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Ein schicksalhafter Tag wirft Savannahs Leben vollkommen aus der Bahn. Die einst sorglose, siebzehnjährige junge Frau ist nur noch ein Schatten ihres Selbst. Gefangen in einem Strudel aus Schmerz und Verzweiflung, versucht sie ihre Qualen im Alkohol und mit Drogen zu ertränken. Währenddessen beginnen ihre Freunde und Familie an ihrem Verstand zu zweifeln. Die Situation eskaliert, und Savannah überschreitet eine Grenze, von der es scheinbar kein Zurück mehr gibt. Ihr bisheriges Leben droht endgültig zu zerbrechen. Nun steht sie vor der alles entscheidenden Frage: Wird sie die Kontrolle zurückerlangen oder in den Abgrund stürzen?
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Seitenzahl: 360
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Copyright © 2024 Nicole Rogowski
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Stell dir vor, du wüsstest von Anfang an, wie alles endet - wie eine Liebe, die jede Vorstellung übertrifft, dich erst in ungeahnte Höhe trägt und dich dann im Schmerz des Verlustes zerbrechen lässt.
Würdest du trotzdem alles riskieren, um diese Höhe noch einmal zu spüren?
„Ja genau, sie sind vor kurzem in das Nachbarhauseingezogen. Eine sehr nette Familie. Er ist ein attraktiver, erfolgreicher Geschäftsmann. Mein William wird sich sicher sehr gut mit ihm verstehen. Und seine Frau? Auf den ersten Blick erscheint sie sehr sympathisch und gepflegt. Stell dir vor, sie haben nicht nur einen Sohn in etwa dem Alter der Zwillinge, sondern auch eine Tochter, genauso alt wie unsere süße Savannah! Du wirst sie später alle beim Barbecue kennenlernen. Mhm. Aha. Mhm. Nein nein, du brauchst nichts mitbringen, wir haben einen Caterer bestellt. Ja wir sehen uns später. Bis dann, Liebes.“
Ich saß still auf der Treppe und beobachtete meine Mutter, Eleanor Sinclair, dabei, wie sie in der Eingangshalle telefonierte und ihren Perfektionismus in die Tat umsetzte. Sie war in den letzten Zügen der Vorbereitungen für das jährliche Barbecue, welches sie ausrichtete, um den Frühling in Miami gebührend einzuläuten. Es war faszinierend, jeden ihrer geschäftigen Schritte zu verfolgen, während das Anwesen um mich herum voller Energie war. Aber das Getümmel wurde mir irgendwann doch zu viel. Ich brauchte eine Auszeit, einen Ort, an dem ich mich verstecken konnte. Schnell beschloss ich, in den Garten zu flüchten und mich in meinem geliebten Baumhaus zu verkriechen. Von dort konnte ich aus sicherer Entfernung die neuen Nachbarn und deren Kinder beobachten, ohne gesehen zu werden.
Nach und nach trafen die Gäste ein. Unsere Terrasse füllte sich allmählich und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die neu zugezogene Familie wurde herzlich willkommen geheißen und ich war neugierig darauf, ihre Tochter Ava kennenzulernen. Ich war selbst erst sechs Jahre alt und sehnte mich nach neuen Freunden und aufregenden Abenteuern. Eng an den Rock ihrer Mutter geschmiegt, schien auch sie die Aufregung des Tages zu spüren und beobachtete vorsichtig die fröhliche Gesellschaft.
Kaum hatte ich den neuen Nachbarsjungen entdeckt, Avas Bruder, lief er bereits mit meinen beiden älteren Brüdern zum Spielen davon. Da er anscheinend im gleichen Alter wie die Zwillinge war, schätzte ich ihn auf etwa acht Jahre.
In der Zwischenzeit schien meine Mutter nach mir zu suchen. Ich beobachtete sie während sie in ein Gespräch mit unserem langjährigen Butler Alfred vertieft war und ihre hastigen Blicke das Gelände absuchten. Alfred hingegen, strahlte Ruhe aus und versuchte meine Mutter mit einer beruhigenden Handgeste zu unterstützen. Er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich mich im Baumhaus versteckte. Mit einer respektvollen Verbeugung beendete er das Gespräch und machte sich auf den Weg. Ich entschied mich, dem liebenswürdigen Alfred entgegenzukommen. Er sollte nicht wegen mir den weiten Weg auf sich nehmen, insbesondere während der laufenden Gartenparty.
Als ich unten angekommen war, ertönte plötzlich ein leises „Hey“ hinter mir. Ich zuckte zusammen und drehte mich langsam um. Vor mir stand der Junge aus der neu zugezogenen Familie.
„Hallo“, erwiderte ich, sehr bemüht, meine Aufregung vor ihm zu verbergen.
„Du musst Savannah sein. Deine Brüder sind wirklich cool“, bemerkte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Etwas überrascht über seine freundliche Bemerkung entgegnete ich, um das Missverständnis aufzuklären: „Es geht so. Sie nerven mich die meiste Zeit.“ Dabei drehte ich eine Locke um meinen Finger, was ich oft tat, wenn ich mich in einer mir unangenehmen Situation wiederfand. Gleichzeitig war ich erleichtert, dass ich bereits das Kleid trug, das meine Mutter für mich bereitgelegt hatte.
„Ich werde dafür sorgen, dass sie dich in Zukunft nicht mehr ärgern“, versicherte er mir.
Ich merkte, dass meine Wangen glühten. Eine kurze Pause entstand, da ich unsicher war, wie ich auf seine Aussage reagieren sollte – eine Unsicherheit, die er erkannt haben musste, denn er übernahm schnell wieder das Wort.
„Du hast übrigens ein echt cooles Baumhaus. Darf ich auch einmal hoch?“
Ich war skeptisch. „Hmm, ich kenne dich doch gar nicht. Da dürfen nur meine Freunde mit hoch.“
Er lächelte mich an. „Dann lass uns doch Freunde werden.“
Ich erwiderte sein Lächeln. „Wie heißt du eigentlich?“
Er reichte mir seine Hand. „Mein Name ist Jacob.“
Beep beep beep. Der schrille Ton des Weckers durchschnitt die morgendliche Stille. Zeitgleich öffneten sich langsam die elektrischen Jalousien und enthüllten mein in Rosa und Beige gehaltenes Zimmer. Die bodentiefen Fenster waren mit kunstvoll gestalteten Vorhängen aus hauchzartem Organza und rosafarbenem Samt geschmückt. Sie ließen das Morgenlicht sanft in den Raum dringen. Der Wecker ertönte erneut – beep beep beep – und widersetzte sich hartnäckig meinen Versuchen in einen tiefen Schlummer zurückzufallen.
Im Zentrum des Raumes thronte mein großes Himmelbett, das mit seidigen, weißen Bettdecken und Kissen geschmückt war. Ein atemberaubender Kronleuchter hing wie ein Schmuckstück in der Mitte von der Decke und der Boden war mit einem tiefen, flauschigen Teppich bedeckt. Die Klimaanlage verströmte einen Raumduft, der an kräftigen, exotischen Schwarztee erinnerte und eine Mischung aus Zitrus- und Blumennoten enthielt, wie man ihn sonst nur in exklusiven Hotels vorfand. Das ganze Zimmer, die Stoffe und selbst der Duft waren bis ins kleinste Detail durchdacht, um eine harmonische und geborgene Atmosphäre zu schaffen. Doch selbst die scheinbare Oase der Ruhe konnte nichts gegen das quälende Klingeln des Weckers ausrichten, das erneut unbarmherzig durch den Raum drang und die friedliche Stille abrupt durchbrach.
„Gib endlich Ruhe, du verdammtes Ding!“, entfuhr es mir genervt, als ich endlich unter der übergroßen Decke zum Vorschein kam, meine Augen noch immer hinter einer Schlafmaske verborgen. Ich tastete nach meinem Handy, um den Wecker endlich zum Schweigen zu bringen. Ungeduldig nahm ich schließlich seufzend die Maske ab und fand das Smartphone in Reichweite. Ich drückte mehrmals auf den Stoppknopf, bis endlich Stille in den Raum zurückkehrte. Erschöpft ließ ich mich in die Kissen zurücksinken. Ein Blick auf das Display verriet mir, dass es bereits nach 8 Uhr morgens war und damit an der Zeit aufzustehen.
Noch etwas verschlafen machte ich mich auf den Weg in mein eigenes Badezimmer, das über mein Ankleidezimmer erreichbar war. Hier lag derselbe erfrischende Duft in der Luft, der auch das Schlafzimmer durchströmte. Die Wände und der Boden des Badezimmers schimmerten in sanften Beigetönen, verkleidet mit glänzendem Marmor. Eine große freistehende Wanne bildete das Herzstück des Raumes, und eine Regendusche, die von dicken Glaswänden umgeben war.
Ich verharrte einen Moment vor dem marmorierten Waschtisch und betrachtete mein eigenes Spiegelbild. Die gnadenlosen, kaltweißen Glühbirnen, die den Spiegel umrahmten, enthüllten mein erschöpftes Gesicht und jede noch so kleine Spur der vergangenen Nacht. Ich versuchte mich an den Vorabend zu erinnern, doch die Bilder blieben verschwommen und verwirrend. Ich kam zu dem Entschluss, dass nur eine erfrischende Dusche dazu in der Lage war, mich wieder unter die Lebenden zu bringen. Also band ich meine langen, blonden Haare zu einem hohen Dutt und trat schnell unter den Wasserstrahl. Das laute Prasseln des Wassers auf meiner nackten Haut wirkte wie ein Befreiungsritual, das für einen kostbaren Moment all meine Sorgen und Ängste wegspülte. Als ich meine Augen schloss und sanft meinen Nacken massierte, spürte ich, wie meine verspannten Muskeln sich allmählich zu lockern begannen. Die warmen Tropfen schmiegten sich an mich und erlaubten mir für einen flüchtigen Augenblick, meine Gedanken frei schweifen zu lassen.
Ich sehnte mich sehnsüchtig an einen anderen Ort, in eine Zuflucht, in der Schmerz und Trauer keine Macht hatten. Doch welcher Ort könnte das sein? Ich wusste es selbst nicht. Kein Fleck auf dieser Welt schien fähig zu sein, mich vergessen zu lassen, was nicht mehr zu ändern war. Nirgendwo könnte ich die Geschehnisse einfach ausradieren. Mit unermüdlicher Hartnäckigkeit klammerte sich das Gewicht meiner Vergangenheit an meine Seele und begleitete mich wie ein Schatten auf all meinen Wegen. Gedankenverloren verweilte ich einen Augenblick lang unter dem Wasserstrahl, während er unablässig auf meine Haut niederprasselte, als wollte er mich aus der Realität reißen und in eine ganz andere Dimension katapultieren. 13.000. Diese Zahl geisterte seit Tagen in meinem Kopf umher.
Ein vibrierendes Summen, das vom Waschtisch aus erklang, durchbrach meine Gedanken, also stieg ich hastig aus der Dusche. Es war eine Nachricht von meiner Freundin Alicia, die sich um einige Minuten verspäten würde, was mir an diesem Morgen gerade recht kam.
Im Nebel des Badezimmers betrachtete ich mich erneut. Vorsichtig wischte ich mit einem Handtuch über den beschlagenen Spiegel, bis mein eigenes Spiegelbild wieder klar wurde. Mein sonnengeküsstes, blondes Haar umrahmte mein Gesicht und ich konnte nicht umhin, über meine tiefe Verbundenheit mit meiner Heimatstadt Miami nachzudenken. Das Licht, das durch meine Strähnen fiel, schien die Energie der Stadt selbst zu reflektieren. Man hatte mir einmal gesagt, dass meine türkisfarbenen Augen eine besondere Anziehungskraft besäßen, die drohte, jeden zu verschlingen, der es wagte, länger als einen flüchtigen Moment hineinzublicken. Doch ob dies tatsächlich der Fall war, blieb für mich fraglich. Das schien mir dann zu weit hergeholt. Für mein Aussehen bekam ich ebenfalls oft Komplimente, aber auch hier zweifelte ich an mir selbst. Im Grunde glaubte ich, dass letztendlich meine Ausstrahlung das war, was mich ausmachte. Ich war mir der Wirkung die ich auf andere hatte, durchaus bewusst und nutzte sie auch gerne um an meine Ziele zu kommen. Mit jeder Bewegung versuchte ich daher Selbstbewusstsein und Entschlossenheit auszustrahlen, meine Gesten waren präzise und zielgerichtet. Ein Blick, ein Lächeln genügten manchmal, um mir die Welt zu meinen Füßen zu legen – ein Gedanke, der mich innerlich zum Schmunzeln brachte.
Doch hinter der Fassade meines Selbstbewusstseins verbarg ich ein Geheimnis: meine Sommersprossen, kleine, zerstreute Punkte auf meiner Porzellanhaut, die meinem Gesicht eine beinahe kindliche Unschuld verliehen. Während manche Menschen Sommersprossen als Zeichen von Charme und Einzigartigkeit verehrten und sich sogar selbst welche malten, waren diese zarten Male auf meiner Haut ein dunkler Spiegel vergangener Zeiten. Jede einzelne Sommersprosse schien mir eine traurige Geschichte zu erzählen, voll von schmerzvollen Erinnerungen, die ich am liebsten in den Tiefen meines Gedächtnisses begraben wollte. An diesem Morgen nahm ich erneut den Pinsel und das Make-up zur Hand, um meine Sommersprossen mit einer dicken Schicht zu bedecken und mich hinter dieser Maske zu verstecken. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass dieses Handeln nichts weiter als eine düstere Verleugnung meiner wahren Identität war. Doch ich zog diese Verleugnung und die Illusion einer heilen Welt den traurigen Erinnerungen, mit denen ich bei jedem Blick in den Spiegel konfrontiert wurde, vor.
Gerichtet verließ ich mein Badezimmer und begab mich direkt in den begehbaren Kleiderschrank. Ich lief an der angesagten Kleidung, den teuren Schuhen und Designer-Taschen, die sich hier reihten, vorbei, da sie längst ihre Bedeutung für mich verloren hatten. Mir war es weitgehend gleichgültig, was für Kleidung ich trug. Ich könnte ohne Probleme den ganzen Tag in einfachen Leggings und einem bequemen Hoodie verbringen, ohne dass es für mich einen großen Unterschied machen würde. Die knappen Outfits, in die ich mich seit einiger Zeit warf, gehörten nur zu einem meiner Spielchen, um meine Mutter zu ärgern – die einzige Freude, die mir in diesem Haus geblieben war. Doch merkwürdigerweise schien dieser Plan seit kurzem nicht mehr zu funktionieren. Sie war wohl dahintergekommen, dass ich die provokante Kleidung bewusst wählte, um sie herauszufordern. In den letzten Wochen musste sie gelernt haben, mit meiner Dreistigkeit umzugehen und es zu umgehen, mir die Macht über die Situationen zu geben.
Genervt griff ich nach meiner Schuluniform, bestehend aus einem karierten Rock, den ich hatte kürzen lassen, einem Hemd und einer Krawatte in den leuchtenden Farben des Schulsymbols – einem strahlenden Blau und Weiß – sowie nach meiner Louis Vuitton Neverfull, die mir als Schultasche diente. Mit meinen viel zu hohen Sandalen, die jeden meiner Schritte durch ein verführerisches Klicken begleiteten, schritt ich entschlossen aus meinem Zimmer und machte mich auf den Weg zum Frühstück.
Das Anwesen meiner Familie bestand aus einem prachtvollen Herrenhaus, das sich am hinteren Ende von Star Island majestätisch erhob. Mein Zimmer befand sich am Ende eines langen Flurs, der in den sanften Farben von Perlmuttweiß und zartem Meeresblau gehalten war, genau wie der Rest des Hauses im eleganten Landhausstil. Die Farben verschmolzen harmonisch mit der tropischen Schönheit und dem türkisblauen Wasser, welches das Grundstück umgab.
Ich schlenderte an den verlassenen Zimmern meiner großen Brüder vorbei und folgte dem Flur, bis ich schließlich die Galerie erreichte, von der aus einer spektakuläre, im Hollywood-Stil gestaltete Doppeltreppe in die Eingangshalle führte. Der Blick nach oben wurde von einem atemberaubenden, modernen Kronleuchter gefangen, der von der hohen Decke bis zur Mitte der prunkvollen Halle reichte. Mit seinem funkelnden Licht verlieh er dem Raum eine magische Atmosphäre, ließ die aufwändigen Verzierungen an den Wänden erstrahlen und enthüllte ihre detaillierten Schnitzereien. Jeden Schritt, den ich setzte, wurde von einem leisen Echo begleitet, das die Größe des Eingangsbereichs widerspiegelte und mich selbst heute noch erstaunen ließ.
„Guten Morgen, Miss Savannah“, begrüßte Alfred mich am Fuße der Treppe mit seiner warmen Stimme.
Ich erwiderte den Gruß und schenkte ihm ein Lächeln.
„Haben Sie gut geschlafen?“, fragte er höflich.
Seit ich denken konnte, begleitete mich der treue Butler unserer Familie in das Frühstückszimmer.
„Ich habe geschlafen wie ein Baby, mein lieber Alfred“, entgegnete ich, folgte ihm und beobachtete jede seiner Bewegungen.
Alfred hätte direkt einer Szene aus einem Jane-Austen-Roman entspringen können. Mit seinem streng zurückgekämmten grauen Haar und seinem makellosen schwarzen Anzug strahlte er eine Aura von Eleganz und Professionalität aus. Seine Schritte waren leicht und anmutig, als würde er über den Boden schweben. Ich war jedes Mal fasziniert davon, dass er sich wie ein Schatten bewegte, lautlos und effizient. Alfreds Augen waren warm und wachsam zugleich. Seine tiefe, sanfte Stimme hatte einen Hauch von britischem Akzent, der seinen Worten eine zusätzliche Eleganz verlieh. Ich hörte ihm gerne zu, wenn er Geschichten von vergangenen Zeiten erzählte, von einem Leben, das längst in Vergessenheit geraten schien. Hinter seiner stoischen Fassade verbarg Alfred eine Wärme, die unsere Familie wie ein schützender Mantel umgab. Er war nicht nur ein Butler, sondern ein Hüter der traditionsreichen Werte und Geheimnisse, die die Sinclairs formten. Seine Loyalität war unerschütterlich, immer bereit, uns zu dienen und für unser Wohlergehen zu sorgen. Alfreds Dienste hatten bereits meine Großeltern väterlicherseits begleitet und er kannte daher jedes kleinste Familiengeheimnis. In meinen Augen, war Alfred nicht nur ein Bediensteter, sondern ein Teil der Familie.
An dem großen Esstisch bot sich mir dasselbe Bild, welches sich jeden Morgen wiederholte: feines Porzellangeschirr in einem schlichten Weiß mit hauchdünnem Goldrand, frisch gepresster Orangensaft in einer gläsernen Karaffe und eine Auswahl an feinsten Teesorten in einer hübschen Teedose. Der Mittelpunkt der Tafel wurde von einer reichhaltigen Obstplatte mit saftigen Beeren und exotischen Früchten geziert. Ofenfrisches Gebäck lockte mit verschiedenen Aufstrichen und feinster Käse sowie luftgetrockneter Schinken rundeten das Frühstück ab.
Am Kopfende des langen Esstischs saß mein Vater, William Sinclair, vertieft in seine eigene Welt. Er hielt beiläufig eine Gabel in der Hand, mit der er halbherzig in seinen Rühreiern herumstocherte. Seine Aufmerksamkeit galt etwas anderem. Seine freie Hand ruhte auf dem Laptop, während er gebannt die Aktienkurse beobachtete, allzeit bereit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit einzugreifen. Sein Blick verriet, dass er gerade eine gewagte Position am Markt eröffnet hatte und sich in einem aufregenden Trade befand. Charisma und unvergleichliche Eleganz strahlten von ihm aus und füllten jeden Raum, den er betrat. Zweifellos hatte ich meine Ausstrahlung von meinem Vater geerbt und war sehrt stolz darauf. Seine grauen, dichten Haare waren sorgfältig nach hinten frisiert und betonten seine markanten Gesichtszüge. Der milde Winter in Miami erlaubte ihm, anstelle eines Leinenensembles einen tiefblauen, maßgeschneiderten italienischen Anzug zu tragen, der seine blauen Augen zum Leuchten brachte. Ein schneeweißes Hemd und ein zartes, himmelblaues Einstecktuch vervollständigten den Look und verliehen ihm den letzten Schliff.
Zu Vaters Linken saß mein kleiner Bruder Matthew artig wie immer und genoss seinen Bagel.
Matthews Unschuld strahlte förmlich aus jeder Pore. Auch er war mit Sommersprossen übersät und ich hoffte inständig, dass sie ihm mehr Glück bringen würden als mir. Seine feinen Gesichtszüge und das goldblonde Haar verliehen ihm einen anmutigen Charme, der ihn älter wirken ließ. Es schien fast so, als wäre er einem anderen Zeitalter entsprungen, einer Zeit, in der Ritterlichkeit und Galanterie noch von Bedeutung waren. Doch obwohl Matthew eine gewisse Eleganz ausstrahlte, konnte man nicht übersehen, dass er noch ein Kind war. Seine Augen funkelten vor kindlicher Neugier und Abenteuerlust und ich war immer wieder erstaunt von seinen außergewöhnlichen Begabungen. Er beherrschte bereits die Violine und beeindruckte als Kapitän seines Fußballteams.
Als ich den Blick meiner Mutter zuwandte, die rechts von meinem Vater saß, konnte ich mir ein genervtes Augenrollen nicht verkneifen. Eleanor trug ihr blond gefärbtes Haar wieder einmal perfekt gestylt und frisiert, fast so, als wäre sie eine leblose Marionette. Doch hinter der äußerlichen Perfektion lauerte ihre typische Anspannung, die man nur bemerkte, wenn man sie sehr gut kannte. Sie hatte die Schwangerschaft mit Matthew zum Unfall erklärt, doch ich wusste genau, dass sie sich damals verloren gefühlt hatte, nachdem meine anderen Brüder und ich aus dem Gröbsten herausgewachsen waren und Selbstständigkeit erlangten. Obwohl Eleanor seit über zwanzig Jahren mit meinem Vater verheiratet war, sah sie sich immer wieder aufs Neue dem Druck ausgesetzt, sich zu beweisen, da sie nicht aus einer wohlhabenden Familie stammte. Trotz der offensichtlichen Liebe für seine Frau konnte ich erkennen, welchen Anstrengungen meine Mutter unterworfen war, um auch nach all den Jahren noch die perfekte Ehefrau in diesen gesellschaftlichen Kreisen zu sein. Eleanor war penibel darauf bedacht, ihre Wortwahl, ihre Tischmanieren und ihr Auftreten zu kontrollieren, um den Erwartungen und Ansprüchen gerecht zu werden, die über sie erhoben wurden. Diese Tatsache erfüllte mich mit noch größerem Zorn gegenüber ihr. Sie schien das Ansehen nach Außen hin über alles zu stellen und dafür würde sie ohne zu zögern alles riskieren, um das Bild der perfekten Familie aufrechtzuerhalten.
Angewidert setzte ich mich ans andere Ende des Tisches, direkt gegenüber von meinem Vater, so weit wie möglich von meiner Mutter entfernt. Sofort eilte Alfred herbei, um mein Gedeck vor mir zu platzieren.
„Guten Morgen Savannah.“ Mutters Worte verschwanden in der Stille. Ich bemerkte, wie sie sich zu einem tapferen Lächeln zwang, um ihre Enttäuschung über meine Ignoranz zu verbergen. Sie hatte also beschlossen, erneut nicht darauf einzugehen und ihren Ärger hinunterzuschlucken. Meine Mutter war eine Meisterin im Verbergen von Emotionen, ein Talent, das sie im Laufe der Jahre perfektioniert hatte. Doch ich war hinter die Fassade gekommen, was mich innerlich jubeln ließ.
„Guten Morgen Prinzessin. Hast du gut geschlafen?“, fragte mich mein Vater, ohne den Blick von seinem Laptop abzuwenden.
„Guten Morgen Daddy. Ja, ich habe sehr gut geschlafen“, antwortete ich ihm absichtlich übertrieben freundlich, um Eleanor einen Stich ins Herz zu versetzen. Doch wie schon zuvor, verbarg sie ihre verletzten Gefühle hinter ihrer kühlen Fassade. Sie zwang sich zu einem freundlichen Gesichtsausdruck, doch ich wusste, dass die Emotionen in ihrem Inneren toben mussten.
„Das freut mich zu hören mein Schatz, das habe ich auch. Der Morgen war aber noch viel besser! Unser Hedgefonds ist erfolgreicher denn je“, verkündete Vater stolz.
Ich erwiderte mit einem künstlichen Lächeln: „Solange du glücklich bist Daddy, bin ich es auch.“ Ein weiterer rebellischer Akt, der meine tiefe Verachtung für meine Mutter auf demonstrative Weise zum Ausdruck bringen sollte. Ich hoffte, dass sie verstand, dass ich sie absichtlich ignorierte und sie nicht in meinem Leben haben wollte.
Plötzlich sprang Matthew auf und eilte zu mir herüber. „Savi, kommst du zu meinem Fußballspiel am Samstag?“ Seine Stimme klang lieblich und sanft, geprägt von kindlicher Unschuld. Jedes seiner Worte war durchdrungen von purer Vorfreude. Matthew war voller Euphorie wegen seines ersten offiziellen Spiels als Mannschaftskapitän und seine großen Augen verrieten wie sehr er sich wünschte, dass ich dabei sein würde.
Ich lächelte, wuschelte ihm durch das Haar und antwortete: „Natürlich mein Süßer, ich werde dich von der Tribüne aus anfeuern.“
Matthews Augen leuchteten nun noch intensiver und er umarmte mich fest. „Danke Savi, du bist die Beste“, flüsterte er voller Dankbarkeit und verstärkte seine Umarmung. Ich spürte die in Vergessenheit geratene Wärme in meinem Herzen und erwiderte die Geste meines kleinen Bruders voller Zuneigung.
Seit einiger Zeit hatte ich mich von den gemeinsamen Familienunternehmungen distanziert und nun ermahnte ich mich, meine Mutter keines Blickes zu würdigen. Ich hatte Angst davor, ehrliche Freude in ihrem Gesicht zu erblicken und wollte diesen kostbaren Augenblick mit Matthew dadurch nicht zerstören. Ich wusste, dass diese seltenen Momente der Verbundenheit und Harmonie für Eleanor von unschätzbarem Wert waren.
Als einzige Tochter von vier Kindern wurde ich von William, meinem Vater, wie eine Prinzessin behandelt. Obwohl ich mittlerweile ein gutes Verhältnis zu meinen älteren Brüdern Brian und Ethan aufgebaut hatte, empfand ich Erleichterung darüber, dass die Zwillinge nun am MIT studierten und ich ihnen nicht auch noch jeden Morgen begegnen musste. Obwohl ich sie liebte, erinnerten sie mich zu sehr an vergangene Zeiten. Matthew verbrachte den Großteil des Tages in der Vorschule und nahm an verschiedenen Aktivitäten wie Tennis, Fußball und Geigenunterricht teil. Daher bekam ich ihn nur selten zu Gesicht. Doch wenn ich ihn sah, genoss ich es, Zeit mit dem süßen Jungen zu verbringen, der eine alte Seele in sich trug. Seine unschuldigen Augen und sein kindliches Lachen ließen mich manchmal vergessen, wie kompliziert mein eigenes Leben geworden war.
Ich selbst spielte leidenschaftlich gerne Klavier und besitze eine wunderbare Singstimme. Früher trat ich bei Familienfeiern und im Chor auf, wodurch das Haus immer mit Freude und Harmonie erfüllt wurde. Doch seit einiger Zeit ging ich nur noch an dem weißen Steinway & Sons-Flügel vorbei, den ich zu meinem achten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ohne mich hinzusetzen und zu spielen. Die vertrauten Tasten, die einst meine Zuflucht waren, fühlten sich nun wie eine Last an. Seit dem Vorfall, der mein Leben verändert hatte, fehlten mir die Kraft und der Mut, den Flügel wieder erklingen zu lassen. Jedes Mal, wenn ich es seither versuchte, wurden meine Finger von einer unsichtbaren Barriere zurückgehalten.
Lauter Beifall und jubelnde Anerkennung erfüllten das luxuriöse Chalet hoch oben in den majestätischen Bergen von Aspen. Es war Heiligabend und ich hatte gerade ein privates Konzert für meine geliebten Menschen gegeben. Draußen lag Neuschnee, der das Land in eine verzauberte Winterlandschaft hüllte und die Berge im Mondlicht funkeln ließ. Als ich vom Flügel aufsah, färbten sich meine Wangen tiefrot. In den Blicken meiner Familie und engsten Freunde las ich Stolz und Bewunderung. Doch bei all den Gesichtern blieb mein Blick an einem ganz bestimmten haften. Jeden Raum durchstreifte ich mit meinen Augen immer nur auf der Suche nach den seinen. Er strahlte stolz und flüsterte: „Ich liebe dich.“
Ein Hupen durchbrach die Stille und riss mich aus meinen Gedanken.
„Sie werden abgeholt, Miss“, rief Alfred und eilte zur Eingangshalle, um mir die schwere Tür aufzuhalten. Ohne auch nur einen Bissen gegessen zu haben, stand ich vom Tisch auf, ging provokant an meiner Mutter vorbei und gab meinem Vater einen liebevollen Kuss auf die Stirn. „Ich hab dich lieb Dad“, sagte ich laut und deutlich.
William erwiderte meine Worte: „Ich hab dich auch lieb, Kleines. Pass auf dich auf!“
Siegessicher bewegte ich mich in Richtung Ausgang und würdigte meine Mutter keines Blickes.
„Uuuuhhh, sexy! Deine Mum ist bestimmt ausgerastet!“, rief Alicia Morgan mir von ihrem schwarzen Mercedes Cabrio aus entgegen, das sie zum 18. Geburtstag bekommen hatte. Sie saß am Steuer und jubelte mir zu.
Auf den hinteren Sitzen fand ich meine zwei anderen Freundinnen Ava und Lucy. Auch sie begrüßten mich mit Begeisterung. „Du siehst echt verdammt heiß aus!“, stimmte Lucy ein.
Jeden Morgen fuhren wir gemeinsam zur Schule, da wir alle in der Nachbarschaft von Star Island wohnten. Früher waren wir von einem Chauffeur gefahren worden, aber mittlerweile hatte Alicia das Steuer übernommen.
Ava war meine älteste Freundin. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder in die Nachbarschaft gezogen war. Eleanor hatte damals eine Gartenparty veranstaltet und die Familie Coleman herzlich auf Star Island in Miami willkommen geheißen. Ava verkörperte die Anmut und Sanftheit einer schüchternen jungen Frau. Ihre Erscheinung war wie ein kunstvolles Gemälde, geprägt von sanft geschwungenen Gesichtszügen und großen schüchternen Augen. Ihr rotblondes Haar schimmerte golden im Sonnenlicht. Ihre Worte und Gesten wählte sie immer mit größtem Bedacht, was ich sehr bewunderte. Oft wünschte ich mir, ich könnte meine Emotionen genauso unter Kontrolle halten wie sie. In Avas Sensibilität und Schüchternheit spiegelte sich ihre ganze Persönlichkeit wider, was dazu führte, dass sowohl ich als auch andere den unerschütterlichen Wunsch verspürten, sie zu beschützen.
Kurz nach den Colemans zog auch Alicia mit ihrer Familie in ein Anwesen nur wenige Häuser weiter. Schließlich stieß Lucy zusammen mit ihrem Vater dazu, einem hoch angesehenen Chefarzt am privaten Mount Sinai Krankenhaus. Die Verbindung unserer vier Familien reichte weit über ein Jahrzehnt zurück und wir verbrachten so gut wie alle Feiertage gemeinsam. Eine langjährige Tradition bestand darin, Weihnachten und Silvester in Aspen zu verbringen und dabei gleichzeitig meinen und Avas Geburtstag zu feiern, die nur zwei Tage auseinander lagen und zwischen den Feiertagen angesiedelt waren. Diese Zusammenkunft war jedes Jahr ein Höhepunkt voller unvergesslicher Erinnerungen und magischer Momente. Doch dieses Jahr war alles anders. Der kommende Sonntag sollte der Beginn der Reise sein, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese Tradition nach allem, was passiert war, fortgesetzt werden sollte. Ein Schatten lag über unseren Familien und ich spürte eine düstere Leere in unseren Herzen. Dennoch wagte es bisher niemand, den Elefanten im Raum anzusprechen.
„Dankeschön, ihr Süßen, aber meine Sonnenbrille bleibt heute aufgesetzt, meine Augenringe reichen bis nach Europa!“, scherzte ich, während ich meine Augen hinter der dunklen Brille versteckte.
Doch als ich einen kurzen Blick nach hinten warf, erkannte ich, dass Ava etwas zu stören schien. Ihr Gesicht war von plötzlicher Wut gezeichnet, was sehr untypisch für sie war, als sie mich mit scharfer Stimme anfuhr: „Warst du gestern etwa schon wieder mit diesem Nick unterwegs? Hast du dich deswegen nicht mehr bei uns gemeldet?“
Ich zuckte bei Avas Direktheit kurz zusammen.
„Ach komm, lass sie doch. Nick ist total süß!“, erklärte Alicia solidarisch. Doch ihre Unterstützung wurde von Lucy mit harschen Worten zunichte gemacht.
„Ja, total süß und unglaublich pleite! Er ist ein verdammter Drogendealer. Vergiss den Loser“, rief sie und ließ keinen Raum für Diskussionen. Für sie war ein Mann, der nicht aus einer wohlhabenden Familie stammte, keine Option. Das sollte nicht bedeuten, dass dies eine Option für mich wäre, aber mir sollte keiner vorschreiben, wer oder was gut für mich wäre.
„Aber darum geht es doch gar nicht“, entgegnete Alicia entspannt. „Ja, er raucht und verkauft Gras. Und ja, er ist ‘nur‘ ein Automechaniker. Aber das hat doch nichts mit seiner Persönlichkeit zu tun“, entgegnete sie und malte Anführungszeichen in die Luft.
Ava erwiderte immer wütender auf Nick: „Das sind keine Perspektiven für eine gesicherte Zukunft!“
Alicia versuchte sichtlich die angespannte Situation aufzulockern, indem sie Ava mit einer übertrieben tiefen Stimme nachahmte: „Das sind keine Perspektiven für eine gesicherte Zukunft!“
Ich lauschte dem Schlagabtausch meiner Freundinnen nur und hoffte, dass Ava sich nun endlich bald beruhigen würde. Jedoch spürte ich immer noch ihre Anspannung und beschloss, die Situation klarzustellen, da mir das alles zu lächerlich wurde. „Mädels, ich stehe nicht auf Nick. Zwischen uns läuft nichts, damit das klar ist“, begann ich, „sicher, ich rauche ab und zu einen von ihm, aber was ist schon dabei? Schließlich bekommt er Geld für den Stoff und schenkt ihn mir nicht. Außerdem habe ich ihn gestern eben nicht gesehen! Ich war den ganzen Abend allein.“ Ich wählte meine Worte sorgfältig, in der Hoffnung, die Spannung zwischen mir und Ava zu lösen. Ich schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln.
Tatsächlich entspannte sich Avas Gesichtsausdruck ein wenig, bis Alicia erneut Salz in die Wunde streute. „Ja, zwischen euch läuft noch nichts! Aber hey, ist doch okay, so einen heißen Automechaniker würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen.“
Die Erleichterung wich aus Avas Gesicht und Anspannung nahm wieder überhand. Das Gerede um Nick ging mir langsam echt auf die Nerven, also versuchte ich das Thema zu wechseln, und lenkte mit einem gezwungenen Lachen von der Situation ab. „Du würdest nicht mal Kenny Richards von der Bettkante stoßen, Alicia!“, entgegnete ich insgeheim besorgt über die fraglichen Entscheidungen meiner Freundin in Sachen Männer.
„So schlimm ist Kenny nun auch wieder nicht“, verteidigte sie den Jungen halbherzig. Es war offensichtlich, dass sie kaum Anstrengungen unternahm, gegen mich anzukommen, denn das war nicht einfach. Außerdem, welchen Grund sollte sie haben, Kenny zu beschützen?
Nun sah ich meine Freundin skeptisch an. „Wenn du auf pickelige Kleinkinder stehst, passt ihr super zusammen“, konterte ich provokativ und etwas aggressiver. Alicia sollte klar sein, dass ich absolut nichts von Kenny hielt.
„Du bist echt gemein, Savi!“, erwiderte Alicia, doch sie flüsterte es eher, als dass sie es mir direkt sagte.
Ich sah sie verwirrt an. Diese kleine Aussage über Kenny aus Alicias Mund zu hören irritierte mich. Sollte ich mir Sorgen machen? Nach kurzem Abwägen entschloss ich, der Geschichte keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken.
Alicia war eine atemberaubende Schönheit und passte überhaupt nicht zu jemandem wie Kenny. Ich sah eher so jemanden wie Henry Cavill an ihrer Seite. Alicias Haut glich einem Cappuccino und hatte im Sonnenlicht einen goldenen Schimmer. Ihrer Mutter verdankte sie perfekt definierte Gesichtszüge mit großen, funkelnden Augen, die wie Edelsteine in ihrem Gesicht leuchteten. Ihre Eltern, angesehene Anwälte und Inhaber der renommierten Anwaltskanzlei Morgan&Morgan in Brickell, hatten nur wenig Zeit für ihre Kinder. Ihr Bruder Michael studierte an der Harvard University und war Teil der engen Clique meiner Brüder. Schon früh waren Alica und Michael von immer wechselnden Nannys betreut worden, während ihre Eltern im Trubel ihres beruflichen Erfolgs aufgingen. Alicia war von Natur aus charmant und warmherzig, aber durch die ständig wechselnden Betreuerinnen entwickelte sie eine Sehnsucht nach Zuneigung.
Plötzlich schien mir die Idee, dass sie sich auf Kenny einließ, gar nicht mehr so abwegig zu sein. Ich schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken endgültig abzuwehren und kam zu dem Entschluss, dass dies doch zu weit hergeholt wäre. Ich selbst hatte nie das Glück einer Nanny gehabt. Für meine Mutter war es von großer Bedeutung gewesen, eine enge Bindung zu mir aufzubauen und uns Kinder selbst aufzuziehen. Heute fragte ich mich immer wieder, was sie nun davon hatte.
Als wir in der Schule ankamen, gingen wir wie jeden Morgen zu allererst in das Café nebenan, um uns vor dem Unterricht unseren heißgeliebten Kaffee zu holen. Die Rosewood Hill High School in Coral Gables, Miami, war nicht nur renommiert, sie galt auch als die angesehenste High School in ganz Florida.
Während ich meinen Coffee-to-go Becher in der Hand hielt, den belebten Flur entlangging und meinen Platz im Klassenzimmer einnahm, versank ich in Gedanken und fragte mich, wie es meine idiotischen Brüder auf das MIT geschafft hatten, um Ingenieurswissenschaften zu studieren. Mir wurde wieder bewusst, dass wir uns, meine Mädels und ich, uns im letzten Jahr der High School befanden. Es war an der Zeit, sich für Colleges zu bewerben und eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Wenn es meine Brüder geschafft hatten, dann würde mir das wohl auch irgendwie gelingen. Doch diese Dinge fühlten sich nur so weit weg an. Ich fühlte mich wie in einer anderen Welt gefangen, in einer Endlosschleife und wusste nicht, wie ich da wieder herauskommen sollte. 13.000. Wieder schlich sich diese Zahl in meinen Kopf.
Plötzlich unterbrach eine scharfe Stimme meine Gedanken. „Miss Sinclair!“, rief Professorin McKeen energisch und richtete die schwarze Hornbrille auf ihrer Nase aus.
Ich schreckte auf und wandte meinen Blick schnell vom Fenster zur Lehrerin. „Ja?“, antwortete ich etwas unsicher.
„Wo sind Sie mit Ihren Gedanken? Nach dem Unterricht erwarte ich Sie zu einem Gespräch“, entgegnete die alte Professorin streng, während ein Raunen durch die Klasse ging.
„Ach haltet doch eure Klappe“, erwiderte ich giftig und nun wieder in meiner selbstbewussten Form. Ein sofortiges Schweigen trat in der Klasse ein.
Professorin McKeen warf mir daraufhin einen vernichtenden Blick zu, bevor sie den Unterricht fortsetzte. Den Rest der Stunde über versuchte ich krampfhaft, mir mein Desinteresse nicht anmerken zu lassen, und zählte die Sekunden bis zum Gong.
Als dieser schließlich erklang, ging ich direkt zu Ava, die auch in diesem Kurs war. „Wartet nicht auf mich, wir treffen uns später in der Cafeteria“, sagte ich eilig.
„Okay, ich sag es den anderen. Bis später“, antwortete Ava und verließ mit den anderen den Raum.
Als der Klassenraum leer war, wandte sich die Lehrerin einfühlsam an mich.
„Miss Sinclair, ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie kurz davor stehen, den Kurs nicht zu bestehen. Die Klausur am Donnerstag bietet Ihnen noch eine letzte Chance, einiges zu retten, aber Sie müssen sich wirklich anstrengen. Es ist Ihre alles entscheidende Möglichkeit, das Ruder herumzureißen.“
Ich versuchte, meine Lehrerin mit einer lässigen Haltung zu beruhigen. „Mrs. McKeen, ich werde das alles schon hinbekommen, machen Sie sich keine Sorgen.“ Doch meine Lehrerin ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Sie sah mich ernst an.
„Ich mache mir aber Sorgen! Die Weihnachtsferien stehen kurz bevor und seit den Sommerferien beteiligen Sie sich kaum am Unterricht! Sie schwänzen und haben schlechte Zensuren. Das ist nicht die Savannah, die ich kenne. Haben Sie sich wenigstens an der Juilliard beworben? Das war doch immer Ihr großer Traum.“
Ich antwortete ihr mit einem spöttischen Lächeln und verschränkten Armen: „Klar habe ich das.“
Doch Mrs. McKeen runzelte die Stirn. Ich sah ihr an, dass sie mir kein Wort glaubte und für das Bevorstehende ihren ganzen Mut zusammennehmen musste, denn sie nahm einen tiefen Atemzug. „Savannah, ich kenne die Intelligenz und das Talent zu gut, das in Ihnen steckt. Ich möchte Ihnen nur helfen“, begann sie abermals einfühlsam. „Ich weiß, dass Sie ein großes Potenzial haben, und dass das, was passiert ist, ein schwerer Schlag für Sie war, aber sie dürfen Ihre Zukunft nicht aufs Spiel setzen.“ Sie hielt einen Moment inne, holte erneut tief Luft und wählte ihre nächsten Worte sorgsam: „Er hätte das nicht gewollt.“
Die Worte meiner Lehrerin trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Fassungslos schnaubte ich auf, unfähig wie so oft, meine Wut zu kontrollieren. „Wie bitte? Woher wollen Sie wissen was er gewollt hätte? Was bilden Sie sich eigentlich ein?“, schrie ich, mit immer lauter und zittriger werdender Stimme. „Sie haben kein Recht, überhaupt irgendetwas über ihn zu sagen! Sie glauben, Sie wissen alles, doch Sie wissen gar nichts! Lassen Sie mich einfach in Frieden!“ Gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfend, drehte ich mich abrupt um und verließ das Klassenzimmer. Ich hörte sie noch meinen Namen rufen, was ich aber ignorierte.
Draußen angekommen suchte ich in meiner Tasche hektisch nach meinem Handy und wählte zielstrebig einen bestimmten Chat. Es gab nur eine Person, die mir momentan helfen konnte.
10:50 Ich: Was machst du?
10:51 Nick: Hey Prinzessin, bin am Arbeiten.
10:51 Ich: Kannst du zur Rosewood kommen?
10:52 Nick: Vermisst du mich etwa? ;)
10:52 Ich: Ha, ha. Natürlich. Ich brauche etwas. Treffpunkt in 15 Minuten hinter der Sporthalle.
10:53 Nick: Bis gleich ...
Immer wieder warf ich einen Blick auf die Uhr und fragte mich, wo Nick blieb. Meine Augen suchten ständig das Gelände ab, während ich unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Meine Ungeduld wuchs mit jeder Minute.
„Buh!“
Ich drehte mich schnell um und blickte in Nicks dunkelbraune Augen, die mich bis in die Tiefen meiner Seele durchdrangen und meine Knie weich werden ließen. Nun stand der sehr große muskulöse junge Mann endlich vor mir, sein Gesicht noch mit Öl beschmiert. Seine dunklen, gewellten Haare passten auf unerklärliche Weise nicht zu seinem robusten Äußeren. Sie hatten einen Hauch der Zwanzigerjahre an sich. In einer anderen Welt und in anderer Kleidung hätte er in eine adelige Familie hineingeboren sein können. Seine sonnengebräunte Haut und der leichte Stoppelbart verrieten, dass er hart arbeitete.
Nicks Anblick widersprach vollkommen meinen Grundsätzen, aber ich musste zugeben, dass er dennoch eine Anziehungskraft auf mich ausübte, der ich aber widerstehen musste. Wir waren nur Freunde und das Letzte, was ich in meinem Leben brauchte, war eine weitere Enttäuschung.
Nick hatte nicht nur ein schönes Gesicht, seine Ausstrahlung war von einer Mischung aus Selbstbewusstsein und geheimnisvoller Zurückhaltung geprägt. Er war immer sehr respektvoll und ich wusste nie, was er dachte oder wie er zu mir stand. Allerdings ging ich davon aus, dass er kein Interesse an einer versnobten Göre wie mir hatte. Das war einfach nicht seine Welt.
Die Spannung in der Luft war förmlich greifbar und ließ in mir ein Bauchgefühl aufkommen, dessen Bedeutung ich nicht zuordnen konnte. Ich wusste, dass ich die Situation schnell unter Kontrolle bringen und meine Fassung bewahren musste.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als Nick mich mit diesem intensiven Blick durchbohrte. Die Lage wurde mir zu heikel.
„Hey! Lass das gefälligst!“, sagte ich etwas lauter als geplant und versuchte meine Nervosität zu verbergen. „Hättest du dich nicht wenigstens waschen können oder deine Haare kämmen?“, fügte ich leicht gereizt hinzu, um von meiner Verwirrung abzulenken.
Nick zog eine Augenbraue hoch und grinste breit. „Du meintest, fünfzehn Minuten. Also habe ich mich beeilt. Was ist denn los?“
„Ach, gar nichts, ich brauche gerade einfach nur …“, stammelte ich, die weiteren Worte blieben mir im Hals stecken, als ich plötzlich erstarrte. Ich starrte ins Leere, über das weite Footballfeld hinaus. War da nicht eben …
„Hey Savannah, ist alles in Ordnung?“, fragte Nick besorgt und legte vorsichtig eine Hand auf meine Schulter.
Ich schloss die Augen und öffnete sie schnell wieder. Meine Atmung beschleunigte sich schlagartig, mein Herz schlug wild. „Da ... da war doch gerade jemand! Dort hinten im Feld! Ein Typ, er sah aus wie ...“, murmelte ich verwirrt.
Nick drehte sich um und blickte in die Ferne. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen konnte er jedoch niemanden erkennen.
Ebenfalls verwirrt wandte er sich wieder an mich. „Da ist niemand. Also, ehrlich gesagt ... ich weiß nicht ob es gut für dich ist, dass du in letzter Zeit so viel rauchst.“ Empört stemmte ich die Hände in die Hüften. „Ach, willst du damit sagen, ich wäre verrückt? Oder krank?“ Meine Emotionen kochten seit einiger Zeit immer schnell in mir hoch und ich konnte mich selbst kaum kontrollieren, das musste ich mir eingestehen. War mir aber völlig egal, wenn ich ganz ehrlich bin.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Nick hastig, um die aufkommende Spannung zu beruhigen. „Es ist nur ... Ich mache mir Sorgen um dich. Der Verlust von …“
„Stop! Hör auf weiterzureden!“, unterbrach ich ihn mit erhobener Hand. „Du hast kein Recht dazu und brauchst dir auch keine Sorgen um mich zu machen. Gib mir einfach den Stoff und lass mich allein.“
„Ich wollte dich nicht verärgern“, erwiderte er leise, sein Blick war voller Besorgnis. „Nick, geh einfach!“ Eine undurchdringliche Mauer hatte sich zwischen uns aufgebaut und ich war fest entschlossen, allein mit meinen Dämonen zu kämpfen.
Ich rang mit den Tränen und sah aus dem Augenwinkel, dass er das bemerkte. Er öffnete seine Lippen um etwas zu sagen, doch entschied sich zu meinem Glück dagegen. Die Verzweiflung war ihm ins Gesicht geschrieben. Also warf ich ihm einen stechenden Blick zu, der ihn regelrecht auf die Knie zwang und ihm keinen Raum für anderen Möglichkeiten übrig ließ, als zu gehen. Resigniert verließ er mich, jedoch nicht ohne mir das zu geben, wofür ich ihn herbestellt hatte. Er stieg auf sein Motorrad und fuhr weg. Ich hingegen hatte nicht die Absicht, zum Unterricht zurückzukehren. Ich konnte meine Gedanken nicht mehr ordnen, nicht nach der Sichtung des Unbekannten auf dem Feld und der emotional aufgeladenen Begegnung mit Nick. Also rief ich einen Uber und fuhr stillschweigend zurück nach Hause, meine Gedanken in einem Gewirr gefangen.
Als ich das Anwesen erreichte, schlich ich lautlos an Alfred vorbei, der gerade damit beschäftigt war, den Hausmädchen akribische Anweisungen zu geben. Doch wo war Eleanor? Ich rümpfte die Nase. Ich konnte sie weder sehen, noch ihr teures, stechendes Parfum riechen. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie mit ihren versnobten Freundinnen im Golf Club saß und sich betrank, statt Golf zu spielen. Allein der Gedanke verärgerte mich nur noch mehr.
In der Küche schnappte ich mir eine Tüte meiner Lieblingschips und schloss mich damit in meinem Zimmer ein. Als ich endlich allein war, atmete ich erleichtert auf. Der Raum umhüllte mich mit einer seltsamen Stille, die sowohl befreiend als auch bedrückend war.
Ich öffnete eines der Fenster, das auf den Balkon führte und griff in meiner Nachttischschublade nach einem Feuerzeug. Mit zittrigen Fingern zündete ich den Joint an, den ich kurz zuvor von Nick erhalten hatte. Als der erste Dampf aufstieg, ließ ich mich auf das Bett sinken und machte es mir gemütlich. Im Hintergrund lief meine Lieblingssendung, Vampire Diaries, deren Handlung ich mittlerweile auswendig kannte, weshalb ich nicht wirklich hinsah. Die vertrauten Stimmen der Charaktere allein genügten, um mich zu beruhigen.
Während ich den Rauch des Joints inhalierte, spürte ich, wie sich meine Muskeln mit jedem Atemzug mehr und mehr entspannten und meine Gedanken allmählich zur Ruhe kamen. Die Sorgen und Ängste des Tages verblassten im Nebel des Rausches. In diesem Moment fand ich mich im Hier und Jetzt wieder, befreit von der Vergangenheit und der ungewissen Zukunft. Es war genau das, was ich gebraucht hatte – einen Moment der Ruhe und des Vergessens.
Einen gefühlten Augenblick später wurde ich aus meiner entspannten Trance gerissen, als mein Handy auf dem Nachttisch laut vibrierte. Meine Gedanken waren noch vernebelt, als ich nach meinem Telefon griff und den Bildschirm überprüfte. Zu meiner Überraschung zeigte es an, dass Stunden vergangen waren und es bereits spät am Abend war. Völlig unbemerkt war ich wohl eingeschlafen. Das Bewusstsein für die Realität kehrte langsam in mich zurück. Ich prüfte die Liste der verpassten Anrufe und sah, dass Alicia eben versucht hatte mich zu erreichen. Neben dem Namen von Alicia fand ich zwei ungelesene Nachrichten von Ava.
13:24 Ava: Wo bist du? Du sagtest wir treffen uns in der Cafeteria. Lucy hat Nicks Motorrad am Schulgelände gesehen, bist du etwa mit ihm weg? Melde dich! Mache mir Sorgen!
14:33 Ava: Deine Mum hat gesagt, dass du dich im Zimmer eingesperrt hast. Eine kurze Nachricht wäre nett gewesen.
Ich verdrehte die Augen. Ava konnte mir mit ihrer überfürsorglichen Art manchmal ganz schön auf die Nerven gehen. Trotzdem wusste ich auch, dass meine Freundin es nur aus Liebe und Sorge tat, und sah über ihre freche Nachricht hinweg.
In diesem Moment durchzuckte ein Geräusch am Fenster die angespannte Stille des Raumes, ein Rascheln, gefolgt von vorsichtigen Schritten, die sich im Dunkeln verloren. Ich hielt den Atem an und schaltete meine Sinne auf Höchstleistung, doch alles was ich spürte war meinen Puls, der in jeder Faser meines Körpers pulsierte. Die Angst strapazierte immer mehr meine Nerven und ließ mich unruhig werden. Vielleicht hatte ich mir die Schritte nur eingebildet. Immerhin war ich eben erst aus meinem Rausch aufgewacht. Doch die Paranoia nahm wieder überhand. Eine Vielzahl von Szenarien schossen in Sekundenschnelle durch meinen Verstand, während ich vorsichtig aufstand und instinktiv nach einem Kissen griff, um mich zu verteidigen, obwohl es kaum als Verteidigungsmittel taugte. Die Idee, dass eine Kissenschlacht einen Eindringling vertreiben könnte, erschien mir absurd, dennoch klammerte ich mich daran. Meine Hände verkrampften immer mehr um das Kissen und ich schritt so leise wie ich nur konnte, weiter auf das Fenster zu, bereit, mich gegen jede mögliche Bedrohung zu verteidigen.