Alles, was zu ihr gehört - Sara Sligar - E-Book

Alles, was zu ihr gehört E-Book

Sara Sligar

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Beschreibung

Sara Sligars temporeiches Debüt: Eine berühmte Fotografin stirbt unter mysteriösen Umständen, zwanzig Jahre später ist eine junge Frau besessen davon, die Wahrheit rauszufinden – um jeden Preis Die junge Archivarin Kate soll den riesigen Nachlass der Künstlerin Miranda Brand sortieren. Auftraggeber ist Theo, Mirandas Sohn. Der Mittdreißiger ist schön, kühl, wohlhabend. Und übt eine gefährliche Anziehung auf Kate aus. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der Brands, liest heimlich das Tagebuch der Künstlerin. Die Beschäftigung mit Mirandas Tod wird ihr zur verhängnisvollen Obsession. Wurde die Fotografin ermordet? Was weiß Theo darüber? In atemberaubenden Bildern und glasklarer Sprache dringt Sara Sligar ein in die Geheimnisse und Lügen zweier magnetischer Frauen, die mehr verbindet, als sie ahnen.

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über das Buch

Sara Sligars temporeiches Debüt: Eine berühmte Fotografin stirbt unter mysteriösen Umständen, zwanzig Jahre später ist eine junge Frau besessen davon, die Wahrheit rauszufinden — um jeden PreisDie junge Archivarin Kate soll den riesigen Nachlass der Künstlerin Miranda Brand sortieren. Auftraggeber ist Theo, Mirandas Sohn. Der Mittdreißiger ist schön, kühl, wohlhabend. Und übt eine gefährliche Anziehung auf Kate aus. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der Brands, liest heimlich das Tagebuch der Künstlerin. Die Beschäftigung mit Mirandas Tod wird ihr zur verhängnisvollen Obsession. Wurde die Fotografin ermordet? Was weiß Theo darüber? In atemberaubenden Bildern und glasklarer Sprache dringt Sara Sligar ein in die Geheimnisse und Lügen zweier magnetischer Frauen, die mehr verbindet, als sie ahnen.

Sara Sligar

Alles, was zu ihr gehört

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Brauns

hanserblau

»Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.«

Jury der Krimibestenliste von Deutschlandradio Kultur und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Kate soll den Nachlass der Künstlerin Miranda Brand sortieren. Auftraggeber ist Theo, Mirandas Sohn. Ein kühler, wohlhabender Mann, der eine gefährliche Anziehung auf Kate ausübt. Immer tiefer verstrickt sie sich in das Leben der Brands und in den Nachlass, bis Mirandas Tod ihr zur Obsession wird. Wurde die Fotografin ermordet? Und was weiß Theo darüber?

»Sara Sligars Debütroman verwebt Ruhm, Gewalt, weibliche Selbstbestimmung, Künstlertum und psychische Gesundheit zu einem spannenden Ganzen.«Die Presse am Sonntag

»Ein hochspannendes, komplexes Debüt — Sara Sligar ist ein Name, den man sich merken sollte.«BÜCHER Magazin

Fotografieren ist ein Akt der Gewalt. Wenn wir einen Menschen mit der Kamera einfangen, reißen wir ihn aus Raum und Zeit und bannen ihn auf ein Stück Fotopapier, um ihn für die Ewigkeit festzuhalten. Man muss sich dieser Gewalt bewusst sein. Sich an ihr erfreuen. Ich glaube, deshalb mache ich so viele Selbstporträts. Denn der Mensch, den zu verletzen mir am leichtesten fällt, war schon immer ich selbst.

Miranda Brand (1956—1993)

1.

Kate

Juni 2017

Kalifornien offenbarte sich unter ihr als eine Reihe von Flecken, nicht unähnlich einem Rubbellos, in den Löchern der Wolkendecke zeigten sich zunächst waldige Hügel, während das Flugzeug langsam an Höhe verlor. Die Landschaft war wie aufgeteilt: die lila Berge, das lange Oval der Bucht. Als die letzte Wolke verschwand, streifte eine Böe das Flugzeug und presste die Passagiere in ihre Gurte, sodass in dem Moment, in dem sich unter Kate der Blick auf das gesamte Panorama öffnete, ihr die Angst wie ein Kloß in der Kehle saß. Das Flugzeug fing sich schnell, und sie ärgerte sich über die Turbulenzen, weil sie sich um einen ungetrübten ersten Eindruck betrogen fühlte. Der Mann neben ihr bekreuzigte sich.

»Ich hasse Landungen«, sagte er und steckte sich einen Cracker in den Mund. »Heutzutage scheint niemand mehr zu wissen, wie man so ein Ding fliegt.«

Kate fiel auf, dass sie sich an die Armlehne klammerte. Nur an die linke, denn der Mann hatte die zwischen ihnen liegende irgendwo über Colorado in Beschlag genommen. Kate entspannte bewusst die Hand. Ihre Wimpern klebten aneinander, und auf der Zunge hatte sie den Geschmack von Spülwasser. Der Morgen — übermüdet und verkatert auf den verspäteten Flieger warten; unüberlegt eine Flughafenbrezel bei der Zwischenlandung essen — wirkte schon sehr weit weg, überlagert von allem ekligen Übel, das eine Reise ans andere Ende des Landes so mit sich bringt.

»War das mal angenehmer?«, fragte sie den Mann. Nicht, weil sie sonderlich an einer Antwort interessiert war, sondern, weil sie nicht anders konnte. Das Fragen war ihr schon immer leichtgefallen. Als sie im Grundschulalter war, hatten ihre Eltern aufgehört, sie zum Einkaufen mitzunehmen, denn Kate hatte sie gnadenlos gelöchert, wie die Einkaufswagen gefertigt wurden oder wie das Befeuchtungssystem der Gemüseauslage funktionierte. Im College wurde ihr gesagt, sie hätte ein Talent für die Sokratische Methode.

»Oh, absolut«, sagte der Crackertyp. »Ich fliege beruflich seit dreiunddreißig Jahren. Schlecht wird mir bei der Landung erst seit vielleicht zehn Jahren. Man sollte meinen, dass der technische Fortschritt die Reise angenehmer machen würde, aber schlussendlich liegt es wohl an der Ausbildung.« Er nahm sich einen weiteren Cracker. »Kommen Sie aus San Francisco?«

»New York. Ich fange hier einen neuen Job an.«

»Ach, ja? Was machen Sie denn?«

»Ich bin Archivarin.« Das Wort fühlte sich fremd an, sie rollte es auf der Zunge herum wie eine Murmel. Weil ihr Sitznachbar so gar keine Reaktion zeigte, fügte sie hinzu: »Ich arbeite mit alten Dokumenten.«

»Und das ist ein echter Beruf?«

»Ja.«

»Machen Sie das schon immer?«

»Nein, ich habe zuletzt bei einer Zeitung gearbeitet.«

Sein Gesichtsausdruck gewann an Härte. »Sie sind Journalistin?«

»Copy Editor.«

»Dann überprüfen Sie Kommas?«

»Ja. Und auch Fakten, all so was hab ich gemacht.« Die Vergangenheitsform tat weh.

»Mir war gar nicht klar, dass heutzutage tatsächlich noch Fakten geprüft werden«, sagte er. »Ich hole mir meine Informationen nur noch von Leuten, die ich kenne — von meiner Frau, meinen Freunden. Zu denen hab ich einen direkten Draht. Ich zapfe gerne unmittelbar die Quelle an.«

Kate presste die Lippen aufeinander. Sie bereute längst, auf das Gespräch eingegangen zu sein, wusste aber nicht, wie sie es höflich beenden konnte. Es gab schließlich Regeln. Sei zuvorkommend. Heuchle Interesse. Gib ihnen, was sie wollen. Du willst es doch auch. Er lächelte sie an und trommelte mit dem Finger auf die Armlehne, verstreute Crackerkrümel.

»Wie dem auch sei«, sagte er, »klingt jedenfalls nach einer guten Entscheidung, die Branche zu wechseln.«

Dieser Typ. Er erinnerte sie an Leonard Webb, obwohl Leonard das sicher nicht gern gehört hätte. Er hätte den dicken Bauch dieses Typen gehasst, das karierte Hemd und das Näseln, das auf eine Herkunft aus dem mittleren Westen hindeutete. Und Kate hasste den Typen dafür, dass er sie überhaupt an Leonard erinnerte.

Das Flugzeug machte noch einen Satz. Hinter ihnen schrie jemand. Das Anschnalllämpchen über ihnen erlosch, was keine Absicht sein konnte. Die noch unvertraute Skyline vor dem ovalen Fenster kippte, und Kates Magen rebellierte.

Der Typ wartete auf die Gegenfrage, also gehorchte sie, wenn auch widerwillig. »Und was machen Sie?«

»Versicherung. Für die Landwirte. Ich stelle sicher, dass sie ihr Land nicht unter Wert ansetzen. Bin viel unterwegs.«

»Dann überprüfen Sie also auch Fakten, im weitesten Sinn.«

Er schaute sie an, als wäre sie verrückt. »Nein.«

Das Flugzeug setzte zum Landeanflug an, sie waren direkt über dem Meer. Die Oberfläche wirkte so nah, dass Kate überzeugt war, sie würden gleich hineinstürzen. Sie stellte sich vor, wie die Wellen über ihr zusammenschlugen. Wäre das eine Erleichterung? Bevor sie eine Antwort gefunden hatte, erschien fester Boden unter ihnen, ein Wunder aus Asphalt, und die Räder setzten auf.

Gepäckausgabe. Kate wartete mit den anderen müden Fluggästen, während die Koffer sie umkreisten wie Alligatoren. Das Gepäckband zog endlos oft an ihr vorbei, die Menge lichtete sich, weil mehr und mehr Leute mit ihren Gepäckstücken wiedervereinigt wurden, nur Kates Tasche tauchte nicht auf. Sie fing an zu schwitzen. Drei Monate waren eine lange Zeit, und sie hatte nur diese eine Tasche gepackt und mitgebracht. Wenn ihre Kleidung jetzt verschwand, wäre sie komplett allein. Nicht mal ein Outlet-Pullover, der ihr Gesellschaft leisten konnte.

Als nur noch sie und ein nervöser Student am Gepäckband standen, kullerte ihre ausgefranste rote Reisetasche die Rampe herunter. Vor Erleichterung wurde ihr schwindelig, als würde sich ihr Kopf mit Helium füllen.

Vor dem Ankunftsterminal sah Kate sich nach ihrer Tante um. Die Straße war völlig verstopft von hupenden Autos, in denen hektische Fahrer über ihren Lenkrädern hingen. Kate entdeckte ihre Tante schließlich, die ihr aus einem frisch gewachsten Volvo zuwinkte. Louise ließ den Wagen einfach auf der mittleren Spur stehen, wofür sie ein paar schrille Pfiffe vom Ordner erntete, die sie aber geflissentlich ignorierte. Sie umarmte Kate, und dann griff sie nach ihren Schultern, obwohl Kate sicher fünfzehn Zentimeter größer war als sie, und musterte sie eindringlich.

Auch Kate machte eine Bestandsaufnahme. Sie hatte ihre Tante seit drei Jahren nicht gesehen, aber Louise sah immer noch genauso aus wie früher. Sie war nur gebräunter. Wie eine Holzterrasse, der ein frischer, aber unwirklicher Braunton verpasst worden war. Sie war zierlich — sie hatte einen Stoffwechsel, der selbst Schweinefett sofort in sehnige Muskeln verwandelte —, und auf ihrem Kopf thronte eine kleingelockte Mähne, die immer ein bisschen feucht wirkte. Louise war eine härtere, glänzendere Version von Kates Mutter, als wäre sie in Lack getunkt und zum Trocknen rausgestellt worden. Wenn Kate sich richtig erinnerte, dann war Louise neugierig und nervtötend, weshalb sie hoffte, dass ihre Tante sich geändert hatte oder sie selbst geduldiger geworden war. Oder aber dass sie sich schlichtweg falsch erinnerte.

Irgendwann ließ Louise endlich die Hände sinken und verkündete: »Du siehst erschöpft aus.«

Kate brachte ein Lächeln zustande. »War ein langer Tag.«

»Ja, drei Zwischenlandungen! Du hättest einen Direktflug buchen sollen.« Louise griff nach ihrer Reisetasche und wuchtete sie, trotz Kates Protest, in den Kofferraum. »Ich habe eine tolle Creme für dich, die hilft sofort gegen deine Augenringe. Hast du schon was gegessen? Wir haben eine Menge zu Hause. Oh, ich sollte Frank anrufen, damit er die Steaks zum Auftauen rauslegt.«

Wenn Louise eine aufgefrischte Terrasse war, glich Kate einer schlecht verputzten Wand kurz vorm Abriss. Teile von ihr bröselten in die milde Luft Kaliforniens. »Ich kann ihm eine SMS von unterwegs schicken, wenn du magst.«

»Ach ja.« Louise nickte, als hätte Kate sie an eine Stadt erinnert, in der sie vor vielen Jahren mal gewesen war. »SMS.«

Louise redete permanent, während sie sich durch sämtliche Über- und Unterführungen San Franciscos fädelten, Wörter sprudelten aus ihr wie aus einem geplatzten Feuerhydranten. Sie erzählte, dass sie das Gästezimmer hergerichtet hatten, dass sie sich auf Kates Besuch freuten, dass sie sich schon eine Menge Ausflüge überlegt hätten. Sie überquerten die Golden Gate Bridge und fuhren ins Marin County, nahmen die Abfahrt nach Sausalito, sahen das Schild nach Tiburon — und noch immer redete Louise.

Kate versuchte zuzuhören, aber der Wortschwall schwappte vorbei, ohne einzusickern. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe und betrachtete die Umgebung mit halb offenen Augen. Hier oben war das Licht dicht und satt, viel goldener als unten am Flughafen. Es umschloss die großen Häuser auf den Hügeln, die Yachten im Hafen. Die Leute zahlten viel Geld, um in diesem Licht zu leben.

»Übrigens«, sagte Louise, als sie auf eine steile Abfahrt bog, »habe ich dir die Atlantic von letzter Woche aufgehoben. Da ist ein Artikel drin, den du lesen solltest.«

»Ja?«

»Darin geht es darum, dass deine Generation sich sehr verloren fühlt. Hat irgendetwas mit den Substanzen zu tun, die das Gehirn freisetzt, wenn man auf Bildschirme schaut. Und mit der Wirtschaft. Am Ende ging es dem jungen Mann, den sie begleitet haben, aber viel besser. Da war ihm bewusst geworden, dass er Jura studieren musste. Es ist einfach eine große Hilfe, wenn man das Richtige für sich findet, nicht wahr?«

Kate schaute ihre Tante an. »Absolut.«

Sie wusste, von welchem Artikel Louise sprach. Er war überall gewesen. Ein paar Tage lang war das Internet geradezu überschwemmt worden von Memes und Kommentaren über die einfallslosen Zitate und die so offensichtlich gestellten Fotos. Ihre Collegefreunde hatten sich in Gruppennachrichten darüber lustig gemacht. Also, auch nicht alle, sondern die mit guten Jobs. Die anderen, wie eben auch Kate, waren still geblieben.

»Dein Job war einfach nicht das Richtige für dich«, fuhr Louise fort. »Da war keine Leidenschaft, sonst wärst du nicht … also … Was ich sagen will: Wie es dir jetzt geht, ist völlig normal.«

»Danke.«

»Und Jura ist ja immer eine Option.«

»Okay.«

»Wenn du den Eignungstest LSAT bestehst. Fayes Sohn hat den gemacht, soweit ich weiß. Vielleicht kannst du dir ja seine Unterlagen ausleihen.«

Sie meint es gut, mahnte Kate sich. Das sagten sie in Kates Familie heimlich über Louise. Sie meint es gut. Zum Beispiel als Louise einem Cousin, einem trockenen Alkoholiker, erklärte, wie wichtig es sei, »sich ab und zu mal gehen zu lassen«, oder als sie auf die damals siebenjährige Kate aufpasste und sie dann Hals über Kopf in die Notaufnahme brachte, weil sie einen tödlichen Ausschlag vermutete, der sich als Sonnenbrand entpuppte. Sie sagten es jedes Jahr, wenn sie unfassbar hohe Schecks zu Geburtstagen oder Weihnachten schickte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass das viele Geld für ihre stolzen Verwandten aus Neuengland einer Beleidigung gleichkam. Louise war aufdringlich, selbstgefällig und übergriffig, wenn auch mit den besten Absichten.

»Hast du Theo Brand schon getroffen?«, fragte Kate im verzweifelten Versuch, das Thema zu wechseln. »Soweit ich weiß, wollte er letzte Woche anreisen, um das Haus auf Vordermann zu bringen.«

»Roberta hat ihn im Supermarkt gesehen. Er war wohl …« Louise verstummte.

»Er war wohl was?«

»Nichts.«

»Sag schon.« Kate setzte sich auf. »Ich werde ihn morgen so oder so treffen.«

»Also, Roberta hat gesagt, er war … nicht gerade nett.« Louise drehte am Steuer; sie hatten eine kurvenreiche Straße erreicht. Das Meer lag plötzlich vor ihnen wie eine blaue Decke, die man straff über die felsige Oberfläche des Planeten gespannt hatte. »Er wollte nicht mit ihr sprechen.«

»Vielleicht war er müde. Er hat schließlich zwei kleine Kinder.« Ihre Stimmen waren während des Telefoninterviews im Hintergrund zu hören gewesen, hoch und quengelig.

Louise schnaubte. »Andere Leute haben auch Kinder und können trotzdem grüßen.«

»Okay.«

»Außerdem war es noch mehr. Sie hatte das Gefühl, er würde durch sie durchsehen.« Louise schauderte, und der Wagen scherte kurz seitlich aus. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du allein im Haus bist mit ihm. Du erzählst mir bitte sofort, wenn da irgendwas Komisches vorgeht.«

»Nein«, sagte Kate. »Kann ich nicht. Ich habe eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterschrieben.«

»Du hast was?« Der Wagen scherte wieder seitlich aus. Kate klammerte sich an den Griff über der Beifahrertür.

»Das ist nicht ungewöhnlich.«

»Es klingt sehr ungewöhnlich.«

»Ist es aber nicht.« Kate musste fast lachen. So viel dazu, dass sie sich vielleicht falsch erinnerte. »Ich dachte, du hast den Job für eine gute Idee gehalten. Du hast ihn mir schließlich vermittelt.«

»Ich hab Theo Brands Putzhilfe deinen Lebenslauf gegeben«, sagte Louise. »Vermittelt hab ich gar nichts.«

»Du weißt, was ich meine.«

Louises Finger umschlossen das Steuer fester.

»Ich habe mich aber nicht für ihn verbürgt«, nuschelte sie.

Kate seufzte. Das war so typisch für ihre Familie. Drängte dich dazu, etwas zu tun, und wenn du es getan hattest, verhielten sie sich, als wäre es das Dümmste, was du je tun konntest.

Sie fuhren nun parallel zum Ufer. Jenseits der dünnen Leitplanke war das Wasser silbrig und funkelte unter dem weißen Abendhimmel. Möwen breiteten ihre Flügel aus und stürzten sich die dunklen, steinalten Klippen hinab. Drehten im letzten Moment ab, stürzten sich dann erneut hinunter. Begeistert vom Wind in den Federn — oder auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer.

Zwanzig Stunden zuvor war Kate in New York gewesen, genauer gesagt in Bushwick, bei einer Geburtstagsfeier von jemandem, den sie nicht kannte. Ihre beste Freundin hatte sie mitgeschleppt. Kate hatte Partys mal geliebt. Sie war charmant gewesen und hatte ihre überschüssige Energie für clevere Wortspiele nutzen können. Das war jetzt schwieriger. Sie wurde nervös und unsicher. Sie verpasste den Einsatz, um geistreiche Kommentare beizusteuern. Sie wollte nicht erkannt, nicht angestarrt werden von Leuten, die sich fragten, ob sie noch immer verrückt war, welche Medikamente sie nahm, ob sie eine Abfindung von der Zeitung bekommen hatte. Oder schlimmer noch, ob sie langweilig war.

Aber Natasha, ihre ehemalige Mitbewohnerin, hatte ein Druckmittel: Kate verbrachte die Nacht vor ihrem Abflug bei ihr, weil sie sehr früh zum Flughafen musste, und obwohl sie bis Ende des Monats noch offiziell bei Natasha wohnte, musste man doch die geltenden Regeln guter Gastlichkeit wahren. Und ein guter Gast war zu allem bereit.

Mittlerweile war es nach Mitternacht, eigentlich hatte sie längst gehen wollen, schließlich würde der Wecker unerbittlich früh klingeln. Aber gerade näherten sie sich diesem Moment der Party: Indie-Electro machte dem Nostalgiepop Platz, die teuren Biere der Kleinbrauereien wichen der Billigmarke, und eine Reihe ärztlich abgesegneter Joints machten diskret die Runde.

Kate stand am offenen Fenster und betrachtete die Skyline. Sie hatte gerade ausreichend getrunken, um sich grob zu betäuben. Um ihre Nervosität zu entschärfen. Die, wäre Kate nur einen Moment unaufmerksam, allzu schnell wieder zünden würde. Feuchtes Alu an ihrer Schulter. Natasha mit einer weiteren Dose Bier. Gott sei Dank.

»Wie geht’s dir?«, fragte Natasha. Ihr Ton überfreundlich.

»Gut.«

»Niemand hier, den du kennst, oder? Hab ich doch versprochen.«

»Ja, stimmt. Schöne Party. Ich bin froh, dass ich mitgekommen bin.«

Falls Natasha bewusst war, dass Kate log, ließ sie es sich nicht anmerken. »Ich will nicht, dass du umziehst«, sagte sie und strich sich die Braids über die Schulter. »Was soll ich denn ohne dich machen? Mit wem soll ich Kaffee trinken gehen?«

»Du kommst schon klar«, sagte Kate. »Was soll ich denn ohne dich machen, wenn ich mit meiner verrückten Tante und meinem Onkel in Kalifornien mitten in einem Haufen vergilbter alter Zettel hocke?«

»Du liebst vergilbte alte Zettel. Du wirst sicher total braun werden. Und dann findest du alle Geheimnisse von Miranda Brand raus und schreibst ein Buch, verdienst eine Million Dollar und kaufst eine dieser pinken Villen. Wirst in alle Fernsehshows eingeladen. Kommst nie wieder zurück nach New York.«

Das klang eigentlich ganz gut. New York war schließlich jetzt verbrannte Erde. Wenn Kate an ihrem üblichen Bahnsteig stand oder an einer nur zu bekannten Bar vorbeiging, erinnerte sie sich daran, wie sie diese Orte gesehen hatte, bevor ihr Leben auf den Kopf gestellt wurde. Außerdem würde sie hier sowieso keinen Job finden. Weder bei der Times noch bei der Post noch irgendwo sonst, wo Leonard Webb Freunde hatte — und das war so ziemlich jede Redaktion an der Ostküste. Kalifornien war ein weißes Laken an der Wäscheleine, von jedem Wissen bereinigt.

»Ich werde dich in meiner Pulitzer-Dankesrede erwähnen«, sagte Kate.

»Vergiss den Pulitzer, lieber gleich den Nobelpreis.«

Kate lachte und schüttelte den Kopf. Vor dem Fenster erstreckte sich ein Meer aus Flachdächern, fleckig von Vogelkacke, das in der Ferne mit der schwarzen Schlange namens East River verschmolz. Dahinter erstrahlten die Williamsburg Bridge und die beleuchteten Wolkenkratzer Manhattans. Auf der anderen Straßenseite flackerte eine neonfarbene Alkoholreklame. Aus dem jamaikanischen Imbiss unten drang der Geruch von Kochbananen und mariniertem Hühnchen herauf. Etwa einen Kilometer entfernt hing ein Hubschrauber unbeweglich in der Luft. Wupp-wupp-wupp. Der Scheinwerfer machte Jagd auf seine Beute.

Bei dem Anblick erschauderte Kate, und dann sagte sie, was sie schon seit einer Stunde dachte. »Die Typen dahinten beobachten mich.«

»Wer?«

Ohne hinzuschauen, nickte Kate Richtung Küche, wo ein paar junge Männer mit identischen Hipsterbrillen zusammenstanden. »Die wissen von der Sache mit Leonard.«

Natasha schielte zu ihnen. »Nein, tun sie nicht.«

»Das sind Journalisten.«

»Nein, das sind Anwälte. Ich kenne sie.«

»Vielleicht arbeiten sie bei der Kanzlei, bei der ich mich erkundigt habe, ob ich ihn verklagen kann.«

»Die kennen dich nicht«, sagte Natasha bestimmt, und Kate zuckte zusammen. Da musste Natasha bewusst geworden sein, wie sie klang, denn sie legte Kate einen Arm um die Schulter und fügte hinzu: »Du wirst mir fehlen.«

»Du wirst mir auch fehlen«, sagte Kate.

Das war gleichzeitig wahr und nicht wahr. Kate hatte das Gefühl, seit Jahren eine Maske zu tragen, und nun war plötzlich das Gummi gerissen, ohne das die Maske nicht länger ihr wahres Gesicht verbarg. Natasha würde ihr unendlich fehlen. Sie waren seit über zehn Jahren befreundet, waren zusammen zwanzig und dreißig geworden, hatten gemeinsam Liebeskummer, Tode und die täglichen Enttäuschungen des Lebens durchgestanden. Aber wenn Kate sie jetzt sah, konnte sie nur an jenen Morgen denken, als Natasha in ihr Zimmer kam, um Kate (ungewaschen, unbeweglich, den Blick auf den größer werdenden Kreis gerichtet, den die Heizung in den Frost an der Fensterscheibe fraß) zu sagen, dass sie Kates Mutter gebeten hatte, sie abzuholen.

Das würde ihr nicht fehlen. Die Scham darüber, an ihrem absoluten Tiefpunkt gesehen worden zu sein.

Auch nicht die Vorsicht, die sie nun immer in Natashas Stimme hörte. Oder der Eindruck, der sie manchmal beschlich, dass Natasha erleichtert über ihren Umzug war.

Plötzlich war da Bewegung, zwei verschwitzte Arme legten sich von hinten um Natasha. Ihr Freund, Liam, verlangte sie zurück.

»Du musst mit mir tanzen«, sagte er zu Natasha. »Du liebst dieses Lied. Kate, du auch.«

»Ich komme gleich«, sagte Kate.

Natasha glaubte ihr oder tat so, jedenfalls waren Natasha und Liam innerhalb weniger Sekunden in der Menge verschwunden.

Kate wandte sich wieder zum Fenster und lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf das schmierige Geländer des französischen Balkons. Sie schaute die acht Geschosse hinunter bis zum Bürgersteig. Der Asphalt war brüchig und dreckig. Ein Essensbehälter lag platt getreten dort unten. Zwei Stockwerke unter Kate kam immer wieder eine Hand ins Blickfeld, dort unten schien jemand beherzt zu gestikulieren. Wie ein kleiner Fisch, der sich durch Algen fädelte.

Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Sie wäre besser auf der schäbigen Couch geblieben und hätte unter der geliehenen Bettdecke gezittert und geschwitzt und auf bessere Zeiten gewartet. Wildtiere überwinterten so: Sie machten sich ein Nest aus Blättern und gruben Höhlengänge im Wurzelwerk von Bäumen, sie verkrochen sich in wärmende Dunkelheit, um den Winter zu verschlafen, der sie sonst umbringen würde. Nur Menschen hielten Selbstschutz für eine Schwäche. Als Kate ihren Winter aussaß, sagten alle, sie müsse da durch, es hinter sich lassen, darüber reden. Als könnten Richtungsvorgaben helfen. Als wäre klar, dass danach wirklich etwas Besseres wartete. Dabei wussten doch alle nur, dass etwas wartete.

Plötzlich sah sie sich selbst dort unten auf dem Asphalt, die Gliedmaßen in unnatürlichen Winkeln vom Körper abgespreizt. Blut, das ihr aus der Nase lief. Die Vorstellung war so klar und deutlich, als würde sie ein übersättigtes Foto betrachten, alles war so scharf, dass es einem Befehl gleichkam. Spring!

Sie schreckte zurück, stieß gegen jemanden. Ein Fluch, etwas Nasses an ihrer linken Schulter.

»Sorry«, murmelte sie, ohne sich umzudrehen.

Sie musste hier weg.

Sie bahnte sich den Weg zur Wohnungstür und schlüpfte in den muffigen Hausflur, wo sie so lange den Aufzugknopf drückte, bis die Türen sich endlich mit einem Seufzen öffneten.

Auf dem Weg nach unten betrachtete sie sich im welligen Metall der Tür. Ihre Haare waren platt. Der Lippenstift verblasst. Neuerdings waren da kleine Fältchen an den Augenwinkeln. Früher, wenn sie nachts hin und wieder einen Blick auf sich mit verwischtem Lidstrich oder zerzaustem blondem Haar erhascht hatte, war ihre Reaktion immer ein Fuck, yeah gewesen. Heutzutage erkannte sie ihr Gegenüber im Spiegel manchmal gar nicht. Es lag nicht am Alter. Das letzte Jahr hatte sie verändert, hatte sie geschwächt, ausgelaugt.

»Du musst einfach ein bisschen Farbe bekommen«, hatte ihre Mutter letzte Woche gesagt. »Du brauchst Sonne.«

Kate wollte ihr glauben. Wollte, dass Kalifornien die Lösung für alles war, das alles bewerkstelligen konnte: ihre blasse Haut bräunen, ihr glanzloses Haar auffrischen und dann tief in sie hineingreifen und das notdürftig geklebte Chaos reparieren.

Der Aufzug glitt ein weiteres Stockwerk hinunter. Gar kein so großer Unterschied zum Springen. Auch hier zog die Schwerkraft sie hinunter. Der Aufzug bewegte sich bloß langsam, der Boden fing sie beim Fallen auf. Hier. Und hier. Und hier, bis sie im Erdgeschoss angekommen war, ganz unten, und die Tür aufging, ihre Spiegelung in zwei Teile riss und dann verschwinden ließ.

Miranda

1. Teilbestand, Schriftverkehr

Karton 1, Persönlicher Schriftverkehr

Mappe: Eggers, Hal (beinhaltet 39 Fotokopien von MBs Briefen aus HEs Privatsammlung)

27. Dezember 1990

Lieber Hal,

lieben Dank für die Anfrage, ob ich einen »Bekenntnis-Essay« schreiben würde. Das muss ich hochachtungsvoll ablehnen.

Und hier kommt der Grund dafür, du unfassbarer Idiot.

Du willst etwas haben, das so ist wie der Biss in eine reife Feige: saftig, intensiv, explosiv. Aber Bekenntnisse sind nicht sexy. Bekenntnisse sind wie Weichteilbrüche. Wie Organe, die sich durch kleine Öffnungen nach außen quetschen. Wie ein Körper, der sich selbst übergibt. Feucht und zuckend. Bekenntnisse sollten nie direktem Sonnenlicht ausgesetzt werden.

Selbstverständlich wollen die Fans das. Sie sind Kannibalen, Feinschmecker, hungrige Raubtiere, sie wollen sich darin verbeißen und es zerreißen. Sie wollen zum innersten Kreis gehören.

Aber ich werde sie nicht bedienen. Kann ich nicht.

Ich bin keine Aktienprämie.

Ich bin keine staatliche Institution.

Meine Fotos machen dich doch schon reich, oder etwa nicht? Was kümmert dich das also? Die Essays, Presseerklärungen, Vorträge vor Spendern, das sind doch alles nur Wörter. Die Fotos verkaufen sich selbst. Die Fotos sagen alles, was ich sagen will.

Hochachtungsvoll,

dein Goldesel Miranda

4. Januar 1991

Miranda, meine Liebe,

SELBSTVERSTÄNDLICH möchte ich nicht, dass du dich von mir BENUTZT fühlst — ich hielt ein solches Bekenntnis einfach für eine gute Gelegenheit, um deine GESCHICHTE zu erzählen!

Außerdem finde ich, du stellst das gesamte Genre in ein schlechtes Licht. Schriftbekenntnisse sind SEHR beliebt. Hast du Sylvia Plath nicht gelesen? Und ich will doch gar nicht, dass du ALLES preisgibst. Du kannst doch die ILLUSION eines Bekenntnisses kreieren. Heutzutage muss man die Welt als Bühne verstehen, denk nur mal an Cindy, denk an den bezaubernden Herrn aus North Carolina, den ich letztes Jahr unter Vertrag genommen habe … du nimmst das viel zu WÖRTLICH, wie immer!

Ich habe Romi gesagt, dass du definitiv etwas zum Ausstellungskatalog beisteuern wirst. Er hat eine VISION, wie er deine Beiträge einbetten will, die ich sehr INNOVATIV finde. Wir könnten ein Interview inszenieren, GANZ EGAL, Hauptsache IRGENDWAS. Deine Einsiedlerinnen-Masche ist mittlerweile überholt. Dafür machst du das schon zu lange.

Übrigens gibt es einen Interessenten, der die vollständige Bottle-Girls-Serie kaufen will, aber ich habe keine Abzüge mehr von Nummer 4, seit ich den letzten verkauft habe. Wir haben nur 7 der gedruckten 10 verkauft, deshalb müssten davon noch welche bei dir rumschwirren. Könntest du mal nachsehen?

Hal

18. Januar 1991

Hal,

ich habe dir die 3 verbliebenen Abzüge von BG#4 per Kurier geschickt. Ich kann gern nächsten Monat neue machen.

Lass mich raten, welche Themen Romi vorgeschlagen hat.

Mutterschaft.

Ehe.

Zu viel Erfolg.

Zu wenig Erfolg.

Meine Vagina. Wer drin war, wer rauskam, ob ich mich nach der Geburt hab enger nähen lassen.

Ob meine Glanzzeit vorbei ist.

Ob ich zu teuer gehandelt werde.

Ob ich vergessen werde.

Was in Nangussett passiert ist.

Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind.

Oder ob ich das alles inszeniert habe.

Nein? Nichts davon?

Ehrlich?

Wenn dir Romi das nächste Mal auf einem Klo einen runterholt, solltest du ihn, statt zu versprechen, dass ich irgendeinen Scheiß mache, daran erinnern, dass ich für die Ausstellung den Abzug #6 der Capillaries will, der im MoMA hängt, nicht den aus Chicago. Die Sättigung ist anders. Mir egal, welches leichter zu versichern ist.

M

2.

Kate

Das Haus, in dem Miranda Brand gelebt hatte und gestorben war, wirkte unscheinbar. Es saß auf dem Hügel wie ein Klecks Mayonnaise auf der Glatze eines hart gekochten Eis. Der Anstrich war vielleicht einmal schön gewesen, doch die unerbittliche Meeresbrise hatte ihn zu einem stumpfen Grau reduziert, der gleichen Farbe, die der Himmel in diesem Moment hatte, sodass man nicht sagen konnte, wo der Nebel endete und das Haus begann. Zwei wild wuchernde Bäume ragten davor in die Luft, ihre obersten Äste streiften die Fenster im zweiten Stock. Ein Haus, wie man es an jeder x-beliebigen Küste finden konnte, Ost- wie West-, und trotzdem machte Kates Herz einen sonderbaren Satz, als sie es sah.

Vielleicht war es nur die Anspannung. Wenige Tage zuvor hatte Theo Brand ihr in einer knappen Mail ohne jegliche Satzzeichen erklärt, wie sie das Haus über einen »einfachen Weg« direkt aus der Stadt erreichen konnte, und ihr auch den Zugangscode für das Tor mitgeschickt. Sie hatte mit einem Spaziergang gerechnet, fand sich dann jedoch auf einem steilen, sich windenden Pfad durch einen Wald aus Mammutbäumen, der ihr den Schweiß zwischen die Schulterblätter trieb. Das Schloss war so verrostet, dass Kate geschlagene fünf Minuten mit einer Haarnadel daran herumkratzen musste, bis es endlich nachgab.

Trotz dieser Verzögerung war sie fünfzehn Minuten zu früh. Viel zu früh, um schon zu klopfen. Sie stand am Rand der Lichtung, betrachtete das Haus und kauerte sich zusammen, damit ihr warm blieb. Es war kälter, als sie angenommen hatte, die Morgenluft so feucht und eisig wie ein toter Fisch. Die kleinen Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Das Essen am Vorabend war merkwürdig gewesen — ihre Tante und ihr Onkel hatten nur so mit Informationen um sich geworfen. Angefangen bei möglichen Wanderrouten über die Besonderheiten der Toilettenspülung im Gästebad bis zu den hiesigen Regeln für den Strand, während Kate auf dem verkochten Steak herumgekaut und sich bemüht hatte, nicht über ihren neuen Job nachzudenken. Kate hatte die Sorgen ihrer Tante im Auto beiseitegewischt, doch sie hatte bisher nur ein einziges Mal mit ihrem neuen Arbeitgeber gesprochen. Während des dreißigminütigen Telefonats war er forsch gewesen und hatte fast nichts von sich preisgegeben. Kate hatte ihn danach gegoogelt und erfahren, dass er in Harvard studiert hatte und für ein paar erfolgreiche Internet-Start-ups tätig gewesen war, jetzt allerdings eine Beraterfirma im IT-Bereich mit einer aalglatten Internetseite führte. Er war auf einer wichtigen 35-unter-35-Liste der Techwelt genannt worden. Sein Name tauchte in ein paar Magazinen auf, und er wurde, selbstverständlich, vor sechs Monaten im Nachruf auf seinen Vater erwähnt. Aber die Artikel waren bemerkenswert langweilig. In Interviews wies er jede Frage zurück, die nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte. Die einzige persönliche Information über ihn, die Kate finden konnte, war ein Einzeiler in einem Tratschblog der Bay Area über seine Scheidung im vergangenen Jahr von einer Frau namens Rachel Tatum.

In keinem einzigen Artikel sprach er über seine Mutter.

Kate konnte nur zu gut nachfühlen, warum er sich so bedeckt hielt, schließlich war sie selbst im letzten Jahr lange genug aus den falschen Gründen in der Presse gewesen. Andererseits hatte sie diesen Job unter der Annahme angenommen, irgendwann mehr über ihn zu erfahren. Sie war davon ausgegangen, dass sie noch einmal miteinander sprechen würden, bevor sie ans andere Ende des Landes zog, oder er ihr genauer erklärte, welche Aufgaben auf sie zukamen. Sie hatte sich in die technischen Details einlesen wollen. Doch als sie nun auf das still daliegende Haus blickte, wurde ihr klar, wie sehr sie sich von ihrem Umzug hatte ablenken lassen. Sie hatte das Undenkbare getan: aufgehört zu recherchieren. Der Moment der Wahrheit war hier, und ihr blieb keine Zeit mehr. Das war’s. Mehr würde sie nicht erfahren.

Sie schaute auf die Uhr. Noch dreizehn Minuten. Jenseits des trockenbraunen Grasstreifens gab es eine Schneise, wo die Bäume zurückgestutzt worden waren. Sie hatte noch genug Zeit, kurz die Aussicht aufs Meer zu genießen. Nach einem Blick zum Haus schob sie den Riemen ihres Stoffbeutels wieder auf die Schulter und überquerte die Wiese.

Der sich durch den Garten windende Pfad verlor sich am Waldrand, ein Stück weiter begann die Klippe. Aber auch hier keine Chance auf eine Aussicht, selbst durch die Schneise in den Baumkronen: Der Nebel verdeckte, was immer sich dahinter befand, er verhüllte die Lichtung wie ein grauer Kokon. Weit weg, am unteren Ende des Hügels, funkelte Metall. Der Zaun, durch den sie gerade gekommen war, schien das ganze Grundstück einzufassen. Als sie das Tor hinter sich wieder in das schwergängige Schloss gedrückt hatte, hatte sie sich hier drinnen eingesperrt.

»Was machen Sie hier?«, fragte eine Stimme direkt hinter ihr.

Kate erschrak, verlor fast das Gleichgewicht. Sie drehte sich zu dem Mann um, der etwa fünf Meter entfernt stand, genau zwischen ihr und dem Haus. Groß, dunkelhaarig, sonnengebräunt, schlank. Breitbeinig stand er da — in Abwehrhaltung —, die Hände in den Hosentaschen.

Theo Brand.

Ihn umfing eine Intensität, der die Fotos im Internet nicht gerecht geworden waren. Er wirkte lebendiger, weniger zurechtgemacht. Sie klemmte den Stoffbeutel mit dem Ellbogen an ihre Seite. Angst, Aufregung, etwas Scharfes, Glühendes schossen ihr durch die Adern. Hätte sie mal besser auf den zweiten Kaffee verzichtet.

»Ich bin Kate«, platzte es aus ihr heraus. »Ihre Archivarin.« Sie konnte nicht erklären, wieso sie Ihre sagte.

»Hab ich mir schon gedacht. Sie haben wohl die Haustür verfehlt.«

Sie schluckte. »Ich wollte einen Blick auf die Aussicht werfen.«

Er schaute in den trüben Himmel und hob die Augenbrauen. »Perfekte Bedingungen.« Als Kate rot wurde, verschränkte er die Arme. »Sie sollten wissen, dass ich jeden verklage, der sich unbefugt Zutritt zu meinem Grundstück verschafft.«

Das konnte er nicht ernst meinen. Doch seine Stimme war kühl, und sein Blick bestimmt. Das Lachen blieb ihr im Hals stecken. Sie dachte zurück an seine Mail. Hatte sie sich im Tag geirrt? Nein, so was passierte ihr nicht. Sie achtete auf Details.

»Ich weiß, ich bin etwas zu früh«, sagte sie stockend. »Aber …« Sie gab ihm Zeit, sie zu unterbrechen und sich zu entschuldigen. Er blieb still. Sie konnte ihre Fassungslosigkeit kaum verbergen, als sie fragte: »Soll ich wieder gehen?«

»Natürlich nicht«, sagte er. Und als sie sich langsam entspannte, fügte er hinzu: »Sie sollten es noch ein bisschen genießen.«

»Genießen?«

»Das Erlebnis.« Er nickte zu ihren Füßen. »Dort ist sie gestorben. Hat sich genau dort erschossen, wo Sie stehen.«

Kate ließ den Blick zu Boden sinken, auf das spärliche, vertrocknete Gras.

»Knien Sie sich ruhig hin«, sagte er freundlich. »Damit Sie wissen, wie es sich anfühlt. Damit Sie es am eigenen Körper erfahren können.«

Ihr Puls, der sich nach Theos überraschendem Auftauchen endlich wieder beruhigt hatte, schoss vor Empörung wieder in die Höhe. Aber was konnte sie schon sagen? Es gab keine angemessene Antwort.

»Mein …« Sie räusperte sich. »Mein herzliches Beileid.«

Theo ließ sich nicht anmerken, ob er sie gehört hatte. Er betrachtete sie einfach weiter, seine Miene wurde von Sekunde zu Sekunde kühler, sodass Kate zu zweifeln begann, ob sie die Wörter in der richtigen Reihenfolge gesagt hatte. Ihr fiel wieder ein, wie er seine Mails beendet hatte: TJB. Sie war davon ausgegangen, dass dies eine Art Signatur oder einfach sein Kürzel war, das er bei Arbeitsmails nutzte. Jetzt begriff sie die Warnung, die darin mitschwang. Noch bevor sie sich überhaupt begegnet waren, hielt er sie schon im Zaum, riss an den Zügeln, bis das Gebissstück in ihren Mundwinkeln zwickte.

Schließlich sagte er grimmig: »Na, dann kommen Sie mal mit.« Dabei nickte er zum Haus.

Ohne ihre Reaktion abzuwarten, wandte er sich ab. Er hatte sich nicht vorgestellt.

Als wieder Bewegung in sie kam, war er schon auf halbem Weg zum Haus. Sie eilte hinter ihm den Hügel hinauf, ihre Schuhe rutschten auf dem taufeuchten Gras. Aus der Nähe wurde klar, dass sich das Haus in einem schlimmeren Zustand befand, als sie angenommen hatte. Die Stufen zur Terrasse knarzten, der Zahn der Zeit hatte die Farbe vom Geländer genagt und rohes Holz schimmerte durch den Lack der abgelaufenen Bohlen.

»Haben Sie …«, setzte sie an, unterbrach sich dann selbst.

»Habe ich was?« Er versuchte, die Fußmatte glatt zu trampeln.

»Ach, nichts«, sagte sie.

Ein Kreischen war von innen zu hören, dann flog die Terrassentür auf. Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben, hing an der Klinke und strahlte zu ihnen hinauf. Ihr Nachthemd war mit Disney-Prinzessinnen bedruckt, unter dem Saum zappelten ihre nackten Füße vor Aufregung.

»Hi, hi, hi«, sagte das Mädchen und streckte die Hand aus. »Ich bin Jemima.«

Kate lächelte und nahm ihre Hand. Sie war leicht und weich. »Kate. Cooles Nachthemd.«

Jemima drehte sich, um mit dem Rücken die Tür aufzuhalten, damit sie den Saum des Nachthemds heben und flattern lassen konnte. »Es ist magisch, ich kann damit nämlich fliegen.«

»Hier wird nicht geflogen«, mahnte Theo. »Das hab ich vorhin schon gesagt. Die Füße bleiben am Boden. Wo ist dein Bruder?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Stellt sich wieder an wie ein Baby.«

»Jemima, fang jetzt nicht so an.« Theo schwang die Tür ganz auf und winkte Kate hinein.

Die Küche war altmodisch, orangefarbene Fliesen und ein plastikverkleideter Kühlschrank. Die Spuren alltäglichen Lebens — das schmutzige Geschirr auf dem Tisch, die verstreut dazwischenliegenden Wachsmalstifte, der Milchfleck am Boden — beruhigten Kate. Theo hatte Kinder, denen er Frühstück machte und die er erfolgreich am Leben hielt: So schlimm konnte er nicht sein.

Jemima rannte in die Mitte der Küche, hob den Saum ihres Nachthemds höher, breitete den Stoff wie Flügel aus, um Kate auf sich aufmerksam zu machen, und drehte sich um die eigene Achse. »Ich bin ein Vogel!«

»Ein wunderschöner Vogel«, sagte Kate höflich, während sie immer noch alle Eindrücke verarbeitete.

»Oscar«, sagte Theo. »Komm da raus.«

Kate wusste nicht, mit wem Theo sprach, bis er zum Tisch ging und dort in die Hocke. Da erkannte Kate den kleinen Jungen, der darunter saß, die Knie an den Brustkorb gezogen.

»Hab ich doch gesagt«, flüsterte Jemima für alle hörbar.

»Jemima«, warnte Theo, »ich meine es ernst.« Er half Oscar aus seinem Versteck. Oscar war jünger als Jemima, vielleicht vier oder fünf, hatte aber die gleichen wilden braunen Locken. Er presste nervös die Lippen aufeinander.

»Er ist ein bisschen schüchtern«, erklärte Theo.

»Schon okay«, sagte Kate, schließlich kannte sie das Bedürfnis zu gut, sich im Hintergrund zu halten. Lieber zu beobachten statt beobachtet zu werden. Wenn sie gekonnt hätte, sie wäre liebend gern selbst unter den Tisch gekrochen. »Hallo, Oscar.«

Er versteckte sich hinter den Beinen seines Vaters.

»Papa hat gesagt, du bist hier, um Omas Sachen anzugucken«, sagte Jemima zu Kate. »Ich liebe Omas Sachen. Ich werde die auch angucken. Und zwar sofort!«

»Das glaube ich nicht.« Theo hielt Jemima zurück, bevor sie losflitzen konnte. »Wieso gehst du nicht mit Oscar ins Wohnzimmer und guckst den Film zu Ende?«

»Der ist zu langweilig.«

»Dann räumt doch das Lego weg.«

»Ich hasse Aufräumen.«

Theo hob eine Augenbraue. »Dann solltest du vielleicht lieber den Film ansehen.«

Daraufhin kreischte Jemima einmal laut und stampfte aus der Küche. Oscar warf Kate einen letzten, neugierigen Blick zu, bevor er seiner Schwester folgte. Theo rettete einen Teller, der vom Tisch zu rutschen drohte, und stellte ihn in die Spüle. Dann griff er nach einem Stück Küchenrolle, um die verkleckerte Milch aufzuwischen.

»Nette Kinder«, sagte Kate.

»Berühmte letzte Worte«, antwortete Theo monoton; Kate konnte nicht sagen, ob das witzig gemeint war oder nicht. Aus dem Nebenzimmer dröhnte bei voller Lautstärke ein Kinderfilm los.

Kate sah sich in der Küche um. Bis vor ein paar Wochen war ihr der Name Miranda Brand zuletzt in einer Kunststunde in der Schule begegnet, und nun stand sie im Haus der Künstlerin. Sie dachte an die Party in New York zwei Tage zuvor. An die Dichte der Sommernacht, die nostalgische Playlist und die sorgsam zurechtgelegte Geschichte über ihren bevorstehenden Umzug, und kurz war sie orientierungslos, so wie man sich fühlt, wenn man beim Runtergehen eine Treppenstufe übersieht. Theo warf die Küchenrolle in den Müll, wischte sich die Hände ab und drehte sich zu ihr um. »Also gut, dann zeig ich Ihnen mal, was wir haben.«

Bei ihrem ersten Telefonat zwei Wochen zuvor hatte Theo ihr erklärt, dass er jemanden suchte, um Ordnung in den »chaotischen« Nachlass seiner Mutter zu bringen. Was so ziemlich alles heißen konnte. Jeder Mensch hatte ja einen persönlichen Ordnungsstil. Eine ehemalige Kollegin von Kate kennzeichnete ihre Recherchemappen farblich, während ein anderer einfach alles auf einen riesigen, wackligen Stapel türmte. Miranda Brand hingegen …

»Ach du Scheiße«, sagte Kate.

Es sah aus, als wäre ein Müllwagen bis an das Fenster zur Bucht gefahren und hätte das Altpapier einer gesamten Kleinstadt hereingekippt. Unter dem Chaos erahnte Kate einen Esstisch aus Mahagoni und darunter einen wirklich grässlichen Teppich. Ein blau-orangefarbenes Paisleymuster mit blassrosa Sprenkeln, eine dieser sicher zehntausend Dollar teuren Abscheulichkeiten, die prominent in den Avantgarde-Designzeitschriften platziert wurden. Der Großteil des Bodens war bedeckt von Papier und Abfall. Pappkartons unterschiedlicher Größen; durchsichtige Kisten vollgepackt mit Negativen, unbenutzten Filmrollen, verworfenen Abzügen; ein großer Stapel Notizbücher, der seitlich verrutscht war und nun eine Rampe aus welligen Blätterkanten bildete.

»Meine Mutter hat gehamstert«, sagte Theo gedehnt.

Hamstern war eine viel zu euphemistische Beschreibung für das, was sich hier bot.

Unordnung hatte Kate schon immer nervös gemacht. Wenn sie eins über sich sagen konnte, dann: Sie war ordentlich. Als Kind hatte sie immer ihr Spielzeug weggeräumt. Mit sechs hatte sie sich zu Weihnachten einen Ministaubsauger gewünscht. Auf dem College und danach war sie die Mitbewohnerin, die pünktlich spülte und die verstreuten Klamotten der anderen säuberlich faltete — zumindest, bis Natasha ihr Verhalten als passiv-aggressiv bezeichnet hatte. Dabei war es von Kates Seite keine Kritik gewesen, sie putzte für ihr eigenes Wohlbefinden. Auf Durcheinander reagierte sie körperlich: ein Jucken am Bein, ein Kratzen am Rücken. Ihre Ordner im Büro waren alphabetisch sortiert und farblich gekennzeichnet gewesen.

Um ihr Unwohlsein zu überspielen, bewegte sie sich langsam an der Wand entlang und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.

»Wie viele Zimmer wie dieses gibt es?«

»Nur dieses eine«, sagte Theo. »Ich hab alles hierhergebracht. Die Kinder brauchten Platz.«

»Verstehe. Okay.« Sie blieb stehen und schaute sich um. »Nach welchem System sind Sie vorgegangen?«

»System?«

»Als Sie die Sachen hergebracht haben. Der Inhalt aus welchem Zimmer kam wohin?«

»Oh.« Theos Miene war ausdruckslos. »Der kam … überall hin. Ich habe alles komprimiert.«

»Sie haben einfach alles gestapelt?«

»Ja«, sagte er. »Aber es war ja vorher auch nicht geordnet.«

Sie versuchte, die Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vielleicht wirkte es auf den ersten Blick nicht so, trotzdem verrät die Art und Weise, wie der Besitzer einer Sammlung vorgegangen ist, viel über die Sammlung an sich. Man kann einzelne Dokumente oder Stücke besser zeitlich einordnen, wenn man sie im Kontext sieht …«

»Ich kann Ihnen gern etwas über die Art und Weise erzählen, mit der meine Eltern vorgegangen sind«, sagte er. »Sie haben, was immer sie in der Hand hielten, fallen lassen, wo immer sie standen.«

Kate presste die Lippen zusammen. So war Theo Brand also. Erfolgreich, wohlhabend, attraktiv, mit Kindern. Er wusste genau, was er vom Leben wollte, und er war es gewohnt zu bekommen, was er wollte. Während ihre ganze Existenz an ihrem Umzug hing. Während sie dreißig Jahre alt war, hundertachtzig Dollar auf dem Konto, viertausend Dollar minus auf der Kreditkarte und noch einen offenen Studienkredit von achtzehntausend Dollar hatte. Es gab bereits jetzt ein Ungleichgewicht zwischen ihnen, das zu einer spürbaren Schieflage führte wie bei einem Stuhl in einem Vernehmungszimmer, dem ein Bein gekürzt worden war.

»Das ist jetzt Ihr Reich«, fuhr er fort. »Organisieren Sie es, wie es Ihnen am logischsten erscheint. Ich brauche eine Übersicht über den Inhalt, so ausführlich wie möglich. Wie haben Sie das noch am Telefon genannt? Ein …?«

»Ein Findbuch.«

»Genau. Etwas, womit die Kaufinteressenten was anfangen können.«

»Und wer sind diese Interessenten? Museen? Bibliotheken?«

»Sowohl als auch. Und Universitäten, hoffentlich. Orte, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind.«

Kate nickte. »Wie lang liegt das alles schon hier?«

»Ich schätze, seit 1993.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab gedacht, mein Vater hätte sich längst darum gekümmert, aber … anscheinend nicht. Ich bin nicht mal sicher, ob er je wieder hier gewesen ist. Ich jedenfalls nicht.«

»Sie waren seit vierundzwanzig Jahren nicht hier?«

Sein Blick ruhte auf ihr. »Diese Form von Kommentar unterlassen Sie bitte im Findbuch, vielen Dank.«

Kate öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Sie musste ja nicht riskieren, gleich am ersten Tag gefeuert zu werden.

Sie trat über einen der Kartons und an das Fenster zur Bucht, von dem aus man in den vertrockneten Garten sah. Eins der Fenster war leicht aufgeschoben, kalte, feuchte Luft drang durch den Spalt herein. Kate legte die Hände auf den Rahmen und drückte es zu.

»Die Feuchtigkeit«, erklärte sie.

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Theo die Daumen in seine Hosentaschen gehakt hatte und sie beobachtete. Er wog mehr, als sie anfangs gedacht hatte: Doch nicht so schlank. Eine lange, erhabene Narbe schlängelte sich seinen Unterarm hinauf und mündete kurz vor der Ellbogenbeuge in einem kleinen schwarzen Tattoo. Sie fand ihn attraktiv, und das beunruhigte sie. Nach der Sache mit Leonard war das Letzte, was sie wollte, Gefühle für ihren Chef zu entwickeln. Oder für irgendwen. Es war schließlich kein Zufall, dass der Körper bei Angst und bei sexuellem Interesse gleich reagierte. Der rasende Herzschlag, das Kribbeln im Nacken.

»Ich hab die Zahlung bei der Bank veranlasst«, sagte er. »Fünfunddreißig Stunden pro Woche. Melden Sie sich bitte, wenn Sie länger arbeiten, damit ich den Betrag entsprechend angleichen kann. Die Kisten, die ich für Sie besorgen sollte, werden morgen geliefert. Tagsüber werde ich oben arbeiten, dann kann ich jederzeit kommen, wenn Sie Hilfe mit Namen oder Daten oder so was brauchen. Ich werde Sie unterstützen, so gut ich kann. Das alles«, er deutete zu den Kartons, »ist schon sehr lange her.«

»Okay.«

»Und während Sie das alles durchgehen … bitte seien Sie diskret. Das ist mir das Wichtigste. Wenn Sie irgendwas Persönliches finden … Ich will nicht, dass was in die falschen Hände kommt.«

»Selbstverständlich.« Darüber hatten sie schon am Telefon gesprochen.

»Wenn Sie etwas in der Richtung finden, dann möchte ich sofort darüber informiert werden. Sofort.«

»Selbstverständlich«, wiederholte sie und versuchte, den aufkeimenden Ärger so gut wie möglich zu unterdrücken.

Theo sah sie einen Moment lang an. Der Blick hatte etwas Systematisches, als würde Theo ihre Schale ablösen. Sie unterdrückte den Impuls, die Hände in die Taschen zu stecken.

Dann endlich sagte er: »Na, dann will ich Sie mal nicht länger aufhalten.«

Das Abendessen wurde im Wintergarten an einem glänzenden Holztisch eingenommen, umgeben von Taglilien und groß gewachsenen Gummibäumen. Der Nebel hatte sich gegen Mittag gelichtet, seither war die Luft warm, und da kein Wind ging, fühlte sie sich fast klebrig an. Frank, Louises außergewöhnlich friedfertiger Ehemann, hatte eine Flasche Sekt und vier Dutzend Point-Reyes-Austern gekauft, um Kates ersten Arbeitstag zu feiern. Kate hatte bisher ein-, zweimal Austern probiert, die aber immer auf einem Bett aus Eis und Salat serviert worden waren. Diese hier waren anders, grob und wild und dazu so frisch, dass sie förmlich noch in der Schale zuckten. Salzig glitten sie ihr praktisch von selbst die Kehle hinunter.

»Also«, sagte Louise und klatschte in die Hände. »Erzähl uns was über das Haus.«

»Das Haus? Ist ein Haus.« Kate ließ eine leere Muschelschale in den Tischabfall fallen. »Wohnzimmer, Esszimmer, Küche.«

»Katie, ich bitte dich.«

»Ich gehe davon aus, dass es auch Schlafzimmer gibt. Die hab ich aber nicht gesehen.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte Kate, während sie sich über den Tisch beugte, um ihrer Tante nachzuschenken. »Es ist ein ziemlich langweiliges Haus.«

Das stimmte, gewissermaßen. Nach ihrem ersten unbehaglichen Zusammentreffen war Theo ins Obergeschoss verschwunden, und Kate hatte den Rest des Tages allein im Esszimmer verbracht, vor lauter Staub geniest und Kartons hin und her geschoben. Abgesehen von der schier endlosen Menge an Blättern und Unterlagen beherbergte das Esszimmer eine Reihe ungewöhnlicher Gegenstände. Kate hatte bereits achtzehn Legosteine, vier ausgelaufene Lippenstifte, drei Tacker, zwei Rollen Malerkrepp, eine Nagelpistole und eine gruselige Porzellanmarionette mit einem gebrochenen Arm gefunden. Mehr als einmal waren ihre Finger, nachdem sie etwas aus der Hand gelegt hatte, von einer sonderbaren, klebrigen Substanz überzogen gewesen. Ihr Rücken schmerzte vom Vornüberbeugen. Ihre Augen waren rot vom Blinzeln. Eine halbe Stunde lang hatte sie einen dicken Stapel gebogener Karteikarten durchgesehen, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass tatsächlich alle unbeschrieben waren und bedenkenlos in den Müll wandern konnten.

Ja, es war langweilig. Langweiliger, monotoner und um einiges schlimmer, als Reality-TV-Wiederholungen auf dem Sofa ihrer Eltern zu schauen.

Aber. Aber. Langeweile war wie Schmerz. War er erst mal vorbei, wirkte er nicht mehr echt. Sechshundert Karteikarten nahmen denselben gedanklichen Raum ein wie sechzig, sechs oder eine einzige. Die halbe Stunde war in Kates Erinnerung bereits zu einer Millisekunde zusammengeschrumpft.

Und die Bezahlung war gut. Laut Vertrag stand Kate über ihr Stundenhonorar hinaus ein halbes Prozent aller Einkünfte aus Verkäufen jeder Art zu. Originalabzüge von Mirandas Fotos wurden für Beträge zwischen sechzigtausend und neunhunderttausend Dollar gehandelt. Kate war davon ausgegangen, dass sie vielleicht den einen oder anderen Abzug finden und so mit einem kleinen Bonus von ein paar tausend Dollar rechnen konnte. Doch das Esszimmer enthielt neben den Massen an unbrauchbarem Müll eine Fülle wertvollen Materials. Kurz nachdem sie die ärgerlichen Karteikarten beiseitegelegt hatte, war sie auf eine kleine, gut erhaltene Fotografie gestoßen: die Farbe noch satt und glänzend, das Papier glatt. Es war eine von Mirandas Naturaufnahmen, die Nahaufnahme eines Blatts mit seinen knotigen Adern.

So war die Archivarbeit manchmal. Große Entdeckungen steckten zwischen Abfall. Das Alltägliche neben dem Phänomenalen.

Sie fühlte sich fast beschwipst von dem Wissen, Geld verdient zu haben. Echtes Geld für echte Arbeit. Sie hatte sich so lange so wertlos gefühlt, dass allein die Aussicht auf Arbeit ähnlich erleichternd gewesen war, wie nach einer langen Wanderung den schweren Rucksack abzusetzen. Auch wenn ihr Chef ein Idiot war.

»So langweilig kann es nicht sein«, sagte Louise. »Alle wollen in dieses Haus, und du bist drin. Erzähl doch mal.«

»Schatz, lass sie doch«, warf Frank ein. »Sie darf uns gar nichts erzählen, sie hat Schweigepflicht.«

»Aber doch nicht gegenüber der Familie«, entgegnete Louise.

Frank schlürfte Austern, als wären dies die letzten Minuten einer Happy Hour. Ganz wie Louise war er begeisterter Pensionär. Er verbrachte seine Tage mit CB-Funk und erkundete mit dem Kajak die Lagune. Statt Bräune hatte seine Haut einen immerwährenden rosafarbenen Schimmer angenommen. Selbst jetzt, im Abendrot, trug er seine Sonnenbrille, allerdings falsch herum, sodass es aussah, als würde sie ein weiteres Augenpaar an seinem Hinterkopf schützen.

»Früher oder später wirst du es schon erfahren«, sagte er zu seiner Frau. »Was hast du denn erwartet? Dass er sich sofort hinstellt und sagt, dass er seine Mutter erschossen hat?«

Kate verschluckte sich am Sekt.

»Frank!«, rief Louise und sprang mit einer Serviette zu Kate, die hustete und hustete.

»Was denn? Was hab ich gemacht?«

Louise funkelte ihren Mann an und presste die Serviette auf die Tischdecke. »Wie wäre es mit ein bisschen Feingefühl?«

Frank wirkte verwirrt. »Das hast du noch gar nicht erwähnt? Ich dachte, darum geht es dir.«

»Nein, darum geht es mir nicht.«

»Okay, dann deinen Freundinnen. Katie, möchtest du ein Glas Wasser?«

»Nein, schon gut«, sagte Kate, die noch immer hustete. »Ich war nur überrascht.«

»Ignorier ihn. Der will nur provozieren.«

»Ist doch auch nur ein Scherz«, sagte Frank wenig überzeugend und schob die Sonnenbrille an seinem Hinterkopf hoch und runter.

»Das ist kein Scherz«, betonte Louise. »Der arme Kerl, er war doch noch ein Kind. Wenn er sie erschossen hat, dann war das sicher ein Unfall.«

»Warte mal«, sagte Kate. »Was soll das heißen: Wenn er sie erschossen hat? Ich dachte, Miranda hat sich selbst erschossen.«

»Hat sie auch«, antwortete Louise, während Frank ironisch die Augenbrauen hob und hinzufügte: »Behaupten sie zumindest.«

Kate biss die Zähne zusammen. »Im Internet steht überall, dass es Suizid war.«

Ihre Tante und ihr Onkel wechselten einen Blick, dann seufzte Louise. »Das hat die Polizei auch gesagt, aber es hat wochenlang gedauert, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren. Damals haben wir noch nicht hier gewohnt, aber soweit wir wissen, wurden eine Menge der Einwohner befragt. Meine Freundin Roberta hat gesagt, dass es hier vor Cops nur so gewimmelt hat.«

»Und mein Freund Victor war Detective und hat an dem Fall mitgearbeitet«, sagte Frank. »Er hat erzählt, sie haben wegen Mordes ermittelt. Sie hat es anscheinend nicht selbst gewesen sein können. Hat irgendwas mit den forensischen Beweisen zu tun. Wie bei CSI.«

»Es gibt alle möglichen Theorien«, sagte Louise. Sie sprach jetzt schneller. Offenbar hatte sie sich bisher zurückgehalten, aber wo sie endlich beim Thema waren, übernahm sie die Führung. »Verdächtiger Nummer eins: Jake. Selbstverständlich. Es ist schließlich immer der Partner. Wer regelmäßig den Fernseher anschaltet, weiß das.«

»Das sagen die Leute doch nur, weil sie müssen«, entgegnete Frank. »Alle, die Jake kannten, behaupten, er war der netteste Kerl, den man sich vorstellen kann.«

»Das behaupten die Leute auch von Serienmördern«, warf Louise ein.

»Ach, stimmt«, sagte Frank. »Das war auch eine Theorie. Dass es der Zodiac-Killer war. Der wurde schließlich nie geschnappt.«

»Oder ein durchgeknallter Fan. Wie gesagt, es gibt unendlich viele Theorien.«

Kate schüttelte den Kopf. »Wie kam denn jemand auf die Idee, dass es Theo gewesen sein könnte? Der war doch erst zehn oder elf.«

»Kinder stellen doch immer was an«, sagte Louise.

»Schon, ja. Essen ihren eigenen Rotz und so was, aber du sprichst davon, dass er seine eigene Mutter erschossen hat. Irgendwo muss die Theorie doch herkommen.«

»Angeblich war er ein komischer Kauz«, sagte Frank. »Hatte keine Freunde. Sam Loomis hat erzählt, dass die Freundin seines Neffen mal gesehen hat, wie Theo über ein totes Eichhörnchen gebeugt dastand. Hat mit einem langen Stock darin rumgestochert. Völlig emotionslos.«

Kate gab alles, nicht die Augen zu verdrehen. Was der Freund eines Onkels über eine zwanzig Jahre alte Aussage der Freundin seines Neffen zu berichten hatte, stand nicht gerade weit oben auf der Liste der glaubwürdigen Quellen.

»Und seit er wieder hier ist, hat er noch mit niemandem gesprochen«, meldete sich nun wieder Louise zu Wort. »Er zieht für den ganzen Sommer wieder her, da sollte man doch annehmen können, dass er zumindest versucht, die Leute ein bisschen kennenzulernen. Besonders die, die von damals noch hier sind.«

Kate antwortete: »Ja, aber …«

»Und Miranda hatte auch nicht alle Sinne beisammen. Wusstest du, dass sie in der Klinik war?«

»Ja, selbstverständlich weiß ich das.«

»Weil sie ihren Sohn umbringen wollte«, flüsterte Louise. »Kannst du dir das vorstellen? Wenn Theo sie ermordet hat, dann vielleicht aus Notwehr.«

»Du glaubst also«, fasste Kate zusammen, »dass Miranda ihren Sohn angegriffen hat, woraufhin er sie erschossen und dann alles vertuscht hat?«

»Es gibt immer wieder Unfälle mit Schusswaffen«, warf Frank ein. »Erst letzte Woche wurde in Tulsa …«

»Vertuscht!«, schnaubte Louise. »Das habe ich nicht behauptet.«

»Also, er ist ein ziemlicher Arsch, da kann ich nicht widersprechen«, sagte Kate. »Aber das ist trotzdem ein ziemlich krasses Gerücht, das man nicht einfach in die Welt setzen sollte.«

»Ich habe es doch nicht in die Welt gesetzt.« Louise klang schockiert. »Ich wiederhole nur, was andere erzählt haben.«

»Klar«, murmelte Kate.

»Und wie gesagt«, mischte sich nun Frank wieder ein, dem wohl nicht entgangen war, dass die Unterhaltung aus dem Ruder lief, »es gibt eine Menge unterschiedlicher Theorien.«

»Niemand hält ihn für gefährlich«, sagte Louise. Dann, nach einer kurzen Pause: »Aber ich habe dir ein kleines Haarspray besorgt, das du mit zur Arbeit nehmen kannst. Sicherheitshalber. Das kann man wie Pfefferspray benutzen. Du musst auf die Augen zielen.«

»Du willst, dass ich meinen Chef mit Pfefferspray besprühe?«

»Haarspray. Und es ist doch nur eine Vorsichtsmaßnahme.« Louise tätschelte Kates Hand. »Deine Mutter hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.«

Der letzte Satz stieß Kate sauer auf, und sie tupfte zur Ablenkung an einem Sektklecks herum, den Louise offenbar übersehen hatte. Sie hätte es wissen müssen. Ihre Mutter war in den letzten Monaten so übervorsichtig gewesen. Durch die ständige Sorge, dass ihre Tochter durch die kleinste Unannehmlichkeit ins Straucheln geraten könnte, hatte Darcy sie wegen der größten Nebensächlichkeiten angelogen: wegen eines Knöllchens, dem zu hohen Cholesterinwert ihres Vaters. Wenn Kate sie bei einer Lüge erwischt hatte, hatte sie nur gesagt: »Dir entgeht wirklich nichts.«

Selbstverständlich hatte Darcy ihre Schwester gebeten, Kate im Auge zu behalten. Aber plötzlich fragte Kate sich, wie viele Telefonate ihrem Aufenthalt hier vorausgegangen waren. Wie viele Gespräche sich darum gedreht hatten, wie zerbrechlich sie war. Wie schnell aus der Fassung zu bringen. Sie würden Zeichen von Beständigkeit sehen wollen, und die hatte sie nicht zu bieten. Einen Job hatte sie, okay. Aber viele Menschen hatten einen Job — und behielten ihn. Kates Beständigkeit war vorübergehend; sie glich eher einer sich drehenden Münze, kurz bevor sie stoppte. Was für ein Dinner. Man musste schon eine ordentliche Versagerin sein, wenn die eigene Familie fand, dass ein siebenstündiger Arbeitstag ein Grund zum Feiern war.

Der schüchtern aufgekeimte Optimismus vom Nachmittag verkümmerte spürbar. Kate fragte sich, ob sie die Entscheidung, nach Kalifornien zu gehen, wirklich selbst getroffen hatte. Oder war das alles nur ein Plan gewesen, den ihre Mutter und Tante gemeinsam ausgeheckt hatten? Wir besorgen Kate ein Leben, aber erst mal mit Stützrädern. Und die Frau, die Kate bei ihren ersten Fahrversuchen in der Sackgasse beaufsichtigen sollte, glaubte nicht nur, dass Kates Arbeitgeber möglicherweise seine eigene Mutter auf dem Gewissen hatte, sondern sich von einer winzigen Dose Haarspray in Schach halten ließ.

Kate griff mit unsicheren Fingern nach ihrem Sektglas. »Du hättest gern vorher erwähnen können, was die Leute so reden«, sagte sie, ohne ihrer Tante in die Augen zu sehen.

Frank räusperte sich und reichte ihr eine Auster. Kate nahm sie artig entgegen. Das perlmuttartige Schimmern der Muschel erinnerte sie an den Nebel, der morgens ums Haus gelegen hatte und aus dem Theo so abrupt aufgetaucht war. Knien Sie sich ruhig hin. Damit Sie es am eigenen Körper erfahren können. Die Flüssigkeit aus der Schale schwappte auf ihre Handfläche. Kate kippte sich die Auster in den Mund und schluckte sie, ohne zu kauen.

Miranda

2. Teilbestand, Persönliche Dokumente

Karton 8, Krankenakten

Mappe: Geburtsurkunde

GEBURTSURKUNDE

GESUNDHEITSMINISTERIUM

ABTEILUNG FÜR PERSONENSTANDSSTATISTIK

LANDKREIS: Morris

BUNDESSTAAT: New Jersey

GEMEINDE: Morristown

1204 S. Marmion Street

VOLLSTÄNDIGER NAME DES KINDES: Miranda Rose Planchart

GESCHLECHT: weiblich

GEBURT ZUM TERMIN: X

EHELICH? Ja

GEBURTSDATUM: 18. Dezember 1956

VATER

VOLLSTÄNDIGER NAME: Michael Andrew Planchart

ALTER BEIM LETZTEN GEBURTSTAG: 27

GEBURTSORT: Manchester, N. J.

MUTTER

VOLLSTÄNDIGER NAME: Leanne Lessing Planchart

ALTER BEIM LETZTEN GEBURTSTAG: 24

GEBURTSORT: Allentown, Pa.

ZAHL DER KINDER, DIE DIESE MUTTER LEBEND ZUR WELT GEBRACHT HAT UND DIE LEBENDIG SIND (ZUM ZEITPUNKT DIESER GEBURT INKLUSIVE DIESES KINDES): zwei

ZAHL DER KINDER, DIE DIESE MUTTER LEBEND ZUR WELT GEBRACHT HAT, DIE VERSTORBEN SIND: keins

TOTGEBURTEN: keine

Ich bestätige hiermit, dass ich der Geburt dieses Kindes beigewohnt habe, das lebend am oben angegebenen Datum um 16:19 Uhr zur Welt kam.

UNTERSCHRIFT: H. M. Helliwell, Arzt

2. Teilbestand, Persönliche Dokumente

Karton 5, Kindheit, 1956—1974

Mappe: Zeugnisse und Mitschriften

HARRY S. TRUMAN GRUNDSCHULE

RIDGETOWN, NEW JERSEY

ZEUGNIS

SCHÜLERIN: Miranda R. Planchart

LEHRERIN: Miss Graham

KLASSE: 3

ENGLISCH: sehr gut

LESEN: sehr gut

SCHREIBEN: sehr gut

MATHEMATIK: ausreichend

SACHUNTERRICHT: sehr gut

GESCHICHTE: befriedigend

KUNST: befriedigend

HAUSWIRTSCHAFTSLEHRE: ausreichend

SPORT: nicht erteilt

BEMERKUNGEN:

Miranda ist eine kluge und fleißige Schülerin. Ihre Lesefähigkeit ist überragend, und beim Geschichtenerfinden beweist sie großen Einfallsreichtum (Verständnis von Anfang, Mitte, Ende).

Wenn Miranda ihre Hausaufgaben fertigstellt, sind sie makellos. Jedoch stellt sie sie nicht immer fertig. Sie hat bereits mehrfach die absonderlichsten Lügen erzählt, um ihre fehlenden Hausaufgaben zu erklären, mit disziplinarischen Folgen. Sie gehorcht den Lehrkräften nicht und arbeitet an ihren eigenen Projekten, selbst wenn der Rest der Klasse auf die eigentliche Aufgabe konzentriert ist. Sie muss lernen, ihren Mitschülerinnen und Mitschülern gegenüber freundlicher und mitfühlender aufzutreten.

Alles in allem ist Miranda ein begabtes Kind, allerdings muss sie Respekt gegenüber Autoritätspersonen entwickeln. Das jüngste Gespräch (nach dem Vorfall bei der Katastrophenschutzübung) zeugt davon, dass sie auf dieser Ebene bisher unzureichende Fortschritte gemacht hat. Mehr Disziplin und Struktur zu Hause könnten ihr zugutekommen.

3.

Kate

In den nächsten Tagen verfiel Kate in eine Routine. Sie verließ Louises und Franks Haus um kurz nach neun, um zehn betrat sie das Brand-Haus. Begrüßte Theo höflich. Arbeitete für ein paar Stunden, nahm dann ein schnelles Mittagessen in der Küche ein, bestehend aus den Resten vom Vortag, die Louise ihr mitgegeben hatte, und ging zurück ans Werk.

Sie fing damit an, den Bestand zu kategorisieren und die Gegenstände, die zufällig zwischen die Dokumente und Fotoabzüge geraten waren (Spielzeug, Stifte, Batterien), auszusortieren. Außerdem legte sie ein Verzeichnis an. Wenn sie sich einen ersten Überblick über den Bestand verschafft hatte, würde sie jedes Schriftstück einzeln aufnehmen müssen — ein mühsamer, kniffliger Arbeitsschritt, in dem sie ein einzelnes Dokument mitunter sieben- oder achtmal zwischen den Kategorien hin und her schob und abwägte, ob ein Brief über ein Privatdarlehen noch zum »Schriftverkehr« gehörte oder schon zu »Zahlungspapieren«. Noch blieb die Sortierung grob: Briefe, Fotografien, unwichtiger Kram. Dies erforderte keine große Denkleistung, weshalb sie froh über jede Ablenkung von Oscar und Jemima war, die sich immer wieder zu ihr ins Esszimmer schlichen, um ihr wichtige Fragen zu stellen — was zum Beispiel ihr Lieblingsmonat war und ob sie wüsste, ob Schnecken Knochen hätten. Um fünf packte sie zusammen und wanderte nach Hause, wo sie mit Frank und Louise zu Abend aß und dann die üblichen zwei Folgen Madam Secretary mit ihnen schaute.