Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - E-Book

Tadellöser & Wolff E-Book

Walter Kempowski

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Beschreibung

»Tadellöser & Wolff« nannte Walter Kempowskis Vater, Reeder in Rostock und guter Kunde der Tabakwarenhandlung Loeser & Wolff, so ziemlich alles, was nicht gerade »Miesnitzdörfer & Jenssen« war. Und als »Miesnitzdörfer« ließ sich in der Zeit von 1938 bis 1945, von der dieser Roman erzählt, wahrhaftig vieles bezeichnen.

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Walter Kempowski, geboren am 29. April 1929 in Rostock, starb am 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme. Er gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit. Einem breiten Publikum bekannt wurde er durch seinen Roman »Tadellöser & Wolff«, der Kultstatus erreichte und auch verfilmt wurde. Seine monumentale Collage »Das Echolot« war 1993 eine literarische Sensation und fand zwölf Jahre später mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes, der die Bestsellerliste stürmte, ihren krönenden Abschluss. Der letzte zu Lebzeiten des Autors veröffentlichte Roman »Alles umsonst« brachte Walter Kempowski auch internationale Anerkennung.

Das Werk von Walter Kempowski umfasst zahlreiche Romane, Erzählungen, mehrere Tagebücher und Befragungsbücher. Eine Übersicht befindet sich am Ende des vorliegenden Romans. Weitere Informationen zu Leben und Werk von Walter Kempowski sind zu finden unter www.kempowski.de»Tadellöser & Wolff« ist Teil der sogenannten »Deutschen Chronik«, in der Walter Kempowski die Geschichte seiner Familie vom Kaiserreich bis in die 1960er-Jahre der Bundesrepublik erzählt. Neben sechs Romanen, die die Familiengeschichte schildern, wird die »Deutsche Chronik« durch drei Befragungsbände ergänzt.»In mehrfacher Hinsicht ein erstaunlicher, lesenswerter Text. Man kann diesen bürgerlichen Roman auch als Epilog lesen auf jenen Mittelstand, der bei aller politischen Naivität durch seine konservative Struktur der faschistischen Barbarei doch mehr Widerpart geleistet hat, als man es heute wahrhaben will.« Franz Schonauer, RIAS»Ein sehr aufklärerisches Buch.« Neue Zürcher Zeitung

Walter Kempowski

Tadellöser & Wolff

Ein bürgerlicher Roman

Detlev Nahmmacher gewidmet

Alles frei erfunden!

1

Morgens hatten wir noch in der alten Wohnung auf grauen Packerkisten gehockt und Kaffee getrunken (gehört das uns, was da drin ist?). Helle Felder auf den nachgedunkelten Tapeten. Und der große Ofen, wie der damals explodierte.

Zu Mittag sollte schon in der neuen Wohnung gegessen werden.

Die Zimmerpalme wurde dem Gärtner geschenkt, die würde man nicht mehr stellen können. Wunderbar, wie die sich in all den Jahren entwickelt hatte. Den gelben Onkel nahm man mit, mit dem gab es ab und zu »hau-hau«! Schön würde es werden in der neuen Wohnung, herrlich. Wir sollten sehn: zauberhaft. Vom Balkon eine Aussicht – wonnig. Und keine Öfen zu heizen, das war auch was wert.

Als ich aus der Schule kam, sah ich schon von weitem den ausgepolsterten Möbelwagen, die Pferde mit rostroten Planen über dem Rücken und Messingschildern am Zaum.

Wir waren selbstverständlich bei Bohrmann. Der Flügel stand noch drinnen, ich hatte also nichts verpaßt. Die Träger mit Gurten um den Leib, Haken unten dran.

Sie schraubten die Beine ab; in einem Schlitten hievten sie ihn die Treppen hinauf. Sieben Zentner schwer. Die Adern quollen ihnen raus.

»Kinder«, sagte meine Mutter, »wie isses nun bloß möglich …«

Ob in der Nachbarschaft nicht’n paar kräftige Männer aufzutreiben wären, wurde gefragt.

Ein dicker Herr schob sich an den Trägern vorbei, er sah versonnen das Treppenhaus hinauf. Da oben kam Licht aus einem Rubbelglasfenster. Dieser Mann hieß Quade, der hatte das Haus gebaut.

Es war eine geräumige Wohnung, allerdings: 2. Stock, wie Tante Silbi von Anfang an bemerkte. Die Garderobe ganz in Rot. Über der Eichentruhe schon die Schießscheiben und der Säbel meines Vaters. (»Der wird dann angeschliffen, Junge.«)

Rechts der offne Schrank mit den Wolffschen Telegraphenberichten und – »Giftfische und Fischgifte« – zahllosen Kosmosbändchen.

Mein Bruder reckte sich vor dem Spiegel.

Die Wohnung sei Gutmannsdörfer. Ob ich das nicht auch fände?

»Ja.«

»Na, denn sei froh.«

Für sämtliche Zimmer waren neue Lampen gekauft worden.

Im Wohnzimmer hielten Adlerkrallen die Leuchtschalen. In den Schlafzimmern floß das Licht durch Alabaster.

Im Eßzimmer hing eine Klingel vom ausufernden Papierschirm herab, damit sollte das Mädchen dann gerufen werden.

Für die Küche wurde keine Lampe gekauft, da war schon eine drin.

Kröhl, ein pensionierter Finanzbeamter, brachte die Lampen an. Er spielte im Quartett die Bratsche (Geiger gäb’s wie Sand am Meer), der machte sich gern nützlich.

»Würdest du bitte mal knipsen? Den unteren Schalter? Danke.« Als er noch im Amt war, hatte er mal zu meinem Vater gesagt: »Das ist natürlich wieder alles falsch.«

»Wieso ›natürlich‹?« hatte mein Vater geschrien. »Und wieso: ›wieder‹ und ›alles‹?«

Daß die Küche nicht gefliest war, komme ihr grade recht, sagte meine Mutter. Fliesen seien so kalt von unten.

In den Waschbecken sprang das Wasser wie ein Quell aus einem Loch. Der Schließer war durch Druckknopf zu betätigen. »Fabelhaft.«

Die Fenster der Wohnung gingen leider alle nach innen auf.

»Das werden wir schon kriegen«, sagte meine Mutter. Aber die Blumentöpfe, die mußte sie doch jedesmal rücken.

Genau gegenüber der Schlachter mit einem aus Talg geformten Adler im Fenster und Rosen aus Speck. Daneben der Drogist. Alles in der Nähe, fein.

Um die Ecke »Wiener Moden«.

Auf der Kreuzung brachten sie grade ein neues Verkehrszeichen an, »STOP« stand da drauf.

Ein geräumiger Balkon mit Glasdach und Mauervorsprüngen zum Aufstellen von Judenbart und Schlangenkaktus.

Noch waren die Bäume unbelaubt, aber es würde ein schöner Blick sein, über die blühenden Gärten hin zum grünen Turm von St. Jakobi.

»Kinder, wie isses schön«, sagte meine Mutter, »nein, wie isses schön«, und drückte die Geranien fest.

Linker Hand, neben einem gelb gestrichenen Etagenhaus, an dessen zerklüfteter Rückseite eine Anzahl Eisenbalkons mit Margarinekisten voll Schnittlauch hingen, konnte man sogar den kleinen Turm der katholischen Kirche ausmachen, mit dem so kräftigen Geläut.

Am Abend kam mein Vater aus dem Geschäft. Er trug Knickerbocker in Pfeffer und Salz. Seinen Teichhut hängte er singend auf einen der roten Garderobenhaken.

Wie so sanft ruhn,

alle die Toten …

Das war das Logenlied, wie meine Mutter es nannte.

»Ich werd’s Ihnen lohnen im späteren Leben«, sagte er zu Kröhl und gab ihm die Hand, »einstweilen besten Dank.« Er betrachtete die Lampen: »Das ist natürlich wieder alles falsch …«

Dann setzte er sich an den Flügel, lehnte sich zurück und spielte: Singt dem großen Bassa Lieder …

Pink-pink! – ja, es ging.

Über dem Instrument hing das Hafenbild mit dem dicken Goldrahmen, ein Hochzeitsgeschenk von Konsul Discher. Es sei nicht billig gewesen, hieß es.

Meine Schwester Ulla (»Was hast du nur für schöne Zöpfe, mein Kind«), sieben Jahre älter als ich, bekam die Dachkammer.

»Wahrschau!« rief sie und brachte Vasen nach oben.

Sie trug ein rostfarbenes Wollkleid mit quer eingestickten Blumengirlanden.

Ich teilte mit meinem Bruder Robert das Zimmer. Sechs Jahre älter als ich. Das blonde Haar stark gewellt, wie die Wogen des Sees Genezareth, in der Bilderbibel, auf denen Jesus wandelt. Er behauptete, von mir gehe ein »pestilenzialischer Gestank« aus.

Er schnurkste ständig, so als zöge er von Zeit zu Zeit sein Uhrwerk auf. Meine Mutter sagte dann: »Prost! Wisstu’n Stück Brot?« Gern trug er Querbinder. Die band er mit Geduld. Hinterher reckte er sich noch ein Weilchen, als wollte er sagen: »Ich bin doch eigentlich recht staatsch.«

»Na, du Schleef?« sagte er, wenn wir uns auf dem Korridor begegneten.

Meine Mutter stammte, wie sie behauptete, aus einem alten Hugenottengeschlecht, de Bonsac. Im 16. Jahrhundert geadelt. Der Vorfahr habe als Mundschenk guten von schlechtem Wein rasch unterscheiden können. Es war noch ein Wappen auf die Familie überkommen, das hing jetzt in Wandsbek, in das war eingeschnitzt

Bonum bono, dem Guten das Gute

Und auf dem Wappen Kelch und Traube.

Beim Gutenachtsagen legte sie mir die Hand auf die Stirn. (»Sieht sie nicht aus wie eine Gräfin?«)

Dann sprach sie lange Gebete, bei denen sich ihre Augen allmählich mit Tränen füllten.

»Oh, lieber Gott, sich an, wie wir ohnmächtig sind vor Dir, sei barmherzig, hilf uns in allen Nöten des Leibes und Lebens, daß das Gute in uns aufkomme, und mach uns zu Deinen Kindern. Hilf allen Menschen durch Deine allmächtige, alles ver-, ver-, ver- veranlassende, verordnende Güte …« und so weiter.

Das dauerte oft recht lange, und ich suchte durch Strecken und Dehnen anzudeuten, daß es nun genug sei.

Dann sang sie

Müde bin ich, geh’ zur Ruh’ …

Alle vier Strophen. Sie hatte eine schöne Stimme.

Zum Schluß beugte sie sich auf mich herab, und ich durfte sie küssen. »Aber nicht auf den Mund.«

Wenn mein Vater die Abendpost durchgesehen hatte – »Tadellöser & Wolff!« – spielte er meist noch lange Klavier. Das konnte ich bei offner Tür gut hören.

Das »Frühlingsrauschen« von Sinding oder die Davidsbündler Tänze. »Mit Humor und etwas hanbüchen.«

In die Tür unseres Zimmers waren geriefelte Glasscheiben eingesetzt. Wenn man von vorn in den Korridor einbog, sah man sofort, ob ich verbotenerweise noch las. (»Kai aus der Kiste.«) Den Finger hatte ich, in angespanntester Aufmerksamkeit, ständig auf dem Knipser. Die Mutter konnte mich nie erwischen. »Auf Ehre?«

Mein Bruder Robert aber, der sich zeitweilig am Anschleichen beteiligte, war gewiefter, der faßte die Glühbirne an. »Sag mal, schämst du dich nicht?«

Er selbst las bis zum frühen Morgen. Lok Myler: »Der Mann, der vom Himmel fiel.«

Morgens kam er schwer hoch. (»Uppstahneque!«)

Und er hatte doch Fensterwache! Für meinen abergläubischen Vater mußte er nach jungen Mädchen Ausschau halten.

»Los, Vater, komm schnell!«

Der kam dann gebückt gelaufen, so als könne er sich nicht aufrichten, halb rasiert, mit hängender Hose und schlappenden Pantoffeln.

»Gut dem Dinge«, nun konnte ihm keine alte Frau mehr den Tag verderben.

Das Frühstück war immer sehr harmonisch.

»Was macht meine Haut?« fragte mein Vater und hielt uns den Hals hin. Bei Ypern hatte er Gas abgekriegt.

»Wunderbar«, mußten wir dann sagen, »keinerlei Druck- oder Schelberstellen«, sonst wäre der ganze Tag im Eimer gewesen.

Dem zuletzt Kommenden wurde: »Ah! Die Sonne geht auf!« zugerufen. Der mußte dann lange nach seinen Brötchen suchen, die – »heiß! kalt!« – irgendwo versteckt waren (meistens auf dem Schoß meiner Mutter).

»Wer nicht kommt zur rechten Zeit,

dem geht seine Mahlzeit queit.«

Neben dem Teller meines Vaters lag das Kalenderblatt. »Meyers historisch geographischer Kalender«, mit den Nationalen Gedenktagen.

1916 – Erstürmung von Fort Douaumont.

Für mich, der ich am Ende der Tafel saß, hatte er harmlose Scherze bereit.

Was »Kohlöppvehnah« heiße, »ansage mir frisch!«

»Die Kuh läuft dem Vieh nach«, mußte ich dann antworten. Daraufhin wurde »gut dem Dinge« gesagt.

Mein Vater kaufte sich ein neues Rad. Das alte, mit Dorn zum Hintenaufsteigen, war verrostet. Dazu einen Kleppermantel, dessen Schöße hochknöpfbar waren. »Denn seh’ ich ja aus wie ein Franzmann«, sagte er.

Meine Mutter ließ alle Sessel neu beziehen, die alten Samtbezüge könne sie nicht mehr sehn.

Für den Balkon – »nein, diese Aussicht!« – kaufte sie Stühle aus Peddigrohr.

Bei Tillich, den »Wiener Moden«, ließ sie sich ein Kleid machen, ein hellblaues. Das Oberteil war wie eine Pelerine geschnitten, mit drei Knöpfen auf der Brust. Von denen gingen Quetschfalten aus in alle Richtungen.

Ich kriegte einen sogenannten Hamburger Anzug, dessen Oberteil an die Hose geknöpft wurde.

Meine beiden Geschwister durften in den Jachtklub eintreten, aber weißes Zeug wurde nicht genehmigt.

In den Ruderklub hatten sie nicht gehen wollen. Sie seien doch keine Galeerensklaven.

Wenn Ulla ein Schifferklavier gehabt hätte, dann hätte sie uns sicher, wie Robert meinte, mit Schlagern geelendet. Auf der Mundharmonika spielte sie

An der Saale hellem Strande

stehen Burgen stolz und kühn …

Sie stiftete meinen Bruder zu Untaten an. Wenn es rauskam, gab’s Stubenarrest.

Er sei kein richtiger Junge, meinte sie. Richtige Jungen kämen mit zerschundenen Knien und Löchern in der Hose nach Hause. Die stiegen über jeden Zaun.

»Würdest du mir mal bitte verraten, über welchen Zaun ich eigentlich steigen soll?« fragte Robert.

Seitdem sie segelten, war mein Vater des öfteren genötigt, mit der Uhr in der Hand auf der Treppe zu stehen.

»Wo kommt ihr jetzt her?«

Ab sofort würden andere Saiten aufgezogen.

Ulla kriegte außerdem eine Reitkarte. Im Tattersall durfte sie für 5 Mark die Stunde um die Manege traben. In Trainingshosen, zu ihrem Kummer. Kali Rupp habe aber ein Reitkostüm, klagte sie.

»Denn mußt du dir ’n andern Vater aussuchen, ich kann mir das Geld auch nicht aus ’n Rippen schneiden.«

Aus dem Schatten der Tribüne heraus beobachteten wir sie. Wenn das Pferd pupte, lachte mein Vater.

Auf einer Veranstaltung kniete sie im Sattel. Das sei eine ziemliche Angstpartie gewesen, sagte sie hinterher, ihr sei ganz schwummerig geworden.

Einmal kriegte sie einen Steigbügel vor die Stirn.

»Kommt da dein Vogel raus?« fragte Robert, als sie mit dem Horn erschien.

Mit ihrer Agfa-Box machte sie Pferdeaufnahmen.

Die kamen ins Album.

»Der gute Kamerad«, wurde druntergeschrieben.

Die ganze Familie wurde fotografiert.

Die Mutter im Pelerinenkleid, Robert beim Segeln und ich im Hamburger Anzug.

Vater sogar als SA-Mann unter einer Birke.

2

Unter uns, in der ersten Etage, wohnte Woldemann, ein wohlhabender, beleibter Holzhändler. Er trug sein schwarzes Haar – blank wie Lackschuhe – zu einem scharfen Mittelscheitel frisiert. Am kleinen Finger einen Ring mit blauem Stein.

»Na, du Brite?« sagte er zu mir mit tiefer Stimme und langte sich eine der offnen Weinflaschen, die überall herumstanden. Ohne Glas trank er daraus, in langen Zügen.

Im »Herrenzimmer« übergroße Sessel mit angenähten Kissen, komfortabler als bei uns, auch der Teppich größer, und die Bilder dazu passend.

Neben dem Rauchtisch ein schwarzes, kommodenartiges Grammophon. Vorn eine Art Tor zum Herauslassen der Musik.

Ist sie nicht süß, ist sie nicht lieb,

ist sie nicht nett, das Fräulein Gerda …

Auf dem Grammophon eine Wachspuppe unter Zelluloid. Die trug ein Spitzenkleid.

»Filigran«, sagte meine Mutter.

An der Wand ein Hühnerhof in Öl: der schwarze Rahmen doppelt so breit wie das rosa Bildchen.

Morgens saß Woldemann im Hausmantel am Kaffeetisch. Er ließ die Drehscheibe rotieren, auf der Marmelade und Honig standen.

Das Ei aß er mit silbernem Löffel. (»Ei mit Silber? Das beschlägt doch!«)

Vom Milchkännchen leckte er die Tropfen schmatzend ab.

Jeder wär’ froh, jeder wär’ stolz,

wenn er sie hätt’, das Fräulein Gerda …

Das Brötchen aß er mit Messer und Gabel.

Die Frau war jung und unternehmungslustig. »Woldi«, sagte sie zu ihm.

Während das Grammophon dudelte, ging sie in der Wohnung auf und ab, von einem Pralinenkasten zum andern, drehte sich die Haare und puschelte mit einem Flederwisch die Kopenhagener Figuren ab.

Mein Vater brülle ja immer so doll, wer denn mit »Rotzlöffel« gemeint sei?

Ihre Tochter Ute war 9 wie ich.

Schwarzer Pagenkopf und dunkelblaue Augen.

Abgesehen von wenigen Schmolltagen waren wir ständig zusammen. Meist lag ich auf dem Teppich, und sie saß mir auf dem Bauch. Schön warm war das und gemütlich. Ich zog sogar die Beine an, damit sie sich anlehnen konnte. Sie wiegte sich dann ein wenig und bohrte in der Nase.

(Beim ersten Mal hatte ich mich noch gewehrt. Das Oberteil meines Hamburger Anzugs war dabei von der Hose gesprungen.)

Alle Möbel lernte ich auf diese Weise von unten kennen: den Couchtisch mit den vom Tischler nur grob befestigten Beinen, die Sessel mit Gurten, denen der Möbelträger ähnlich, den Papierkorb, der immer faulig roch, weil man Apfelschalen hineingeworfen hatte.

Einmal hatten wir Streit: was bedeutender wär, das männliche oder das weibliche Geschlecht.

Der Vater würde übertroffen durch die Regierung, sagte sie, mit dem Finger herzählend; und der Kontinent durch die Erde.

Aber die Welt durch den Gott, antwortete ich, und der sei männlich.

Alle Leute bleiben plötzlich stehn,

um dem süßen Mädel nachzusehn …

Wenn die Mutter sich auf dem Flur hören ließ, spritzten wir auseinander.

»… sonst kriegt ihr eine geschwalbt«, sagte die.

Hinter dem Haus war eine Selterswasserfabrik, sie gehörte unserm Hauswirt.

Ob im Wald, ob in der Klause,

Dr. Krauses Sonnenbrause.

Wir setzten uns in Flaschenkisten und fuhren auf dem Rollenband hinein. Durch düstere Schuppen ging es, an Buchten mit leeren Flaschen vorüber. Gespensterbahn!

In einem gekachelten Werkraum sprangen wir ab. Hier wurde die Sonnenbrause abgefüllt.

Arbeiter mit Gummischürzen standen am Band und sahen zu, wie die Flaschen ruckend der Reihe nach aufmarschierten und von der Maschine vollgefüllt, zugekorkt, umgeworfen, etikettiert und in Kisten gerollt wurden.

Der Hebel, der die Flaschen umwarf, war gepolstert. Von unten kam ihm ein zweiter entgegen, der empfing sie sanft.

Ab und zu zerbarst eine Flasche mit dumpfem Knall. Dann regnete es Splitter.

Die vollen Kisten lagerten im Keller. Hier war es kühl. Ute wußte, wo die Waldmeisterbrause stand. Auf einen Zug tranken wir sie aus – »wer zuerst fertig ist« – und rülpsten.

Im Büro roch es nach Tabak und Pfefferminz. Hier zeichnete Fräulein Reber, vom Skisport gebräunt, blitzschnell Belege ab. »Reber«, den Namen könne man auch von hinten lesen, sagte sie. Ihr Bruder, Flieger bei der Legion, der heiße sogar Otto!

Sie schenkte mir ein Liederbuch: »Von Jungen Trutz und Art« hieß das. Ob ich auch mal ein kräftiger Pimpf werden wollte? Ute kriegte »Spinnerin Lobunddank, ein neu Mädchenliederbuch«.

Der Morgen hat geschlagen,

die dunkle Nacht zerbricht.

Auf, Herz, zu neuen Tagen

ruft dich das junge Licht.

»Ich will einen Liter Korn«, sagte ein Besoffner, der gerade hereinkam.

An der Wand hing Clausewitz.

Dr. Krause durften wir nicht begegnen. Der schritt in Reithosen über den Hof. Hier stand eine Tür offen, dort lag Papier. Möglicherweise würde man beim Zimmern der Flaschenkisten Nägel einsparen können.

Um die Güte seines Brunnens zu demonstrieren, ließ er einen Zinkeimer vollaufen. »Klar wie Kristall.« Rostocker Leitungswasser stellte er daneben. Verblüffend! Eine lehmige braune Brühe.

Im Leitungswasser schwimme direkt Kot, sagte er.

Witschorek, der BOB-Fahrer, war immer darauf aus, uns zu vertreiben. Er stammte aus dem Sudetenland.

»Egerländer halt’ zusamma …« sang ich mal aus Quatsch. Da fing der Mann bald an zu weinen.

Immer gern gesehn waren wir bei Kutscher Boldt. Vergnügt pfeifend mischte er Hafer und Häcksel, goß auch etwas Apfelbrause hinein. 36 Mark die Woche verdiente er.

Mein Vater gab mir angestoßene Zigarren für ihn.

Der Schimmel »Max« war ein »Kriegskamerad«. Dr. Krause hatte ihn aus Galizien mitgebracht Unter dem Schild »Kriegskamerad« hing ein Eisernes Kreuz aus Pappe. Auch Schiffe hätten im Weltkrieg das Eiserne Kreuz verliehen bekommen, und Meldehunde.

Wir mieden Max, denn er war bissig.

Harmlos war die dicke Stute Nora.

Nore, am Brunnen vor dem Tore,

sagte Kutscher Boldt.

Sie zog etwas stärker als Max.

Gegen Abend, wenn wir genug getrunken hatten, gingen wir rein. Da spielten wir Versteck im Dunkeln, und bald lagen wir auch schon wieder auf dem Teppich. Die Lichter der vorüberfahrenden Autos schoben sich über die Decke.

Im Bauch gluckste es.

Ist sie nicht süß, ist sie nicht lieb,

ist sie nicht nett …

Ute wiegte sich ein wenig hin und her. Horchen, ob die Eltern nicht kommen. »… sonst kriegt ihr eine geschwalbt.«

Ob ihr Vater »höher« sei als mein Vater, erörterten wir, oder Dr. Krause, ob der vielleicht höher sei.

»’tüllich«, sagte sie statt »natürlich«.

Beim Abendessen fragte meine Mutter: »Junge, wie siehst du bloß aus? Wie Buttermilch und Spucke.«

Und Robert sagte kopfschüttelnd: »Wie haben sie dich, Baum, verschnitten …«

Die Teewurst schmecke übrigens recht ordentlich.

3

Mein Vater »liebte seine Heimatstadt«, wie immer gesagt wurde. Er war Mitglied des Vereins für Rostocker Altertümer und besuchte dessen Vorträge regelmäßig: »Die Exerzitien der Bürgergarde« oder »Rostocks Soldaten im 30jährigen Kriege«.

Mit Platt sei er in Flandern ganz gut zurechtgekommen.

Sonntags, während meine Mutter den Braten begoß, ging er mit uns spazieren. Die rechte Hand auf dem Rücken, mit der linken den Spazierstock führend, mal nach vorn und mal nach hinten. Da er viele Leute kannte, zog er dauernd den Hut.

Mit Kaufleuten redete er über Courtage, Tons und Dividende; zu Damen sagte er »Meine Gnädigste« und küßte ihnen die Hand. Er selbst wurde mit »Herr Kempowski« angeredet oder mit »Körling«. Wir standen inzwischen am Rinnstein und kuckten, ob wir an den Gitterfenstern des Gefängnisses nicht vielleicht ein bleiches Gesicht ausmachen könnten.

»Nehmen Sie mich mit, Herr Kempowski!« rief auf der anderen Straßenseite ein winkender Mann mit Hasenscharte. Das war Dr. Heuer.

»Auch das noch«, sagte mein Vater. »Na, wie geht’s?«

Einmal wurde er von einem betrunkenen Seemann angesprochen. Da behielt er seinen Handschuh an.

»Man weiß nie, was diese Leute angefaßt haben«, sagte er. Als junger Mann hatte er einmal einen Kapitän im Bordell auslösen müssen, dem hatten sie die Hosen ausgezogen, weil er nicht bezahlen konnte.

Von Rostock sagten die Leute, es sei zwar weniger als Lübeck und Hamburg, aber mehr als Wismar und Stralsund. Eine Stadt, die seit Jahrhunderten von schlechten Baumeistern verhunzt wurde. Wunderbar, daß sie trotz allem noch gewisse Reize hatte. Das Steintor zum Beispiel, in dem es nach Männerpisse stank: Wenn die Straßenbahn da durchfuhr, mußte sich der Stromabnehmer quetschen.

»Wie die Soldaten hier wohl früher die Zugbrücke runtergeknallt haben.«

Oder das Kröpeliner Tor, von einem Gotiker mit Türmen und Bögen versehen und mit Bänken, auf denen alte Männer Skat spielten. »Un ick har doch dat Aß speelen möst…«, die Pfeife mit einem Gummiring vor dem Herausfallen aus dem zahnlosen Mund bewahrt.

Daneben, eingebettet in das Gebüsch der Wallanlagen, ein Wanderknabe aus Granit, ein liegender Goethe in Italien etwa, aber ländlicher.

Die Türme der Kirchen waren entweder zu groß oder zu klein.

Die klotzige Marienkirche, ein Bau-Ungetüm mit gewaltigem Westwerk, groß genug, um drei Türme zu tragen, oben rasch und behelfsmäßig mit einem hühnerkopfähnlichen Helmchen abgeschlossen.

»Wie eine Glucke mit ihren Küchlein.« Und St. Petri, eine Kirche, die fast nur aus Turm bestand.

Heute könnten die Leute sowas nicht mehr bauen, wurde behauptet. Über die Zusammensetzung des Mörtels gingen wunderliche Gerüchte um.

In der Hauptpost leerte mein Vater das Schließfach 210. 210, das war seine Regimentsnummer gewesen. (»Helden wollt Ihr sein?«)

Er sah die Briefe flüchtig durch, – »allerhandlei« – und stopfte sie in die Tasche.

Die gotische Hauptpost lag am Rosengarten, einem Überrest der Wallanlagen. Früher führte ein schräger Weg dahin. Als der aufgehoben wurde, stiegen die Leute unter Protest über die Absperrungen.

Neben der Hauptpost stand das Kriegerdenkmal der 90er. Dort zeigte er uns die Namen »Pingel« und »Topp«, die sonderbarerweise direkt untereinander standen.

»Hurrä!« hätten die Senegal-Neger gerufen. Und Flieger, die wären am ekelhaftesten. Da könne man nicht weglaufen.

Ob er mal Feinde totgeschossen habe?

Nicht daß er wüßte, er habe immer nur so ungefähr in die Richtung gehalten. Das seien dann so schwarze Punkte.

Vom Kriegerdenkmal, über den Wall zum Hafen runter, ob noch Schiffe eingetroffen sind. Den befreundeten einen kurzen Besuch abstatten, »Brennevin«. Die feindlichen flüchtig mustern.

»Käpt’n« durfte man nicht sagen und nicht »Pott« oder »Kasten«.

Neben dem klassizistischen Mönchentor – über dem Torbogen ein Löwenkopf mit offnem Maul und auf dem Dach eine Art Schüssel aus Bronze – lag unser Geschäftshaus. Auf Ansichtskarten war ein Stück davon zu sehn.

Früher war es eine Kneipe gewesen, der Bierkeller mit Falltür war noch vorhanden.

Mein Vater ging ins Kontor und telefonierte. Courtage, Tons und Dividenden. Wir drehten inzwischen an der Kopierpresse. »Du wirst lachen«, sagte mein Bruder, »das Ding funktioniert noch immer. Halt mal’n Daumen drunter.«

Auf dem Schreibtisch des Prokuristen ein Pflasterstein als Briefbeschwerer. An der Wand: Hitler, Hindenburg und Bismarck übereinander.

Dann ging es die Mönchenstraße hinauf, Richtung Neuer Markt. An den Straßenecken Kanonenrohre, damit die Häuser von den Fuhrwerken nicht beschädigt würden.

»Hier hat Fritz Reuter mal gewohnt.«

Häuser und Schuppen ineinander verschachtelt. Auf den flachen Teerdächern Zäune, Wäschepfähle und hohe Blechschornsteine.

»Erste Vakuum-Dampf-Zucker- und Bonbonwarenfabrik«, stand abgeblättert und verwaschen an einer Mauer.

In den Fenstern zu ebener Erde Kakteenschalen mit kleinen Pagoden und Brücken.

Kneipen: Kum rin, kannst rutkieken.

Hin und wieder ein schöner Treppengiebel mit Speicherluken und Rollen. Aber die Fotografen hatten zu zirkeln, wollten sie die auf die Platte bekommen.

Auf dem Neuen Markt wurde die Stelle gezeigt, wo früher mal ein Brunnen gestanden hatte, und unter dem Rathaus, an einem Pfeiler, eine kleine Schlange, deren Herkunft und Zweck unerfindlich war.

Um 12 Uhr war Platzkonzert. Das fand am Denkmal Friedrich Franz III. statt, unter der Eiche von 70/71. Väter mit Kleinkindern auf den Schultern.

Der Stabsmusikmeister hinkte. Er schnauzte die Zuhörer an, wenn sie drängten. Ouverture zur Diebischen Elster.

»Mensch, blasen Sie fis!«

Ich kuckte mir die Zugposaunen an, die stets anders gezogen wurden, als man meinte, daß sie gezogen werden müßten. Der Oboist, ein Gefreiter, hatte Watte in den Ohren.

War abgeklopft, dann packten die Soldaten ihre Instrumente ein und fuhren mit der Straßenbahn in die Kaserne zurück.

Auf dem Nachhauseweg hielten wir nach »Typen« Ausschau, Naturmensch Herbig etwa, der, wie es hieß, sonntags mit einer Geige im Rucksack nach Kösterbek spurtete. »Das ist auch so eine Existenz.«

Oder Professor Totenhals, der sich immer die Ohren zuhielt, wenn er über die Straße ging.

Einmal kam uns ein Mann entgegen, der ging recht gebückt. Warum der wohl so gehe, fragten wir.

»Dem haben seine Söhne so viel Kummer gemacht«, sagte mein Vater.

Im Treppenhaus roch es bereits nach Braten, und wenn die Etagentür aufgeschlossen war, hörte man das Silber klirren.

»Malsoweit!«

»Schön, daß ihr kommt, ich wollte grade aufgeben.«

4

Sonntags gab es Puddings in Form von Trauben. Meine Schwester bestand noch mit ihren 16 Jahren darauf, von den Beeren und nicht vom Laub zu bekommen: »Heißen Dung!«

Nach Tisch wurde gedankt, das besorgte meine Mutter.

Mein Vater sagte: »Amin-Amehn« und drückte mehrmals kräftig an den Tisch.

»Gott, Karl …«

»Was ist?«

Er erhob sich und lief gebückt zur Anrichte. Da stand die Keksdose, aus der er sich mit »Rollgriff« reichlich bediente. Das vers-tünde sie nicht, sagte meine Mutter, er habe doch nun eben gut und reichlich gegessen?

»Rede nicht, Weib!« Kekse füllten die letzten Risse und Schründen des Magens, und er zählte sie sich in den Mund.

Wir machten, daß wir ins Kino kamen. Dick und Doof als Elektrohändler. Mein Bruder immer ein paar Schritte voraus. Ulla packte mich im Genick und drehte mir den Kopf nach links oder rechts, je nachdem wo es langgehen sollte. Eile war nötig, denn zuvor mußte das Geld beim Großvater erbettelt werden.

Mein Großvater hatte sein Haus in der Steintorvorstadt zwischen den mit lachenden und weinenden Masken verzierten Villen von Konsul Böttcher und Konsul Viehbrock.

Lieferanten bitte den hinteren Eingang benutzen.

Für seinen Rollstuhl wurde eine schiefe Ebene auf die Treppen gelegt.

Das Haus war sehr geräumig, zwei Etagen, alles Riesenzimmer, früher waren hier Feste gefeiert worden.

Im Entrée eine Mahagoni-Vitrine mit Porzellan. Eine goldene Tasse, aus der die Königin Luise mal getrunken habe. Aber auch der kleine Stierbändiger aus Kopenhagener.

Neben der Vitrine der Hocker mit dem Katheter. Nach den kleinen Rostocker Aquarellen kam der Museumsdirektor gelegentlich fragen.

Der alte Mann saß im Erker und las. Eine Steinhägerflasche mit warmem Wasser auf dem Bauch. (»Der gute Alte.«) Gingen Bekannte draußen vorbei, grüßte er sie freundlich und murmelte: »Du bist ok so’n oll’ Morslock.«

Wir stellten uns vor ihn hin.

Er riß die Seite des Buches ein und klappte sie als Lesezeichen aus. Die letzten Tage von Pompeji.

Dann kratzte er uns Volkslieder auf seiner Violine vor und erzählte ostpreußische Witze, wobei ihm das Gebiß herunterklappte. (Wir hatten Angst, daß wir sie nicht kapierten, und lachten viel zu früh.)

In jüngeren Jahren habe er mal Ascheimer umgestoßen, deshalb sei er jetzt gelähmt.

Dann nahm er seinen ausgekauten Priem aus dem Mund, mein Bruder, der Schnetzfink, der mußte die Hand hinhalten.

»Großvater, wir müssen nu gehn.«

»Na, denn giv mi ma mine Tasch…«

Mit kraftlosen Fingern öffnete er die Ziehharmonika-Börse und grabbelte nach Münzen.

»Iss dat noog?« sagte er und legte 5 Pfennig auf die Lehne seines Stuhls, als hätte er sie noch nie gesehen.

»Nee, Großvater.«

»Dunnre di Düwel nich noch eins …« und wieder legte er eine Münze hin. Manchmal auch eine Fischschuppe, die er zu Sylvester ins Portemonnaie getan hatte, damit es nie leer wird.

War es »noog«, dann griffen wir das Geld und rasten los. Die Treppen runterspringen, die Türen schmeißen. »Wetten, daß wir es nicht schaffen?«

»Darauf gebe ich dir Brief und Siegel.«

Der Alte stieß mit dem Krückstock gegen das Fenster und schüttelte die Faust. »Petri fief, fief!«

(Das war eine Bibelstelle, Fünftes Kapitel Petri, fünfter Vers: »Ihr Jungen, seid untertan den Ältesten…«)

Wir schafften es immer. Wenige Minuten vor 2 erreichten wir die Ka-Li-Sonne, ein Kino, dem ein Tanzsaal angeschlossen war. »Swings tanzen verboten«, stand auf einem Schild.

Kindergewühl. Es gongte und der Vorhang färbte sich grün, rot und orange. Unter dem schrillen Pfeifen der Kinder schütteten Stan Laurel und Oliver Hardy einem Lebensmittelhändler Eier über den Kopf. Und der ließ ihnen dafür die Taschenuhren durch die Zentrifuge laufen.

Neben Robert saß man nicht gut. Der stieß einen immer an, ob man das eben gesehen habe, ja?

Hinterher hieß es, der Film sei epochal gewesen oder »prachtach«.

Einmal gab es den Film »Morgenrot« mit Adele Sandrock. Das war ein Reinfall. Wir wollten immer lachen, aber da gab es nichts zu lachen.

Nach dem Kino ging es ins Lesecafé. Dort saßen Freunde vom Jachtklub.

Juden unerwünscht!

Heini, mit dem weißen Rollkragenpullover, Kupfermünzen am Uhrarmband, wahnsinnig kräftig; Michael, mit den hochschnüffelnden, gelangweilten Allüren, dessen Vater, wie man sagte, einen echten Rembrandt hängen habe, völlig schwarz, nichts drauf zu sehn; und Bubi, ein »richtiger Junge«, wie meine Schwester sagte.

Bald würde wieder Ansegeln sein.

Er habe eine grauenhafte Entdeckung gemacht, sagte mein Bruder und klopfte die Taschen ab: Nichts mehr zu rauchen!

R 6, doppelt fermentiert, eine Ghiros klassisch

manipulierten Pastals.

Ob ich die leere Schachtel kriegen könnte? fragte ich.

Ich sei wohl vom Wahnsinn umjubelt? Ich sollte meine Sabbel halten und mich verdünnisieren.

In den Vorgärten abgeblühte Schneeglöckchen, Buchsbaum an Wegen, die niemand ging, rostige Eisenzäune, ein pinkelnder Hund.

Das Anstellen von Fahrrädern ist verboten.

Zeigte sich in der Ferne ein Junge, dann wurden Umwege gemacht. Über den Unterwall, auf dem die Bänke noch nicht angebracht waren. Durch die Schröderstraße, an der brüchigen Mauer einer Konservenfabrik entlang. Am Kellerfenster des Töpfers Wernike vorüber, in dem Ofen standen und ein grüner Uhu aus Steingut. Den kaufe er eines Tages und schmeiße ihn kaputt, sagte mein Bruder jedesmal, wenn er daran vorbeiging.

Ob im Wald, ob in der Klause,

Dr. Krauses Sonnenbrause.

Die Fabrik war geschlossen, das Tor mit einer Kette gesichert. Im Treppenhaus das Minutenlicht: klickte.

Ute war wieder mal bei ihren Großeltern.

Den Schlüssel zu unserer Wohnung entnahm ich vorsichtig der Milchklappe. Zum Aufschließen brauchte man Zeit. Das mußte lautlos vor sich gehn. Wenn es knackte, erschien meine Mutter mit dem Kissenmuster auf der Backe: »Überschrift: die Mittagsruhe!«

Und dann erwachte womöglich auch der Vater: »Rotzlöffel!« In der Garderobe hing sein Teichhut. Daneben der Hut meiner Mutter, mit dem imitierten Vogel dran, der ständig vor ihrer Nase zu Boden zu stürzen schien.

Im Schirmständer Spazierstöcke: Einer, wie ein sonderbarer Regenschirm, zum Aufklappen und Draufsitzen.

Ich strich durch die Wohnung. Auf der Standuhr hat sich beim Umzug ein Pantoffel gefunden, den man vor Jahren vergeblich gesucht hatte.

Die angeklebten Birnen am Büfett, in dem Kristall und eine Meißner Schale standen. Der Teppichsaum, den man als Straße für Märklinautos benutzen konnte.

Wenn man Glück hatte, war noch Märchenstunde im Graetz. »Lasse, mein Knecht!«

Meist aber nur: Sinfonische Dichtung von Sibelius.

Im Bücherschrank links Luther und die Geschichte des Rauhen Hauses.

In der Mitte Wiechert, Hesse und Ruth Schaumann. Aber auch die »Buddenbrooks« und »Professor Unrat« (»traun fürwahr«). Ganz unten Kunstbücher mit den unvergänglichen Werken großer Meister. Ich hatte sie mit Zettelchen versehen, damit ich nicht auf die Kreuzigungsbilder stieße. Judith mit dem Haupt des Holofernes.

Im rechten Schrank die Regimentsgeschichten; Chamberlain, Stegemann und Lilly Braun.

Ans Notenregal brauchte man sich nicht zu machen. So verlockend die Einbände auch aussahen: Flöten und Geigen von Blumen umkränzt, drinnen herrschte die von großen Bogen zusammengehaltene Geheimschrift der Klavierspieler vor.

Auf dem Schreibtisch eine Intarsienmappe mit französischem Kalendarium. Aus der fielen einem sämtliche Briefe entgegen. Und die Zigarrenprospekte der Firma Loeser & Wolff. Mit Hilfe dieser Prospekte wählte mein Vater aus, welche Zigarren nur für ihn, auch nur für ihn und welche für Lieferanten zu bestellen waren.

Unten im Schreibtisch ein Kasten mit Fotos. Dicke braune meines Großvaters:

Den lieben Eltern zur Goldenen Hochzeit 1905,

aber auch dünnere neueren Datums, mit Büttenrand, von fröhlichem Picknick: Weinflaschen auf ausgebreiteter Decke. Der Hund sei in die Butter getreten, wurde erzählt. (Meine Mutter mit Herrenschnitt.)

»Mit de Pierd will’n Se noch na Rostock?«

Landkarten von Flandern. Die nahm mein Vater gern mit auf das Klo, um »die Lage zu klären«, wie er sagte.

Leise, leise, fromme Weise …

»Meinen ersten Patrouillengang habe ich auch schon hinter mir«, hatte er geschrieben, »meine Uniform sah hinterher aber aus! In einem Wassergraben bin ich entlanggegangen…« Er liebte es nicht, wenn man eben vor ihm aus dem Klo herauskam. Dann war die Brille noch warm.

Nach dem Kaffee kam gewöhnlich Manfred, ein stiller Schulfreund. Einer mit Nickelbrille, der immer Käsebrote aß.

»Rothaarig, nicht?« sagte mein Bruder.

Er müsse erst seine Eltern fragen, ob er mit mir spielen dürfe, hatte er gesagt, als ich ihn zum ersten Mal einlud; er wisse ja gar nicht, was wir für Leute seien.

Seine Haut war dick und voller Sommersprossen; er konnte Nadeln hineinstecken, ohne was zu merken.

Von einem Onkel hatte er Zinnfiguren geerbt: Azteken und Spanier, erstklassig bemalt.

Sie lagen in Zigarettenschachteln, eine neben der andern. Jaguarkrieger und Langschwertkämpfer, Fußvolk im Sturm und fliehend, Sonnenradträger; Fallende, Tote.

Meine Mutter, die die Figuren weit von sich hielt, meinte, die Azteken, das seien Leute gewesen, die gar kein richtiges Kinn gehabt hätten, ein Volk mit so Vogelköpfen.

In der Volksbücherei hatte sich Manfred ein Buch geliehen: »Die Eroberung Mexikos«.

»Halte mich sauber«, spricht das Buch.

Das war illustriert.

Steinerne, unendlich in sich verschlungene Gottheiten. Stufenpyramiden, mit der Sonne zugewandten Tempeln. Kolorierte Herzen im Schlund des Gottes Quetzalcoatl. Blutverkrustete Priester mit Obsidianklingen vor den sich aufbäumenden Opfern.

Huitzilopochtli, das war ein schwieriger Name.

Als ich ihn endlich aussprechen konnte, wunderte ich mich darüber, daß sich niemand darüber wunderte.

Schwerverbrecher hatte man an ein hölzernes Gestell gebunden und ihnen die Gesichtshaut abgezogen, um die Raubvögel anzulocken.

Er kämpfe morgens immer mit seinen Kissen, sagte Manfred. Er boxe sie und reite auf ihnen. Vom Plumeau lasse er sich besiegen.

Wenn wir ungestört waren, führten wir Stücke auf. »Wie du mir, so ich dir«, hieß eines. Er lag als Cortez auf der Couch und trat nach mir. Ich hatte die Ketten abzuschütteln, mich auf ihn zu werfen, »Freiheit« zu rufen und ihn auf aztekische Weise zu fesseln. (»Zieh doch fester an!«)

Dann mußte ich höhnisch rufen: »Wie du mir, so ich dir!« Beim ersten Mal meinte er: »Wie du mir, so ich dir« – er glaube, er könne diesen Hohn nicht ertragen. Aber, wir wollten es ruhig mal versuchen, er sei direkt neugierig, ob er’s aushalte.

»Wie – du – mir …«: Jedes einzelne Wort schien ihn zu vernichten.

O Gott nein, er halte es nicht aus, sagte er und rollte mit den Augen, das sei wirklich schwer zu ertragen, dieser Hohn! Aber ich solle trotzdem mal ganz behutsam weitersprechen. Er sei neugierig, ob er’s schaffe.

Dann mußte ich ihm mit einem Lineal auf die Schenkel schlagen, leicht, locker, bis sie sich röteten und immer roter wurden. Ob’s noch gehe? fragte ich.

Ja, mach weiter, weiter.

Endlich wollte er unter das Bett geschoben werden. Ich mußte ihm Brot nachwerfen, das er mit den Zähnen griff. Der Gedanke, ich ginge womöglich fort und ließe ihn da allein, sei entsetzlich, sagte er.

Ich sollte mal bis zur Tür gehn.

Ob er das wohl aushalte?

Einmal drückte ich ihn in die Besenkammer und schloß die Tür.

Ich holte den gelben Onkel aus der Garderobe und schlug mehrmals kurz und kräftig hinein.

Der blecherne Aufnehmer schepperte, und der Mop fiel herunter.

Das sei ja grauenhaft, rief er. Wie ich denn auf die Idee gekommen sei?

Das überrasche ihn aber sehr!

»Na, Huitziloportlo?« sagte meine Schwester beim Abendbrot. »Du glühst ja so.«

Er gebe ihr Brief und Siegel, sagte mein Bruder, daß wir wieder getobt hätten.

Ich wär ’ne Geißel der Menschheit.

Aber, daß die Azteken Vogelköpfe gehabt hätten, verweise er in das Reich der Fabel.

Was Kohlöppvehna heiße, wollte mein Vater von mir wissen und: »Urselchen, mein Kind, mach doch nochmal den Mecklenburger Büffelskopf nach.«

Die Lebenswurst schmecke übrigens hervorragend.

6

Dicker Krahl hatte ein großes Zimmer ganz für sich allein. Zu ihm ging ich fast jeden Tag.

Unter dem Fenster eine AEG-Mignon.

Die Buchstaben mußte man auf einer Tafel suchen und mit dem Typenkopf auf das Papier hauen.

In der Ecke ein Bett.

»Durch das Land der Skipetaren«.

In der Mitte des Zimmers stand ein ausgezogener Tisch, darauf war eine Stadt aus Bauklötzen aufgebaut, mit Läden, Litfaßsäulen und einem Rathaus. Klein-Winzigerode.

Die blieb abends stehn.

Ich war Spediteur. Drei Märklin-Fernlaster mit weißer Rautenleiste an der Ladefläche und aufsetzbarer Leinenplane. Sie rückwärts in den Hof zu lotsen und auf den Millimeter genau nebeneinanderstellen. Reifenspuren hinterlassen … Krubbe, Spediteur. – Ich hätte fünf von den Dingern haben mögen oder zehn. Den Kopf auf die Tischplatte legen, dran entlangkucken, Kühler an Kühler.

ENDE DER LESEPROBE

Der Roman erschien erstmals 1971Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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1. Auflage 2016

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Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: © ullstein bild - Friedrich Seidenstücker

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-06065-7V003

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