Das Geschenk eines Sommers - Gabriele von Braun - E-Book

Das Geschenk eines Sommers E-Book

Gabriele von Braun

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Beschreibung

Clara, Ende dreißig, ist erfolgreich im Job, hat eine schicke Wohnung in München, einen alten, leicht übergewichtigen Kater und eine Liebe: Martin. Doch der ist mit einer anderen verheiratet. Als sie sich für einen Besuch bei ihren Eltern in Berlin ankündigt, die sie viel zu lange nicht gesehen hat, erfährt sie, dass ihre Mutter Ruth schwer krank ist. Die Diagnose: Krebs - Heilung ausgeschlossen. Clara ist am Boden zerstört, aber Ruth beschließt, die Zeit, die ihr noch bleibt, zu genießen und den Sommer noch einmal zu spüren. Gemeinsam fahren Mutter und Tochter in die Uckermark, wo Ruth aufgewachsen ist. Eine schöne, aber vor allem sehr emotionale Zeit beginnt, die zeigt, was wirklich wichtig ist, und Clara die Augen auch in Sachen Liebe öffnet ...


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"Das Buch bietet ohne Gnade alles was das Leben zu bieten hat. Ein lehrreicher Roman über das, was wirklich zählt, mit Tiefgang, Witz, sympathischen Figuren und kommt ohne Kitsch aus. Absolut empfehlenswert!" (LilaKuhhh, Lesejury)


"Gabriele von Braun hat einen wundervollen Roman geschaffen, der immer genau den Punkt trifft, zwischen einer gewissen Tiefgründigkeit und einer Prise Humor, der sehr realistisch beschreibt, wie unterschiedlich Menschen mit solchen Situationen umgehen." (Garten_Fee_1958, Lesejury)


"Insgesamt ein sehr ergreifendes Buch, dass sich so gut lesen lässt, dass man es kaum zur Seite legen kann." (Angel0885, Lesejury)



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Seitenzahl: 391

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

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EPILOG

Über dieses Buch

Clara, Ende dreißig, ist erfolgreich im Job, hat eine schicke Wohnung in München, einen alten, leicht übergewichtigen Kater und eine Liebe: Martin. Doch der ist mit einer anderen verheiratet. Als sie sich für einen Besuch bei ihren Eltern in Berlin ankündigt, die sie viel zu lange nicht gesehen hat, erfährt sie, dass ihre Mutter Ruth schwer krank ist. Die Diagnose: Krebs – Heilung ausgeschlossen. Clara ist am Boden zerstört, aber Ruth beschließt, die Zeit, die ihr noch bleibt, zu genießen und den Sommer noch einmal zu spüren. Gemeinsam fahren Mutter und Tochter in die Uckermark, wo Ruth aufgewachsen ist. Eine schöne, aber vor allem sehr emotionale Zeit beginnt, die zeigt, was wirklich wichtig ist, und Clara die Augen auch in Sachen Liebe öffnet …

Über die Autorin

Gabriele von Braun brach ihr Soziologiestudium ab, um etwas absolut Ausgefallenes zu wagen: Sie studierte BWL. Doch es nützte nichts – sie landete auf direktem Weg »in den Medien«, wo sie u.a. als PR-Redakteurin tätig war, bevor sie zu SPIEGEL TV überlief. Inzwischen arbeitet sie im Programm-Marketing für eine Landesrundfunkanstalt. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Gabriele von Braun

Das Geschenk eines Sommers

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Clarissa Czöppan

Lektorat/Projektmanagement: Sarah Patzer

Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de unter Verwendung von Motiven © iStock.com/andersboman, © iStock.com/Jannoon028

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt

ISBN 978-3-7325-3754-9

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Die Wahrheit ist: Das Leben ist entzückend, schrecklich, charmant, grauenvoll, süß, bitter - und das ist alles.

(Anatole France)

1

Es gibt diese Tage, die sind ganz besonders. Ganz besonders deprimierend. Während der Regen draußen an die Fensterscheiben klopft, hält er dir drinnen brutal wie ein Rosenverkäufer deine Einsamkeit vor Augen. Da nutzt es auch nichts, dass nebenan im Bad die Dusche rauscht und unter ihr ein gutgebauter Mann vor sich hinsummt. Mein alter Hängebauch-Kater Alfred springt zu mir aufs Bett. Mit starr auf mich gerichtetem Blick stapft er auf der weißen Damast-Bettwäsche herum, fast vorwurfsvoll, als wollte er mir sagen: »Aber Clara, wie kannst du dich einsam fühlen, ich bin doch da!«

»Dafür bin ich dir dankbar, aber du bist und bleibst eine Katze, auch wenn du das manchmal vergisst«, murmle ich im schummerigen Licht und kraule sein weiches schwarzes Fell. Ja, genau so habe ich mir mein Leben mit siebenunddreißig vorgestellt: Tisch und Bett teile ich mit einem elfjährigen, leicht übergewichtigen Hauskater, während der Mann, den ich liebe, mit seiner Ehefrau und zwei Kindern zusammenlebt.

Ich greife nach dem halbvollen Champagnerglas auf dem Nachttisch und sage zu mir: »Gut gemacht, Clara! Auf das Leben!« Martin weiß, was gut ist. Immer wenn er mittwochs zu mir kommt, bringt er eine Flasche Champagner mit. An diesem Tag spielt er Squash mit einem Kollegen, denkt zumindest seine Frau. Wenn er bei mir ist, bestellen wir Sushi und tummeln uns gern auf meinem neuen, unglaublich bequemen Boxspringbett. Gegen 22 Uhr verlässt er mich dann wieder. In Martins Leben bin ich der Kick. Obwohl mir das bewusst und längst zu wenig ist, lasse ich unsere Affäre weiterlaufen. Seit über zwei Jahren geht das nun schon so. Dabei habe ich immer geglaubt, dass ich mich niemals auf so ein Verhältnis einlassen würde – bis ich mittendrin steckte. Wie eine unbedarfte Sechzehnjährige, die gern Sprüche postet wie Liebe ist, wenn aus dem Ich und Du ein Wir entsteht, klammere ich mich an den Gedanken, dass Martin sich eines Tages voll und ganz zu mir bekennen wird.

»Hast du meine Unterhose gesehen?«, fragt er da und reißt mich aus meinen Gedanken. Er hat sich ein weißes Handtuch um die schmalen Hüften geschlungen und steht im Türrahmen, reingewaschen, seine Frau wird mich nicht riechen.

»Nein, aber weit kann sie nicht sein.«

Wie gut er aussieht! Auf seinem durchtrainierten Oberkörper schimmern Wassertropfen, sein volles, dunkles Haar kringelt sich durch die Feuchtigkeit, was er hasst und ich liebe. Und dazu dieser Blick aus seinen sanftmütigen braunen Augen, der alles zu versprechen scheint. Stopp! Manchmal wünschte ich, er wäre weniger attraktiv und ich etwas weniger oberflächlich. Aber wäre es dann leichter?

»Du, ich muss dir noch was sagen …«, meint Martin.

»Dass du zu Hause ausgezogen bist?«

»Clara! Nein … Leider können wir das Pfingstwochenende doch nicht zusammen verbringen. Tut mir leid, ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hast.«

Ich schnelle empor wie Jack in the Box. »Wie bitte? Sag, dass das ein Witz ist! Oder ist dir eine lebensbedrohliche Krankheit dazwischengekommen?«

Martin grummelt etwas Unverständliches in Richtung des petrolfarbenen Flokatis, bückt sich und hebt seine Unterhose auf.

»Wir planen das Wochenende seit Monaten. Das Hotel in Wien ist doch längst gebucht! Und eine Woche vorher sagst du mir nach dem Liebesakt beiläufig ab?! Ich bin doch kein Friseurtermin!« Meine Stimme ist laut geworden. Alfred springt erschrocken vom Bett und verlässt das Zimmer.

»Glaubst du etwa, mir passt das? Aber Tina und die Kinder bleiben in München. Ihr Weisheitszahn hat sich entzündet. Jetzt ist er erst mal ruhiggestellt, aber er muss nächste Woche raus, und deswegen fliegen sie am Freitag nicht …«

Unwirsch falle ich ihm ins Wort. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber die Wehwehchen deiner Frau interessieren mich nicht, nicht mal, wenn es um einen ihrer Zähne geht.« Ich schlage mit der Faust aufs Kissen. »Sie braucht doch sicher keinen Krankenpfleger. Sie wusste doch, dass du etwas vorhast, wenn sie und die Kinder nicht da sind … das wusste sie doch, oder?«

Martin lässt das Handtuch fallen und steigt in seine Unterhose.

«Himmelherrgott, jetzt sag was! Du belügst sie doch ständig, woran hakt es diesmal?«

»Ich habe den Kindern versprochen, dass ich mit ihnen nach Paris ins Disneyland fahre. Dann kann Tina sich nach ihrer Zahn-OP zu Hause erholen.«

Ich sinke wieder in die Horizontale. »Schön, dass ich die Letzte bin, die davon erfährt. Hah! Pfingsten nach Disneyland, das allein wird die Strafe sein, die du verdienst! Wann werden deine Kinder noch mal volljährig?« Martin bringt mich zur Weißglut mit seinem Nachwuchs, der ständig vorgeschoben wird, wenn es um mehr geht als ein paar gemeinsame Stunden, ganz zu schweigen von einem gemeinsamen Leben. Dabei dürften die Jungs mit zwölf und vierzehn Jahren inzwischen wissen, dass das Leben nicht ausschließlich auf einem Ponyhof stattfindet.

»Komm, Clara, du weißt, wie sehr ich dich liebe. Aber die Jungs brauchen mich. Wir holen das nach. Und irgendwann werden wir jedes Wochenende zusammen verbringen.«

»Hörst du dir manchmal selber zu? Geh jetzt einfach!« Wütend ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Tatsächlich unternimmt Martin keinerlei Anstalten, sich mir noch einmal zu nähern. Warum tust du dir das überhaupt an? Wo soll das hinführen? Wirst du in dreißig Jahren noch immer auf ihn warten? Die Fragen meiner inneren Stimme gehen mir gehörig auf die Nerven. Weil ich ihn liebe und weil das kein Dauerzustand bleiben wird! Ich ignoriere, dass meine innere Stimme mich auslacht.

Da höre ich, wie die Tür ins Schloss fällt. Er ist weg, ohne ein weiteres Wort. Wütend befreie ich mich von der Decke und setze mich auf den Rand des Bettes.

»Du Dreckskerl! Du unsensibler Sauhund!«, fluche ich.

Durchatmen, tief durchatmen. »Alfred … Alfred, komm her.« Meine Stimme ist brüchig. Mit einem heiseren Mauzen und pfeilgerade nach oben gerichteter Schwanzspitze kommt mein treuer Kater angetrottet. Ich schnappe ihn mir und nehme ihn auf den Schoß, wo ich gar nicht mehr aufhören kann, ihn zu streicheln. Es gibt in solchen Momenten wohl kaum einen besseren Therapeuten.

Dass Martin in mein Leben trat, verdanke ich meinem alten Freund Clemens. Die beiden arbeiten zusammen in der Geschäftsführung einer großen Filmproduktionsfirma, die jedes Jahr zu einer Sause auf dem Oktoberfest einlädt. Just an dem Tag, als ich Clemens dorthin begleitet habe, war Martin mein Tischnachbar. Bereits nach der zweiten Maß, einmal Schunkeln zu Das rote Pferd und einem fettigen Hendl wusste ich, dass er der Mann meines Lebens ist. Dummerweise erzählte er mir später, er sei bereits verheiratet. Aber in der Ehe laufe schon länger nichts mehr, und er sei nur noch der Kinder wegen mit seiner Frau zusammen, schob er nach. Da hatte ich mich ohnehin längst in ihm verloren; eine Notbremse gab es nicht mehr. Clemens wollte sich steinigen, als er von unserer Affäre erfuhr.

»Ausgerechnet Martin! Der hat noch nie etwas anbrennen lassen. Und ich habe ihn dir auch noch vorgestellt! Seine Frau tut mir ohnehin schon leid, und jetzt kommst auch noch du! Eine Affäre mit ihm ist weit unter deiner Würde!«, schimpfte er.

Ich hingegen dachte weder über seine Frau noch meine Würde nach. Denn aller Moral zum Trotz war das zwischen Martin und mir etwas ganz Besonderes. Dagegen halfen auch Clemens‹ Bemühungen nicht, mir interessante Single-Männer zuzuführen. Die hatten alle keine Chance gegen Martin. Inzwischen rollt Clemens nur noch mit den Augen, wenn ich wieder einmal wegen meines Beziehungsstatus rumjammere.

Clemens und ich haben uns mit Anfang zwanzig auf einer Party an der Uni kennengelernt. Er studierte Germanistik und Kunst, ich kämpfte mich durch ein BWL-Studium. Wir wurden ein Paar, merkten aber nach einigen Monaten, dass wir platonisch viel besser harmonieren. So schafften wir es, Freunde zu werden. Später verkuppelte ich ihn mit meiner Freundin Kati. Nach dem Studium blieben wir alle drei in München hängen.

Kati und Clemens, inzwischen verheiratet und Eltern von zwei reizenden Mädchen im Alter von vier und sieben Jahren, gehören zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Wie so oft habe ich das Bedürfnis, mich bei ihnen auszuheulen. Jetzt sofort! Mit einem zärtlichen Klaps schubse ich Alfred von meinem Schoß und suche mein Telefon. Es liegt in der Küche neben einer leeren Sushi-Box, aus der ich den restlichen Ingwer nasche, bevor ich sie in den Müll werfe.

Clemens nimmt ab.

»Stell dir vor, Martin hat mich soeben für Pfingsten abserviert. Weil seine Frau Zahnschmerzen hat und nicht mit den Kindern zu ihren Eltern fliegen kann! Das musst du dir mal vorstellen!«, donnere ich los.

»Guten Abend, liebe Claire, schön, deine Stimme zu hören. Gut geht es uns, die Kinder sind im Bett, und wir genießen die Ruhe bei einem Glas Wein.«

Claire, so nennt mich nur Clemens. »Entschuldige! Hallo, liebster Freund. Mir geht es gerade nicht so gut.«

»Habe verstanden. Du musst deine Zeit nicht mit ihm verbringen, das weißt du schon, ja?«

»Mist, das vergesse ich immer wieder.« Ich nehme ein Glas aus dem Schrank, um mir Leitungswasser einzuschenken.

»Ja, ja, ich weiß, die Liebe sucht man sich nicht aus, wie du immer so schön zu sagen pflegst. Claire, du bist, äh neben Kati natürlich, die hört übrigens mit …«

»Hi, Liebes«, ertönt nun Katis Stimme. »Sprich ruhig weiter, oh du mein Göttergatte.«

»Hallo? Ihr beiden hattet nur ein Glas Wein?«

»Öffnest du noch eine Flasche Rosé, Kati-Göttin?«

»Oje, euch geht’s gut«, sage ich.

»Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, also, du bist eine der schönsten und witzigsten Frauen, die ich kenne. Du könntest die jüngere Zwillingsschwester von Cameron Diaz sein! Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Und was machst du? Verschenkst dich an Martin, ein Jammer!«

Clemens schafft es, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. »Das nehme ich immer wieder gern als Kompliment! Mit wem vergleicht er dich momentan, Kati?«

»Keine Ahnung. Clemens, sag du es ihr.«

»Sie sieht aus wie Natalie Portman.«

»Wow! Auch nicht so schlecht«, sagt Kati und kichert.

»Ein gutes Assoziationsvermögen hast du schon immer gehabt, Clemens. Was macht ihr denn über Pfingsten?«

»Wir haben eine Hütte in den Bergen gemietet. Auf unserem Programm stehen ein paar aufs Wesentliche reduzierte Tage im Einklang mit der Natur«, sagt Kati.

»Klingt spannend. Aber ich sehe euch nach, dass ihr mich dazu nicht eingeladen habt. Vielleicht sollte ich einfach nach Hause fahren. Ich war seit Weihnachten nicht mehr in Berlin. Da wird es mal wieder Zeit, mich bei meinen Eltern blicken zu lassen.« Ich trinke einen Schluck Wasser und setze mich auf den kleinen Küchentisch aus Massivholz, der hält einiges aus.

»Wolltest du das nicht ohnehin öfter machen? Du arbeitest einfach zu viel«, sagt Clemens.

»Hey, wenigstens mein Job ist sechzig Stunden die Woche für mich da. Das nenne ich mal eine stabile Beziehung!«

»Du warst schon origineller«, kommentiert Kati.

»Aber das ist lange her. Mach nur so weiter«, sagt Clemens.

»Schon gut, ich weiß es ja selber.« Ich arbeite als Personalreferentin bei einem großen Autokonzern. Das hohe Arbeitspensum stecke ich gut weg, rede ich mir zumindest ein.

»Komm doch morgen Nachmittag bei uns vorbei. Ein paar Freunde von mir werden auch da sein«, sagt Clemens.

»Sag bloß, ihr feiert den Vatertag? Mit allem Drum und Dran? Ich weiß nicht, ob ich das erleben möchte.«

»Hallo? Wir leben in Bayern. Außer in deinem Liebesleben herrschen hier Zucht und Ordnung. Wir Jungs machen eine kleine Wanderung und sind am Nachmittag wieder zu Hause. Dann können wir zusammen Kaffee trinken und Kuchen essen.«

»Das klingt viel zu gesittet, das nehme ich dir nicht ab.«

»Los, Clara, komm, das wird lustig«, sagt Kati.

»Okay, ich überlege es mir und melde mich morgen. Und euch wünsche ich jetzt noch einen leidenschaftlichen Abend.«

Als ich mich nach dem Gespräch bettfertig mache, bleibt mein Blick etwas länger an meinem Spiegelbild hängen. Mein von Berufswegen so filmaffiner Clemens hat es raus mit seinen ewigen Schauspielerinnen-Vergleichen. Die jüngere Zwillingsschwester von Cameron Diaz, da gibt es wirklich Schlimmeres. Ich reiße meine blauen Augen auf, kämme meine schulterlangen blond-gesträhnten Haare und setze mein breitestes Grinsen auf. Passt.

Im Bett gehe ich gedanklich den morgigen Feiertag durch. Außer Laufen gehen habe ich nichts geplant. Das ist übrigens meine einzige Sucht, wenn man mal von der nach Martin und Häagen-Dazs Macadamia Nut Brittle absieht. Meist laufe ich vor der Arbeit und manchmal auch noch danach. Laufen ist eine Therapie, durch die ich schon so manche Stresssituation entschärfen konnte. Martin ist ebenfalls ein begeisterter Läufer. So schaffen wir es, dass sich unsere Wege ab und zu auch außerhalb des Mittwochs kreuzen. Noch ein schneller Blick auf das Telefon. Keine Nachricht von Martin. Was denkt der sich nur? Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich jetzt meine Laufschuhe schnüren. Aber seitdem mich einmal kurz nach Mitternacht eine Polizeistreife stoppte, weil sie dachte, ich wäre in Gefahr, habe ich mir abgewöhnt, so spät laufen zu gehen. Alfred hat es sich am Fußende gemütlich gemacht und signalisiert mir unmissverständlich, dass es nun wirklich Zeit zum Schlafen ist. Doch Martin spukt in meinem Kopf herum und raubt mir die nötige Ruhe. Er macht dich nicht glücklich! Doch! Da kann ich mich noch so sehr bemühen, die Gedanken an ihn in eine Kiste zu sperren und zu vergraben. Erst im Morgengrauen schlafe ich doch noch ein.

Alfred weckt mich um kurz vor halb neun mit lautem Schnurren und einem Stupser ins Gesicht. So lange schlafe ich normalerweise nie. Gerädert schäle ich mich aus den Federn und ziehe die Vorhänge auf. Die Regenwolken haben sich verzogen. Draußen strahlt die Sonne, nur ein paar Federwolken schweben unter dem blauen Himmel. Meine Laune hebt das nicht. Im Gegenteil: Martins Abgang gestern Abend ist plötzlich wieder so präsent, dass ich schreien möchte. Ich wähle in meiner Playlist Fuck you aus, einen Song von Lily Allen, drehe ihn so laut auf, dass Alfred flüchtet, und gröle mit. Danach fühle ich mich etwas besser.

»Komm, wir machen Frühstück«, rufe ich und gehe in die Küche. Alfred folgt mir und reibt sich an meinen Beinen. »Geht gleich los, Alf.« Ich öffne eine kleine Alu-Schale und fülle den Inhalt in sein Schälchen um. Laut schnurrend vertilgt er sein Menü mit Lachs. Ich mache mir einen Kaffee, koche zwei weiche Eier und stecke Brot in den Toaster. Ausnahmsweise werde ich heute erst laufen gehen, wenn ich das Frühstück verdaut habe, beschließe ich. Frühstück ist ein Luxus, den ich mir unter der Woche selten gönne. Durch meinen morgendlichen Bewegungsdrang habe ich zu wenig Zeit dazu. Da surrt mein Telefon. Ja! Eine Nachricht von Martin! Endlich!

Tut mir leid, wie es gestern Abend gelaufen ist. Habe Sehnsucht. Werde gegen zwölf eine Runde laufen gehen. Können wir uns sehen? ILM

ILM heißt In Liebe Martin. Meine Laune bessert sich schlagartig. Ich antworte: Okay, sage mein Date mit Gerard Butler ab. 12:15 Uhr an unserem Baum. CIB

CIB steht für Clara, immer bereit, so nenne ich mich gern, wenn ich mich mal wieder über mich selbst lustig mache. Das wird doch noch ein guter Tag!

Untermalt von Vogelgezwitscher genieße ich das Frühstück auf meinem kleinen Balkon, auf den mit Mühe ein Bistrotisch und zwei Stühle passen. Einer für mich, einer für Alfred. Ein Blumentopf, bepflanzt mit Lavendel, findet ebenfalls noch Platz. Wie sehr ich dessen Duft liebe! Von der dritten Etage aus habe ich eine gute Aussicht auf das Treiben unter mir. Mein Blick schweift in Richtung Gärtnerplatz, wo sich sicher auch an diesem Feiertag ein bunter Mix aus Super-Kreativen, Vanilla-Latte-Müttern und Hipster-Vätern tummelt.

Kurz vor zwölf werfe ich mir meinen Laufdress über und stürme aus der Wohnung. Ich renne die Reichenbachstraße herunter, überquere die Brücke über die Isar, biege ab und laufe weiter am Fluss entlang. Heute sind einige Spaziergänger unterwegs, die es zu umschiffen gilt. Dann sehe ich auch schon unseren Baum, eine wunderschön gewachsene Trauerweide. Unter ihren herabhängenden Zweigen haben wir uns schon so manches Mal geküsst. Ich bin ziemlich außer Puste. Mein Tempo war eindeutig zu hoch. Martin ist noch nicht da. Ich mache ein paar Dehnübungen, drehe meine Haare zu einem neuen Knoten, lasse mich auf den Boden sinken und schließe die Augen. Herrlich! Die Sonne küsst mich, und die Gesprächsfetzen, die von den Spaziergängern zu mir dringen, erscheinen mir wie Klänge aus einer fernen Welt.

Ich zucke zusammen, als mich etwas an der Nase kitzelt. Martin thront mit einem Grashalm in der Hand lächelnd über mir. Er trägt ein blaues Hightech-Shirt und eine graue kurze Hose. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. »Hast du mich erschreckt!«, sage ich.

»Das gelingt mir nicht so oft.« Er beugt sich zu mir und gibt mir einen schnellen Kuss auf den Mund. Dann reicht er mir seine Hand und zieht mich nach oben.

»Von wegen! Erinnere dich an gestern Abend. Da hast du mir wieder einmal gezeigt, was für ein erschreckend mieser Kerl du bist! Dafür sollte ich dich ins tiefste Sibirien schicken.«

»Tu das nicht! Mein Leben wäre arm ohne dich. Außerdem hab ich dir doch gesagt, dass es mir leid tut. Vergib mir!«

»Mit vergeben und vergessen habe ich es im Moment noch nicht so, eher mit vergraben und verwesen lassen.« Wow Clara, da hast du es ihm aber noch mal so richtig gegeben!

»Du bist süß, wenn du so aufbrausend wirst.«

»Und du bist widerlich, Martin Keil!« Wie er mich ansieht! »Irgendwann schütte ich dir Säure in deinen schmachtenden Blick, denn da ist ja nichts dahinter«, setze ich nach.

Martin zieht mich an sich. »Da täuschst du dich aber. Es steckt eine ganze Menge dahinter, nur ein kleines Stück tiefer. Kannst du es etwa nicht spüren?«

»Du bist unmöglich!«, sage ich und kichere. Wie sehr ich mich über mich ärgere, weil ich mich immer wieder von Martin um den Finger wickeln lasse, ohne Konsequenzen zu ziehen.

»Komm, wir laufen ein Stück«, sagt er da und trabt los.

»Unbedingt, deswegen sind wir ja hier«, erwidere ich. Für Martin ist alles zum Thema gesagt. So joggen wir nun in gemäßigtem Tempo nebeneinander her, witzeln herum und plaudern über Belanglosigkeiten wie die Filmstarts der Woche oder ein neues französisches Restaurant im Glockenbachviertel. Wenn wir zusammen sind, dann ist es ein Spiel mit Oberflächlichkeiten. Ängste und Sorgen teilen wir kaum, dazu reicht die Zeit nicht. Ich kneife die Augen zusammen. Die Sonne blendet, und ich ärgere mich darüber, dass ich meine Sonnenbrille zu Hause gelassen habe.

»Wie viel Zeit hast du noch?«, frage ich. Wie sehr ich es hasse, dass unsere Treffen nie ohne Blick auf die Uhr ablaufen.

»Noch ungefähr vierzig Minuten.«

»Hui! Da können wir nach dem Sex sogar noch essen gehen«, scherze ich, obwohl mir eher zum Heulen zumute ist.

»Clara, wie oft denn noch? Glaubst du, mir gefällt dieser Zustand?«

»Im Gegensatz zu mir kannst du daran aber etwas ändern!«

»Das haben wir doch schon tausendmal besprochen, so einfach geht das nicht.«

»Ja, ja. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das so noch mitmache.« Für wie glaubwürdig hältst du dich mit deinen leeren Drohungen? Ist ja gut!

»Gib mir noch etwas Zeit. Und jetzt lass uns den Augenblick genießen«, sagt Martin.

»Klar, was auch sonst?« Ich trete ihm in den Hintern und sprinte davon. Er holt mich im Nu ein und drängt mich vom Weg ab, immer weiter hinein ins Grün.

»Schätze, meine erste Meningitis wird auf dich gehen«, hechle ich. Schon zwei Zecken habe ich mir in der Vergangenheit bei dieser Art von Intermezzo eingefangen.

»Keine Angst, ich kenne einen guten Neurologen«, schnauft Martin und bettet mich sanft in irgendein Gebüsch, um mich dann leidenschaftlich zu küssen. Ja, ich bin wieder schwach geworden! Er ist gut! Ich lasse mich ein. Unsere verschwitzten Körper reiben sich aneinander, schwingen sich im gleichen Takt aufeinander ein, und dann endlich spüre ich, wie er …

«Ei, ei, ei was seh ich da, kein verliebtes Ehepaar. Noch ein Kuss, dann ist Schluss, weil er dann nach Hause muss«, tönt urplötzlich ein Kinderchor unweit von uns. Wie von der Tarantel gestochen schrecke ich hoch und stoße Martin von mir. Aus dem Off ertönt lautes Gelächter. Ich drehe mich um und sehe die davonsausenden Kinder nur noch von hinten.

»Kanntest du die? Woher wissen die das?«, witzele ich etwas zu bemüht. So recht gelingt es mir nicht, die Situation zu entkrampfen. »Wie peinlich! Nie wieder werde ich an einem Feiertag mit dir im Freien intim!«

»Ich habe mir das hier auch anders vorgestellt. Aber die kommen bestimmt nicht wieder. Los, lass uns weitermachen!« Martin streckt seine Hände nach mir aus.

»Dass du überhaupt daran denken kannst! Vergiss es!« Ich wehre ihn ab und wiederhole den Kinderspruch in einem schlimmen Singsang. Plötzlich müssen wir beide lachen und können gar nicht mehr aufhören. »Komm, jetzt wird weitergelaufen. Wir sind ja nicht zum Spaß hier«, sage ich nach einer Weile resolut. Denn unsere Zeit ist schon wieder um. Gemeinsam geht’s zurück zu unserer Weide, von wo aus jeder wieder seiner eigenen Wege rennt.

Zurück in der Wohnung mixe ich mir nach einer ausgiebigen Dusche einen Smoothie aus Erdbeeren, Avocado, Feldsalat und Apfelsaft. Ich gieße das dickflüssige Gebräu in einen Maßkrug und trinke einen großen Schluck. Dann schlendere ich weiter ins Wohnzimmer. Nun wohne ich schon seit vier Jahren in dieser Wohnung. Es war wirklich ein Glücksfall, dass ich die 52 Quadratmeter in einer von Münchens Top-Lagen bekommen habe. Ein Kollege und seine Freundin haben sie mir überlassen, nachdem sich Nachwuchs angekündigt hatte. Hier fühlte ich mich vom ersten Tag an zu Hause. Eingerichtet habe ich mein kleines Reich mit Design-Klassikern und Flohmarktschnäppchen. Eine Wand im Wohnzimmer habe ich türkis gestrichen, so wirkt der Raum viel frischer und lebendiger. Davor steht mein hellgraues Kuschelsofa, über dem eine Collage hängt, die Szenen in Schwarz-Weiß aus Der Swimmingpool mit Alain Delon und Romy Schneider zeigt. Daneben stehen Alfreds Designer-Kratzbaum und meine neueste Investition: Bogenhanf, der größte, den ich kriegen konnte. Nachdem mir Dank meines missratenen grünen Daumens auch noch die letzte Zimmerpflanze eingegangen war, musste etwas Pflegeleichtes her. Meine Mutter hat sich amüsiert, als ich ihr ein Foto von meinem Neuzugang geschickt habe, und kommentierte: »Glückwunsch zu dieser Behördenpflanze, Clärchen. Die stand jahrelang bei uns im Lehrerzimmer, niemand hat sich gekümmert, aber sie ging nicht ein. Genau das Richtige für dich.«

Mama war Lehrerin für Kunst und Musik, vor vier Monaten ging sie in Rente. Ich betrachte ein Foto, das auf meinem kleinen Sekretär steht. Arm in Arm stehen wir lachend auf einem Berggipfel; unsere Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen.

Mein Telefon surrt. Es ist die Erinnerung an den heutigen 40. Hochzeitstag meiner Eltern. Sie sind eine Woche in Paris, um ihn dort zu feiern. Seit fünf Tagen sind sie nun schon in der Stadt der Liebe. Es ist untypisch, dass sie sich noch nicht gemeldet haben. Aber sicherlich steht so viel auf dem Programm, dass sie bisher nicht dazu gekommen sind. Ein Terroranschlag, Zugunglück oder Flugzeugabsturz wurde nicht gemeldet, das beruhigt mich. Ich finde es großartig, dass die beiden nun ihren zweiten Frühling genießen und endlich all das machen können, was sie immer aufgeschoben haben wegen der Arbeit. Mein Vater war bis vor einem Jahr Geschäftsführer einer Wohnungsbaugesellschaft – und Workaholic.

Eine ganze Woche Paris wäre da nur schwer drin gewesen. Jetzt werde ich die beiden Turteltäubchen aber doch mal stören und ihnen zur Rubinhochzeit gratulieren. Das Telefon meiner Mutter ist aus. Bei meinem Vater habe ich mehr Glück. Eigenartig, es erklingt gar kein ausländischer Rufton.

»Herzlichen Glückwunsch zum Hochzeitstag! Möge eure Liebe auch in den nächsten 40 Jahren weiter blühen!«

»Danke, danke …«

»Papa? Alles okay? Du klingst so komisch. Was ist los in Paris?«

»Wir sind nicht dort, wir sind in Berlin.«

»Was? Warum weiß ich nichts davon? Was ist passiert?« Mein Herz beginnt wie wild zu pochen.

»Deiner Mutter … deiner Mutter ging es nicht so gut. Sie musste ein paar Untersuchungen vornehmen lassen.«

»Was für Untersuchungen?« Ich lasse mich auf das Sofa fallen, in der einen Hand das Telefon, in der anderen den Smoothie-Maßkrug, an dem ich mich festhalte.

»Wegen ihrer Rückenschmerzen. Sie wollte dich nicht beunruhigen, deswegen hat sie dir nichts erzählt. Du kennst sie doch.«

Und ob ich sie kenne. Meine Mutter ist die stärkste Frau der Welt. Sie ist die einzige Person, die ich kenne, die sich nie selbst bemitleidet. Ihr Herz für andere ist so groß wie der Erdball, ihre eigenen Befindlichkeiten stellt sie hintenan. Wenn es ihr schlecht geht, tut sie es wie einen Mückenstich ab. Ich spüre, wie mir die Angst den Rücken hinaufkriecht.

»Deswegen hätte sie nicht Paris abgesagt. Ihr habt euch doch so darauf gefreut! Kann ich sie sprechen?«

»Ich sag ihr Bescheid, dass sie dich anrufen soll, ja?«

»Papa! Nein! Ich möchte sie sofort sprechen!«

»Hm, na gut, warte, sie ist im Garten.« Ich höre meinen Vater atmen und sehe ihn in Gedanken vor mir, wie er durch das Haus mit seinen knarrenden Dielenböden läuft, in dem ich jede Ecke kenne. Dann höre ich Vogelgezwitscher.

»Es ist Clara. Tschüs, meine Kleine.« Kurze Pause, das Telefon wird weitergereicht.

»Hallo, Clärchen, du wunderst dich sicher, dass wir hier sind. Weißt du, wir dachten, Champagner trinken können wir auch im Garten, da ist es nicht so hektisch.«

»Mama! Mach mir nichts vor. Seit wann hast du so starke Rückenschmerzen?«

»Hach, Papa konnte es nicht lassen. Mach dir keine Sorgen, alles halb so wild.«

»Und deswegen seid ihr nicht in Paris? Ach komm! Erzähle mir nicht, dass es schöner ist, im heimischen Garten Schampus zu trinken! Heute ist euer 40. Hochzeitstag!«

»Ja, ich weiß. Aber mein Rücken hat mir tatsächlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Deswegen hatte ich ein paar Arzttermine. Morgen muss ich wieder in die Charité.« Normalerweise klingt Mamas Stimme fest, klar und sonnig. Heute nicht.

»Wieder in die Charité?«, frage ich.

»Ja. Clärchen, genau aus dem Grund habe ich dir noch nichts erzählt, ich wollte keine Panik schüren.«

»Klarer Fall von völlig falscher Rücksichtnahme, so mache ich mir doch noch mehr Sorgen«, sage ich und stelle den Krug auf dem Couchtisch aus den Siebzigern ab. Alles Blut ist aus meinen Fingern gewichen, so sehr habe ich sie um den Griff gepresst.

»Das brauchst du nicht. Es geht schon wieder besser. Komm, lass uns nicht nur über meine Gebrechen sprechen. Was treibst du an diesem schönen Tag?«

»Mama! Glaubst du wirklich, dass du mich auf diese Weise beruhigen kannst? Nächstes Wochenende komme ich euch besuchen. Deine Ablenkungsmanöver kannst du dann vergessen.«

»Nanu, du wolltest doch mit … Wie nenn ich ihn nur? Ach egal. Nach Wien sollte es gehen, wenn ich mich recht entsinne.«

«Das hat sich zerschlagen. Und unter diesen Umständen hätte ich die Reise ohnehin gecancelt!«

Mehr kriege ich nicht raus aus meiner Mutter. Wir plaudern noch ein wenig über die neue Terrassenbestuhlung aus Teak, die sich meine Eltern geleistet haben, und das wechselhafte Wetter der letzten Tage.

Nach dem Telefonat bleibt ein mulmiges Gefühl zurück. Ich nehme den Kater auf den Arm und drücke ihn an mich. »Stimmt’s Alf? Es kann gar nichts Schlimmes sein! Mama ist doch mein unkaputtbarer Fels!«, raune ich, setze ihn wieder ab und rufe Kati an, um mein Kommen für den Nachmittag anzukündigen. Ich brauche dringend Ablenkung.

2

Kati und Clemens sind vor drei Jahren der Kinder wegen ins Grüne gezogen, nach Vaterstetten. Die Gemeinde gehört nicht mehr zu München, sondern zum Landkreis Ebersberg. Zu gut erinnere ich mich noch an ihre helle Freude darüber, als sie nach dem Wechsel des Autokennzeichens – aus M wurde EBE - immer wieder von Münchner Freunden mit dem kindischen Spruch Emanze bei Esel aufgezogen wurden. Ich biege in den ruhigen Primelweg ein und parke meinen Mini direkt neben der dichten Ligusterhecke, die das Grundstück meiner lieben Freunde umgibt. Für einen kurzen Moment bleibe ich noch im Auto sitzen und lasse meinen Blick zu ihrem liebevoll sanierten Spitzdach-Häuschen wandern. Als Clemens und Kati es kauften, war es angefressen vom Zahn der Zeit. Die beiden haben viel Herzblut investiert, um aus dem Haus ein Schmuckstück zu machen. Es erhielt ein neues Dach und einen weißen Anstrich, die alten grünen Fensterläden wurden aufgearbeitet und Wände versetzt.

Ob ich auch eines Tages eine Familie haben werde, mit der ich in einem Haus lebe? Mit Martin? Ach Clärchen, mach, dass du wegkommst von dem! Der tut dir nicht gut! Die Worte, die meine Mutter nach der Beichte meines Beziehungsstatus an mich richtete, hallen in mir nach. Sie war noch nie ein Fan von Martin, obwohl sie ihn nicht mal persönlich kennt. Dabei erzähle ich ihr öfter von schönen Dingen, die ich mit ihm erlebe. »Ach Mama!«, seufze ich und steige aus.

Dreckiges Männerlachen dringt zu mir herüber. Leider ist die Hecke so hoch, dass ich noch nicht sehen kann, wer sich da alles auf dem Grundstück tummelt. Ich betrete es durch das weiße Gartentor aus Holz. Der Garten ist ein wahres Kinderparadies. Baumhaus, Buddelkasten, Schaukel, Trampolin - alles da. Ich laufe am Haus entlang, dann sehe ich auch schon, von wem das Lachen kam. Clemens und vier weitere Männer sitzen in Tracht am großen Gartentisch. Sie wirken nicht so, als wären sie noch nüchtern. Statt Kaffee und Kuchen stehen Maßkrüge vor ihnen und mitten auf dem Tisch ein Fass Bier. Da kommt auch schon Kati auf mich zugestürmt und fällt mir um den Hals. »Es wird aber auch Zeit, dass du kommst.«

»Genau so habe ich mir ein gemütliches Kaffeekränzchen vorgestellt. Im Ernst, Hase, ihr habt mich hier unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergelockt«, sage ich.

Bevor Kati etwas erwidern kann, fliegt eine sehr laut vorgetragene Zote in mein Ohr. Die Männer haben noch nicht registriert, dass Besuch da ist. »Was hat eine Sechzigjährige zwischen den Brüsten, was eine Zwanzigjährige nicht hat?« Die Frage kommt von einem rotgesichtigen Lederhosenträger mit Hut, den ich noch nie gesehen habe. Er sitzt am Ende des Tisches.

»Nun sag schon!«, fordert der Geselle links von ihm.

»Den Bauchnabel.« Gelächter.

»Hm. Ich weiß nicht, auf welchen Schenkel ich zuerst schlagen soll. Hab schon lange nicht mehr so gelacht«, sage ich gequält.

Kati knufft mich. »Ach komm! Sieh es ihm nach. Wenn er nüchtern ist, hat er sogar etwas Niveau. Im Ernst, der Sebastian ist lustig. Den musst du kennenlernen.«

Ich runzle die Stirn. »Du meinst es ernst, Kati, oder? Tja, den gleichen Humor scheinen wir ja schon mal zu haben. Ist er noch Single?«

»Ja, ist er. Und ich denke, ihr würdet wirklich gut zusammenpassen.«

»Da hast du dir wirklich den perfekten Rahmen zum Verkuppeln ausgesucht. Woanders als hier kann man sich wohl kaum einen besseren Eindruck von jemandem verschaffen«, sage ich. Bevor Sebastian den nächsten Flachwitz freilassen kann, gehe ich zu den Männern und begrüße sie mit einem lauten Schlag auf den Tisch. »Fröhliche Himmelfahrt!«

»Hey … Hallo … Servus«, erwidert der Männerchor und wirft mir nacheinander die Vornamen seiner Mitglieder an den Kopf, die ich alle gleich wieder vergesse.

Clemens springt auf und wankt auf mich zu. »Sü… Süße, endlich kann ich euch miteinander bekannt machen«, sagt er. »Sebi, das ist sie, meine liebste Clara Diaz.«

Nun erhebt sich auch Sebastian mit glänzend rotem Gesicht. »Du hast nicht zu viel versprochen … sie … sieht … aus wie sie … Verrückt nach Mary habe ich mindestens fünf Mal gesehen.«

Mir ist sofort klar, dass ich eher eine Tonne Regenwürmer vertilgen würde, als Zeit mit diesem Sebi zu verbringen. Clemens will es immer noch wissen. »Er macht was Solides, er führt in dritter Generation eine Tischlerei, keine Frau und k… keine Kinder …«

Die drei anderen Typen fangen an zu klatschen und intonieren: »Clara und Sebi … Clara und Sebi …«

«Äh, Clemens, dass ihr diesen christlichen Feiertag voll auskostet, sei euch von Herzen gegönnt. Ihr werdet irgendwann schon sehen, was ihr davon habt. Aber ich bin raus. Sebi, es war mir wirklich keine Freude, dich kennenzulernen.«

Er strahlt über das ganze Gesicht und nickt, anscheinend hat er das k überhört. »Clemens kann dir meine Nummer …« Sebastian stößt auf. »Also … r… ruf mich an.«

Ich drehe mich zu Kati um und werfe ihr einen meiner legendären genervten Blicke zu, woraufhin sie sich sofort bei mir unterhakt und von den Jungs wegzieht. »Wenn du so schaust, glaubt jeder, dass du dazu fähig bist, sofort jemanden zu töten«, hat sie einmal zu mir gesagt, als wir in einer Schlange für ein Konzert anstanden und uns die Massen allein dank meines Gesichtsausdrucks nach vorn durchgehen ließen.

«Dass die Jungs dermaßen abstürzen, hat mich auch überrascht«, sagt Kati entschuldigend. »Aber ihr würdet wirklich gut zusammenpassen!«

»Sicher. Mindestens so gut wie Marianne und Michael. Eure Kuppelversuche in allen Ehren, Kati, aber lasst gut sein.«

»Irgendwann klappt es! So, jetzt kriegst du deinen Kuchen und ein koffeinhaltiges Getränk deiner Wahl. Von wegen, ich hätte dich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergelockt! Nur den Männern war nicht nach süß. Dann machen wir eben einen Mädchentisch.«

»Klingt gut.« Ich folge Kati durch die Terrassentür ins Wohnzimmer, wo ihre beiden Mädchen in der hellbraunen Sofa-Landschaft fläzen und auf einer Leinwand Ice Age schauen. Nachdem ich Milla und Lara mit einer innigen Umarmung begrüßt und ein paar Worte über das süße Faultier mit ihnen gewechselt habe, drängt mich Kati weiter in die Küche. »Komm, lass uns die Zeit nutzen. Ich bin froh, wenn wir wenigstens kurz unsere Ruhe haben. Der Film ist bald zu Ende.«

Auf der Arbeitsfläche der großen holzfurnierten Kochinsel stehen zwei Platten mit Kuchen. »Was magst du lieber? Apfel- oder russischen Zupfkuchen?«

»Och, ich probiere gern beides.« Ich setze mich auf einen der Stühle, dessen Sitzschale angeblich einer geöffneten Herzmuschel nachempfunden ist, wie Kati mir nach der Anschaffung freudestrahlend erzählte. Nun ist noch ein skandinavischer Esstisch aus massiver Eiche hinzugekommen, auf dem sie mir den Kuchen serviert. Mit ihrer Hightech-Kaffeemaschine, die mit jedem Café mithalten kann, zaubert sie mir dazu einen erstklassigen Cappuccino. Der Kuchen schmeckt köstlich, aber ich merke plötzlich, wie satt ich bin, obwohl ich kaum etwas gegessen habe. Kati setzt sich zu mir.

»Was ist los mit dir? Du kannst doch nicht schon wieder wegen Martin schlechte Laune haben!«

»Doch, kann ich. Aber das ist es diesmal nicht.« Ich zerquetsche mit der Gabel den Zupfkuchen. »Meine Eltern haben ihre Paris-Reise gecancelt, ohne mir etwas davon zu erzählen. Ich wollte ihnen heute zum Hochzeitstag gratulieren und habe mich gewundert, dass sie zu Hause sind. Meine Mutter hat mir etwas von Rückenschmerzen erzählt. Aber deswegen würde sie niemals diese Reise absagen. Ich habe ein ungutes Gefühl.«

Kati streicht mir über den Unterarm. »Was hat sie denn genau gesagt?«

»Dass sie schon länger unter starken Rückenschmerzen leidet und morgen wieder ein Termin in der Charité ansteht. Wieder! Natürlich soll ich mir keine Gedanken machen, deswegen hatte sie mir auch nichts erzählt.«

»Wer weiß, auf welche Koryphäe sie morgen trifft. Wahrscheinlich hätte sie sonst monatelang auf einen Termin warten müssen, wenn sie den nicht wahrnehmen würde. Vielleicht war ihnen die Reise doch nicht so wichtig, wie du geglaubt hast. Paris ist ja nicht gerade die sicherste Stadt. Erst letzte Woche haben sie doch wieder einen Anschlag verhindert.«

»Schrecklich. Das habe ich nicht mal mitgekriegt. Vielleicht mache ich mir wirklich völlig umsonst Sorgen.«

»Genau. Mach dich nicht verrückt. Und nächste Woche seht ihr euch ohnehin.«

»Am liebsten würde ich schon morgen nach Berlin fahren.« Ich nippe an meinem Cappuccino.

»Warum machst du es nicht, wenn es dir keine Ruhe lässt?«

»Weil ich übers Wochenende an den Spitzingsee fahre. Unsere Abteilung ist doch ausgerechnet an diesem Wochenende zu einem Workshop verdonnert worden. Wandel erfolgreich gestalten. Irgendwie ist das zynisch, immerhin müssen wir in den nächsten Monaten hunderte betriebsbedingte Kündigungen aussprechen. Manchmal hasse ich meinen Job! Und die Konjunktur sowieso!« Der Kuchen auf meinem Teller ist dank meiner Gabelattacken inzwischen ein einziger Matsch.

»Ach ja, das hast du erzählt. Da lobe ich mir meine Arbeit, da gibt es keine Flaute.« Kati arbeitet in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Caritas.

»Ich hatte mich so auf den Kuchen gefreut, aber ich kriege keinen Bissen mehr runter.« Entschlossen schiebe ich den Teller zur Seite.

»Kein Problem, ich friere den Brei für dich ein.«

»Danke, du bist und bleibst ein Schatz.«

Mein Blick ruht auf dem großen Weinkühlschrank, der stets gut gefüllt in der Ecke steht. Aber ich verwerfe den Gedanken daran gleich wieder, den Inhalt durch gezieltes Trinken zu vernichten, schließlich dienen mir die Jungs da draußen als abschreckendes Beispiel. Kati steht auf und räumt ab.

»Bleibst du noch zum Essen? Die Männer wollen grillen.«

»Oje, die würde ich heute nicht mehr unkontrolliert mit Feuer spielen lassen. Und da es sich mit meinem Appetit ohnehin erledigt hat, fahre ich besser, bevor sich die Ausflügler auf den Rückweg in die Stadt machen. Ihr wohnt einfach viel zu weit draußen!«

»Schade. Aber …« Weiter kommt Kati nicht, weil die Kinder in die Küche stürmen.

«Mama! Ich will Fanta!«, ruft Milla.

»Ich auch!«, quietscht die kleine Lara.

»Wie oft soll ich euch noch sagen, dass es in diesem Haushalt keine Fanta gibt und auch niemals geben wird?«

»Warum nicht? Nela darf auch immer welche trinken!«, trotzt Milla.

»Die Nachbarn haben sie total versaut!«, zürnt Kati, reißt den Schrank auf und nimmt zwei bunte Plastikbecher heraus, die sie mit stillem Wasser füllt. Ich bin erstaunt darüber, wie sehr sie wegen einer Fanta-Frage in Rage gerät, halte mich aber raus. »Hier! Trinkt das! Ihr werdet es mir eines Tages danken.«

»Du bist so fies«, trötet Milla und schnappt sich ebenso murrend wie Lara den Becher.

»Pass auf, was du sagst! Und jetzt geht spielen!« Die beiden verlassen missmutig mit ihrem Wasser die Küche.

»Möchtest du mir auch etwas sagen? Oder bist du immer so verspannt? Es ging nur um ein Getränk. Du hast so liebe Kinder!«

»Lass es, Clara, da reagiere ich ganz allergisch. Ich möchte nicht, dass sie von so einem Schrott versaut werden.«

»Da bin ich aber schon jetzt gespannt, wie du nach dem ersten ungeschützten Geschlechtsverkehr reagierst, den sie spätestens im Alter von vierzehn mit einem fünf Jahre älteren Jungen haben werden und in den du zufällig hereinplatzen wirst.«

»Du kannst so wunderbar geschmacklos sein! Ist ja schon gut.«

Ich rüste mich zum Gehen. »Tschüs, Liebes, ich verschwinde vorne raus, grüß Clemens ganz lieb, aber erst, wenn er wieder nüchtern ist.«

»Am liebsten würde ich mitkommen, aber ich kann die Kinder nicht alleinlassen.«

»Zumindest kümmern sich die Männer um das Abendessen. Also, lass dich verwöhnen.«

»Ha, ha, ha!«, äfft Kati und zieht eine entzückende Grimasse.

Ich umarme sie. »Du schaffst das!« Dann verabschiede ich mich von den Kindern und verlasse mit schnellen Schritten das Haus.

Sofort ist meine Mutter wieder in meinem Kopf. Auf der Rückfahrt nach Hause rufe ich sie noch einmal an. »Mama, unser Gespräch von vorhin lässt mir keine Ruhe.«

Sie atmet laut hörbar. »Clärchen, wenn es etwas gibt, was du wissen musst, wirst du es erfahren. Wir sehen uns doch am nächsten Wochenende. Und nun lass uns über etwas anderes reden!« Wieder abgeblockt. So komme ich nicht weiter.

»Was habt ihr heute noch gemacht?«, frage ich. Mama berichtet von einem Spaziergang am Wasser und einer Partie Rommee, die sie mit der Nachbarin gespielt hat. Währenddessen stieß mein Vater mit dem Mann der Nachbarin in einem Lokal auf den Herrentag an. Ich spüre eine gewisse Erleichterung.

»Und wie war dein Nachmittag? Ich nehme an, den Familienvater hast du nicht gesehen.«

»Eines Tages wirst du ihn schon noch in dein Herz schließen.«

»Eher werde ich von einem Meteorit erschlagen!«

»Ach Mama!« Ich erzähle ihr von meinem Besuch bei Clemens und Kati und von meinem bevorstehenden Wochenendseminar. »Jedenfalls freue ich mich schon darauf, dass wir uns nächste Woche sehen.«

»Ich mich auch, Clärchen. Und jetzt darf ich mich ums Abendessen kümmern, dein Vater hat Hunger.«

»Kann er noch geradeaus gehen nach seinem Ausflug?«

»Warte, ich schaue nach … Keine Ahnung. Er sitzt.« Ich höre ihn im Hintergrund etwas sagen. »Viele Grüße soll ich dir ausrichten. Zumindest kann er sich noch klar artikulieren. Ich küsse dich.« Meine Mutter schmatzt in den Hörer. Das macht sie immer zum Abschied am Telefon, gefolgt von dem Satz: »Hab dich lieb, mein Kind.« Nur bei unserem Gespräch heute Vormittag blieb beides aus.

Lautstark schmatze ich zurück. »Ich dich auch, Mama.«

Als ich wieder zu Hause bin, schlüpfe ich zum zweiten Mal an diesem für mich völlig überflüssigen Feiertag in meine Laufklamotten. Diesmal zwar ohne Begleitung von Martin, dafür aber mit lautstarker Musik. Wenn mein Gleichgewicht aus dem Lot ist, höre ich entweder ohrenbetäubend laut House-Musik oder melancholische Klänge, bei denen meine Tränen durchaus des Öfteren vom Winde verweht werden. Heute entscheide ich mich für House. Die Beats tragen mich eine knappe Stunde lang durch den milden Abend, peitschen mich auf und machen mir bewusst, dass es immer weitergeht. Wieder zu Hause, kuschle ich nach dem Duschen mit Alfred, der mich mit seinem lauten Schnurren wunderbar entspannt, schaue mir eine alte Folge von Modern Family an und kann dabei herzhaft lachen.

Sonntagabend komme ich völlig erschlagen wieder zu Hause an. Dieser Workshop in herrlicher Alpenkulisse war ein voller Erfolg, zumindest was das Leersaugen meiner Energiereserven betrifft. Nachdem ich Alfred innig begrüßt habe, gehe ich mit einer Pralinenschachtel in der Hand zu Frau Obermaier. Sie wohnt eine Etage unter mir und kümmert sich um Alfred, wenn ich etwas vorhabe. Mit Anfang achtzig ist sie so fit und gut informiert, dass sich manch Dreißigjährige vor ihr verstecken kann. Früher hat sie als Kostümbildnerin am Theater gearbeitet. Dadurch scheint ihr nichts fremd. Im Laufe der Zeit haben wir ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, obwohl ich mir das anfangs wegen ihrer manchmal etwas spröden Art und des starken Dialekts kaum vorstellen konnte. Ich drücke auf die Klingel. Es dauert eine Weile, bis die Tür geöffnet wird.

»Grias di, Clara.«

Obwohl sie mich von Anfang an duzte, bin ich beim Sie geblieben. »Hallo, Frau Obermaier.« Ich überreiche ihr die Pralinen mit dem Aufdruck Vielen Dank. »Was täte ich nur ohne Sie? Sie sehen übrigens toll aus.«

Frau Obermaier hat sich die Lippen rot geschminkt. Ihr Pagenschnitt in strahlendem Weiß sieht aus wie frisch geföhnt.

»Ah geh, Schmarrn!« Sie winkt verlegen ab. »Und du musst ma doch ned jeds Moi was schenkn. I mog den Alfred a so. Wia war dei Wochenend?«

»Sehr aufschlussreich. Wenn Sie etwas über neueste Managementkenntnisse zum Thema Wandel und entsprechende Umsetzungsideen wissen möchten, scheuen Sie sich nicht, mich zu fragen.«

Frau Obermaier runzelt die Stirn. »I denk drüber nach. Des klingt wirklich spannend.«

Wir haben einen ähnlichen Humor, und sie versteht sogar meine Ironie.

»Leider habe ich eine akute Floskel-Allergie erlitten und hätte trotz meiner Höhenangst lieber an einem Freikletter-Event teilgenommen. Frau Obermaier, es war unsäglich!«

»Arms Madl. Magst oan Schnapps?«

»Nein, aber danke für Ihre Anteilnahme.«

»Erzähl mir a bissl mehr!«

«Wo fange ich am besten an? Besonders schön waren die Feedback- und Diskussionsrunden, in denen alle etwas sagten, ohne etwas zu sagen, Hauptsache es klang wichtig.«

»Ah, solche Typen gibt’s am Theater aa.«

»Aber phasenweise war es wirklich lustig.«

Ich erzähle Frau Obermaier, dass wir einen Dialog aus einem James-Bond-Film nachspielen sollten, bei dem ich die Rolle des Geheimagenten übernahm.

»Ich: Einen Wodka Martini, bitte. Mein Kollege: Gerührt oder geschüttelt? Ich: Sehe ich so aus, als würde mich das interessieren?«

Meinen Part habe ich genauso tief gesprochen wie auf dem Workshop. Frau Obermaier lacht und fragt: »Sehr unterhaltsam. Aber was sollte des?«

»Diese Szene lehrt uns, dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren müssen, nicht auf unser Image oder irgendwelche Statussymbole, meinte der Coach. Wir sollen uns und unseren Zielen treu bleiben und jeden Tag wissen, wofür wir aufstehen. Na ja, einen guten Drink zwischendurch dürfen wir uns auch gönnen.«

Frau Obermaier nickt. »Wos fia a weiser Mo. Magst ned doch auf an Schnaps reinkommen?«

»Nein danke, ich geh gleich wieder hoch. Vielleicht sollte ich mich zum Coach umschulen lassen, dann muss ich wenigstens keine Leute entlassen.«

»Des lässt schee bleim. Davon gibt’s eh gnua.«

Da höre ich ein Räuspern aus dem Inneren der Wohnung.

»Haben Sie Besuch? Und da lassen Sie mich hier reden!«

»Wolltest ja net reinkommen.«

»Ist es ein Mann?«, flüstere ich konspirativ.

Frau Obermaier nickt und strahlt. Sie ist seit neun Jahren Witwe. Vor einigen Wochen habe ich mich mit ihr über ihre Sehnsüchte unterhalten. Sie hat mir anvertraut, dass sie sich gern noch einmal verlieben würde, aber nicht auf die richtigen Männer trifft. Da konnte ich es nicht lassen und habe kurzerhand eine Anzeige für sie geschrieben, die wir dann gemeinsam online gestellt haben. Da Frau Obermaier selbst einen Computer besitzt und beim Abrufen von Nachrichten nicht auf meine Hilfe angewiesen ist, kenne ich den neuesten Stand nicht.

»Stell da voa, i hab tatsächlich jemandn kennenglernt.« Ihre Augen glänzen wie bei einem Teenager.

»Ach Frau Obermaier, was sagen Sie das denn erst jetzt? Wie sehr mich das freut!«

»Ohne dei Hilfe häd i des nie gschofft. Des konn i nie wieder guadmachen. Also spar dir die Pralinen.« Sie grinst verschmitzt.

»Na, wenn das so ist, dann nehm ich sie wieder mit«, scherze ich. Da steht auf einmal ein ansehnlicher reifer Mann hinter ihr.

»Darf ich eure Unterhaltung kurz stören? Guten Abend, Franz Stemberg. Du bist das also. Die Marianne hat mir erzählt, dass du ihrem Glück ein wenig auf die Sprünge helfen wolltest. Gut gemacht.« Er streckt mir seine große, von dunklen Adern durchzogene Hand entgegen.

»Clara Schneider, freut mich sehr.« Wir schütteln uns kräftig die Hände.