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Kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag steckt Johanna mitten in einer Sinnkrise. Ihre Eltern wollen den heruntergewirtschafteten Familiengasthof in ihrem Heimatdorf in den bayrischen Alpen aufgeben. Nun bleibt ihr und ihrem Bruder nur ein Monat, um zu entscheiden: Sollen sie das Erbe antreten und dem Hof neues Leben einhauchen? Während ihr Bruder die Chance ergreifen will, zögert Johanna. Einerseits hat sie in München einen Job und ein geregeltes Leben, andererseits zieht es alle ihre Freunde zurück in die alte Heimat. Auch Korbinian, in den Johanna schon seit Jahren heimlich verliebt ist. Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch fasst sie sich ein Herz und gesteht ihm ihre Gefühle. Doch hat ihre Liebe eine Zukunft? Und wird Johanna ihr Leben für den alten Gasthof doch noch umkrempeln?
Der zweite Band der gefühlvollen und romantischen Reihe von Gabriele von Braun in dem idyllischen bayrischen Alpendorf Kranzwinkl und der wildromantischen Natur der Alpen.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag steckt Johanna mitten in einer Sinnkrise. Ihre Eltern wollen den heruntergewirtschafteten Familiengasthof in ihrem Heimatdorf in den bayrischen Alpen aufgeben. Nun bleibt ihr und ihrem Bruder nur ein Monat, um zu entscheiden: Sollen sie das Erbe antreten und dem Hof neues Leben einhauchen? Während ihr Bruder die Chance ergreifen will, zögert Johanna. Einerseits hat sie in München einen Job und ein geregeltes Leben, andererseits zieht es alle ihre Freunde zurück in die alte Heimat. Auch Korbinian, in den Johanna schon seit Jahren heimlich verliebt ist. Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch fasst sie sich ein Herz und gesteht ihm ihre Gefühle. Doch hat ihre Liebe eine Zukunft? Und wird Johanna ihr Leben für den alten Gasthof doch noch umkrempeln?
GABRIELE VON BRAUN
Alpenglück und Himmelsküsse
Das Leben ist eine Reise, und wenn wir die richtigen Wege wählen, werden wir am Ende dorthin gelangen, wo wir hinwollen.
Konfuzius
Endlich einmal fallen lassen! Gut, es ist nur mein Schreibtischsessel, aber er fängt mich auf wie ein guter Freund, der nichts von mir fordert und mich einfach sein lässt. Begleitet von einem lauten Seufzer drehe ich mich einmal im Kreis.
»Ähem, Johanna, ist alles okay mit dir?« Meine Kollegin Ulli beißt in einen Kinderriegel und mustert mich mit gerunzelter Stirn.
»Alles bestens, wenn man mal davon absieht, dass ich mir gerade von Mr. Wilson anhören durfte, dass ich ein piece of shit sei und außerdem eine Bitch und eine Cunt. Wie du weißt, leidet der Mann nicht an Tourette.« Ich nehme einen tiefen Atemzug und strecke die Arme in die Luft. Als Guest Relation Managerin in einem Münchner Fünf-Sterne-Hotel ist es mein Job, unsere anspruchsvollen Gäste bestmöglich zu bemuttern, sodass sie sich um nichts kümmern müssen und restlos zufrieden sind. In diesem Fall ging das schief.
»Cunt? Das schleudert dir Mr. Wilson ins Gesicht? Ich habe ihn eindeutig unterschätzt.« Ulli verzieht angewidert ihr Gesicht. Kein Wunder, diese vulgäre Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsteil hat uns zuvor noch niemand an den Kopf geworfen, und wir mussten uns weiß Gott schon einiges anhören. Ganz ruhig bin ich geblieben, obwohl ich Mr. Wilson lieber auf sein offensichtliches Drogenproblem angesprochen und ihm zwischen die Beine getreten hätte. Er wohnt schon seit einigen Wochen bei uns im Hotel, steht angeblich kurz vor dem Abschluss eines großen Deals und lässt sich regelmäßig von verschiedenen Frauen besuchen.
»Wenigstens waren es nur Worte. Kurz war ich unsicher, ob da noch mehr kommt. Was freue ich mich auf den Feierabend, mir reicht’s für heute«, sage ich.
»Warum ist er überhaupt so ausfällig geworden?«, fragt Ulli. Sie knüllt das Papier des Schokoriegels zusammen und versenkt es mit einem Wurf im Papierkorb.
»Ja, ja, Asche auf mein Haupt, ich konnte diesem charmanten Honk nicht zusichern, dass wir in der nächsten Stunde einen Privatjet für ihn organisieren können, der ihn spontan nach Paris fliegt.«
Ulli grinst. »Nein! Also, wenn das so ist, da wäre ich auch ausgeflippt.«
»Stimmt, jetzt, wo ich mit dir drüber rede, kann ich ihn verstehen. Ich war wohl etwas dünnhäutig.« Eine Grimasse ziehend äffe ich Mr. Wilson nach.
Ulli lacht und steht von ihrem Schreibtisch auf. »Bewahre dir nur deinen Humor. Aber was wird nun aus seiner Reise nach Paris?«
»Da wollte er dann nicht mehr hin. Ich denke, er gönnt sich jetzt erst mal einen anderen Trip.« Ich schnüffele an meinem Handrücken herum und verdrehe die Augen.
»Johanna, du bist unmöglich.« Wieder lacht Ulli und sagt: »So, ich muss mich jetzt um die Glamour-Suite kümmern. Die Madame hat Kopfschmerzen vom Teppich und den Wandbildern. Muss alles raus.«
»Anderes Zimmer?«
»Möchte sie nicht.«
»Das sind wahre Probleme«, sage ich.
»Und das Beste: Sie sind sofort lösbar. Schönes Wochenende, Johanna.«
»Danke, Ulli. Und dir noch eine entspannte Schicht.«
Wir winken uns zu, dann ist sie weg.
Ich packe meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg ins Wochenende. Endlich habe ich mal wieder eins frei.
Schnell nach Hause. In meiner kleinen Zweizimmerwohnung empfängt mich ein verwelkter Blumenstrauß, der so traurig aussieht wie ich an schlechten Tagen. Die Woche über hatte ich keine Zeit und kein Auge dafür, aber nun stören mich die hängenden Köpfe, genau wie die Staubflusen auf dem Parkett. Ich feudele einmal durch, öffne das Fenster weit und lasse mich auf das weiche braune Sofa fallen. Gleich ist es halb sieben. Die Vögel zwitschern munter an diesem warmen Abend Anfang September.
Ich nehme mein Handy zur Hand und höre meine Mobilbox ab. Was ist denn da los? Meine Eltern haben eine Nachricht hinterlassen. Das passiert sonst nur, wenn ich Geburtstag habe. Unser Verhältnis ist nicht besonders eng. Die Nachricht klingt dringlich.
Mit tiefer, getragener Stimme sagt mein Vater: »Johanna, hier sind deine Eltern. Du musst am Wochenende nach Kranzwinkl kommen. Wir müssen etwas sehr, sehr Wichtiges mit euch besprechen. Dein Bruder wird auch da sein. Es geht um alles, bitte nimm dir die Zeit.«
Dann ist im Hintergrund die aufgeregte Stimme meiner Mutter zu hören: »Meinst du, sie kommt?«
Aufgelegt.
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Was um alles in der Welt kann da nur passiert sein? Ich rufe zurück. Papa nimmt ab.
»Johanna, grüß Gott. Schaffst du es zu kommen?«
»Hallo, Papa, bitte sag mir erst mal, was los ist.«
»Nicht am Telefon. Das erzählen wir dir, wenn du hier bist. Wir können es selbst noch nicht glauben.«
»Damit fühle ich mich jetzt aber nicht besser.«
»Wann kannst du hier sein?«
»Morgen Vormittag.«
»Das ist gut.« Papa schnauft schwer.
»Ich mache mir Sorgen. Bitte gib mir wenigstens ein Stichwort, worauf ich mich einstellen muss. Oder sag einfach nur gut oder schlecht.«
»Kommt auf die Betrachtungsweise an.«
»Papa!«
»Morgen, Johanna, morgen.«
»Dir ist schon klar, dass das an Folter grenzt, ja?«
»Pfiat di, Kind.« Papa legt auf. Er war schon immer konsequent.
Meine Eltern leben seit ihrer Geburt in Kranzwinkl, einem kleinen Dorf in den Berchtesgadener Alpen unweit der österreichischen Grenze. Auch ich bin dort aufgewachsen, konnte aber nicht schnell genug wegkommen.
Meiner Familie gehört der Kranzwinkler Hof, ein in die Jahre gekommener Gasthof mit zwölf Zimmern. Seit ich mich erinnern kann, haben meine Eltern dort geschuftet. Für uns Kinder, meinen drei Jahre jüngeren Bruder Sebastian und mich, hatten sie kaum Zeit. Vor einiger Zeit haben sie beschlossen kürzerzutreten und den Gasthof verpachtet. Das ging schief, und sie übernahmen wieder selbst das Ruder. Für einige Zeit hat Sebastian unsere Eltern unterstützt und als Koch im Kranzwinkler Hof gearbeitet. Doch seit einem Jahr geht er wieder eigene Wege. In einem angesagten Restaurant in Salzburg mit gehobener Küche kann er sich besser verwirklichen. Sebastian ist ein begnadeter Koch.
Ich verlasse meinen Platz auf dem Sofa und mache mir einen Basen-Kräuter-Tee. So ein Mist, nun muss ich meine Wochenendpläne umwerfen. Hatte ich mich doch auf eine entspannte Zeit mit Ole gefreut. Seit etwa drei Monaten ist er mein Nachbar. Ein blonder, schlaksiger junger Mann aus Flensburg, der in München seinen ersten Job als Wirtschaftsprüfungsassistent angetreten hat. Das sagt schon alles. Mit vierundzwanzig ist Ole fünfzehn Jahre jünger als ich.
Unser intensives nachbarschaftliches Verhältnis begann mit zufälligen Begegnungen im Treppenhaus. Ich fand ihn niedlich und irgendwie sexy, wenn er mir in seinem Business-Outfit über den Weg lief. Ein Junge im Anzug. Wir wechselten ab und zu ein paar Worte. Ole hat diesen entzückenden norddeutschen Dialekt, noch dazu bringt er mich zum Lachen. Allerdings habe ich nicht gedacht, dass er in mir, na, sagen wir mal ein Objekt der Begierde sehen könnte. Bis zu jenem Abend, an dem ich nach einer Mädelsrunde angeschickert nach Hause kam und Ole bei mir klingelte, weil er sich ausgesperrt hatte. Wir warteten bei mir auf den Schlüsseldienst.
Seit vier Wochen haben wir eine Affäre. Das tröstet mich mal wieder kurz darüber hinweg, dass ich mit fast vierzig – in drei Wochen habe ich Geburtstag – noch immer nicht den Mann fürs Leben oder zumindest für die nächsten Jahre gefunden habe.
Zwar ist der Altersunterschied kein Thema zwischen Ole und mir, dennoch ist mir klar, dass das nichts von Dauer sein wird. Ole steht noch ganz am Anfang seiner Karriere, er weiß nicht, wie lange er in München sein wird. So genieße ich die Leichtigkeit mit ihm in dem Bewusstsein, dass das mit uns endlich ist.
Ich nehme den Teebeutel aus der Tasse und nippe vorsichtig an dem heißen Getränk. Prompt taucht Korbinian vor meinem inneren Auge auf – wie so oft. Er ist der Mann, der schon seit meiner Jungend einen festen Platz in meinem Kopf hat. Was war ich verliebt in ihn, ohne dass er jemals davon erfahren hat. Korbinian ist ein jungenhafter, feinsinniger Philosoph, noch dazu sehr ansehnlich mit seinen dunklen Locken, dem ebenmäßigen Gesicht, der geraden Nase, dem festen kantigen Kinn, dem sinnlichen Mund und den warmen braunen Augen. Meine Güte, was für ein Paket, das muss ihm erst mal jemand nachmachen. Verträumt schmunzele ich in mich hinein.
Im letzten Jahr sind wir uns beim traditionellen Treffen unserer alten Clique – alle zwei Jahre wandern wir zusammen – nähergekommen, aber nur in Gesprächen, nicht körperlich. Natürlich habe ich ihm nicht gesagt, was ich für ihn empfinde, ich wollte mich nicht lächerlich machen. Immerhin sieht er in mir nur eine alte Freundin.
Korbinian ist nach Jahren als Kommunikationsberater in unser Heimatdorf Kranzwinkl zurückgekehrt. Nun macht er eine Ausbildung zum Schreiner, um eines Tages den elterlichen Betrieb zu übernehmen. Damit hat er uns alle überrascht. Niemand hätte das für möglich gehalten, nicht einmal er selbst. Aber Dinge ändern sich. Die Trennung von seiner Frau hat ihr Übriges dazu beigetragen.
Nach unserer Wanderwoche im vergangenen Jahr wollte ich viel öfter in Kranzwinkl sein, um mehr Zeit mit Korbinian zu verbringen. Doch der Alltag hat mich immer wieder davon abgehalten.
Morgen werde ich nun endlich mal wieder hinfahren, wenn auch unfreiwillig auf Geheiß meiner Eltern.
Ich nehme noch einen Schluck Tee und wähle Florentines Nummer. Tine, wie ich sie nenne, ist meine älteste Freundin und stammt wie ich aus Kranzwinkl. Nach einer schweren Beziehungskrise haben sie und ihr Freund Kai es geschafft, wieder zueinanderzufinden. Allein wenn ich daran denke, geht mir das Herz auf. Genau wie Korbinian wollen die beiden einen Neuanfang in unserem Dorf wagen. Sukzessive arbeiten sie auf ihren Umzug hin. Florentine hat einen gut laufenden Interieur-Concept-Store in München und ist dabei, sich immer weiter aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen, um sich neuen Aufgaben zu widmen. Sie verfolgt ihren Traum, die alten Rezepte ihrer Großmutter, einer wahren Kräuterhexe, die für fast alle Wehwehchen eine – im wahrsten Sinne des Wortes – Lösung hat, auf den Markt zu bringen. Ihr Freund Kai ist Chefarzt in der Uniklinik, wird aber perspektivisch als Bergretter und Arzt in einer kleineren Klinik in den Bergen arbeiten.
So oft wie möglich ist Florentine in Kranzwinkl. Kai und sie bauen eine alte Scheune auf dem Hof ihrer Familie zu ihrem Traumhaus um. Sicher ist sie schon wieder dort oder gerade auf dem Weg dorthin. Womöglich hat sie eine Ahnung, was bei meinen Eltern los sein könnte.
Das Freizeichen ertönt, sie nimmt ab.
»Jo, mein Schatz, was verschafft mir die Ehre?«
Wegen meiner vielen Überstunden und Oles Engagement haben wir seit mindestens drei Wochen keine tieferen Gespräche mehr geführt.
»Bist du schon in Kranzwinkl?«
»Nein, noch nicht, erst in ungefähr zwanzig Minuten. Warum willst du das wissen?«
Ich erzähle ihr von den diffusen Andeutungen meines Vaters. »Hast du eine Ahnung, worauf das hinauslaufen könnte?«, frage ich.
»Leider nicht. Ich wüsste es auch zu gern.«
»Mist, in dem Fall habe ich gehofft, dass auf die Tratscherei im Dorf mal Verlass ist.«
»Die reden noch immer über Franz.«
Franz war Florentines erste große Liebe. Vor achtzehn Jahren hat er sie von heute auf morgen verlassen. Zu schwer wogen die Differenzen mit seiner Familie, dafür hat er letztlich Florentine geopfert. Er wanderte nach Portugal aus und eröffnete dort eine Surfschule. Erst als sein Vater im Sterben lag, ist er wieder aufgetaucht. Das war vor einem Jahr, ausgerechnet, als wir in Kranzwinkl waren. Für Florentine war es zunächst ein Schock, Franz ohne Vorwarnung zu begegnen. Sie steckte mitten in ihrer Krise mit Kai, das Wiedersehen hat sie durcheinandergebracht.
Franz hat nach all den Jahren erfahren, dass er der Vater von Florentines inzwischen siebzehnjährigem Sohn Max ist. Auch im Dorf sprach sich das irgendwann rum, vorher hatten alle Kai für Max’ Vater gehalten.
»Sollen sie nur. Gibt es Neuigkeiten von Franz?«
»Max ist spontan in der letzten Ferienwoche zu ihm geflogen. Und im Herbst kommt er für ein paar Tage mit Matilde nach Kranzwinkl.«
Matilde ist Franz’ neunjährige Tochter, Max’ Halbschwester. Sie liebt ihren neugewonnenen großen Bruder heiß und innig.
»Was bin ich froh darüber, wie sehr sich alles normalisiert hat«, sage ich.
»Frag mich mal.« Florentine seufzt. »Sehen wir uns dann morgen in Kranzwinkl?«, fragt sie.
»Es wäre schön, aber erst mal gucken, was mir meine Eltern eröffnen werden. Ich melde mich.«
»Gut. Und was macht der süße Ole?«
»Hoffentlich ganz viel von dem, wovon ich nicht genug kriegen kann. Nach der Woche bin ich mehr als reif dafür.« Ich erzähle Florentine von meinen Erlebnissen im Hotel.
»Wenigstens wird es dir nie langweilig«, sagt sie.
»Stimmt. Komm nur her, mein heißer Lover! Auf zu sündiger Hingabe«, hauche ich und kichere dazu ein bisschen dreckig und frivol.
Florentine lacht auf. »Ach Jo! Das gönne ich dir.«
»Sehr großzügig von dir, danke!«
Wir verabschieden uns voneinander.
Es klingelt. Ich linse durch den Spion und sehe Ole mit einer Flasche Sekt in der Hand. Schwungvoll reiße ich die Tür auf, packe ihn am Hemdkragen und ziehe ihn wortlos rein.
Er lacht. »Hey, nicht so wild, ich habe eine Glasflasche in der Hand. Moin, Hanna.«
»Und ich habe gleich was ganz anderes in der Hand. Moin, Ole.«
Wir küssen uns leidenschaftlich. Die Sektflasche gleitet auf den Boden, wir folgen ihr. Ungezügelt fallen wir übereinander her und reißen uns die Klamotten vom Leib. Mit Ole geht alles und überall. Mir wird es aber doch zu unbequem auf dem Boden. Ekstatisch robben wir vor bis zur Couch und machen dort weiter, bis wir schwitzend zum Höhepunkt kommen.
So unschuldig Ole auch aussieht, er weiß ganz genau, wie er mich zu nehmen hat. Wieder einmal bin ich dankbar für diesen Rausch, der mich davon abhält, schwermütig über mein Leben zu werden. Denn ich sehne mich doch nach etwas ganz anderem, nach wahrer Liebe und Beständigkeit. Meine längste Beziehung hat knapp vier Jahre gehalten, eine deprimierende Bilanz für eine Frau in meinem Alter.
Aber jetzt bin ich erstmal in Oles Armen. Eng aneinander gekuschelt liegen wir da. Er berührt mich zärtlich, fährt mit seinen Fingern an meinem Arm entlang, über den Hals und wieder zurück. Auch ich kann meine Hände nicht ruhig halten und streichele sein hübsches Gesicht.
»Morgen früh fahre ich nach Kranzwinkl. Leider wird nichts aus unserem Stadtbummel.«
»Dein Ernst, Hanna? Das sagst du mir nebenbei? Ich habe mich so auf unser Wochenende gefreut.«
Nur Ole nennt mich Hanna, ich mag das. Als Hanna bin ich eine andere Frau. Jung, schön und zügellos.
»Ich mich doch auch. Aber meine Eltern haben etwas Dringliches zu verkünden.«
Ole verzieht den Mund. Ich herze ihn.
»Das ändert nichts daran, dass wir diese Nacht miteinander verbringen«, sage ich.
»Ich nehme, was ich kriegen kann.«
Ole beugt sich über mich. Wieder küssen wir uns, wieder lieben wir uns. Von seiner Potenz können andere nur träumen. Dauerhaft wäre mir das sicher zu anstrengend, aber für Hanna ist es genau richtig.
Von Anfang an sage ich mir, dass ich nichts erwarten möchte von dieser Liaison, und dass mir eins unbedingt erspart bleiben muss: Herzschmerz. Ein bisschen verknallt bin ich trotzdem. Dieses Gefühl trägt mich gerade genauso wie Ole, der mich in seine starken Arme bettet und ins Schlafzimmer bringt.
Am nächsten Morgen bin ich früh wach. Ole schläft noch. Um sieben schleiche ich mich aus dem Bett und verschwinde im Bad.
Als ich anschließend in die Küche gehe, ist Ole auch aufgestanden. Wo es nur geht, verwöhnt er mich. Gerade macht er mir einen Kaffee.
»Guten Morgen, du bist einfach der Beste.« Ich umarme ihn von hinten und küsse seinen Nacken. Da dreht Ole sich um und nimmt meinen Kopf in seine Hände. Wir sehen uns tief in die Augen. In seinen sitzt noch Schlaf. Wie süß er aussieht!
»Meine schöne Hanna! Guten Morgen.«
Ehe ich mich’s versehe, hebt er mich hoch und setzt mich auf die Anrichte. Vor dem Kaffee kommt die Leidenschaft.
Nach dem Frühstück massiert Ole mir noch den Rücken. Ich möchte die ganze Zeit nur schnurren.
»Du machst es mir nicht gerade leicht, dich zu verlassen«, sage ich theatralisch, als wir uns später voneinander verabschieden.
»Nichts anderes wollte ich hören. Melde dich, wenn du zurück bist.«
»Das mache ich.«
Wir küssen uns zum Abschied, dann zwinkert er mir zu und nimmt die Treppe nach oben zu seiner Wohnung. Ich winke ihm hinterher.
Auf der Fahrt nach Kranzwinkl wandern meine Gedanken zu unserer alten Clique, bestehend aus Florentine, Korbinian, Georg und mir. Im vergangenen Jahr war unsere gemeinsame Zeit so intensiv, dass wir beschlossen, uns auch in diesem Jahr zu treffen. Doch bisher haben wir noch keinen Termin gefunden. Georg ist ein prominenter Comedian, sein Kalender ist voll. Eins der Highlights bei unserem letzten Treffen war sein Outing vor seinen streng katholischen Eltern. Jahrelang hatte er sich davor gedrückt. Am Ende haben sie es weitaus leichter genommen, als er befürchtet hatte. Inzwischen war er auch schon mit seinem Freund Tim in Kranzwinkl. Die Dorfbevölkerung hatte ein paar Tage lang ein Thema, aber Georg war nicht wie befürchtet irgendwelchen Repressalien ausgesetzt. Endlich wusste auch er nicht mehr, wovor er all die Jahre lang Angst gehabt hatte.
Nach gut einhundertfünfzig Kilometern passiere ich mit meinem Mini das Ortsschild von Kranzwinkl. Ein zweites Schild gleich dahinter heißt mich herzlich willkommen. Mit seinen knapp tausend Einwohnern freut sich unser Dorf über alle, die hier Station machen und den Tourismus ankurbeln. Kranzwinkl gilt bei Insidern als ein Wanderparadies.
Wie fremd und doch so vertraut mir hier alles ist. Ich nicke dem Wirtshaus Lackner zu, in dem wir seit unserer Jugend immer mal wieder einkehren, und bewundere die neue Fassade des Sport-Michel. Doch nichts kann mich ablenken, meine Anspannung wächst. Was kann nur so wichtig sein, dass meine Eltern Sebastian und mich hierher zitieren?
Mama und Papa sitzen im dunklen, holzvertäfelten Gastraum, als ich ankomme. Es riecht leicht muffig und nach altem Fett. Die beiden wirken nervös.
»Danke, dass du es geschafft hast«, sagt Mama.
Sie steht auf und tritt mir entgegen. Das kenne ich gar nicht von ihr. Auch Papa erhebt sich. Sie begrüßen mich mit einer steifen Umarmung.
»Was zum Teufel ist hier los?«, frage ich. Angst kriecht mir den Rücken hoch. Gibt es eine schreckliche Diagnose zu verkünden?
»Wann kommt nur der Basti endlich?«, fragt Papa.
Wie nervös er wirkt. Im Sekundentakt blinzelt er.
Da kommt mein Bruder zur Tür herein, begrüßt unsere Eltern und wendet sich dann mir zu.
»Sei gegrüßt, Schwester. Hast du eine Ahnung, warum wir hier sind?«
Ich schüttele den Kopf. »Gut, dass du genauso im Nebel stehst wie ich. Servus, Bruder.«
Wir haben uns monatelang nicht gesehen und umarmen uns herzlich. Seit Sebastian in Salzburg ist, geht er in seinem Job noch mehr auf. Bei einem unserer seltenen Telefonate schwärmte er davon, dass er in der Restaurantküche alle Freiheiten hat, die er nun voll auskosten würde.
Nun sitzen wir alle an einem Tisch, Sebastian neben mir, Mama und Papa uns gegenüber.
»Wollt’s ihr was trinken?«, fragt Mama. »Eine Apfelschorle, so wie früher?«
»Papa, jetzt kommt bitte auf den Punkt«, sage ich.
Sebastian pflichtet mir bei.
»Also gut …«, murmelt Papa. Er nimmt einen geräuschvollen Atemzug, bevor er spricht. »Wir wollen nicht mehr.«
Er sucht Mamas Blick. Sie nickt. Mucksmäuschenstille.
Adrenalin und Kortisol fluten mich. Mein Herz schlägt schneller. Werden meine düsteren Gedanken bestätigt? Ich schaue zu Sebastian, der blass und mit großen Augen auf unsere Eltern starrt.
»Was … was hat das zu bedeuten?«, fragt er.
Da erkennt Papa die Wucht seiner Worte. »O nein, keine Sorge, wir haben vor, noch eine Weile am Leben zu bleiben. Die Mama und ich haben beschlossen, den Kranzwinkler Hof nicht weiterzuführen.«
»Was? So plötzlich? Ihr habt doch erst letztes Jahr darauf bestanden, wieder einzusteigen«, sage ich.
Papa reibt sich die Schläfen. »Schon, aber unsere Stammgäste sterben aus oder bleiben weg, und ihr seht ja, da kommt nichts nach. Wofür machen wir das noch?«, sagt er und macht eine ausladende Geste in den Raum.
»Puh! Was bin ich erleichtert, dass es nichts Schlimmeres ist. Aber ich bin auch überrascht, Selbstreflexion war nie euer Ding«, sage ich.
»Allerdings«, entfährt es Sebastian.
Mama kräuselt die Stirn. »Was wollt ihr damit sagen?«, fragt sie.
»Ach kommt schon! Das wisst ihr doch selbst. Ihr habt nie etwas auf das Haus kommen lassen. Als ich vor ein paar Wochen das Thema wieder einmal angesprochen habe, da habt ihr beide nur abgewunken und gesagt, dass es schon irgendwie geht«, erinnert Sebastian.
»Dinge ändern sich«, sagt Papa. »Wisst ihr, wir wollen noch etwas sehen von der Welt. Wir waren nie weg.«
Mama schluckt und greift nach Papas Hand. »Sag du es ihnen«, flüstert sie.
Er nickt, und da gehen in seinem zerfurchten Gesicht plötzlich die Mundwinkel nach oben, seine Züge hellen sich regelrecht auf. »Ein Wunder ist geschehen.« Papa macht eine vielsagende Pause. »Seit über dreißig Jahren schenken wir uns zum Geburtstag Lotterie-Lose. Bisher hatten wir nur Kleingewinne, aber jetzt hat es das Glück endlich gut mit uns gemeint. Wir haben richtiges Geld gewonnen!« Papa ballt die Hände vor Freude zu Fäusten, als hätte er es gerade erst erfahren.
»Aber … aber das ist doch fantastisch. Warum macht ihr ein Trauerspiel daraus?«, frage ich.
Mama senkt den Blick. »Weil da so viel dranhängt«, sagt sie.
»Wie viel ist es?«, fragt Sebastian aufgedreht.
Sollten unsere Eltern plötzlich Millionäre sein?
»Fünfzigtausend Euro«, sagt Papa.
»Ach so«, sagt Sebastian.
»Für uns ist das viel Geld«, sagt Mama.
»Das müssen wir doch feiern«, sage ich.
»Aber Mama, was meinst du damit, dass da so viel dranhängt?«, fragt Sebastian.
Sie sucht wieder einmal Papas Blick, er nickt ihr zu.
»Wir haben vor, euch den Kranzwinkler Hof zu überschreiben. Ihr könnt das Haus nach euren Vorstellungen umbauen und führen. Es muss aber eine Herberge bleiben, das sind wir unseren Ahnen schuldig. Es liegt nun also an euch, ob wir das feiern sollten.«
Verdattert schauen Sebastian und ich unsere Eltern an.
»Ist das zu fassen? Jahrelang habt ihr euch gegen jeden Veränderungsvorschlag gestemmt und jetzt das«, sagt Sebastian kopfschüttelnd.
Aus mir kommt kein Wort. All die Jahre habe ich mich kaum für das Familien-Business interessiert. Ich habe nur jedes Mal, wenn ich hier war, bedauert, wie sehr das einst schöne Haus sich selbst überlassen war. Inzwischen wäre es die perfekte Kulisse für einen Film aus den Siebzigern oder Achtzigern, reichlich Patina ist vorhanden.
Da stupst Sebastian mich an. »Jo, sag du doch auch mal was!«
»Das ist Wahnsinn«, murmele ich.
»Aber das war noch nicht alles«, sagt Mama und sucht wieder Papas Blick.
»Ihr habt einen Monat lang Zeit, euch zu überlegen, ob ihr dieses Erbe antreten wollt. Wenn nicht, werden wir das Haus verkaufen. Der Obermayer hat schon Interesse angemeldet.«
»Was? Das kann doch nicht euer Ernst sein«, platzt es aus mir heraus.
Der Familie Obermayer gehört das nahe gelegene Vier-Sterne-Hotel Zur Post. Es ist der Platzhirsch und das beste Haus im Dorf.
»Nein, das glaube ich nicht! Ihr dürft das Haus nicht verkaufen. Und schon gar nicht an den Obermayer! Dann gehört ihm bald ganz Kranzwinkl«, sagt Sebastian aufgebracht.
»Das Haus ist seit Generationen in Familienbesitz. Das könnt ihr doch nicht machen«, sage ich.
»Doch, das können wir, wenn ihr es nicht haben wollt.«
»Das grenzt an Erpressung«, sagt Sebastian.
»Wir wünschen uns, dass ihr das Haus in die Zukunft führt«, sagt Papa.
»Wow!«, entfährt es mir.
Meine Eltern haben sich nie für die Zukunft interessiert. Alles durfte immer schön so bleiben, wie es war. Das zeigte sich schon auf der Speisekarte. Als Sebastian zu seiner Zeit als Koch hier ein paar Experimente wagen wollte, haben sie ihn ausgebremst. Mehr als Leberknödelsuppe, Kalbsgulasch oder Wiener Schnitzel durfte es nicht sein. Kein Wunder, dass er hier keine Zukunft für sich gesehen hat. Auch daran, dass die Zimmer jahrzehntelang nicht modernisiert wurden, störten meine Eltern sich nie.
»Das ist das Letzte, womit ich gerechnet habe. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Basti, wie gesagt, ihr habt vier Wochen lang Zeit, um es euch zu überlegen«, sagt Papa.
»Und, habt ihr Lust auf Sekt?«, fragt Mama.
»Her damit!«, sage ich.
Papa verschwindet hinter der Bar und öffnet eine Flasche Sekt. Er gießt ein und reicht uns die Gläser.
»Auf die Glücksspirale! Oder wie auch immer die Lotterie eures Vertrauens heißt«, sage ich.
Wir stoßen an.
Glücksspirale – was für ein Wort. In Bezug auf den Kranzwinkler Hof klingt es beinah zynisch. Oder könnte es zum neuen Motto für das Haus werden?
Ich trinke einen großen Schluck und gleich noch einen hinterher.
»Aber jetzt sagt endlich, was ihr vorhabt«, fordert Sebastian.
»Tja, was man so macht, wenn man es sich leisten kann, wir wollen auf Weltreise gehen – auf einem Schiff«, sagt Mama stolz.
Meine Eltern, die in ihrem Leben bisher nur die Landesgrenze nach Österreich passiert haben, wollen die Welt entdecken. Das rührt mich.
»Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass ihr hier loslassen könnt«, sage ich.
»Die fünfzigtausend Euro machen es leichter. Damit müssen wir nicht an unsere Rücklagen fürs Alter, wenn wir nun mal an uns denken«, sagt Papa.
»Und ihr würdet uns wirklich freie Hand lassen?«, fragt Sebastian.
Ich kann sehen, wie es in ihm arbeitet, wie er Chancen und Risiken abwägt. Mein Bruder brennt für seine Profession, er ist Koch aus Leidenschaft. Er träumt von einem eigenen Restaurant.
»Wir reden euch nicht rein«, sagt Mama.
Wird euch das gelingen? Ich beiße mir auf die Zunge.
»Auch, wenn uns das sicher schwerfallen wird«, sagt Papa.
»Und das können wir euch glauben?«, fragt Sebastian.
Unsere Eltern nicken.
Mein Bruder scheint schon wesentlich mehr Feuer gefangen zu haben als ich. Wir stoßen wieder an, diesmal auf all das, was das Leben noch für uns bereithält.
»Das muss sich alles erst mal setzen«, sage ich.
»Bleibt ihr über Nacht?«, fragt Mama.
Sebastian schüttelt den Kopf. »Ich muss zurück nach Salzburg.«
»Und du, Johanna?«, fragt Mama.
»Ja, ich bleibe bis morgen früh. Habt ihr Hausgäste?«
»Zwei Zimmer sind bis morgen vermietet an zwei Ehepaare aus Nordrhein-Westfalen«, sagt Papa.
»Boomt doch«, raune ich.
Mama seufzt. »Weißt du, Johanna, wir haben es bedauert, dass du dich nie für uns interessiert hast. Du bist immer in diesen Luxus-Hotels unterwegs gewesen, das hier war dir alles nicht gut genug.«
»Mama, ihr habt euch doch nie wirklich für mich geschweige denn meine Arbeit interessiert, abgesehen davon, dass ihr nie ein offenes Ohr für Kritik hattet. Alles, was ihr gemacht habt, war Gesetz.«
Meine Eltern haben mir in meiner Kindheit und Jugend nicht besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt, dafür hatten sie schlichtweg keine Zeit. Es gab kaum Momente, in denen ich mich von ihnen geliebt gefühlt habe, in denen ich mal in den Arm genommen wurde. Ich schaue auf die Narbe an meinem Unterarm und sehe mich als Zwölfjährige. Der Gastraum war krachend voll. Mit einem Tablett voller Gläser stürzte ich und zog mir eine klaffende Schnittwunde zu. Stell dich nicht so an, hat meine Mutter nur zu mir gesagt, als ich blutend vor ihr stand. Sie war im Stress und drückte mir ein Küchenhandtuch auf die Wunde. In den nächsten Tagen entzündete sie sich. Wäre meine Oma nicht mit mir zum Arzt gegangen, hätte das böse enden können.
Je älter ich wurde, desto mehr bin ich auf Abstand gegangen, desto härter wurde mein Panzer. Nur weg von hier! Raus in die Welt! Und wenn ich dann mal zu Besuch war, hat mich der alte Mief in diesem Haus immer wieder an meine Kindheit erinnert. Deswegen war ich nie gern hier.
»Was redest du denn da?«, fragt Mama pikiert.
Stell dich nicht so an, Kind!
»Ach komm schon! Ihr habt mich doch nie ernst genommen, nie wirklich gesehen. Ihr seid doch froh gewesen, als ich endlich weg war. Manchmal habe ich gedacht, dass ihr mich am liebsten nie bekommen hättet.«
»Aber … aber … wie kannst du so etwas sagen?«, stammelt sie und sieht entsetzt aus – wie versteinert.
Papa hat den Kopf aufgestützt und starrt kopfschüttelnd auf die Tischplatte. Sebastian presst die Lippen aufeinander. Was wohl in ihm vorgeht? Wir haben nie darüber gesprochen, wie er seine Kindheit empfunden hat. Er ist mein kleiner Bruder, der immer näher dran war als ich, der es schon als Fünfjähriger liebte, in der Küche zu stehen und zu helfen.
»Johanna! Wir lieben dich doch«, sagt Mama. Ihre Stimme vibriert regelrecht.
Ist das zu fassen? Zum ersten Mal höre ich diese Worte von ihr. Meine harte Mutter kann tatsächlich Gefühle zeigen.
»Das … das ist das, woran ich … mein … mein Leben lang gezweifelt habe«, presse ich hervor.
Da beugt sich Mama über den Tisch und nimmt meinen Kopf in ihre Hände. »Wir wollten dich haben. Du warst ein Wunschkind«, sagt sie mit belegter Stimme.
»Das stimmt«, pflichtet Papa bei.
Ich stöhne auf. »Danke, dass ihr das sagt. Wie gern hätte ich das schon viel früher gewusst – und gespürt.«
Warum war das all die Jahre nicht möglich, über unsere Gefühle zu sprechen? Reden hilft. O ja, was ich anderen immer gern predige, habe ich in meiner eigenen Familie viel zu lange nicht geschafft. Stattdessen habe ich meine Eltern in eine Schublade gepackt, die ich ungern geöffnet habe, weil mir daraus nur Gefühlskälte und Sturheit entgegenschlugen.
»Jetzt … jetzt lasst uns doch nach vorne schauen, bitte«, sagt Papa unbeholfen.
»Ja, das sollten wir. Ist noch Sekt da?«, fragt Sebastian.
Papa füllt die Gläser nach. Wir stoßen an.
Ich blicke in die von harter Arbeit gezeichneten Gesichter meiner Eltern. Mir wird wieder einmal bewusst, dass ihre Welt viel kleiner ist als meine. Und letztlich haben sie immer ihr Bestes gegeben. Mehr ging eben damals nicht. Der Kranzwinkler Hof musste laufen – und wir Kinder auch.
»Wer hätte gedacht, wie wertlos ein Geldgewinn im Vergleich zum großen Reinemachen ist«, murmele ich.
»Na ja, komm, ganz so wertlos ist er nicht. Immerhin war er der Auslöser dafür, dass wir jetzt alle an einem Tisch sitzen«, sagt Sebastian.
Noch über zwei Stunden reden wir über unsere Familie, den Kranzwinkler Hof, die guten, die alten und die harten Zeiten. Dann verabschiedet sich Sebastian.
Kaum ist er weg, machen sich meine Eltern an die Arbeit.
»Das Restaurant hat geöffnet«, sagt Papa.
»Lasst euch nicht aufhalten«, sage ich.
»Sehen wir uns zum Abendessen?«, fragt Mama.
»Ja, ich werde hier sein. Halb sieben?«
Sie nickt und berührt mich unbeholfen an der Schulter, bevor sie Papa folgt.
Ich bleibe noch ein paar Minuten lang sitzen und rekapituliere den Nachmittag. Es lässt sich nicht anders beschreiben, auf meiner Brust sitzt eine Pistole. Entscheide ich mich gegen das Angebot, dann wird das Haus nicht mehr unserer Familie gehören. Da überkommt mich für einen kurzen Moment ein Gefühl der Trauer. Immerhin stecken die Wurzeln und die Identität unserer Familie in diesen Mauern. Das wäre dann alles weg. Anscheinend bin ich doch stärker mit alldem hier verbunden, als ich gedacht habe, denn es ist mir nicht egal. Was für ein Tag!
Florentine ist außer Atem, als sie meinen Anruf entgegennimmt.
»Tine, bist du joggen?«, scherze ich.
»Ha, ha, lustig! Ich bin gerade die Leiter zu unserem zukünftigen Schlafzimmer raufgestiegen. Der Watzmann ist einfacher zu besteigen. Aber jetzt sag schon, was ist passiert?«
Ich erzähle es ihr kurz.
»Nicht zu fassen! Kannst du herkommen?«
»Bin schon unterwegs.«
Der Lechner-Hof, der Florentines Familie gehört, liegt etwas abseits am Ende des Dorfes in Alleinlage auf einer Anhöhe. Von hier aus hat man eine fantastische Aussicht über die Wiesen und Wälder auf das majestätische Alpenpanorama.
Als Kind war ich oft hier. Florentines Familie wurde in gewisser Weise auch zu meiner. Sie gab mir ein Stück weit das, was mir meine Eltern nicht geben konnten: Wärme und ein Gefühl des Willkommenseins.
Auf dem Hof leben Florentines Eltern, ihre Großmutter und ihr Bruder Quirin mit Frau. Inzwischen führt er die Geschäfte, genauer gesagt einen Milchviehbetrieb mit Biozertifizierung, wie es offiziell heißt. Fünfzig Kühe stehen im Stall und auf der angrenzenden Weide, außerdem gibt es drei Ferienwohnungen, um die sich Quirins Frau Doro kümmert. Florentines Mutter Gusti ist für den kleinen Hofladen zuständig, Alois, ihr Vater, geht seiner Leidenschaft nach und brennt seinen eigenen Kräuter-Schnaps. Und Oma Maria, die von allen nur Mitzi genannt wird, ist auch mit dreiundneunzig noch eine aktive Kräuterhexe, die es liebt, ihre Tinkturen zu mixen.
Ich radele zum Lechner-Hof und bin ganz außer Atem nach dem Anstieg. Das Fahrrad stelle ich neben dem alten Baumstammbrunnen ab. Sanft plätschert das Wasser, während ich tief die würzige Landluft einatme. Obwohl der Kranzwinkler Hof nur einen Kilometer entfernt liegt, ist die Luft hier eine andere.
Da kommt mir auch schon der alte Hofhund entgegengelaufen. Joachim heißt er, warum auch immer. Von allen wird er nur Jacherl gerufen, aber wahrscheinlich ist er ohnehin längst taub. Gutmütig sieht er mich mit seinen trüben Augen an, sein Schwanz schwingt hin und her. Ich kraule ihm das Fell. Er genießt es und lässt sich auf den Boden fallen.
»Na, wo sind denn alle?«, frage ich ihn.
»Jo, hier bin ich.« Florentine sprintet mir entgegen und fällt mir um den Hals. »So schön, dass du es einrichten konntest herzukommen.«
»Wie lange es schon wieder her ist, seit ich das letzte Mal hier war! Die Zeit verfliegt viel zu schnell.«
»Wem sagst du das. Magst du erst eine Begrüßungsrunde drehen oder wollen wir gleich weiter zur Baustelle?«
»Erst die Begrüßungsrunde. Ist Kai auch hier?«
»Ja, den siehst du gleich, er ist in der Scheune.«
Florentine geht vor ins dreigeschossige Bauernhaus, das für mich mit seiner weißen Fassade, den üppig bepflanzten Balkonrüstungen und den grünen Fensterläden eins der schönsten Häuser in Kranzwinkl ist.
Ich begrüße Oma Mitzi, die in der Küche gerade dabei ist, den Kaffeetisch zu decken. Wenn man ihre kleine, verhutzelte Gestalt sieht, glaubt man zunächst nicht, über welche Energie sie noch verfügt.
»Da kommst du recht, Johanna, es gibt einen Zwetschgenkuchen, selbstgebacken«, sagt sie und stellt noch einen Teller dazu.
»Wir wollen erst mal auf die Baustelle«, sagt Florentine.
Oma Mitzi kräuselt die runzelige Stirn und schaut auf die Uhr über der Tür.
»Um drei seid’s ihr wieder da.«
»Gut, dann haben wir noch fünfundzwanzig Minuten Zeit. Die anderen kannst du nachher begrüßen. Auf geht’s, Jo«, sagt Florentine und scheucht mich aus der Küche.
Wir spurten zur Baustelle. Die alte Scheune liegt etwas abseits auf dem riesigen Grundstück. Jahrelang wurde sie nicht instandgesetzt und schließlich dem Verfall überlassen. Doch nun wird alles anders. Die Umwidmung der Scheune in Wohnraum, wie es im Amtsdeutsch heißt, ist längst genehmigt worden, und so erkenne ich sie schon jetzt kaum wieder. Alle alten Einbauten und die Holzverschalung sind bereits entfernt worden. Übrig geblieben ist das große Satteldach, das mit neuen Dachsteinen eingedeckt wird.
Kai kommt strahlend auf mich zugelaufen und umarmt mich herzlich.
»Du siehst, uns wird nicht langweilig«, sagt er.
Florentine erklärt mir die Planung.
»Was für ein Projekt, aber ich kann es schon vor mir sehen, das wird wunderschön werden.«
Florentine nickt und wirft Kai einen Blick voller Liebe zu, den er intensiv erwidert.
»Ach, ihr beiden, das ist ja kaum mit anzusehen«, sage ich und seufze.
»Wie du weißt, haben wir hart daran gearbeitet«, sagt Florentine.
»Jetzt erzähl von dir, das sind ja Neuigkeiten. Weißt du schon, wie du dich entscheiden wirst?«, fragt Kai.
»Nein, das war ein Überfall. Es gilt jede Menge abzuwägen. Ich fürchte, die vier Wochen Bedenkzeit werde ich ausreizen müssen.«
»Ich finde es großartig, dass deine Eltern den Gewinn in eine Reise investieren werden. Die haben sie sich verdient«, sagt Florentine und schaut auf die Uhr. »Wir müssen los. Der Kaffeetisch ruft«, sagt sie.
Florentines Eltern Alois und Gusti sowie ihr Bruder Quirin, seine Frau Doro und Mitzi sitzen schon am Tisch, als wir kommen. Mitzi weist Kai, Florentine und mir Plätze an der Tafel zu. Die große gemütliche Wohnküche ist noch immer ihr Reich.
Das Kaffeearoma strömt in meine Nase. Sofort verspüre ich Geborgenheit und die Illusion einer heilen Welt. Auch der Zwetschgenkuchen duftet verführerisch, es sind sogar zwei, hier wird nicht gekleckert. Dazu gibt es frisch geschlagene Sahne. Wie könnte ich mich hier nicht wohlfühlen?
»Der Kuchen schmeckt vorzüglich«, sage ich.
Als Echo kommt ein geballtes »Hmm« zurück.
Nun wollen Florentines Eltern wissen, wie es mir geht.
»Gut, danke.« Ich erzähle kurz von der Arbeit und meinem Leben in München. »Und heute bieten meine Eltern Sebastian und mir an, den Kranzwinkler Hof zu übernehmen.«
»Da solltet ihr nicht lange überlegen. Greift zu«, sagt Alois.
»Ja, macht ein Schmuckstück draus, dann kommen auch wieder mehr Gäste«, meint auch Gusti.
»Das sagt sich so leicht. Aber wir werden hinlänglich darüber nachdenken«, sage ich.
»Und, Johanna, willst du deinen Vierzigsten feiern? Oder wirst du dich auch so geschickt rausziehen wie meine Schwester?«, fragt Quirin da unvermittelt.