Alles zum Schein - Vincent Voss - E-Book

Alles zum Schein E-Book

Vincent Voss

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Beschreibung

Der junge Adlige Hagen von den Goldquellen tritt mit seiner Volljährigkeit seine Ausbildung zum Magier in der Akademie Splitter und Geist an. Doch die lobpreisenden Worte seines Vaters über die Akademie weichen schnell der Erkenntnis, dass er die Ausbildung hier nur antreten soll, um möglichst weit weg vom heimischen Hofe zu sein. Statt einer intensiv betreuten Zaubererausbildung mit bemühten Mentoren in einer gepflegten Akademie erwartet ihn ein beklemmendes Gemäuer fernab freundlicher Menschen. Mitschüler und Lehrer sind Hagen nicht wohlgesinnt und machen ihm das Leben schwer. Eine Begegnung mit einem wild fantasierenden Besucher der Akademie lässt Hagen noch ratloser zurück. Was faselt der Fremde von einem Geheimnis der Akademie und Verrätern unter den Mentoren? Hagen muss das Rätsel lösen, doch wem kann er dabei vertrauen? Alles zum Schein ist ein moderner Fantasy-Roman mit Krimi- und Gruselelementen aus der preisgekrönten Splittermond-Reihe.

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Autor: Vincent Voss

Lektorat: Jörg Löhnerz

Korrektorat: Kathrin Dodenhoeft und Giulia Pellegrino

Satz und Gestaltung: Oliver Graute

Umschlagillustration: Florian Stitz

© Feder & Schwert 2018

E-Book-Ausgabe 2018

ISBN 978-3-86762-330-8

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-86762-329-2

Alles zum Schein ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz des Uhrwerk Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

Inhaltsverzeichnis
Alles zum Schein
Zeit danach …
Dramatis Personae
Lorakis: Die Welt von Splittermond
Die Anderswelten und die Mondpfade
Die Regionen der Welt
Glossar

Alles zum Schein

Es waren die patalischen Felder, die milden Winde des elyrischen Golfs, die er seit seiner mehrwöchigen Reise von zuhause vermisste. Nicht seinen Vater, nicht seine Ziehmutter, sondern das glänzende, satte Gold der Getreideähren, die bei seinen Ausritten über das sanfte Hügelland im Sommerwind wogten. Nicht seine jüngere Schwester Calea, nicht seinen jüngeren Stiefbruder Umja, die er beide für Jahre nicht wiedersehen würde, sondern die Weinstöcke und die Kastanien, die den Weg des Anwesens zum Dorf säumten.

Die Erkenntnis traf Hagen wie ein Schlag und augenblicklich folgte ein weiterer, als die Kutsche zum wiederholten Male in ein Schlagloch fuhr. Hagen stieß sich als einziger Reisender den Kopf, die anderen beiden Fahrgäste, eine Frau im Alter seiner Stiefmutter und ein älterer Gnom, wiesen mehr Erfahrung bei Kutschfahrten durch das Seenland der Dreybarer Mark auf. Sie hatten bisher jede Unebenheit – und davon hatte es sehr viele gegeben, seit sie die Heerstraße von Herathis nach Dreybar verlassen hatten – geschickt ausbalanciert und nicht eines der Gepäckstücke fallengelassen, die sie festhielten.

Hagen jammerte nicht. In Bälde würde er, Hagen von den Goldquellen, erster Spross aus erster Ehe des Barons Hagedorn von den Goldquellen mit Iasella von Zweibünden, an der Zaubererakademie Splitter und Geist in der selenischen Baronie Mönchswasser als Adept aufgenommen. Die berüchtigte Schule war vor mehr als zweihundert Jahren von einem Magier des Zirkels der Zinne begründet worden und wurde seitdem von unbekannten Gönnern finanziert. Dort würde Hagen innerhalb von fünf Jahresläufen zu einem Meister der Magie ausgebildet werden und anschließend würde ihn sein Vater auf die Erbnachfolge vorbereiten. Hagen wollte sich mit diesen wohligen Gedanken zurücklehnen, aber die Kutsche wurde langsamer und sie passierten Häuser. Ein Hund bellte, ein Hahn krähte und Kinder liefen lachend der Kutsche nach, bis diese hielt. Der Kutschgehilfe öffnete die Tür.

„Herr von den Goldquellen. Wir sind da“, schnarrte er, öffnete die Tür und verschwand auf das Dach, um das Gepäck abzuladen.

„Hier? Hier wollt Ihr aussteigen? In Eichfurth? Was in Morkais Namen verschlägt einen so edlen, jungen Herren in diese Gegend?“, fragte der Gnom und sah aus dem Fenster.

„Der Herr reist weiter zur Akademie, Nunzius“, klang die Antwort von oben hohl durch das Kutschendach. Der Gnom und die Frau sahen Hagen an, als wäre er todgeweiht.

„Junger Mann, nein. Nicht zur Burg am See! Das ist Euer sicherer Tod!“

Die Frau ergriff seinen Arm.

„Sie hat Recht!“, stimmte ihr der Gnom zu.

„Gepäck ist unten.“

Der Kutschergehilfe tauchte wieder an der Tür auf. „Nun könnt Ihr aussteigen. Man wird Euch abholen. Eine Kutsche zur Akademie geht täglich von hier“, teilte er Hagen mit, der aussteigen wollte und den beiden verbliebenen Insassen gequält zulächelte.

„Nicht während der bald anstehenden Nebelmonde, Herr! Das bringt Unheil und Tod!“

Die Frau wollte ihn zurückhalten, aber Hagen eilte sich und sprang aus der Kutsche. „Ich …“, wollte Hagen den Kutscher nach der Uhrzeit der Abfahrt fragen, aber der Kutscher trieb bereits mit lauten Rufen die Pferde an.

Kinder umringten ihn und ältere Männer und Frauen näherten sich ihm aus ihren Häusern. Immerhin gab es in der Mitte der kleinen Anhäufung von Häusern eine Eiche, unter der Hagen Schutz vor den letzten Strahlen der Sommersonne suchte.

Erst stillten die Alten ihre Neugier, warnten ihn eindringlich. Dann die Jungen und sie bewunderten ihn. Und zum Schluss die Hunde, Katzen und das Federvieh. Niemand konnte ihm sagen, wann die Kutsche von hier zur Akademie fuhr, aber alle rieten ihm von einem Fußmarsch ab. Zu gefährlich sei der Weg. Räuber, Aufhocker und Werwesen lauerten im Gehölz und gute Bürger würden einfach so verschwinden. Also wartete Hagen, bis niemand mehr neugierig war und sann allein unter der Eiche sitzend seiner Zukunft nach.

Mit der untergehenden Sonne kündeten sich die ersten kalten Nächte des Fruchtmondes an, Männer und Frauen kamen von den Feldern und aus den Obsthainen, warfen ihm solche Blicke zu, wie man sie einem Fremden zuwirft und er wartete weiter. Talglichter wurden in den Häusern entfacht, Schatten tanzten an den Wänden und im Gehölz hinter den Häusern. Es wurde still und Hagen suchte nach einem Überwurf in seinem Gepäck. Und erschrak. Direkt vor ihm hielt eine Kutsche. Der Kutscher saß Hagen mit dem Rücken zugewandt auf dem Kutschbock und wie von Geisterhand öffnete sich die Tür.

„Zur Akademie“, sagte eine Stimme von überall her, Hagen konnte nicht sagen von wo; es klang jedoch wie aus einem Grab.

„Mein Gepäck?“, fragte er und wich erschrocken in die Kutsche hinein, als es wie von unsichtbarer Hand auf das Dach schwebte. Die Tür hinter ihm fiel zu. Eine Peitsche knallte und Hagen beschlichen die ersten Zweifel ob seiner Zukunft. Es sollten nicht die letzten sein.

Die Zaubererakademie Splitter und Geist hatte Hagen sich anders vorgestellt. Vater hatte sie ihm anders beschrieben. An einem See gelegen, mit langen, seichten Stränden, die zum Spazieren einluden. Hell und freundlich das Anwesen, mit schattigen Arkaden und einem Innenhof, der an etlichen Stellen zum Lesen und Verweilen verführte. Stattdessen fuhren sie bergan über einen Weg, der der Kutsche alles abverlangte. Durch einen Wald, dessen knorrige Bäume sich heimtückisch und angriffslustig über Reisende beugten. Und erreichten eine wuchtige Trutzburg aus eisengrauem, grobem Stein, deren Gemäuer von Efeu überwuchert und von Flederwölfen bewohnt war. Sie verschmolz mit einem schroffen Berg, der über den Wald und den See aufragte.

Der See schien das Licht der drei Monde zu verschlucken und das Wasser sah aus wie schwarze Tinte. In der Nähe eine kleine, düstere Halbinsel mit einem wandernden Licht, das Hagens Vorstellungskraft zu Bildern führte, die ihn schauern ließen. Auf dem ungepflegten Vorplatz umrundete die Kutsche einen verwitterten Brunnen und ließ ihn und sein Gepäck vor den Toren der Akademie stehen. Hagen trat vor, schlug den eisernen Türklopfer in Form eines Greifens gegen die eisenbeschlagene Doppeltür und wartete, dass ihm jemand öffnete.

Und wartete. Klopfte noch einmal und wartete, bis er endlich Schritte hörte und sich die Tür öffnete.

„Was will er?“, herrschte ihn ein Mann in einem Schlafgewand aus hellgrauem Leinen an, blinzelte und musterte ihn von seinen Schuhspitzen bis zum Scheitel.

„Ah, ein verwöhntes Balg, das Zauberei erlernen will. Von den Goldfedern heißt er, richtig? Er kann das Zimmer neben dieser anderen neuen Nichtsnutzin haben. Kosslinger heißt diese. Da oben im Westtrakt. Ist zugig dort.“ Der Mann im Schlafgewand wandte sich um und wollte gehen.

„Äh, Verzeihung, mein Gepäck“, stammelte Hagen. „Und ich heiße Hagen von den Goldquellen“, verbesserte er den Nachtwächter. Dieser drehte sich zu ihm um.

„Trag' er es selbst. Er ist jung und kräftig. Morgen kommt er zu mir und wir besprechen erst einmal alles, nachdem er das Frühstück für alle vorbereitet hat.“ Wieder wandte der Nachtwächter sich zum Gehen.

„Ähem, und wer genau seid Ihr?“, wollte Hagen wissen.

„Ich bin enttäuscht, dass er mich nicht erkannt hat. Vermont Kormandel. Verweser der Akademie Splitter und Geist, Nachfolger von Ariane Mondseher seit nunmehr drei Jahren. Das Nichterkennen mag zum Teil seinen Mangel an Respekt mir gegenüber erklären. Zum Teil. Aber es zeigt mir auch seine mangelnde Vorbereitung auf sein Studium. Ich schätze ihn als unwürdig und unfähig ein. Guten Abend“, verabschiedete sich der Dekan und stieg die Steintreppen in das erste Geschoss hinauf. Hagen blieb sprachlos zurück. DAS war Vermont Kormandel! Wie hätte er den verschlafenen Mann erkennen sollen, den er nur würdevoll und anmutig von einem Kupferstich kannte. Hagen stöhnte, schlich mit eingefallenen Schultern vor die Tür, um sein Gepäck hereinzuschaffen.

„Kann ich dir helfen?“, hörte er eine weibliche Stimme hinter sich.

„Nein, ich …“ Er versuchte seinen Koffer anzuheben, sah auf die anderen vier Taschen ähnlichen Umfangs.

„Ja, gerne. Hagen von den Goldquellen, ich bin seit heute neu hier.“ Er reichte der jungen Frau, die ihre Hilfe anbot, die Hand.

„Larian Vesslinger. Eigentlich. Alle nennen mich aber nur noch Kosslinger. Weil der Dekan sich meinen Namen nicht merken kann. Oder Kotzlinger. Weil ich so hässlich bin. Sagen die Älteren.“

„Ach, du bist die Nichtsnutzin. Ich finde dich nicht hübsch, aber auch nicht hässlich. Verzeihung, das hätte ich nicht … ich …“ Hagen ärgerte sich über seine Äußerung, aber Larian lächelte und half ihm dabei, sein Gepäck in sein Zimmer in den zugigen Westtrakt zu tragen.

„Ich freue mich über Gesellschaft. Die Älteren sind alle im Südtrakt, Kormandel lebt im Turm hinter dem Westtrakt, die Lehrer im Osttrakt. Nur ich bin hier seit anderthalb Jahren alleine untergebracht. Das war schon etwas … gruselig. Hier sind ja auch einige … Schüler schon gestorben oder verschwunden. Haben sich … umgebracht.“ Sie kämpfte mit seiner Büchertasche, während sie erzählte.

„Verschwunden? Umgebracht?“, fragte er laut.

„Pssst!“, ermahnte sie ihn zur Ruhe. „Das Gemäuer hier hat Ohren. Wenn nicht noch Schlimmeres.“

Hagen schwieg und musste von seiner Vorstellung über die Akademie abrücken. Alles, was sein Vater ihm darüber erzählt hatte, erwies sich vor Ort als anders. War sein Vater betrogen worden? Schließlich kostete die Ausbildung zu einem Zauberer­meister etliches … Er öffnete die Zimmertür. Entfachte ein halbes Dutzend Wandlichter.

„Oh“, sagte Larian. „Ulbricht hat das Zimmer also nicht für dich vorbereitet, so wie ihm aufgetragen wurde.“

Sie rümpfte die Nase, schritt zum Fenster, öffnete es und ließ frische Luft hinein.

„Ratten“, erklärte sie den Geruch und die kleinen, dunklen Kugeln, die Hagen mit einer Fußspitze berührte und anschließend angewidert zurücktrat.

„In dem ganzen Anwesen sieht man sie. Ich hole dir einen Besen und eine Schaufel.“ Sie verschwand. Hagen sah sich in seinem zukünftigen Zimmer, seiner Herberge für die nächsten fünf Jahre, um. Prüfte mit einem Griff die Beschaffenheit des Schrankes und hielt sofort eine lose Tür in der Hand. Das Bettzeug war fleckig und roch nach schimmeligem Stroh und wie Vermont gesagt hatte … es war zugig. Schon nach kurzer Zeit hatte Hagen das Gefühl eine eisige Kälte würde ihm in die Glieder fahren. Larian kam mit einem Eimer Seifenwasser, einem Besen und einer Schaufel zurück.

„Du fegst, ich wische“, sagte sie und begann den Tisch zu putzen. Hagen sah sich den Besen und die Schaufel an, dann die Hinterlassenschaften der Ratten in seinem Zimmer. Er seufzte und legte los. Nachdem das Zimmer so weit gereinigt war, dass er die erste Nacht in der Akademie verbringen konnte, bedankte er sich bei Larian, die mit dem Eimer, Besen und Schaufel in der Tür stand.

„Gerne“, sagte sie. „Mir hat damals niemand geholfen. Da habe ich mir geschworen, es bei dem nächsten Lehrling anders zu machen. Ich helfe dir morgen bei dem Frühstück.“

„Woher weißt du …“ Sie hob eine Hand, unterbrach ihn, lächelte und nickte, ohne etwas zu sagen. Natürlich. Natürlich hatte sie als Neuling auch das Frühstück für alle vorbereiten müssen.

Morgen hieß nur wenige Stunden Schlaf für Hagen und Larian, denn das Frühstück für über sechzig Personen musste beizeiten hergerichtet werden. Hagen wurde von Larian geweckt, ehe auch die ersten Vögel wach waren. In aller Stille schlichen sie in die Küche. Wurst, der Hund der Köchin Falinda, begrüßte sie schwanzwedelnd und erhielt ein Leckerli.

Neben den Lehrmeistern und den Studenten musste auch für den Bader, den Archivar, den Kämmerer, den Schmied, den Stallburschen, die Küchenangestellten, den Verweser, den Boten, den Hausmeister und andere eingedeckt werden. Larian nannte bei jedem Brett, das Hagen platzierte, Namen, Funktion und spezielle Marotten beim Frühstück, doch Hagen konnte sich nur die wenigsten davon merken.

Nachdem das Brot frisch gebacken und die Morgensuppe gekocht war, erschienen erst der Akademieverweser, der Archivar und der Schmied am Tisch und nahmen eher schweigend ihr Frühstück zu sich. Dann kamen in einem Schwung alle anderen bis auf die Lehrer hinzu und Lärm füllte den großen Speisesaal.

„Das Brot schmeckt nicht!“

„Der Tee ist nur lauwarm!“

„Die Suppe schmeckt nicht. Ich will Salz!“, beschwerten sich die Studenten, vornehmlich und am lautesten Ulbricht Graustein, Finoa Fayandel, Helkia Tannholz und Silias Baumkron, die alle an einem Tisch saßen.

„Alles Zirkelmitglieder“, raunte ihm Larian zu, als er an ihr mit dem Salz vorbeieilte.

„Bleib ruhig!“, empfahl sie ihm etwas später, als Silias Baumkron seinen ganzen Teller Suppe versehentlich verschüttet hatte und er mit einem Eimer Wasser und einem Lappen den Boden wischen wollte. Er ertrug das Gelächter, die Erniedrigungen und als die Studenten gegangen waren, kam die Köchin Falinda zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter.

„Du hast dich tapfer geschlagen, Junge!“, sagte sie, nahm ihm den Eimer Wasser und den Lappen aus der Hand und half ihm. Während der Akademieverweser immer noch alleine an seinem Tisch saß und speiste, erschienen die Lehrkräfte zu ihrem Frühstück und straften Hagen mit Missachtung. Keine Begrüßung, kein erkennendes Kopfnicken. Sie nahmen in leise Unterhaltungen vertieft ihre Mahlzeit zu sich und erst, als auch sie verschwunden waren, erhob sich mit den abklingenden Geräuschen Vermont Kormandel und verließ als Letzter den Speisesaal. Hagen sah dankbar zu Larian und schwor sich, dem nächsten neuen Lehrling ebenfalls zu helfen.

Hagen hörte ein Rascheln, das ihn vollends wach werden ließ. Der Sturm und der Regen hatten ihm einen unsteten Schlaf verschafft, das Trippeln von kleinen Füßen in seinem Zimmer hatte diesen beendet. Der starke Westwind schlug den Regen gegen das Gemäuer und mehrere Äste einer großen Eiche kratzten bei dem Sturm über den Stein. Hagen zündete eine Kerze an und stand auf. Langsam gewöhnte er sich an die immerwährende Kälte, Husten und Schnupfen hatten ihn die letzten beiden Wochen nicht klein bekommen. Er hatte Durst, seine Karaffe war leer. Er nahm sie und ging mit ihr hinunter in die Küche, um frisches Trinkwasser zu schöpfen. Auf dem Gang in die Küche stellte ihn Ulbricht, der Nachtdienst hatte, zur Rede.

„Was willst du denn hier, Lehrling?“

„Ich habe Durst, Anwärter Ulbricht. Ich hole mir etwas zu trinken“, erklärte Hagen sich. Ulbricht rümpfte die Nase.

„Vielleicht erklären deine nächtlichen Wanderungen deine Unaufmerksamkeiten im Unterricht.“ Hagen schwieg. Die Unaufmerksamkeiten waren vielmehr den zahlreichen Anweisungen zu Diensten geschuldet, die ihm Vermont, die Lehrer und die Prüfungsanwärter übertragen durften. Küchen- und Reinigungsdienste, nächtliche Wachdienste, Einkäufe und Gartenarbeiten.

Dazu kam seine missliche Lage, im Hörsaal einen abseitigen Platz vor einem Gemälde zugewiesen bekommen zu haben, das eine bösartige Kreatur zeigte, die den Betrachter verschlingen wollte und Hagen konnte schwören, dass von dem Bild gelegentlich solche Gerüche ausgingen, die einem dabei halfen, sich die Unterwelt besser vorstellen zu können. Hagen sah zu Boden, fürchtete einen von Ulbrichts Wutanfällen oder schlimmer noch, eine weitere Aufgabe, die er sofort mitten in der Nacht erledigen sollte.

„Du musst lernen, Entbehrungen zu ertragen. Zurück in deine Kammer!“, wies Ulbricht ihn an und Hagen wandte sich zum Gehen um, als beide durch einen Schlag an der Eingangstür zusammenzuckten. Ulbricht erschrak dabei weitaus heftiger als Hagen und stieß einen schrillen Schrei aus. Der ältere Student sah zur Tür, nagte auf seiner Unterlippe. Wieder klopfte es und Ulbricht zuckte erneut zusammen.

„Es klopft“, stellte Hagen fest und deutete mit einem Kopfnicken zur Tür.

„Ja. Ja, doch!“, zischte Ulbricht sowohl zur Tür, wie auch zu Hagen und warf einen Blick dorthin zur Galerie, wo der dunkle Gang in Vermonts Gefilde führte. Als hätte er dort ein Zeichen gesehen, das ihn zum Losgehen befähigte, setzte er sich in Bewegung. Hagen folgte ihm zaghaft die ersten Schritte und nachdem Ulbricht keine Einwände äußerte, wurde er sicherer in seinem Vorhaben, herausfinden zu wollen, wer in dieser unseligen Stunde Einlass begehrte. Ulbricht verharrte hinter der Tür, legte eine Hand auf die Klinke und zog sie wieder zurück.

„Öffne du ruhig die Tür“, wies er Hagen an und überließ ihm den Vortritt. Hagen zögerte. Wieder klopfte es. Ulbricht zuckte zusammen und wich Schritt für Schritt von der Tür zurück.

„Öffne sie endlich!“ Hagen trat vor und öffnete die Tür.

Eine Gestalt fiel mit der Tür hinein, fiel bäuchlings zu Boden und blieb liegen. Sie stöhnte. Eine Frau, wie Ulbricht und Hagen daran erkennen konnten.

„Es … ist … hier“, stöhnte die Frau und bewegte ihre Beine so, als wolle sie weiter in den Schutz der Akademie kriechen, nur dass ihrem Körper die Kraft dafür fehlte. „Hier! Draußen! In … der Mark!“

„Ganz ruhig, Ihr seid hier in Sicherheit“, beschwichtigte Hagen, kniete sich neben sie, während Ulbricht dem Frieden immer noch nicht traute und auf die geöffnete Tür ins Dunkel der Nacht starrte.

„Nein! Niemand ist mehr in Sicherheit!“, bäumte sie sich auf und drehte sich auf die Seite. Erst jetzt wurde Hagen der Grund ihres Zustands gewahr. Ihr dunkler Umhang und die geschwärzte Lederrüstung wiesen Risse und Löcher auf, da­runter klafften offene Wunden. Und das Gesicht! Tiefe, offene Wunden bluteten stark und verunstalteten das junge Antlitz einer durchtrainierten Frau. Sie war eine Kämpferin. Sie suchte seinen Blick und in ihren Augen loderten die Flammen eines um sich greifenden Wahnsinns.

„Wir sind hier in Sicherheit“, wiederholte Hagen mit Nachdruck und Ulbricht stürmte an Hagen und der Frau vorbei, schlug die Tür zu, presste sich mit dem Rücken dagegen.

„Ich werde die anderen holen, bleib du so lange bei ihr“, keuchte Ulbricht, stieß sich von der Tür ab und hastete, indem er zwei Stufen mit einem Schritt nahm, die Treppe hinauf.

„In Sicherheit“, wiederholte Hagen beruhigend. Die Frau griff nach seinem Oberarm und Hagen war von ihrer Kraft überrascht. Sie zog ihn zu sich, streckte sich durch und zog sich etwas an ihm hoch, so dass sie ihm etwas in sein Ohr sagen konnte.

„Das Buch! Es ist hier! Zollen …“ Sie hustete und spuckte Blut. „Es … sie haben es gefunden. Geklaut. Gabrier ermordet.“ Wieder musste sie Luft holen, und es gab ein Pfeifgeräusch, wenn sie tief Luft holte. „Sie haben ihn hierher geholt. Den Herren der Augen, den mit den tausend Zähnen. Den Zersetzer! Er kommt nach Lorakis!“ Sie spie ihm die Worte ins Gesicht, Hagen wollte sich von ihr lösen, aber sie klammerte sich mit einem fanatischen Willen an ihn. „Er kommt! Seine Schergen sind schon hier! Hier, in diesem Gemäuer! Ich habe es gesehen, wie es aus dem See gekrochen kam und … bin ihm hierher gefolgt. Dann … Augen … hat mich angegriffen … gebissen … Zähne!“ Ihre Kraft verließ sie und sie sank auf den Boden zurück, während Ulbricht mit drei Kommilitonen und der Meisterin Kornspeich und Meister Blankwasser die Treppe heruntergeeilt kam. Hagen zog umständlich den Umhang der Frau aus und bettete ihren Kopf darauf. Diese hatte jetzt die Augen geschlossen und atmete schwer. Ulbricht führte die beiden Lehrer zum verletzten Gast, die Studenten standen dahinter. Kornspeich kniete sich neben die Frau, drehte ihr Gesicht zu sich, musterte sie von Kopf bis Fuß und betastete die Wundränder.

„Sie ist eine Buchjägerin. Sie handelt in einem Auftrag und kommt nicht von hier. Die Wunden müssen von den Krallen eines Tieres stammen. Eines großen Tieres.“

„Oder etwas anderem“, flüsterte Ulbricht und erntete einen drohenden Blick der Lehrmeisterin.

„Was soll es denn dann gewesen sein? Wir werden sie schon wieder auf die Beine kriegen. Hat sie etwas gesagt? Irgendetwas?“, wollte Kornspeich von Ulbricht und Hagen wissen. Ulbricht sah zu Hagen, zuckte mit den Schultern.

„Dass wir nicht in Sicherheit sind. Dass es hier ist, aber ich weiß nicht, was sie damit meinte. Hat sie bei dir noch etwas gesagt?“, fragte Ulbricht Hagen und Hagen erstarrte in diesem Moment, weil alle Blicke auf ihm ruhten. Strenge und erwartungsvolle Blicke.

„Ich … äh … nein. Nein, sie hat nur gestöhnt und von einem Kampf gesprochen“, antwortete er.

„Einem Kampf mit wem?“, hakte Blankwasser nach und trat einen Schritt auf Hagen zu. Hagen dachte an Augen und Zähne.

„Das hat sie nicht gesagt“, log er, weil er hoffte, dass diese Antwort am wenigsten Unbill nach sich ziehen würde. Und so geschah es auch. Kornspeich und Blankwasser nickten und die Studenten atmeten hörbar auf.

„Schade, sehr schade“, antwortete Kornspeich. „Bringt sie in den Anatomiesaal und du geh nun zurück auf dein Zimmer“, wies Kornspeich Hagen an. Hagen nickte, warf einen letzten Blick auf die verletzte Frau und huschte die Treppen zu seinem Zimmer hinauf.

Magische Botschaft bei Kornspeich stand morgens auf dem Lehrplan und Hagen schlief auf seinem Platz im großen Hörsaal beinahe ein, wäre da nicht der Geruch von faulen Eiern gewesen, der ihm von dem apokalyptischen Bildnis in seinem Rücken wie ein Brodem entgegenwehte. Niemand hatte bisher über die verletzte Frau gesprochen, was ihn wunderte. Er sah, dass Larian ihm unauffällig zuwinkte und er zwinkerte ihr zu. Vielleicht sollte er sich ihr anvertrauen? Vielleicht sollte er auch einfach im Unterricht nachfragen? Ja. Warum nicht? Er hob den Arm, meldete sich und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich, denn Meldungen waren nur im äußersten Notfall oder wenn die Meisterin Wissensbekundungen ausdrücklich erlaubte, legitim. Kornspeich sah zu ihm, eine angespannte Stille legte sich über den Hörsaal. Sie nickte ihm zu.

„Meisterin, verzeiht meine Frage. Aber wie ist es der verletzten Frau von gestern Abend ergangen?“ Nie hatte Hagen bisher die Erfahrung gemacht, dass Stille sich räumlich manifestieren konnte, nun tat sie es. Sie wurde drückend. Er erhaschte die auf Kornspeich gerichteten Blicke von Ulbricht und weiteren Kommilitonen, die gestern Nacht zugegen gewesen waren. Andere, unter ihnen auch Larian, sahen verwundert und neugierig zu ihm herüber. Offenbar wussten sie nichts von den Ereignissen der letzten Nacht. Hagen schluckte trocken, immer noch schwiegen alle und Kornspeich folterte ihn weiter mit ihrem eisigen Schweigen.

„Ich verstehe deine Frage nicht, Jungblut!“ Jungblut war die despektierlichste Bezeichnung für einen neuen Schüler, so hatte es Hagen von den Älteren erfahren. Er spürte ein Ziehen in den Eingeweiden und wäre gerne weggelaufen. Am besten bis nach Hause.

„Ich meine die Frau, die gestern Nacht verletzt an die Tür der Akademie geklopft hat. Die, die wir reingelassen haben“, erklärte Hagen und blickte Meisterin Kornspeich hilfesuchend an.

„Welche Frau?“, fragte Kornspeich und es klang wie der Knall einer siebenschwänzigen Peitsche.

„Die verletzte Frau. Die Buchjägerin. Die von den Augen und Zähnen be…“ Hagen verschluckte die letzten Worte, kaum dass er die Veränderung im Blick der Lehrerin erkannte und ihm gewahr wurde, dass er die Augen und Zähne vor ihr verheimlicht hatte.

„Augen und Zähne, ja?“, bohrte sie nach und Hagen spürte, wie sein Gesicht heiß wurde.

„Ich … nein, also …“, stammelte Hagen.

„Ich denke, du hast schlecht geträumt, verehrtes Jungblut. Schlecht geträumt oder die falschen Substanzen aus dem Herbarium zu dir genommen.“ Gelächter. Kornspeich lächelte und führte ihren Unterricht fort.

Larian zog ihn hinter den Säulengang, nachdem er seine Küchenarbeit beendet hatte und eigentlich zum Sterben auf sein Zimmer gehen wollte.

„Was war das?“, flüsterte sie.

„Du meinst das mit der Frau?“ Larian nickte und Hagen erzählte ihr von der sonderbaren Begegnung. Und spürte Larians prüfenden Blick auf sich. „Das war wirklich so!“, verteidigte er sich und sie legte ihm hastig ihre Hand auf den Mund, weil er laut geworden war. „Scht, Hagen. Hier haben die Wände Augen und Ohren“, warnte sie ihn und sah sich verschwörerisch um.

„Das war wirklich so. Sie war schwer verletzt und sagte, dass sie angegriffen worden war.“ Er erzählte ihr, woran er sich erinnern konnte und sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Dann sah sie ihn länger an und nickte. „Ich glaube dir“, sagte sie. „Wir müssen aufpassen.“

„Warum? Warum ist hier alles so geheimnisvoll?“, wollte er wissen. Larian sah sich um, als suche sie nach Verfolgern.

„Wir treffen uns nach dem Unterricht vor dem Archiv. Dort, wo die Gemälde von Jargon Farandel hängen, kann man sich verstecken. Der alte Dion macht immer rechtzeitig Schluss, aber er geht kurz vorher immer einmal austreten und schließt dann die Tür nicht zu.“ Sie hörten Stimmen, die sich näherten. Ältere Semester. „Woher …“

„Wir müssen uns jetzt trennen. Man darf uns nicht so oft zusammen sehen“, unterbrach sie ihn, zog ihn hinter dem Säulengang hervor und lief dann nach draußen in den Innenhof. Hagen blieb noch eine Weile stehen, ehe er zum Unterricht zurückkehrte. Nachdem er gegangen war und die älteren Semester in den Gang zu den Unterrichtsräumen einbogen, huschte eine Ratte über den Gang und verschwand in einem unscheinbaren Loch in einer der Säulen.

Hagen war zu früh. Oder Larian verspätete sich. Er kauerte sich in eine Nische, in der ein Gemälde einen düsteren Wald zeigte, aus dem ein Hirsch trat. Auch wenn die gezeigte Situation eine beruhigende hätte sein können, strahlte das Bild auf Hagen eine Morbidität aus, die ihn frösteln ließ. Ein Schatten schälte sich aus dem Zwielicht und fast hätte er aufgeschrien. Larian.

„Ich wurde aufgehalten“, erklärte sie ihr Zuspätkommen. „Silias und Finoa wollten wissen, ob ich dich genauer kenne.“

„Silias und Finoa?“ Hagen kannte immer noch nicht alle Namen von seinen Kommilitonen.

„Ältere Semester. Auch in dem Zirkel Herz des Mondes“, half sie ihm. Das Herz des Mondes war eine geheime Verbindung der älteren Semester, die so geheim nicht war. Vielmehr war es ein offenes Geheimnis, wer Mitglied in dieser Verbindung war. Die Mitglieder genossen großen Respekt bei den Mitstudenten und sogar bei den Lehrern. Manch ein Student fürchtete sich sogar.

„Oh“, sagte Hagen beeindruckt. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Archiv und der alte Dion trat heraus. Trotz seiner Gebrechlichkeit eilte er den Gang entlang und bog dann zum Abort ab.

„Als ob er es nicht bis zum Ende aushalten kann“, amüsierte sich Larian und schlich geduckt zum Archiv. Hagen folgte ihr. Sie zog die Tür auf, spähte hinein. „Die Luft ist rein!“, flüsterte sie und sie schlichen ins Archiv und schlossen die Tür hinter sich.

„Was ist, wenn Dion uns erwischt? Blankwasser, Kornspeich … und was wird erst Vermont …“

„Leise Hagen, wir haben nicht viel Zeit.“ Larian durchquerte zielstrebig das Arbeitszimmer des Archivars. Ein großer Arbeitstisch, auf dem sich Pergamentrollen und Folianten stapelten, sich Tinten- und Leimfässchen aneinanderreihten. Eine einzelne Öllaterne flackerte in einer Wandhalterung, die beiden verglasten Lampen auf dem Tisch hatte Dion gelöscht, es roch noch nach verglimmendem Docht. Im eigentlichen Archiv nahm Larian eine Lampe aus der Halterung und reichte sie Hagen.

„Anzünden“, sagte sie knapp und orientierte sich im Dämmer des Archivs zwischen den Regalen.

„Aber …“ Hagen bezwang seine Angst und eilte hastig zurück in das Arbeitszimmer. Auf dem Arbeitstisch suchte er nach Anzündlingen, fand keine, riss von einem leeren Pergament ein Stück ab, rollte es zusammen, lief zur Öllaterne an der Wand, entfachte das Pergament und damit die Lampe. Mit der brennenden Lampe kehrte er zurück ins Archiv, wo Larian auf ihn wartete. „Kannst du nicht entfachen?“ Hagen schüttelte den Kopf.

„Ich … ich kann andere Dinge. Zauber, meine ich“, stammelte er.

„Mhm“, machte Larian und gab sich mit der Antwort zufrieden.

„Hier, sieh dir das an“, sagte sie und schlug einen von zwei Folianten auf, die vor ihr auf dem Tisch lagen. „Das sind Jahresbücher der Akademie.“ Sie blätterte eine Seite nach der nächsten um. „Nichts. Das war ein ganzes Jahr. Umbauten im Nordflügel. Wolfsgeheul im Blütenmond, ansonsten Zu- und Abgänge an Studenten und Personal, eine Inventarliste. Das nächste Jahr auch, das danach ebenso.“ Sie blätterte immer schneller um, schlug anschließend den Folianten zu, zog den nächsten zu sich und schlug ihn auf. „Hier geht es weiter. Im ersten Jahr passiert nichts und dann beginnt es.“ Sie schlug eine Seite auf und legte ihre Finger auf den schwungvoll geschriebenen Text des Meisters Dion.

„Gawynn Nordhavn“, flüsterte Larian in einem Tonfall, als würde sie an einem Lagerfeuer eine Schauergeschichte erzählen. „Sie hat hier studiert und vor genau zehn Jahren ist sie verschwunden. Im Nebelmond wurde sie abends von Kommilitonen nur mit ihrem weißen Schlafhemd und wegen ihres blonden, lockigen Haars erkannt, wie sie in den Gutermönchsee hineinging. Sie hatten ihr noch hinterhergerufen, aber sie hat nicht reagiert. Ist einfach in den See gegangen und wurde danach nie wieder gesehen. Und dann …“ Larian blätterte um, in der Akademie schlug irgendwo laut eine Tür zu und Hagen zuckte zusammen. „Janko von den Blautannen, Tiara Buntspecht, Gerrick Weißwasser. Alle in dem Jahr verschwunden. Mithael Funkenschweif, Gabrier Zollenspieker, Gerold von den heißen …“

„Zollenspieker?“, unterbrach Hagen sie und zog das Buch zu sich.

„Ja, hier steht es.“ Larian tippte auf jene Zeilen, wo Zollenspiekers Name stand. Hagen überflog den Text. Gabrier Zollenspieker war ein junger Student gewesen, als er eines Tages plötzlich verschwand.

„Weißt du, ob man ihn wiedergefunden hat?“, wollte Hagen wissen. Larian schüttelte mit dem Kopf.

„Meister Dion hat nichts darüber berichtet, obwohl er akribisch gearbeitet hat. Über eine verschwundene Zwergin wusste er noch nach Jahren zu berichten, dass es sie zurück zu ihrer Familie gezogen hat. Über Zollenspieker habe ich nichts gefunden. Aber warum interessiert dich das?“ Hagen zögerte, ehe er antwortete.

„Die Frau, die Kämpferin. Sie hat den Namen genannt“, flüsterte er und sie sahen sich an.

„Warte!“ Larian legte eine Hand auf seinen Arm und lauschte. „Meister Dion! Bei Morkai! Heute ist er früh zurück!“ Sie schlug die Folianten zu und verstaute sie behände in den Regalen. „Komm!“ Sie zog Hagen mit sich und sie versteckten sich aneinandergeschmiegt in der Nische hinter einem Regal. „Er wird den Raum inspizieren und fängt in der hintersten Reihe an“, wisperte sie und Hagen strich sich ihre Haare aus dem Gesicht, die ihn in der Nase kitzelten. „Nimm deine Arme runter!“, wies sie ihn an. Sie hörten Meister Dions Schritte direkt vor der Tür zum Archiv.

„Was? Warum …“

„Ich kann uns sonst nicht tarnen“, unterbrach sie ihn, nahm seine Arme und legte sie über ihren Busen. Hagen keuchte. So nah war er nur seiner Amme und seiner Mutter gewesen … und Belanda, aber die war vier Jahre älter gewesen und hatte keine Ahnung von seinen Gefühlen tiefster Zuneigung gehabt. Jetzt spürte er Larians Wärme und Weiblichkeit und war der festen Überzeugung, kein noch so starker Tarnzauber konnte ihn und seine Hitzewallungen verbergen. Die Tür wurde geöffnet und Lampen in Meister Dions Schreibzimmer entfacht. Eine Lichtquelle bewegte sich auf das Archiv zu und Hagen und Larian sahen einen gebeugten Schatten an einem Bücherregal entlangschleichen. „Jetzt!“ Larian zog ihn mit sich, sie huschten ins Schreibzimmer, dort zur Tür hinaus auf den Gang. An der Kreuzung, wo es entweder zum Speisesaal oder zu den Studentenzimmern ging, verharrten sie. „Hier trennen wir uns“, befahl Larian und eilte zur Küche. Hagen ging auf sein Zimmer. Voller Gedanken um das, was er in jüngster Zeit erlebt hatte. Aber auch mit einem neuen, starken Gefühl, welches in seiner Magengegend erwacht war.

Beinahe lautlos stakten sie das Boot durch den dichten Nebel. Eine kleine Öllaterne am Bug wies ihnen den Weg durch die Dunkelheit. Der Nebel war hier so dicht, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte und kein Geräusch aus der Ferne mehr ans Ohr drang. Nur noch das leise Plätschern des Wassers, das in kleinen Wellen an das Boot wogte. Unnatürlich dicht war der Nebel, das wusste Kest und blieb mit einer Seelenruhe sitzen, bis dieser sich wie von Geisterhand auflöste und vor ihnen ein kleines Eiland lag. Sie ließen das Boot in eine kleine Bucht einlaufen und legten an einem Steg an, der hinter einem hochstehenden Schilfgürtel lag.

Kest erklomm die Holzbohlen, wartete, bis seine Leute die vier in Ketten gelegten Gefangenen an Land verbracht hatten und führte diese dann an einem Strick auf die Insel. Immer wieder wehrte sich einer, wollte sich losreißen. Trotz des Knebels jammerte er laut, wollte sich die Kapuze abschütteln oder seine Handfesseln abstreifen. Kest erinnerte sich an ihn. Ein kräftiger Fischer, den sie vor einigen Tagen überwältigt hatten. Und schon im Lager hatte er immer wieder versucht sich zu befreien. Seinen Willen hatten sie nicht brechen können. Auch mit Gewalt nicht. Kest drückte Jolanka das Seil in die Hand, ging zu dem Mann hin. Er nahm dessen Kapuze ab, drückte ihm seinen Dolch an den Hals und löste dann den Knebel. Ein einziger Blickkontakt reichte und Kest erkannte: Er würde diesen stolzen Fischer nicht brechen können. Er konnte ihm die Zunge rausschneiden, ja, aber er würde ihm nicht seinen Widerstand und seinen Stolz rauben können. Kest lächelte. Das kam sehr, sehr selten bei Menschen vor. „Du bist doch aus diesem kleinen Dorf hinter der Steilküste, die ihr den Trollzahn nennt, richtig?“

„So ist es, und solltest du dir Gedanken darüber machen, unser Dorf wegen mir erpressen zu wollen, dann hast du dich …“

„Nein, nein, nichts liegt mir ferner, als jemanden erpressen zu wollen. Aber wenn ich mich recht erinnere, hast du Familie, richtig? Eine Tochter, so um die vierzehn Sommer alt, ja? Das war doch der Fischer mit den liebreizenden Kindern, oder, Jolanka?“, wandte Kest sich an die Söldnerin.

„Ja, Herr. Liebreizend wie eine blutdurstige Seemuräne“, lachte Jolanka und spie aus.

„Also hör zu, Fischer vom Trollzahn mit deinen liebreizenden Kindern. Dein Leben ist wahrlich verwirkt und es gibt hier …“, Kest umfasste mit einer ausladenden Geste das nebelverhangene Eiland, „… keine Möglichkeit zu entkommen. Aber, und nun hör gut zu, wenn du dich weiter so rebellenhaft aufführst – obwohl ich dich sogar insgeheim für deinen Mut bewundere – werde ich, vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht übermorgen, aber gewiss irgendwann einmal, nach deinen liebreizenden Kindern sehen. Hast du mich verstanden, Fischer?“ Kest näherte sich dem Mann bis sie nur noch eine Handbreit voneinander entfernt standen.

„Habe ich dein Ehrenwort?“, fragte der Fischer. „Gewiss. Mein Wort darauf.“ Der Fischer nickte und senkte sein Haupt, damit Kest ihm wieder die Kapuze überstreifen konnte. Kest ließ den Mann ungeknebelt und führte den Tross anschließend wieder an.

Sie gingen hintereinander einen schmalen Pfad durch einen Zypressenhain hindurch. Nebel wallte dicht zwischen den Bäumen und im matten Schein der drei Monde flogen Fledermäuse ihre letzten Nächte vor dem Winter auf Beutejagd durch die Nacht. Es war still. Nur ihre Schritte, das Plätschern der Wellen und das Zirpen widerstandsfähiger Zikaden waren zu hören. Sie näherten sich einem Lichtschein, der durch das dichte Geäst flackerte.

„Warte hier!“, befahl Kest seiner Söldnerin und führte die Gefangenen alleine weiter. Auf einer Lichtung brannte ein Feuer und im Halbkreis dahinter standen fünf Gestalten in schwarzen Roben, weite Kapuzen verbargen ihre Gesichter. Der Größe und Kompaktheit nach zu urteilen, befanden sich ein Zwerg und ein Varg in der Gruppe. Eine schlanke, hochgewachsene Gestalt trat gebieterisch vor und Kest neigte sein Haupt. „Sind das alle, Söldner?“, fragte sie und deutete auf die vier Gefangenen.

„Ja, Herrin, das sind alle“, antwortete Kest, reichte ihr das Seilende, mit dem er die Gefangenen geführt hatte und kniete nieder. „Darf ich erklären, Herrin?“, fragte er leise.

„Sprich. Aber dein Versagen ist nicht zu entschuldigen.“ Kest nickte.

„Die Menschen haben Angst, Herrin, und trauen sich nicht mehr aus ihren Häusern. Zu viele sind in der letzten Zeit verschwunden und sie meiden die Schleichwege, die sie sonst genommen haben. Sie sind selten allein unterwegs. Ich habe schon vier meiner Söldner verloren, als sie von aufgebrachten Bürgern gestellt wurden. Ich brauche mehr Zeit, Herrin. Ich kann nicht …“

„Wir haben keine Zeit, Söldling!“, unterbrach sie ihn harsch.

„Ich verstehe, Herrin“, sagte er. Seine Stimme zitterte. Das Feuer prasselte. Schweigen.

„Wir zahlen das Doppelte, Mann des Schwerts. Aber wir erwarten, dass du uns pünktlich lieferst. Hast du das verstanden?“ Die Frage klang wie ein Befehl.

„Ja, Herrin. Ich … ich werde sofort aufbrechen, Herrin.“ Sie warf ihm einen Lederbeutel mit Münzen zu, den er auffing und sich erhob. „Danke, Herrin! Vielen Dank für Eure Geduld und Eure Nachsicht“, entschuldigte sich Kest und verbeugte sich mehrmals, während er rückwärts zurückwich und zurück auf den Weg hastete, wo Jolanka auf ihn wartete. „Und?“, fragte sie leise.

„Wir müssen die Kinder von diesem Fischer suchen. Ich will sie haben!“

Anstatt der bei den Studierenden gern aufgesuchten Taverne „Mondstein“ wählte Hagen das rustikalere Gasthaus namens „Zum Neunauge“, welches direkt mit einem Bootsanleger am Gutermönchsee in dem kleinen Städtchen Ottersberg lag. Ein paar Häuser weiter lag der Seehafen und in diesem Viertel lebten überwiegend Fischersfamilien, Netzflicker, Tuchmacher, Bootsbauer und Pechsieder.

Nebel kroch vom See durch die engen Gassen und wallte über das Kopfsteinpflaster. Eine beißende Kälte kroch Hagen ins Gebein und er freute sich auf die behagliche Wärme eines Gasthauses. Das Neunauge hatte ihm Larian empfohlen, dort würden sich eben nicht die ganzen älteren Studenten und Lehrer aufhalten, weil es unter ihrem Stand erschien. Hagen nahm gerne einen vermeintlichen sozialen Abstieg in Kauf, wenn er diesen nicht über den Weg laufen musste. Musik drang aus dem Fachwerkhaus vor die Tür, ein Mann mit rauchiger Stimme sang Weisen über das Leben als Seefischer, eine Laute begleitete ihn.

Hagen stieß die schwere Tür auf, Wärme umschmeichelte ihn augenblicklich. Wärme und der Geruch von Bier, Fisch, Suppe und Rauch. Er trat schnell ein, schloss die Tür hinter sich, erwartete neugierige Blicke, aber niemand schenkte ihm Beachtung. Es wurde geredet, gelacht und getrunken, vorwiegend waren Fischer unter den Gästen. Ohne benennen zu können warum, empfand Hagen die ausgelassene Stimmung als oberflächlich.

Er bahnte sich einen Weg zum Tresen, hinter dem ein Gnomenpaar das Zepter führte und behände Bier und Schnaps ausschenkte und als kleine Mahlzeit Brote mit verschiedenen Räucherfischarten offerierte. Er bestellte sich ein Ottersberger, lauschte dem Barden, der von der Seeschlacht im Goldsee sang und beobachtete das Treiben. Einen Blick auf die Bühne konnte er von hier aus nicht werfen, zu groß war dort der Andrang und zwei mächtige Holzpfeiler versperrten ihm zudem die Sicht, aber offenbar war der Sänger eine Berühmtheit.

Hagen nippte an seinem Tonkrug. Bier hatte er in seiner Heimat selten getrunken, eher Wein, wenn es etwas zu feiern gab. An den würzigen Geschmack musste er sich noch gewöhnen. Er verzog das Gesicht, stieß auf und bemerkte, dass er sich schon viel befreiter fühlte, als noch vor einer Stunde. Es war eine gute Idee gewesen, auszugehen, um einmal auf andere Gedanken zu kommen.

Schritt für Schritt rückte er zur Bühne vor. Immer, wenn jemand von dort zum Tresen ging, nutzte er die Lücke und drang vor. Er konnte einmal einen kurzen Blick auf die Bühne erhaschen und erspähte einen blonden Haarschopf und das zarte Gesicht einer Frau. In seinem Alter schätzte er sie und wahrscheinlich spielte sie die Laute und ein Mann, vielleicht ihr Vater, sang dazu. Er hörte, wie sie die Laute stimmte, eine Pause, während der nun einige Gäste zum Tresen strömten.

Hagen schob sich immer weiter vor und war enttäuscht, als er den Sänger auf der Bühne nicht entdecken konnte. Wahrscheinlich war er Bier holen, wahrscheinlich war es der großgewachsene Mann mit der langen Mähne und dem mehrfarbigen Überwurf. Unauffällig beobachtete er die Lautenspielerin, während er an seinem Bier nippte. Attraktiv. Ohne Zweifel. Hagen wunderte es nicht, dass so viele Männer, wie auch er, in der Pause weiter vor der Bühne verweilten, sich in Gesprächen untereinander tarnten und immer wieder einen Blick auf sie warfen.

Sie hatte ihre Laute zu Ende gestimmt und spielte einen Akkord drei Mal laut, das Zeichen, dass die Pause beendet war. Aus den Augenwinkeln nahm Hagen wahr, wie der großgewachsene Mann sein Bier über mehrere vor ihm stehende Männer entgegennahm und sich durch das Gedränge zur Bühne schob. Da setzte aber schon das Lautenspiel ein, was Hagen wunderte. Als dann der kehlige Gesang einsetzte, blickte Hagen hektisch umher. Der Mann konnte nicht gesungen haben, es war nicht aus dessen Richtung gekommen. Der Gesang kam von der Bühne, aber da war … nur die junge Frau mit den kurzen blonden Haaren. Und sie sang.

Hagen stand mit offenem Mund da und starrte auf dieses Schauspiel, das er nicht fassen konnte. Wie konnte eine Frau eine solche Stimme haben? Eine so zarte und anmutige Erscheinung? Er klebte an ihren Lippen, vergaß sein Bier und rieb sich verwundert die Augen, als die Aufführung beendet war. Sechs, sieben Lieder? Hagen wusste es nicht. Beobachtete weiter die Sängerin, die mit dem Namen Baora t'ian Tanikki von der Gnomenfrau von der Bühne verabschiedet wurde und erstarrte, als sie seinen Blick erwiderte und ihm zulächelte. Vor Schreck glitt ihm der Tonkrug aus den Fingern und er ließ ihn fallen. Er konzentrierte sich, fokussierte seine Kraft und … der Becher zerschellte dennoch auf dem Boden. „Bei der …“, verkniff sich Hagen einen Fluch, fegte die Scherben zusammen und las sie auf, in der Hoffnung, er würde dadurch ihrem Blick ausweichen und in Vergessenheit geraten. Fünf Sekunden war er in Sicherheit, dann beugte sie sich zu ihm herunter und half ihm, die Scherben aufzuheben.

„Hat nicht geklappt, was?“, sprach sie ihn an. Eine wohlklingende, weibliche Stimme. Er hatte erwartet, sie würde wie ein fünfzig Sommer alter Gerber klingen. Hagen suchte nach einer Antwort, aber die Worte schwammen wie wendige Fische vor seinem Zugriff weg. Er schüttelte den Kopf. „Ich bin Baora“, stellte sie sich ihm vor.

„Ja. Hagen“, antwortete er.

„Kommst du von hier, Hagen?“, wollte sie wissen.

„Ich … nein, ich studiere hier an der Zaubererakademie Splitter und Geist. Eigentlich …“

„Ich bin auch nicht von hier“, fiel sie ihm ins Wort. „Wollen wir zusammen etwas trinken und uns unterhalten? Da vorne, der Tisch dort in der Ecke mit dem Fenster zum See, das ist meiner für heute Abend.“ Sie zeigte auf einen kleinen Tisch, der an einem Rundfenster zur Seeseite stand. Es wirkte, als würde man von dort aus einem Schiff schauen.

„Ja“, sagte er. Der erste Wortfisch, den er hatte greifen können.

„Gut. Ich räume meine Instrumente zusammen. Bis gleich.“ Sie legte ihm ihre gesammelten Scherben in die Hand und ihre Finger berührten sich. Hagen schluckte trocken und spürte, wie er rot wurde.

„Bis gleich“, flüsterte er, aber sie war schon zurück auf die Bühne gegangen.

Was stimmte mit seinen Gefühlen nicht? Er fühlte sich, als hätte er Stroh in den Beinen und einen Feuerball in seinem Bauch. Er brachte die Scherben zum Tresen, bestellte sich ein weiteres Bier und … Wein? Würde eine Bardin Wein trinken wollen? Oder doch Bier? Trank sie überhaupt Alkohol? Hagen bestellte Bier, Wein und Wasser, zahlte einen happigen Aufpreis für den kaputten Krug und balancierte mit den Getränken auf einer Baumscheibe durch die Menge zu dem Tisch mit Seeblick. Seeblick, wenn da nicht der Nebel wäre. Er stellte die Getränke ab und wartete mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf Baora. Sie trug ihre Laute und eine kleine Trommel herbei, lächelte ihm kurz zu und eilte wieder zur Bühne.

„Soll ich …“ Sie war schon wieder weg. Sollte er ihr helfen? Oder wirkte das albern? Ehe er sich entscheiden konnte, war sie schon zurück, setzte sich und nahm den Krug mit dem Bier.

„Du trinkst Wein? Und Wasser?“, fragte sie. Er nickte, nippte am Wein und trank einen Schluck Wasser danach. Wortfischschwärme huschten vor seinen Augen umher. „Du redest nicht viel, was?“, fragte sie. Hörte er Enttäuschung in ihrer Frage?

„Nein. Ich … habe in der letzten Zeit einige … Dinge erlebt und wollte heute darüber nachdenken“, antwortete er und sie nickte, sah aus dem Fenster in den Nebel auf dem See.

„In der Akademie, was? Das kann ich mir gut vorstellen“, antwortete sie, wandte sich ihm wieder zu und suchte seinen Blick. Er schwieg. Wollte nicht über die Vorkommnisse in der Akademie berichten.

„Kann ich dir ein Geheimnis verraten?“, fragte sie ihn, rückte etwas näher und sah sich um. Hagen nickte, beugte sich vor. „Ich suche nach etwas“, vertraute sie sich ihm an. „Einen Sangeswettstreit, der nur einmal im Winter irgendwo beim Gutermönchsee stattfinden soll. Nur die Besten und Berühmtesten aus ganz Lorakis werden eingeladen und wissen von dem Wettstreit“, flüsterte sie und biss sich auf ihre Unterlippe. Hagen lag eine Frage auf der Zunge, aber er verkniff sie sich.

„Ich bin nicht eingeladen worden“, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage dennoch. „Und das ist nicht gerecht!“ Sie hob den Bierkrug, trank ein paar tiefe Schlucke und setzte den Krug unbeherrscht auf den Tisch. „Nur weil ich eine andere Stimme habe, die nicht passt. Dennoch habe ich eine Stimme.“ Hagen nickte mehrmals und eindrücklich. Ja, sie hatte eine unglaubliche Stimme. Und bestimmt hätte sie es verdient gehabt. Er konnte ihren Ärger gut nachvollziehen. Nicht unter seinesgleichen akzeptiert zu werden, kannte er gut. „Aber ich weiß nicht, noch nicht, wo es stattfinden wird. Ich werde jetzt in allen Orten rund um den Gutermönchsee und die anderen Seen singen und habe bis zum Hausmond Zeit. Dann soll es stattfinden. Irgendwo.“ Wieder sah sie hinaus auf den See, als könne sie dort eine Antwort finden. „Und ich werde es finden“, sagte sie bestimmt und griff seine Hand. „Wenn du etwas hörst, sagst du mir dann Bescheid?“, fragte sie ihn. Hagen sah, wie ihre Hand in seiner lag und konnte kaum noch atmen. Er nickte.