Alles, was wir nie gesagt haben - Gabriele von Braun - E-Book

Alles, was wir nie gesagt haben E-Book

Gabriele von Braun

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Beschreibung

Im Leben gibt es immer eine zweite Chance

Katja führt ein wohlgeordnetes Leben als Hausfrau und Mutter in einem schicken Kieler Vorort. Doch als ihre Tochter für einen längeren Schüleraustausch das Elternhaus verlässt, muss Katja sich eingestehen, dass sie und ihr Mann nicht so weitermachen können wie bisher. Zu viel blieb in letzter Zeit unausgesprochen. Um Klarheit über ihre Zukunft zu gewinnen, flüchtet sie sich in die Einsamkeit Montanas. Aber dort wartet nicht nur der tiefe Frieden der Rocky Mountains auf sie, sondern auch ein anderer Mann ...

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Seitenzahl: 382

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Inhalt

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Titel

Impressum

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Weitere Titel der Autorin

Das Geschenk eines Sommers

Ein Augenblick für immer

Über dieses Buch

Katja führt ein wohlgeordnetes Leben als Hausfrau und Mutter in einem schicken Kieler Vorort. Doch als ihre Tochter für einen längeren Schüleraustausch das Elternhaus verlässt, muss Katja sich eingestehen, dass sie und ihr Mann nicht so weitermachen können wie bisher. Zu viel blieb in letzter Zeit unausgesprochen. Um Klarheit über ihre Zukunft zu gewinnen, flüchtet sie sich in die Einsamkeit Montanas. Aber dort wartet nicht nur der tiefe Frieden der Rocky Mountains auf sie, sondern auch ein anderer Mann …

Über die Autorin

Gabriele von Braun brach ihr Soziologiestudium ab, um etwas absolut Ausgefallenes zu wagen: Sie studierte BWL. Doch es nützte nichts – sie landete auf direktem Weg »in den Medien«, wo sie u.a. als PR-Redakteurin tätig war, bevor sie zu SPIEGEL TV überlief. Inzwischen arbeitet sie im Programm-Marketing für eine Landesrundfunkanstalt. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Gabriele von Braun

Alles,was wirnie gesagthaben

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: NottomanV1 | Champ008 | rdonar | Katyau

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6715-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Bei gleicher Umgebung lebt doch jederin einer anderen Welt.

Arthur Schopenhauer

1

Es gibt diese Art von Abschied, die ein Leben in sich zusammen fallen lassen droht wie ein Soufflé. Mein Leben. Meine Tränen vermischen sich mit Schneeregen, der mir auf der zugigen Aussichtsplattform völlig unsentimental ins Gesicht peitscht. Die Boeing 777 ist verschwunden, geschluckt von gierigen, viel zu tief hängenden grauen Wolken. Dabei war ich noch längst nicht so weit, alles ging viel zu schnell. Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Emma ist weg, gegangen an einem ungemütlichen Januarmorgen.

Ich kralle mich an Oliver fest. »Jetzt ist sie im Himmel«, schniefe ich mit brüchiger Stimme unter meiner riesigen Kapuze und drücke meine Nase in Emmas buntes Baumwolltuch, das ich mir umgeschlungen habe. Zum Abschied habe ich meinen dicken grauen Strickschal dagegen getauscht, den kann sie in der Kälte wesentlich besser gebrauchen. Das Tuch duftet so intensiv nach ihr, zart blumig, frisch und irgendwie ein bisschen nach Pfannkuchen. Es ist, als würde sie direkt vor mir stehen. Mein ganzer Körper zittert, mir ist bitterkalt.

»Katja! Hör auf damit! In neun Stunden kommt sie zurück auf die Erde«, schimpft Oliver und reibt mir die Schultern. Doch wärmer wird mir dadurch nicht. »Hilft es dir eigentlich irgendwie weiter, wenn du so tust, als sei Emma spurlos verschwunden?« Oliver zieht sich seine graue Strickmütze noch tiefer ins Gesicht.

»Das ist nicht witzig!«

»Sag ich ja. Sie ist sechzehn Jahre alt und sitzt im Flieger nach Philadelphia. Und sie freut sich riesig darauf, dort für ein halbes Jahr auf die Highschool zu gehen. Noch einmal: Sie lebt! Es geht ihr gut!«

Ich nicke matt. Oliver geht wesentlich entspannter damit um, dass unsere kleine Emma, der Mittelpunkt unseres Lebens, plötzlich flügge geworden ist. Er hat mich sogar gerügt, als ich ihr vorschlug, der Heimat vielleicht nur ein halbes Jahr den Rücken zu kehren. Ich solle ihr da nicht reinreden, sagte er. Dabei war er dann auch froh darüber, dass wir Weihnachten zusammen zu Hause feiern konnten. Nun muss ich damit leben, dass wir uns monatelang nicht sehen werden. Besuche und Heimflüge sind unerwünscht, da das Kind so nur abgelenkt werden würde, außerdem sei die Zeit ja sehr kurz, sagte die Mitarbeiterin der Agentur allen Ernstes. Kurz!

Oliver reißt mich aus meinen Gedanken. »Komm, wir müssen los. Um elf kommt Frau Hansen«, sagt er und schiebt mich wie ein kaputtes Auto in Richtung Parkplatz. Als ob mich jetzt Frau Hansen interessieren würde.

Oliver ist Dermatologe und hat eine gutlaufende Privatpraxis. Ich arbeite dort halbtags als Praxismanagerin, wie Oliver es nennt. Ich mag den Begriff nicht, er klingt zu groß. Kurz gesagt kümmere ich mich um Organisatorisches, den Einkauf und die Praxisausstattung.

»Hoffentlich fängt sich Emma durch die Klimaanlage im Flieger nichts ein! Wer soll sich denn um sie kümmern, wenn sie krank wird? Ach Oli, warum ist Loslassen nur so verdammt schwer? Es macht mir Angst. Wird es nach Emmas Rückkehr wieder genauso sein, wie es einmal war?«, sinniere ich auf dem Weg, Olivers starke Hand im Rücken.

Er antwortet nicht, sondern mustert mich im Gehen genervt von der Seite, aber da sehe ich noch etwas anderes in seinem Blick: Mitleid.

Das macht mich so ärgerlich, dass ich abrupt stehenbleibe und frage: »Warum schaust du mich an, als sei ich ein dreibeiniger Straßenköter? Sie ist auch deine Tochter!«

Oliver ist die Ruhe in Person, er schiebt mich einfach weiter. »Du kennst meine Meinung. Es ist gut und wichtig, dass Emma diesen Schritt geht. Und natürlich wird sich etwas verändert haben, wenn sie zurückkommt. Es wäre ja schlimm, wenn es nicht so wäre. Außerdem wird es Zeit, dass du dich auch auf andere Dinge im Leben fokussierst. Unsere Tochter lernt nun, selbstständig zu werden. Das sollten wir feiern!«

Ich trete in eine mit dünnem Eis überzogene Pfütze und murmele: »Ja, unbedingt.«

Auf der Heimfahrt von Hamburg nach Kiel verwechselt Oliver die Autobahn mit dem Nürburgring. Aber statt mich darüber aufzuregen und diesen Leichtsinn anzuprangern, beiße ich mir auf die Zunge. Das Schicksal liegt nicht in unserer Hand – und noch mehr negative Energie führt zu nichts. Also ruhig bleiben, Thema wechseln. Das ist nicht leicht, aber ich bemühe mich zumindest.

»Morgen gehe ich einkaufen. Soll ich dir Rasierschaum mitbringen?«, frage ich also, anstatt zu brüllen: »Geht’s noch? Fahr sofort 100 km/h langsamer, ich hänge am Leben – und an Emma.«

»Hm«, brummt Oliver und macht das Radio lauter, es kommen Nachrichten.

Ich drehe die Sitzheizung voll auf und tanke wohlige Wärme, starre auf die vorbeiflitzende Landschaft und versuche, mich für Emma zu freuen. Aufbruch zu neuen Ufern, das ist doch wunderbar! Letztlich ist es wirklich egoistisch von mir, mich dagegen zu sperren und zu leiden, nur weil mein Kind glücklich ist und sich sein größter Wunsch erfüllt. Wenn ich sie nur jetzt nicht schon so vermissen würde!

Ich zähle die Markierungspfähle am Straßenrand und atme tief ein und aus. Plötzlich zieht ein alter schwarzer Volvo mit einem illuster beklebten Heck vor uns auf die linke Spur. Oliver tritt auf die Bremse. »Idiot!«, flucht er und zeigt der Windschutzscheibe einen Vogel.

»Hey, schau mal, das ist doch der gleiche Ärzte-ohne-Grenzen-Aufkleber, wie du ihn auf deinem klapprigen Käfer hattest. Den hätten wir nicht gesehen, wenn er rechts geblieben wäre«, versuche ich die Situation zu entschärfen.

Wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht, geschweige denn einen solchen Aufkleber gesehen? Oliver und ich lernten uns während des Medizinstudiums kennen. Ich wollte Kinderärztin werden, und wir träumten beide davon, einmal gemeinsam für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten.

Ein melancholisches Lächeln umspielt Olivers Mund. »Der Käfer! Wie ich den geliebt habe! Mein Gott, ist das lange her. Damals schien alles möglich zu sein, die Welt stand uns offen.« In seinen Augen blitzt ein Leuchten auf, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen habe. »Und nun sitzen wir in einem BMW X5 mit Vollausstattung! Wenigstens funktioniert hier die Heizung«, fährt er fort und drosselt die Geschwindigkeit. Der Schneeregen ist stärker geworden, die Scheibenwischer laufen auf Hochtouren.

Im Radio berichtet eine viel zu gut gelaunte Männerstimme über den Weltcup im Skispringen.

»Mist! Der hatte doch alle Chancen!«, kommentiert Oliver aufgebracht.

Da überkommt mich plötzlich eine unsagbare Wehmut. Diese Chancen hatten wir auch einmal. Ich schlucke schwer. »Was wäre wohl gewesen, wenn damals nicht …« Meine Worte gehen in der Geräuschkulisse unter. Gut so, ich kann sowieso nicht weitersprechen. Nein, es ist nicht gut, an Tagen wie diesem daran erinnert zu werden, was hätte sein können.

Ich zappele auf dem Sitz hin und her und versuche krampfhaft, mich abzulenken. Wir überholen einen silbernen Toyota. Am Steuer sitzt eine ältere Frau, daneben eine etwas jüngere. Vielleicht ist das auch so eine Klammermutter wie ich. Ich versuche mich über mich selber lustig zu machen, indem ich mir vorstelle, dass ich Emma auch mit achtzig noch behüte wie den heiligen Gral. Aber so recht gelingt mir das nicht.

Unsere Praxis befindet sich in einem Neubau in weißgetünchter Bauhaus-Ästhetik mitten in der Stadt. In gewisser Weise ist Oliver tatsächlich ein Arzt ohne Grenzen geworden. Er hat es über die Schwelle Kiels hinaus zu Ruhm gebracht und sich als Anti-Aging-Papst von Schleswig-Holstein einen Namen gemacht, so zumindest stand es vor einiger Zeit in einem kostenlosen Wochenblatt. Seitdem läuft die Praxis noch besser. Oliver hat ein feines Händchen und den perfekten Blick für seine Patienten. Er erkennt in Sekunden, welche vermeintlichen Schwächen sich wie optimieren lassen. Dass die Gesichter, die er bearbeitet, meist zu gesunden Menschen gehören, stellt seine ärztliche Ethik schon lange nicht mehr infrage. Schließlich helfe er den Menschen dabei, sich besser zu fühlen, betont er gern und hat damit ja auch irgendwie recht. Früher hätten wir uns gemeinsam darüber aufgeregt, aber diese Zeiten sind lange vorbei. Und so koordiniere ich den Praxisablauf und arbeite daran mit, den Patienten in den puristisch eingerichteten Räumen mit homöopathisch grün gestrichenen Wänden ein gutes Gefühl zu geben. Darüber hinaus ist Oliver ein hervorragender Arzt, der auch Krankheitsbilder behandelt, die mit dem Thema Schönheit so viel zu tun haben wie der Himalaya mit einer Sandburg. Neulich hat er einen jungen Mann, der wegen eines vermeintlichen Tumors an der Wange eine Zweitmeinung einholen wollte, behandelt. Der Patient litt fürchterlich und war völlig entstellt. Die Symptome, Blutungen und Juckreiz, sprachen für die finstere Diagnose. Doch Oliver fand heraus, dass die Geschwulst durch eingewachsene Haare verursacht wurde. Er entfernte sie, und der Mann war geheilt.

»Ah, da geht an diesem trüben Tag doch gleich die Sonne auf! Frau Hansen, guten Morgen. Wie geht’s? Folgen Sie mir unauffällig«, flötet Oliver augenzwinkernd.

Bis auf sie ist das Wartezimmer noch leer.

Frau Hansen legt eine Illustrierte zurück in den Wandhalter und erhebt sich schwerfällig. »Moin Oliver. Ach, ich kann dir sagen, es wird sicher nicht mehr besser.«

Oliver hakt sich bei ihr ein. »Dafür sehen Sie aber blendend aus! Und gleich noch ein bisschen besser.«

»Ach, mein lieber Herr Petersen, du hast auch immer einen passenden Spruch parat. Wenn ich dich nicht hätte.«

Die beiden kennen sich seit Olivers Kindheit. Seine Mutter ist mit Frau Hansen befreundet. Deswegen legt er sich bei ihr immer besonders ins Zeug und siezt sie nach wie vor, obwohl sie ihn seit jeher duzt.

Ich stehe neben Margit, der guten Vollzeitseele der Praxis, hinter dem nussbaumfurnierten Tresen und verfolge die Szene, bis die beiden im Behandlungszimmer verschwunden sind. Mein Mann, er ist schon ein echter Womanizer.

Auch nach all den Jahren finde ich ihn noch attraktiv. Er ist groß und sportlich, er läuft und spielt regelmäßig Fußball. Seinen Geheimratsecken stand er zunächst äußerst missgünstig gegenüber, doch inzwischen haben sie Bleiberecht und werden nicht mehr durch Überkämmen mit längerem Haar weggeschummelt. Ich finde sogar, dass sein Gesicht mit den von dunklen Wimpern umrandeten grünen Augen, dem symmetrischen vollen Mund und dem markanten Unterkiefer noch charismatischer wirkt, seitdem er seine grau-braun melierten Haare ganz kurz trägt. Und diesen wunderbaren Mann habe ich jetzt die nächsten Monate lang für mich allein!

Margit unterbricht meinen Gedankengang. »Die Komplimente, die er ihr macht, finde ich doch etwas weit hergeholt. Von hinten sieht sie aus wie dreißig und von vorn wie fünfundsiebzig.« Margit zieht ihren weißen Kittel glatt und druckt die Patientenliste des Tages aus.

»Sag das nicht so laut. Sie ist achtundsechzig.«

»Und hat eindeutig zu viel geraucht und zu viel Sonne getankt, da hilft jetzt nicht mehr viel.«

»Wer weiß, wie sie ohne Behandlung aussehen würde«, sage ich und stibitze ein zuckerfreies Pfefferminzbonbon aus der Glasschale neben der großen braunen Vase, für die wir extra ein Blumen-Abo abgeschlossen haben. In dieser Woche gab es eine feine Zusammenstellung aus Korsischem Nieswurz, Goldnessel, Haselnuss, Efeu und einem Ranunkelstrauß.

Margit kichert und streicht sich übers Gesicht. »Da hast du nun auch wieder recht. Irgendwann frage ich Herrn Petersen, wie viel Rabatt er mir gibt, wenn ich auch im Paket buche.«

»Ach, hör doch auf, du siehst wirklich toll aus!«

Margit ist Mitte fünfzig und in einem Topzustand, sie hat einen makellosen Teint, ist drahtig und trägt einen blonden Bob. Gute Gene, würde man dazu wohl sagen. Wobei, so ganz auf medizinische Hilfe verzichtet Margit nicht. Ein- bis zweimal im Jahr gönnt sie sich eine Injektion in die Stirn. Margit passt perfekt in diese Praxis und ist auch schon seit neun Jahren dabei.

»Sag mir das nur immer wieder! Dafür siehst du heute richtig schlecht aus. Es ist wegen Emma, oder?«

»Ja, ich vermisse sie schon jetzt unglaublich. Dieser Abschied war der blanke …«

Unser Gespräch wird durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. »… dann am dreißigsten Januar um halb elf. Einen schönen Tag noch«, sagt Margit mit ihrer angenehm weichen Stimme, bevor sie wieder umschaltet. »Freu dich auf die neugewonnene Freiheit. Du musst nun keine Rücksicht mehr nehmen. Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt.«

Margits Sohn ist vor einem Jahr zu Hause ausgezogen. Kurz darauf offenbarte sie ihrem Mann, dass sie jemand anderen kennengelernt habe, woraufhin er ebenfalls auszog. Nun wohnt sie allein, hat einen jüngeren Geliebten namens Timo und scheint diesen Zustand wirklich zu genießen.

Das Surren des Türöffners kündigt den nächsten Patienten an.

»Tja, das hört sich wirklich toll an. Ich hoffe, ich kann das auch schnell so sehen. Aber jetzt habe ich hinten einiges zu tun, und dann gehe ich in mein frisch befreites Heim«, sage ich noch schnell, bevor ich hinter einer Milchglaswand verschwinde, die meinen Schreibtisch vor neugierigen Blicken verbirgt.

Unser Zuhause haben wir Olivers Eltern zu verdanken, denn wir leben in ihrem Haus. Sie fühlten sich dort nicht mehr wohl und wollten sich nach der Pensionierung freimachen von Grund und Boden und der »kulturellen Unterforderung« ein Ende setzen – so drückte es meine Schwiegermutter, eine ehemalige Sonderschullehrerin, damals aus. Eine Metropole sollte her. Daraus wurde dann Lübeck. Seit ihrem Umzug vor sechs Jahren kreisen Karin und Friedrich ausschließlich um sich und die kulturelle Vielfalt der Welt. Ständig sind sie auf Reisen, und wenn sie doch mal im Lande sind, haben sie immer zu tun. Meine in der Provinz Berlin lebenden Eltern sehe ich wesentlich öfter.

Unser Haus liegt am Ende einer kleinen ruhigen Straße kurz vor den Toren von Kiel. Die Ostsee ist nicht weit entfernt. Manchmal, wenn der Wind gut steht, dann kann ich sie riechen. Wie sehr ich das liebe! Wir haben das reetgedeckte Fachwerkhaus mit großem Garten und vielen alten Obstbäumen nach der Übernahme sanieren und umbauen lassen. Ich fühle mich wahnsinnig wohl hier. Wir haben nette Nachbarn, frische Eier von den Hühnern nebenan und die besten Äpfel der Welt im eigenen Garten.

Ich schließe die Haustür auf und werde von ohrenbetäubender Stille empfangen. Es ist halb vier. Normalerweise dringt um diese Zeit Musik, gern von One Direction, aus Emmas Zimmer oder ihr Lachen, wenn sie mit ihren Freundinnen telefoniert, aber heute ist da nichts außer dieser hundsgemeinen Ruhe.

Ich hänge meine Jacke an die Garderobe, halte inne und betrachte mich im großen, silbergerahmten Wandspiegel. Das soll also die Mutter einer erwachsenen Tochter sein, denke ich. Das kann gar nicht sein! Ich sehe doch immer noch so aus wie immer, so wie ich: Eigentlich ganz vorzeigbar mit meiner schlanken Figur und meinen überschulterlangen braunen Haaren, die ich meist zu einem Pferdeschwanz gebunden oder locker hochgesteckt trage. Mein Kleidungsstil ist sportlich, selten elegant. Oliver hat einmal zu mir gesagt, dass ich mit meinen großen braunen Augen ein bisschen aussehe wie Winona Ryder, nur besser. Allerdings war er da beschwipst.

Ich löse mich von meinem Spiegelbild und gehe in Emmas Zimmer. Hier sieht alles so aus wie immer. Miley Cyrus und Katy Perry grinsen mich von der in Orchidee gestrichenen Wand in großen Posen an, als wäre das Leben eine stetige Party. Nur Robert Pattinson schaut so, als hätte er schon erkannt, dass dem nicht so ist. Aber vielleicht war er beim Fotoshooting nur total verkatert. So ganz kann ich Emmas Schwärmereien nicht immer nachvollziehen. Worüber denke ich hier eigentlich nach? Verdammt! Normalerweise würde ich jetzt mit ihr über Gott und die Welt schnacken und ihr bei den Hausaufgaben unterstützend zur Seite stehen. Aber normalerweise gibt es nicht mehr.

Ich beginne damit, aufzuräumen. Auf der Lehne ihres Schreibtischstuhls türmt sich ein Klamottenstapel. Ich lasse Strümpfe, Unterwäsche und Shirts auf den Boden fallen, das kommt alles in die Wäsche, ebenso wie ihr Bettzeug. Dann hebe ich vier neben ihrem Bett liegende Bücher auf. Emma liest gern parallel, diesmal eine Fantasy-Saga, Der Fänger im Roggen, ein Pferdebuch und Jostein Gaarders Sofies Welt. Ich schlucke und streiche sanft über das Cover, bevor ich mir eilig die Dreckwäsche schnappe und mich damit in Richtung Waschkeller bewege.

Auf dem Weg dorthin höre ich mein Telefon klingeln, das im Flur liegt. Ist es vielleicht Emma? Kann sie jetzt schon gelandet sein? Ob irgendetwas passiert ist? Aber als ich hektisch nach dem Handy greife, blinkt mir nur Lou auf dem Display entgegen.

Sie ist meine liebste Freundin – und meine Gynäkologin. Lou heißt eigentlich Luise, hasst diesen Namen aber, weil sie in ihrer Schulzeit auf übelste Weise gehänselt wurde. Sie war sehr klein und dünn, hatte Hasenzähne und lief bei der kleinsten Gelegenheit knallrot an. Irgendwann galt ihr Name in ihrer Klasse – und leider auch darüber hinaus – als Synonym für Menstruation. »Ich kann nicht mit zum Schwimmen kommen, Luise ist zu Besuch«, war noch einer der harmloseren Sätze, wie sie mir einmal anvertraute. Wir lernten uns während des Studiums kennen. Lou ist einer der auffassungsstärksten Menschen, die ich kenne. Oft gibt sie mir Antworten auf Fragen, bevor ich sie überhaupt gestellt habe. Sie weiß immer sofort, was mit mir los ist, und stand mir auch in meinen dunkelsten Stunden stets zur Seite. Ich liebe sie einfach.

»Na Hasenmaus, hast du den Abschied überlebt?«

»Wenn du mich hören kannst, ja.«

»Jetzt dramatisiere die Sache mal nicht so sehr. Dienstag, achtzehn Uhr.«

»Hey, ich wollte dich gerade fragen, ob wir uns sehen!« Lou und ich gehen einmal pro Woche Badminton spielen und anschließend in die Sauna, für nächste Woche stand der Termin aber auf der Kippe.

»Hauke muss ein wichtiges Projekt abschließen. Unser Ausflug nach Hamburg ist gecancelt.« Hauke, ein gefragter Informatiker, ist seit drei Jahren Lous Freund. »Außerdem freue ich mich viel mehr darauf, dir noch mal persönlich ordentlich den Kopf zu waschen. Vorher habe ich leider keine Zeit. Hältst du so lange durch?«

»Weiß ich nicht. Heute ist erst Freitag! Ach, Lou! Wir haben verabredet, dass wir erst nach drei Tagen skypen. Emma möchte unbedingt testen, ob sie so lange durchhält, ohne mich zu sehen. Sie wird nur eine kurze Nachricht schicken, wenn sie angekommen ist.«

Während ich mich ausjammere, werfe ich die Wäsche, die ich noch immer im Arm halte, im Keller ab und gehe zurück in Emmas Zimmer.

»Prima. Glaub mir, Schatzilein, das tut euch beiden gut.«

»Ehrlich gesagt dachte ich bisher, dass sich guttun irgendwie anders anfühlt.«

»Du sollst endlich begreifen, dass du auch lebensfähig bist, wenn Emma nicht in deiner unmittelbaren Nähe ist!«

»Hm.« Ich nehme Schlumpi in die Hand, Emmas alten Plüschaffen, und atme ihn ein. Er riecht nach ihr, er lag abends immer mit in ihrem Bett, aber in Amerika wollte sie ihn nicht dabeihaben. Emma hat ihn seit ihrer Geburt. Seit ihrer und … Verflixt, ich bin heute wirklich näher am Wasser gebaut als Venedig. Mir laufen schon wieder die Tränen übers Gesicht.

»Katja? Ich kriege das alles mit! Hier wird nicht mehr geheult!«

»Ich bin gleich fertig«, sage ich, küsse Schlumpi und lege ihn behutsam auf das kahle Bett. »Versprochen?«

»Ja. Ich versuche es. Danke, dass du da bist!«

»Ich hab dich auch lieb. So, jetzt muss ich wieder an die Arbeit. Mach dir einen schönen Abend mit Oliver, verführ ihn doch mal wieder.«

»Mal wieder, du bist lustig! Bis Dienstag.«

Verführen, allein dieses Wort finde ich albern. Verführen können die Heldinnen in Filmen und Büchern, aber nicht ich in meiner Realität. Und schon gar nicht heute! Außerdem war ich noch nie eine von den Frauen, die sich in Strapse werfen und ihren Mann am Küchentisch scharfmachen. Wer weiß, vielleicht sollte ich das mal ausprobieren? Man muss es ja nicht gleich übertreiben, was das Outfit anbelangt.

Das Gespräch mit Lou hat mir jedenfalls gutgetan. Im Wohnzimmer drehe ich die Anlage so laut auf, dass die Bässe die Gläser in der Vitrine zum Tanzen bringen. Ich schließe mich ihnen an, schüttele mein Haar und springe im Takt wild im Zimmer umher. Dabei komme ich ziemlich ins Schwitzen. Weg mit all der Traurigkeit! Ich freue mich auf die neue Zeit! Wahrscheinlich muss ich mir das nur oft genug klarmachen. Oliver hat heute Morgen gesagt, dass wir feiern sollten. Ich werde mich nicht länger dagegen sträuben, sondern es versuchen. Ein schöner Abend wird uns guttun. Kurzentschlossen fahre ich zum nächsten Supermarkt, kaufe ein, fahre zurück und bereite Olivers Leibgericht zu, Zitronenhuhn mit Safranreis.

Kurz nach halb acht werde ich unruhig. Meist ist Oliver spätestens um halb sieben zu Hause, freitags sogar früher. Dann sitzen wir alle zusammen am Tisch, essen und erzählen von unserem Tag. Wir alle … Ich öffne eine Flasche Weißwein und schenke mir ein Glas ein. Runter damit! Der Wein ist jetzt genau das Richtige.

Ich spreche laut zu mir: »Katja Petersen, in den nächsten Monaten ist alles anders, das solltest du inzwischen wirklich begriffen haben!«

Ich nicke und versuche erneut, Oliver zu erreichen. Aber weder in der Praxis noch auf seinem Telefon kriege ich ihn. Ich habe den Tisch so gedeckt, als wäre heute wirklich ein Festtag, mit Stoffservietten und dem guten weißen Porzellangeschirr mit Goldrand. Das Licht von sechs Kerzen gaukelt eine entspannte Gemütlichkeit vor, gespiegelt in den Terrassentüren, die hinaus in den Garten führen. Sogar den Kamin habe ich zum Lodern gebracht, obwohl das normalerweise Olivers Job ist. Draußen in der Dunkelheit weht noch immer ein eisiger Wind. Ich kann ihn ums Haus pfeifen hören und fröstele trotz der Wärme hier drinnen für einen Moment. Dafür, dass ich an diesem ersten Freitagabend ohne Emma allein hier sitze, hätte ich mir weder das schicke blaue Kleid anziehen noch mich kämmen, geschweige denn schminken müssen. Ich wollte, dass Oliver heute Abend etwas anderes sieht als ein Nervenbündel. Aber noch immer keine Spur von ihm. Also werde ich notgedrungen wieder zum Nervenbündel. Ihm wird doch wohl nichts passiert sein? Unruhig tippele ich mit dem Glas in der Hand durchs Zimmer.

Außerdem müsste Emma längst angekommen sein, aber noch habe ich keine Nachricht von ihr. Was habe ich nur verbrochen, dass niemand mit mir sprechen will? Wirklich, das ist ein richtig schöner Abend! Ganz genau so habe ich mir das mit dem Feiern vorgestellt. Prost!

Inzwischen ist es kurz nach neun. Ich gehe ins Schlafzimmer, schäle mich aus dem engen Kleid und steige aus Trotz in die schlabberigste meiner Jogginghosen, dazu werfe ich ein Sweatshirt mit dem Aufdruck »Winners make goals« über, das Lou mir von einem Motivationskurs mitgebracht hat, zu dem sie mich nicht überreden konnte. Dann blicke ich zum gefühlt neunzigsten Mal auf meinen E-Mail-Eingang. Plopp! Eine Mail von Emma. Endlich!

Liebe Mama, lieber Papa,

ich bin gut gelandet. Die Gastfamilie ist sehr nett. Sie haben einen Hund. Er heißt Jimmy und ist sooo süß. Ist das nicht toll? Macht euch keine Sorgen.

Emma

Sie ist gut angekommen. Gott sei Dank! Aber kann das wahr sein? Anscheinend vermisst sie mich ja überhaupt nicht. Dabei sollte ich mich natürlich darüber freuen, dass es ihr gut geht. Außerdem hat Emma nun einen Hund, das übertrifft natürlich alles. Ich musste ihr das leider verwehren, weil ich allergisch gegen Hundehaare bin. Schon wieder spüre ich, wie mir Tränen in die Augen steigen. Diesmal versuche ich gar nicht erst, sie zu unterdrücken, sondern lasse ihnen freie Bahn und wähle sogar die passende musikalische Untermalung. »No alarms and no surprises …«, singe ich mit Radiohead.

»Katja?« Ich zucke zusammen. Die Stimme war lauter als die Musik. »Ob mit dir alles in Ordnung ist, brauche ich dich ja nicht zu fragen.« Oliver schaut mich zweifelnd an.

Ich drehe die Musik leise und wische mir übers Gesicht. »Wo warst du denn so lange? Ich habe mit dem Essen auf dich gewartet. Ich wollte doch mit dir feiern.«

»Hast du wirklich feiern gesagt? Schickes Outfit.« Ein Lächeln umspielt Olivers Mund. »Komm mal her.« Er nimmt mich in den Arm. »Tut mir leid. Ich bin bei Volker hängengeblieben.«

Ich schlinge meine Arme um ihn. »Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«

»Mein Telefon war im Auto. Du weißt doch, Männer und ihr Hobbykeller, da können sie schon mal die Zeit vergessen.« Volker ist ein guter Freund von Oliver. Sein neuestes Projekt ist die Sanierung eines alten Holzbootes in seiner Garage.

Oliver drückt mich fester an sich. Wir schwingen leicht hin und her, als würden wir tanzen. Diese Art von Nähe hatten wir lange nicht mehr, und ich genieße sie sehr, schließe die Augen und schmiege meinen Kopf an seine Schulter. Kurz darauf sitzen wir am Tisch und essen. Dank der Warmhaltefunktion schmeckt das Huhn noch ganz passabel. Aber von Nähe ist nicht mehr viel zu spüren. Wir schweigen. Oliver stochert mit gesenktem Blick lustlos im Essen herum.

»Schmeckt es dir nicht?«, frage ich.

Er schaut mich an. Seine Augen funkeln im Kerzenlicht. Bilde ich mir nur ein, dass sie traurig blicken?

»Doch, es schmeckt hervorragend«, sagt er nach einer kurzen Pause.

Ich strecke meine Hand nach seiner aus und drücke sie fest. »Es ist so ruhig am Tisch ohne Emma.«

»Ja, das ist es wirklich.«

»Sie ist gut angekommen. Und die Gastfamilie hat einen Hund.«

»Na siehst du. Dann ist doch alles gut. Du, sei mir nicht böse, aber ich bin total erledigt, ich gehe gleich ins Bett.« Er befreit sich von meiner Hand und reibt sich die Augen.

Ich gieße Wein nach und tue so, als hätte ich den letzten Satz nicht gehört. Ich möchte nicht, dass unser erster zweisamer Abend so endet. »Was stellen wir jetzt an mit unserem Dasein als Stroheltern? Wollen wir morgen Abend in die Oper gehen? Oder ins Theater? Oder zum Tanzen? Ich weiß gar nicht, wann wir das zuletzt gemacht haben. Wir haben einiges aufzuholen.« Ich möchte die Situation auflockern, versuche mich an einem offensiven Augenaufschlag und einem verführerischen Lächeln. Netter Versuch, er zündet nur nicht. Vielleicht hätte ich doch ein anderes Outfit wählen sollen.

»Ehrlich gesagt würde ich mich morgen gern endlich um das Steuerthema kümmern und zu Walter fahren. Das kann länger dauern.« Walter ist unser Steuerberater und wohnt in Rendsburg. Das Thema Steuern ist so gar nicht meins, da würde ich lieber den ganzen Tag nässenden Ausschlag behandeln als mich damit zu beschäftigen. »Ist das dein Ernst?«

»Ja. Dann ist es abgehakt. Wir haben jetzt so viel Zeit, da kommt es auf den einen Tag auch nicht an.«

»Schade.« Ich schütte den letzten Tropfen aus der Weinflasche in mein Glas. Langsam merke ich, wie mir der Alkohol zu Kopf steigt.

»Ach, komm schon! Das läuft uns nicht weg. Wir holen das nächste Woche nach.« Oliver gähnt, steht auf, räumt seinen Teller ab und deutet einen Kuss auf meine Stirn an. »Gute Nacht«, sagt er entschlossen.

Ich halte ihn nicht zurück. Mein Magen krampft sich so zusammen, wie er es heute Morgen schon einmal tat. »Schlaf gut«, fiepse ich und starre dann minutenlang in die nur noch schwache Glut im Kamin. Wir haben nicht nachgelegt – und irgendwann ist es erloschen, das Feuer.

Bevor meine Gedanken noch trüber werden, schwinge ich mich mit letzter Kraft auf, bringe Ordnung in die Küche und zappe durchs Fernsehprogramm. Die Präsentation von Wolle in einem Teleshoppingkanal schafft es für einen Augenblick, mich abzulenken. Ich bestelle zehn Knäuel.

Um kurz nach Mitternacht lege ich mich neben Oliver ins Bett. Meine kalten Füße schiebe ich unter seine Decke und genieße seine wohltuende Wärme. Irgendwann schlafe ich ein.

2

Oliver schleicht kurz nach sieben aus dem Bett. Ich bin schon wach, tue aber so, als würde ich noch schlafen. Nach dem gestrigen Abend sind sowohl mein Kopf als auch mein Herz noch etwas schwer. Ich möchte ihn nicht verabschieden, bevor er zu Walter fährt, weil ich ihn gern heute bei mir gehabt hätte. Traurig umschließe ich sein Kissen. Es riecht so gut nach ihm. Nachdem Oliver weg ist, stehe ich auf. Ein beißendes Gefühl von Einsamkeit legt sich schlagartig auf mich. Ich muss diese Stille loswerden und schalte das Radio ein. Einer aufgesetzt fröhlich klingenden Morgencrew gelingt es mit einem Best of der vergangenen Woche, sie im Keim zu ersticken. Wobei ich nicht weiß, ob das besser ist.

Ach, was soll’s! Was kann es Schöneres geben, als am Wochenende endlich einmal in Ruhe beim Frühstück zu sitzen? Schamlos die Ellenbogen aufstützen, Selbstgespräche führen, das Messer ablecken … Das Telefon klingelt. Da denkt jemand an mich! Ich blicke zur Uhr. Emma wird es wohl kaum sein, die dürfte noch tief und fest schlafen. Oder etwa nicht? Mein Herz beginnt zu rasen. Ich springe auf und stürze zum Hörer. Es ist meine Mutter.

»Du wolltest doch anrufen, wenn Emma gut angekommen ist! Jetzt mache ich mir Sorgen!«

Der Vorwurf in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.

»Entschuldige, ich hätte mich gleich bei dir gemeldet. Kein Grund zur Sorge. Sie ist gut gelandet.« Ich setze mich wieder hin und beiße in mein Marmeladenbrot.

»Und? Wie geht’s dir?«

Ich möchte meiner Mutter nicht die Wahrheit erzählen.

»Och, super. Obwohl ich auf Entzug bin. Ich habe schon seit zwei Tagen nicht mehr gebügelt.«

Meine Mutter macht sich seit Jahren über mich lustig, weil ich, seit Emma auf der Welt ist, sämtliche Sachen von ihr bügele. Ihre Strümpfe, Unterwäsche, Hosen, Pullis, Stirnbänder, Mützen, einfach alles. Oliver hat mich deswegen ebenfalls schon tausend Mal aufgezogen. Ich solle endlich damit aufhören, weil ich damit nichts, was geschehen ist, glattbügeln könne, sagte er. Vielleicht habe ich mich all die Jahre so ins Zeug gelegt, weil ich genau daran geglaubt habe. Ich gebe zu, dass mein Tick wohl etwas befremdlich wirkt. Spätestens jetzt scheint die Zeit dafür gekommen, mich davon zu befreien. Denn was sollte ich auch sonst machen? Alle Sachen, die gebügelt in Emmas Schrank liegen, noch einmal plätten? Wenn es so weit kommen sollte, dann müsste ich mein Leben ernsthaft überdenken.

»Versprich mir bitte, dass du deine Manie nun nicht auf den armen Oliver ausweitest.«

Die Sachen von Oliver und mir behandele ich stiefmütterlich. Ich bin ganz froh darüber, dass er mehr der Pullover-Typ ist.

»Kann ich nicht garantieren. Vor mir liegen ein Stapel Unterhosen, seine Sportklamotten und die Autozeitschriften.«

»Katja!«

»Mama, natürlich nicht. Ganz so verrückt bin ich nun doch nicht.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Mach dir keine Sorgen, ich kriege das hin.«

»Glaub mir Kind, die Zeit ist reif, um dich ein Stück weit abzunabeln. Für dich ist das noch wichtiger als für Emma. Und das Schöne ist, dass sie trotzdem immer deine Tochter bleibt.«

»Das hatte ich ganz vergessen. Danke. Wenn ich dich nicht hätte! Bis bald, Mama.«

Ich trinke meinen Milchkaffee aus und bleibe mit meinem Blick an dem großen bunten Bild hängen, das an der gelben Wand gegenüber dem Küchentisch hängt. Es sieht aus wie abstrakte Kunst, ist aber ein Werk, das ich mit vier gemalt habe. Meine Mutter hat es bearbeiten und rahmen lassen. Ich bin schon oft gefragt worden, wer denn der Künstler sei. Meine Mutter. Sie hat mir all die Liebe und Nähe gegeben, die ich brauchte, aber sie hat mich immer an der langen Leine gelassen. Wie oft hat sie mir in den letzten Jahren gesagt, dass ich mich nicht nur auf Emma konzentrieren dürfe, weil ich sonst eines Tages in ein riesiges Loch fallen würde. Ich habe das jedes Mal abgetan. Nun weiß ich, was sie meinte.

Meine Mutter ist Goldschmiedin und designt auch mit Mitte sechzig noch ihren eigenen Schmuck. Sie wollte nie in ihrem Leben etwas anderes machen. Ich dagegen schon. Nur spielte das irgendwann keine Rolle mehr.

Ich räume mein Geschirr in die Maschine und streife dann durch das leere Haus. Langeweile werde ich heute nicht haben. Es gibt einiges zu tun. Obwohl es bereits Mitte Januar ist, sieht es bei uns noch immer so aus, als käme morgen der Weihnachtsmann. Notgedrungen nehme ich die Weihnachtsbeleuchtung ab und verstaue all die Engel, Nussknacker, Kerzenhalter und die große Pyramide wieder in ihren Kisten. Den Tannenbaum hat Oliver schon letzte Woche zerhackt. Ich bin ein Weihnachtsfan und finde, dass das Fest der Liebe ganzjährig gefeiert werden sollte. Daher zögere ich den Rückbau jedes Jahr so lange wie möglich hinaus.

Weihnachten hat es geregnet. Jetzt schneit es draußen in dicken Flocken. Es sieht aus wie im Winterwunderland. Schade, dass Emma das nicht sieht, sie liebt den Schnee. Ich mache ein Foto von unserem weißen Garten und schreibe ihr dazu:

Jetzt fehlt nur noch dein Schneezoo. Ich denke an dich, Mama

Emma war immer meisterhaft darin, Tiere aus Schnee zu bauen. Ob es heute noch so wäre?

Wehmütig betrachte ich auf der Kommode im Wohnzimmer gerahmte Kinderbilder von ihr. Daneben stehen Familienfotos und einige von Oliver und mir. Was für ein schönes Paar wir waren! So jung, und doch längst nicht mehr unbeschwert. Erinnerungen und Gefühle steigen plötzlich in mir hoch wie Wasser bei Sturmflut. Es liegt einfach an der Zeit, denke ich, an dieser Umbruchzeit. Da gibt es kein Entkommen.

Oliver und ich sind seit siebzehn Jahren ein Paar. Wir hatten die gleichen Ideale, wollten nicht nur für Ärzte ohne Grenzen arbeiten, sondern demonstrierten auch für eine atomwaffenfreie Welt und engagierten uns für Amnesty International. Die Welt ein kleines bisschen besser machen, das war unsere Mission.

Nach nur sechs Monaten Beziehung wurde ich ungeplant schwanger. Wir freuten uns darauf, Eltern zu werden. Mit Oliver konnte ich mir alles vorstellen. Dass ich mit dem Studium dann erst mal pausieren sollte, nahm ich gern in Kauf. Doch alles kam anders, das Schicksal meinte es nicht gut mit uns. Es fällt mir noch immer sehr schwer, diesen dunklen Punkt in meinem Leben zu akzeptieren. Ich schlucke schwer und betrachte unser Hochzeitsfoto. Oliver und ich heirateten kurz nach Emmas Geburt, da war ich dreiundzwanzig. Auf dem Foto sehe ich den überschminkten Schmerz und die Trauer in meinem Gesicht. Die Hochzeit sollte uns nach allem, was passiert war, Trost spenden und Halt geben. Wir wollten uns beweisen, dass wir zusammengehören, auch an dunklen Tagen. Mein Studium habe ich nie wieder aufgenommen.

Ich stelle das Foto zurück und lasse meinen Blick durch die Terrassentür in den hellgrauen Schneehimmel gleiten.

Mit Oliver rede ich schon lange nicht mehr über die schlimmste Zeit meines Lebens, unseres Lebens. Er scheint das finstere Kapitel nach all den Jahren für sich genauso beerdigt zu haben wie … Nein, ich möchte mich jetzt nicht weiterquälen mit der Erinnerung.

Ich hauche einen Kuss auf ein Foto, das Emma als fünfjährigen Lockenkopf mit türkisfarbenem Badeanzug und Strohhut am Strand zeigt. Stolz posiert sie neben einem beachtlichen Sandschloss, das sie mit Oliver gebaut hat. Dann werfe ich meinen alten Parka über, schlüpfe in Boots, gehe nach draußen und schippe Schnee. Die körperliche Betätigung an der frischen Luft tut gut.

Später unternehme ich einen langen Spaziergang und stapfe über verschneite Felder und Wiesen in Richtung Ostsee. Ich lasse die letzten Häuser hinter mir und sehe nichts als diese wunderschöne, wie in Watte gepackte Natur. Als ich endlich die aufgewühlte See vor Augen habe, wird mein schweres Herz leichter. Das Rauschen der Brandung klingt für mich wie eine Ansprache: Du schaffst das, Katja, du schaffst das!

Am Abend bin ich so kaputt, dass ich gleich nach der Tagesschau auf dem Sofa einschlafe und erst kurz vor Mitternacht aufwache. Auf dem Bildschirm wird einer Frau ein Sack über den Kopf gestülpt, das lässt nichts Gutes ahnen. Ich mache den Fernseher aus und gehe ins Bett. Von Oliver habe ich den ganzen Tag nichts gehört. Er fehlt mir, und das nicht nur, weil mir niemand die Füße wärmt.

Es ist Sonntagabend. Unsere gemeinsame Tatort-Zeit, die uns heilig ist. Oder besser: die uns heilig war, denn heute sieht es fast so aus, als würde Oliver den Anfang verpassen.

»Oli! Beeil dich, der Vorspann läuft schon«, rufe ich durchs Haus.

»Ich brauche noch ein paar Minuten, bin gleich da!«

Was kann ihm denn plötzlich wichtiger sein als der Tatort?

»Was machst du?«, brülle ich und kriege keine Antwort.

Ich mag nicht allein Tatort schauen. Dann lieber gar nicht. Ich schalte um und sehe einen Mann und eine Frau, die bei strahlendem Sonnenschein an Klippen entlangspazieren. Dabei hatte ich mich so darauf gefreut, mich auf dem Sofa an Oliver zu kuscheln und dabei dem Krimi zu folgen.

Obwohl er den ganzen Tag zu Hause war, haben wir uns nur beim Frühstück etwas länger unterhalten. Aber das war kein gutes Gespräch.

»Ich fühle mich jetzt viel besser«, teilte er mir über seinen Besuch beim Steuerberater mit. »Walter ist einfach genial.«

»Und sein Weinkeller auch, oder?«, hakte ich nach.

»Zugegeben, der ist wirklich nicht schlecht. Eine kleine Weinprobe konnte ich natürlich nicht ablehnen.«

»Und dann bist du noch Auto gefahren?«

»Ach Katja, ich kann schon auf mich aufpassen. So schlimm war das nicht.«

»Wann warst du denn überhaupt zu Hause?«

»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Und sei mir nicht böse, aber auf so ein Verhör habe ich keine Lust.«

Er stand auf und verschanzte sich in seinem Arbeitszimmer, das Mittagessen ließ er ausfallen. Was war nur los mit uns? Ich spürte wieder schmerzlich, dass etwas fehlte.

Der Höhepunkt des Tages bestand am Nachmittag aus dem Wiedersehen mit Emma per Skype. Sie wirkte etwas müde, aber zufrieden. Ganz aufgeregt hat sie erzählt, dass in Philadelphia ebenfalls Schnee liegt und dass sie mit der Gastfamilie schon eine Tour durch die Stadt unternommen hat. Philadelphia sei ganz toll, und das Haus der Familie am Stadtrand auch. Zum Beweis führte sie Oliver und mich durch die Räume und zeigte mir ihr Zimmer. Auch Gastvater Dan und Gastmutter Sarah, Gastschwester Amber und Hund Barack winkten in die Kamera. Die Familie inklusive des Hundes wirkte sehr sympathisch. Mir fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn ich gleichzeitig einen feinen Stich verspürte.

»Meinetwegen können wir uns immer sonntags sehen, aber nicht öfter«, sagte Emma bestimmt.

Ich spürte, wie stolz sie auf sich war. In der Vergangenheit war es meist so, dass Emma in der Fremde ein so starkes Heimweh entwickelte, dass ich sie wieder abholen musste, egal ob aus dem Reit-Camp, von einer Klassenfahrt (dann meist mit der Ausrede verbunden, dass sie krank sei) oder von den Großeltern. Ich muss zugeben, dass ich sie nie lange zappeln ließ und immer zur Stelle war, wenn sie nach mir verlangte. Oliver fand das unmöglich, aber ich konnte nicht anders. Und nun war alles neu. Emma beharrte auf ihr Recht auf Weiterentwicklung, das musste ich anerkennen. Letztlich konnte auch ich mich dadurch nur weiterentwickeln. Den Gedanken ließ ich innerlich mit einem drastischen Amen ziehen.

Ich greife in das Schälchen mit Erdnüssen, das vor mir auf dem Tisch steht. Endlich kommt Oliver.

»Was, kein Tatort?«, fragt er.

Ich schalte um, von dem Alternativprogramm habe ich ohnehin nichts mitgekriegt. »Doch, aber ohne dich mochte ich ihn nicht sehen. Was war denn los?«

»Ich bin noch einmal den pathologischen Befund von Frau Christiansen durchgegangen. Freitagnachmittag kam das Ergebnis, malignes Melanom. Ich habe sie für morgen früh in die Praxis bestellt.«

Ich greife nach der Fernbedienung und stelle den Ton aus.

»Scheiße.«

Oliver lässt sich neben mir auf die Couch fallen. »Ja, das ist es. Sie muss so schnell wie möglich operiert werden.«

Mir gehen die Patientenschicksale immer sehr nah. Schwarzer Hautkrebs wird in unserer Praxis nicht häufig diagnostiziert, umso erschütternder ist jeder Fall. »Wie weit hat es sich schon ausgebreitet?«, frage ich. Bei allem Verständnis für Olivers Arbeit wundert es mich trotzdem, dass er am Sonntagabend Befunde studiert, es muss wirklich schlimm sein.

»Das möchte ich jetzt nicht ausführen, für heute ist Feierabend.«

Was würde ich dafür geben, um Oliver wieder nah zu sein. Es kann doch nicht sein, dass unsere Nähe genauso verloren gehen kann wie ein Portemonnaie oder ein Kassenzettel.

»Möchtest du noch etwas essen?«, frage ich.

»Nein, danke. Aber ein Bier wäre nicht schlecht.«

»Bekommst du sofort.«

Ich springe auf und komme mit zwei Flaschen zurück.

Oliver öffnet die Flasche mit einem lauten Plopp und nimmt einen großen Schluck. Obwohl ich Bier nicht besonders mag, trinke ich eins mit. Auf die Nähe, denke ich.

Der Tatort flimmert nun wieder mit Ton vor sich hin. Ich stelle meine Flasche ab und breite die kuschlige braune Felldecke über uns aus.

»Bitte halt mich ganz fest!« Kaum ist der Satz raus, merke ich, wie flehend ich mich anhöre.

Oliver legt erstaunlich unbeholfen einen Arm um mich.

»Nicht so! Mit beiden Armen! Und fester.« Ich nehme ihm die Flasche aus der Hand und lege seine beiden Arme um mich, dann ziehe ich ihn ganz dicht an mich heran.

»Wir schaffen das!«, flüstere ich.

»Was meinst du?«

»Alles!«

»Hm.«

Ich habe auf einmal das Bedürfnis, Oliver zu küssen, so richtig. Das machen wir kaum noch. Und so bedecke ich sein Gesicht mit kleinen Küssen und arbeite mich zielsicher zu seinem Mund vor. Doch er erwidert mein Begehren nicht. Stattdessen gibt er mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund und erklärt damit meinen Annäherungsversuch für beendet. Diesmal schaffe ich es nicht, das einfach hinzunehmen.

»Rieche ich unangenehm? Habe ich etwas Ansteckendes, von dem ich nichts weiß? Oder willst du mich nur nicht mehr?« Liebst Du mich überhaupt noch? Ich habe Angst vor seiner Antwort. In meinem Hals ist ein Kloß, den ich nicht mal eben so herunterwürgen kann. Olivers Schweigen ist wie Folter.

»Oliver?«

»Katja, versteh doch, ich bin einfach kaputt. Deswegen müssen wir doch keine Wissenschaft daraus machen.«

»Du machst es dir immer leicht. Über uns zu reden, das war noch nie deine Spezialität. Wie ich mich fühle, das interessiert dich anscheinend gar nicht.«

»Natürlich interessiert es mich. Aber das müssen wir doch nicht jetzt ausdiskutieren. Außerdem weiß ich doch, wie es dir geht. Deswegen kann ich dir nur raten, die Zeit ohne Emma jetzt erst mal für dich zu nutzen. Mach was Schönes. Du hast alle Möglichkeiten.«

»Was soll das denn heißen? Dass du dabei keine Rolle spielst? Danke für deine aufbauenden Worte. Gute Nacht.«

Mit großer Geste befreie ich mich von der Decke und stehe auf.

»Mein Gott, jetzt mach doch deswegen kein Theater!«

»Mach ich auch nicht. Die Vorstellung ist für heute beendet.« Ich drehe mich um und verlasse das Zimmer. Der Kloß in meinem Hals hat Nachwuchs bekommen und sich nun auch in meinem Magen ausgebreitet. Es ist ein Wunder, dass ich bei dem Gewicht noch laufen kann.

Kann das alles sein, was von Oliver und mir übrig ist? Hat Emma all das nur übertüncht, als sie noch bei uns war? Leise weine ich mich in den Schlaf.

In der Praxis gehen Oliver und ich professionell miteinander um, wie Margit feststellt. Sie hat mitgekriegt, dass wir schon rosigere Zeiten hatten. »Ihr solltet euch für das kommende Wochenende pure Zweisamkeit verordnen. Fahrt doch einfach mal weg. Neue Umgebung, anderes Bett«, raunt sie mir anzüglich zu.

»Mach dir keine Sorgen, so schlimm ist das alles nicht«, lüge ich leise mit einem Blick ins gut besetzte Wartezimmer. Es muss niemand mitkriegen, worüber wir hier sprechen.

Ich mag Margit zwar sehr, aber sie ist immer noch unsere Mitarbeiterin und soll nicht detailliert über unser Privatleben Bescheid wissen. Das zumindest predigt Oliver mir, wenn er wieder einmal erstaunt darüber ist, was sie alles weiß. Es fällt mir nicht immer leicht, die Distanz zu wahren.

»Dann ist es ja gut.« Margit beugt sich wieder über den Computer, kommt aber nicht voran mit ihrer Arbeit, weil ständig das Telefon klingelt.

Im Hintergrund wuselt Elli herum, die heute nach einem Infekt ihren ersten Arbeitstag im neuen Jahr hat. Sie ist die zweite Arzthelferin und unterstützt Oliver und Frau Jensen, die Assistenzärztin, die seit gestern aus dem Urlaub zurück ist. Elli ist Mitte dreißig, nett und unauffällig, Mutter zweier Söhne und geplagt von einer Schuppenflechte. Sie würde niemals woanders arbeiten, denn hier sei sie stets bestens versorgt, betont sie gern.

Die Ärztin Imke Jensen ist seit einem halben Jahr in der Praxis beschäftigt. Sie ist erst achtundzwanzig, verfügt über einen Porzellanteint, blondes Engelshaar und eine Zuchtperlenkette. Imke, die ich beharrlich Frau Jensen nenne, ist unheimlich freundlich. Sie lächelt eigentlich immer. Selbst als ich sie einmal sanft darauf hinwies, dass sie auf dem empfindlichen Parkett nicht zwingend täglich Absätze mit fünf Millimeter Durchmesser tragen müsse, hat sie mich angestrahlt. Seitdem schwebt sie in Birkenstock-Pantoffeln durch die Praxis. Ich finde zwar, dass sie noch ein Semester in Auffassungsgabe belegen sollte, aber Oliver ist mit ihr fachlich sehr zufrieden.

Ich setze mich an meinen Schreibtisch und blättere in den Angeboten unseres Blumenlieferanten. Alternativ könnte ich mir auch die Nägel feilen, die neuen Proben der Cremehersteller testen oder in einer Ecke meditieren. Heute brennt nichts an. Ich bin eine von den Managerinnen, die sich über zu viel Stress nicht beklagen können, darüber sollte ich doch froh sein. Oder?

Margits Stimme lässt mich aufhorchen. »Hallo Frau Christiansen. Wie geht es Ihnen heute?« Ehrliches Mitgefühl schwingt darin mit. Auch sie war geschockt, als sie von der Diagnose erfuhr. Frau Christiansen weiß seit gestern Bescheid. Oliver hat mit einem befreundeten Kollegen im Krankenhaus gesprochen. Er wird sie noch in dieser Woche operieren.