend ein Flugzeug nach Amsterdam, Paris oder London, gefüllt mit Menschen, die nicht daran dachten, daß sich die Abgase ihres Flugzeugs auf die goldenen Ährenfelder der Sassenholzer Börde legen und daß sie eventuell auf einer Autobahn notlanden müssen.