Allsberg 1985 – Der Duft der Veränderung - Hans von Rotenhan - E-Book

Allsberg 1985 – Der Duft der Veränderung E-Book

Hans von Rotenhan

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Beschreibung

Wir alle haben Wunden aus der Vergangenheit "Ich liebe dieses Haus fast so sehr wie ich dich liebe. Aber du hast recht, irgendwo tief in meinem Inneren denke ich, dass es uns kein Glück bringt." 1985: Es ist ein wunderschöner Abend auf dem Anwesen von Schloss Allsberg, doch Katja und ihr Mann Enzio können ihn nicht genießen. Katja, die vor fünf Jahren in den Besitz des Anwesens gelangt ist, hat gerade ihre dritte Fehlgeburt in zwei Jahren erlitten und spürt nichts als Verzweiflung.  Da erhält Enzio plötzlich einen Anruf, der ihn erstarren lässt. Sein Vater ist bei einem rätselhaften Autounfall in Südtirol tödlich verunglückt und mit ihm seine junge Geliebte, die ihm gerade erst eine Tochter geschenkt hat. Katja sieht es bei aller Bestürzung als Zeichen des Himmels. Sie adoptieren die kleine Anna, die fortan in Allsberg aufwächst.  Als bei Enzio ein Gehirntumor diagnostiziert wird, bittet Katja ihre Schwägerin Giovanna mit deren Sohn Carlitos, den letzten Tröger, nach Allsberg zu ziehen, um sie bei ihren zahlreichen Aufgaben zu unterstützen. Anna und Carlitos wachsen gemeinsam auf und übernehmen nach und nach die Familiengeschäfte. Werden sie die Zukunft von Schloss Allsberg sichern können?  Ein Familienroman über Mutterglück, zwei starke Frauen, die Verbindung über Generationen hinweg, um Versöhnung und den Kampf um ein Leben, dem die Zukunft gehört.

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Hans von Rotenhan

Allsberg 1985

Der Duft der Veränderung

Roman

 

Über das Buch

Wir haben alle Wunden der Vergangenheit

„Ich liebe dieses Haus fast so sehr wie ich dich liebe. Aber du hast recht, irgendwo tief in meinem Inneren denke ich, dass es uns kein Glück bringt.“

1985: Es ist ein wunderschöner Abend auf dem Anwesen von Schloss Allsberg, doch Katja und ihr Mann Enzio können ihn nicht genießen. Katja, die vor fünf Jahren in den Besitz des Anwesens gelangt ist, hat gerade ihre dritte Fehlgeburt in zwei Jahren erlitten und spürt nichts als Verzweiflung.

Da erhält Enzio plötzlich einen Anruf, der ihn erstarren lässt. Sein Vater ist bei einem rätselhaften Autounfall in Südtirol tödlich verunglückt und mit ihm seine junge Geliebte, die ihm gerade erst eine Tochter geschenkt hat. Katja sieht es bei aller Bestürzung als Zeichen des Himmels. Sie adoptieren die kleine Anna, die fortan in Allsberg aufwächst.

Als bei Enzio ein Gehirntumor diagnostiziert wird, bittet Katja ihre Schwägerin Giovanna mit deren Sohn Carlitos, den letzten Tröger, nach Allsberg zu ziehen, um sie bei ihren zahlreichen Aufgaben zu unterstützen. Anna und Carlitos wachsen gemeinsam auf und übernehmen nach und nach die Familiengeschäfte. Werden sie die Zukunft von Schloss Allsberg sichern können?

Ein Familienroman über Mutterglück, zwei starke Frauen, die Verbindung über Generationen hinweg, um Versöhnung und den Kampf um ein Leben, dem die Zukunft gehört.

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2024 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2024

 

Lektorat: Silvia Kuttny-Walser

Korrektorat: Angelika Wiedmaier

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: © Kamenetskiy Konstantin / Shutterstock, Creative Family / Shutterstock, RudiErnst / Shutterstock

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: Booksfactory

Made in Germany

ISBN: 978-3-98679-004-2

 

 

Inhalt

Über das Buch

Impressum

Inhalt

Widmung

Erster Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Zweiter Teil

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Der Autor Hans von Rotenhan

Wie alles begann:

Und so geht es weiter:

Widmung

Für meine Enkeltochter Nell, die vorhat, Schriftstellerin zu werden.

Erster Teil

 

1. Kapitel

Allsberg, später Eppan, im Herbst 1985

Es war ein wunderbarer Abend im unterfränkischen Allsberg. Wieder schien es, als ließe die untergehende Sonne die Westfassade des Schlosses in Flammen aufgehen.

Katja und Enzio waren zu einem Spaziergang im Park aufgebrochen, doch heute war ihnen die Schönheit des Hauses, in dem sie wohnten, unwichtig. Ihre Gedanken weilten anderswo.

Am Morgen hatte Enzio Graf von Altspaur seine Ehefrau Katja aus der Frauenklinik in Würzburg abgeholt, wo sie wegen einer Fehlgeburt einige Tage zuvor eingeliefert worden war. Seit sie im Frühsommer 1983 geheiratet hatten, war es schon die dritte gewesen.

„Weißt du was, Enzio? Ich denke manchmal, dass sich das Schicksal daran gewöhnt hat, bei uns alles unnormal laufen zu lassen. Seit wir hier so plötzlich, so vollkommen ohne Vorbereitung alles übernommen haben, läuft so manches schief.“

„Du übertreibst, hier passiert nichts Unnormales. Du tust ja gerade so, als ob eine Schuld auf uns laste, weil wir jetzt hier leben. Das einzig Unnormale ist, dass es uns bisher nicht gelungen ist, Kinder zu bekommen.“

Aufgrund unerwarteter und dramatischer Ereignisse waren sie vor knappen fünf Jahren in den Besitz des Schlosses mit seiner Landwirtschaft, seinen Weinbergen, seinem Wald und vielem mehr gekommen. Katja war die nichteheliche Tochter des Bruders vom letzten Baron von Tröger auf Allsberg. Dessen beide Söhne, Karl und Anton, hatten kurz hintereinander durch tragische Unfälle ihr Leben verloren und bald schon folgte der vollkommen verzweifelte Vater seinen Söhnen, indem er sich das Leben nahm.

Die Familie von Tröger war damit im Mannesstamm erloschen und es hatte Katja oblegen, diese Tatsache für alle Welt sichtbar zu machen, als sie über dem offenen Grab ihres geliebten Onkels das Familienwappen zerbrach.

Katja und Enzio bewohnten das riesige Schloss allerdings nicht allein, denn Groma, die Mutter des letzten Barons, und dessen drei Schwestern, Donata, Huberta und Philippa, wohnten dort im Erdgeschoss.

Das Zusammenleben mit den vier Damen war nicht immer ganz leicht, denn nur Groma hatte verstanden, warum ihr Sohn testamentarisch die bürgerliche Katja Riedmüller als seine Erbin eingesetzt hatte. Deren Vater, Magnus Freiherr von Tröger war es nicht gelungen, Therese Riedmüller, die gefeierte Schauspielerin, dazu zu bringen, ihn zu heiraten.

Groma kommentierte das immer so: „Von ihrer Mutter hat sie die Schönheit und den Nachnamen bekommen, von meinem Sohn nur die roten Haare.“

Katja und Enzio hatten sich auf eine Bank gesetzt und beobachteten nun das Spiel der Abendsonne auf der Fassade von Schloss Allsberg. Den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt, flüsterte sie:

„Ich liebe dieses Haus fast so sehr wie ich dich liebe. Aber tief in meinem Inneren denke ich, dass es uns kein Glück bringt. Fühle ich mich als unrechte Besitzerin, weil, um es zu werden, meine beiden Vettern und mein Onkel sterben mussten? Es war mir doch nicht an der Wiege gesungen, hier zu wohnen und all das verwalten zu müssen.“

„Weißt du was, Katja? Wenn du so denkst, dann ist es womöglich am gescheitesten, wenn wir uns eine Auszeit nehmen.“

Erschreckt richtete sich Katja auf und schaute ihrem Mann zornig in die Augen.

„Spinnst du? Wieso sollte ich mich von dir trennen? Hast du etwa eine andere?“

„Du verstehst mich falsch. Komm, lass dich fest umarmen und küssen. Nicht wir sollten uns trennen, sondern wir sollten einmal Abstand finden von diesem Moloch, der uns alle Aufmerksamkeit und zu viel Zeit abfordert. Ich habe dir schon oft gesagt, wie sehr ich dich dafür bewundere, wie du den vernachlässigten Wald in der Rhön wieder in die Gewinnzone bringst, ohne ihn gleich abzuholzen. Bald wird der Wald dort schöner und gepflegter sein denn je.“

„Glücklicherweise hilft mir mein Vetter Percy Zott, der Enkel von Gromas Bruder. Du weißt ja, ich verstehe von Forstwirtschaft nichts.“

„Mag sein, aber du hast die Fähigkeit, Menschen zu führen und zu begeistern, manchmal geht das an die Grenzen deiner Kräfte, und das ist nicht gut für dich und auch nicht für unsere Ehe.“

„Du musst reden! Seit Jahren beschäftigst du dich ausschließlich mit dem Weinbau.“

„Das ist ja schließlich mein erlernter Beruf.“

„Okay, der Umzug des Kellereibetriebes von Fahr drunten am Main nach Allsberg hier oben, das war kein Pappenstiel. Zuvor musste der alte Hof im Dorf mit all seinen Stallungen abgerissen werden und Keller, Lager und Abfüllanlagen nach dem neuesten Stand der Technik eingebaut werden. Das hat dich vollkommen absorbiert, manchmal dachte ich, dass dein Kopf auch noch nachts im Weinkeller herumschweift.“

„Das erinnert mich an ein Lied, das wir im Französischunterricht gelernt haben. Da wünscht sich einer, im Weinkeller begraben zu werden.“

„Na, das kenn ich doch auch!“

Und so sangen die beiden:

Si je meure je veux qu’on m’enterre dans la cave où il y a du bon vin …

Hand in Hand liefen sie so auf das Schloss zu. Nur mehr die Spitzen der beiden Türme wurden von der Sonne umspielt.

Vor dem Hauptportal blieb Enzio stehen und drehte seine Frau etwas zur Seite, sodass sie sich nun gegenüberstanden, und dann sagte er mit eindringlicher Stimme:

„Wir sollten uns wirklich überlegen, mal ein paar Wochen wegzufahren, die letzten Jahre waren sehr anstrengend.“

Der darauffolgende Tag war ein Donnerstag, Tag des jour fixe, an dem sich alle Bewohner des Schlosses nach dem Mittagessen bei Katja und Enzio zum „Käffchen“ trafen. Die beiden hatten diese Treffen eingeführt, um der Schlossgemeinschaft einen Rahmen zu geben, sich zu treffen und miteinander zu reden. Wie sich herausgestellt hatte, war dieses wöchentliche Treffen auch ein wunderbarer Gerüchteverhinderer.

Heute waren nicht nur Groma und die Tanten gekommen, Tante Phips hatte auch ihren geschiedenen Ehemann Peer mitgebracht.

Zu Beginn berichtete Katja von ihrer bedauerlichen Fehlgeburt und sie merkte, dass ihr eine wohltuende Welle des Mitgefühls entgegenschlug. Die Tanten und Groma mochten ihre berechtigten Eigentümlichkeiten haben und zum Tratschen neigen, aber sie hatten alle das Herz auf dem rechten Fleck.

Es wurden noch die Tagesereignisse besprochen, und als es eigentlich schon Zeit war, zu gehen, sagte Tante Phips, sie müsse Katja noch was fragen. Statt dies zu tun, druckste sie herum, was dazu führte, dass alle dachten, nun komme etwas ganz besonders Wichtiges. Schließlich war es Peer, ihr Ex, der mit der Sprache herausrückte:

„Ich bin jetzt pensioniert worden und da habe ich mir überlegt, dass ich gerne nach Allsberg ziehen würde.“

Nach einer etwas verlängerten Schrecksekunde brach homerisches Gelächter über den beiden los:

„Weshalb habt ihr euch denn dann scheiden lassen? Zweiter Frühling und so?“

Als schließlich Tante Donata auch noch sang: „In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine …“, klatschte Groma in die Hände:

„Schluss jetzt! Erstmal erklärt ihr bitte, was das Ganze soll.“

Tatsächlich war die Sache einfach und gut durchdacht. Die Ehe war über dem Tod ihres Sohnes Sven zerbrochen und solange Peer noch auf Botschafterposten im Ausland lebte, war es einfach gewesen, dass jeder seiner Wege ging. Aber jetzt, als Diplomat im Ruhestand, sollte er da in Bonn oder Bad Godesberg mit all den anderen Ehemaligen vergangene Heldentaten besingen?

„Nein, die Scheidung bleibt bestehen, aber Philippa und ich denken, dass wir nicht zu weit voneinander entfernt leben sollten. Wir sind uns ja nicht zuwider.“

In diesem Moment beobachtete Katja, wie ihre Tante errötete, als wäre sie ein Schulmädchen. Das rührte sie derart, dass sie spontan beschloss, Ja zu sagen. Sie kam aber nicht mehr dazu, denn das Telefon klingelte.

Enzio nahm den Hörer ab und es dauerte nur Sekunden, bis er erbleichte, sich auf den nächsten Stuhl setzte und gebannt dem zuhörte, was ihm da vermittelt wurde.

Als er auflegte, berichtete er, sein Vater sei am Morgen in Eppan nach einem starken Unwetter mit dem Auto in seinen Weinbergen unterwegs gewesen. Er habe nach dem Rechten sehen wollen, als unerwartet eine Mure abging, die das Fahrzeug mit seinen beiden Insassen mitgerissen habe. Sie hätten keine Chance gehabt.

Katja sprang von ihrem Stuhl auf und umarmte ihren Mann, um ihn zu trösten. Danach aber rief sie ihrem Onkel zu: „Ja, Peer. Das „Wie“ besprechen wir, wenn wir von der Beerdigung zurückkommen. Aber jetzt müssen wir weg.“

Es dauerte nicht lange, bis der Cutaway mit schwarzer Weste und Katjas Trauerkleid samt verschleiertem Hut eingepackt waren.

Katja chauffierte, wofür ihr Mann dankbar war. Es war immer noch der grüne Mercedes, den vor Jahren ihr Onkel Schorsch angeschafft hatte. Die unerwartete Nachricht hatte Enzio schwer getroffen. Seit den ereignisreichen Tagen um Weihnachten 1980 war der Kontakt zu seinem Vater fast eingeschlafen. Es war kurz nach seinem Abschluss an der Weinbauschule in Laimburg, als ihm sein Vater eröffnete, nach dem Studium zahle er nun nichts mehr für den Lebensunterhalt des Sohnes. Für Enzio war es nur folgerichtig gewesen, daraufhin vorzuschlagen, dann solle der Vater ihm das Weingut übergeben. Der alte Graf lehnte das vehement ab. Enzio musste damals unter sehr schwierigen und zum Teil erniedrigenden Bedingungen einen Job suchen. Erst eine von Groma geschickt eingefädelte kleine Intrige ermöglichte es, dass er den Weinbau, den seine damals noch Verlobte gerade geerbt hatte, übernehmen konnte. Leider hatte über all diesen Schwierigkeiten sein bis dahin gutes Verhältnis zu seinem Vater erheblichen Schaden genommen. Enzio war seither nicht mehr auf Burg Altspaur gewesen, nur sporadische Anrufe hatte es gegeben, das war alles. Nun setzte ihm der abschiedslose Tod seines Vaters schwer zu. Er saß versunken auf dem Beifahrersitz und grübelte. Plötzlich ging ein Ruck durch ihn und er rief:

„Oh Gott, auch das noch!“

Erschrocken verlangsamte Katja ihre ansonsten rasante Fahrt und fragte, was denn nun los sei.

„Das habe ich in all den Jahren offenbar verdrängt, denn jetzt bin ich ja Eigentümer der Weinberge, der Burg und der Kellerei in Eppan. Die Eigentumslage wird in unserer Ehe immer verzwickter.“

Und das war sie auch bisher wirklich schon gewesen, denn der verstorbene Baron Tröger hatte den „Nasciturus“ das Kind, das die Freundin seines verstorbenen Sohnes Karl damals erwartete, neben Katja zur Hälfte als seinen Erben eingesetzt. Nachdem Giovanna im Sommer 1981 ihren Sohn auf Ibiza geboren hatte und dieser auch noch rote Haare hatte, war an Karls Vaterschaft nicht mehr zu rütteln. Dass Katja einen Miteigentümer hatte, war nicht das Problem. Schwierig war, dass das Familiengericht andauernd dazwischenredete und Katja ständig im Verdacht stand, den kleinen Carlitos übervorteilen zu wollen.

Erschwerend kam hinzu, dass zu dem Erbe auch noch die sogenannten Uta-Betriebe gehörten, die Onkel Schorschs Stiefschwester Uta von ihrem Nazi-Ehemann geerbt hatte. Unter anderem gehörten dazu Kunstgegenstände, die jüdischen Familien abgepresst worden waren, aber auch ganze Betriebe. Die Bemühungen, alles das an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzuführen, waren noch längst nicht abgeschlossen und kosteten Katja Zeit und Nerven.

„Wenn du jetzt immer auf deinem Weinberg in Südtirol sitzt, kriegen wir ganz bestimmt kein Kind“, platzte es spontan aus ihr heraus. Beide lachten und das verscheuchte glücklicherweise die gedrückte Stimmung.

Es war schon Nacht, als sie auf den Hof der Burg der Grafen Altspaur fuhren. Im Licht ihrer Dienstwohnung im Nebengebäude erkannte Enzio die Frau des Kellermeisters Gasser. Mit großen Schritten lief er auf sie zu, um ihr zu kondolieren. Er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die zweite verunglückte Person der Kellermeister gewesen sei, der den Grafen bei der Inspizierung der Weinberge begleitet hatte. Noch ehe er die Hand der Frau ergreifen konnte, erkannte er im Halbschatten neben ihr den Kellermeister Josef Gasser.

Wie angewurzelt blieb er stehen und fragte weder sehr höflich noch sehr überlegt:

„Ja, wer ist denn dann der andere Verunglückte?“

Die beiden bemerkten den faux pas, aber sie lachten nur und antworteten:

„Nein, von uns hat’s noch keinen erwischt.“

Nun stellte Enzio den beiden seine Frau vor. Dies geschah allerdings nur sehr kurz, denn plötzlich hörte man aus der Wohnung das Weinen eines Säuglings.

„Wie schön, hat euer Sohn, der Andres, geheiratet und schon ein Kind bekommen?“

Darauf bekam Enzio erstmal keine Antwort. Vielmehr kneteten die Gassers verlegen ihre Hände.

Nach einigem Zögern nahm sich der Kellermeister ein Herz und sagte mit stockender Stimme:

„Nein, das ist, wie soll ich sagen, das ist sozusagen dem jungen Herrn Grafen seine Halbschwester.“

Katja bemerkte, wie ihr Mann schwankte, deshalb griff sie ihm unter den Arm und sagte mit aufgesetzter Fröhlichkeit:

„Dann lasst uns doch hineingehen und das Kind anschauen.“

In der Stube der Gassers stand ein Körbchen und darin lag ein etwa zwei Wochen altes Baby.

„Es hat Hunger, das arme Kinderl, ich mach das Flascherl fertig.“

Damit verschwand Frau Gasser in Richtung Küche, was ihrem Mann sichtlich unangenehm war, denn nun sah er sich den Fragen der beiden allein ausgesetzt.

„Ein Mädchen also?“

„Ja, ein Mädchen.“

„Und warum ist es meine Halbschwester?“

„Noja, weil halt der Herr Papa sozusagen der Kindsvater ist.“

„Was heißt da „sozusagen? Issers oder issers nicht?“

„Er hat g’sagt, dassers is.“

„Und wer ist die Mutter?“

„Die Bianca Esposito, die Lehrerin aus dem Dorf.“

„Und wo ist die jetzt?“

„Des isses ja, sie ist mit dem Herrn Grafen verunglückt. Das arme Wurm hat keine Eltern mehr.“

Das Weinen aus dem Korb wurde lauter und dringlicher, deshalb nahm Katja das Baby hoch und wiegte es auf dem Arm. Gleichzeitig streichelte sie mit dem kleinen Finger die Lippen des Kindes. Sofort begann es daran zu saugen, öffnete die Augen und sah Katja, wie es ihr schien, dankbar an.

Später erzählte Katja immer, das sei der Moment gewesen, zu dem sie, ohne sich mit Enzio abgesprochen zu haben, beschloss, komme was da wolle, dieses Kind anzunehmen und großzuziehen.

„Was? Mein Vater hatte eine Geliebte?“

„G’heirat hätt sie ihn schon wolln, aber der Herr Graf, noja, Sie kennen ihn ja, Ihren Vater, wenn man ihn wohin hat treiben wolln, ist er stur g’worden.“

Enzio musste grinsen, denn da hatte der alte Kellermeister ins Schwarze getroffen.

„Ja und heut früh, wie das Gewitter schon vorüber war, hat sie ihn begleitet in die Weinberge. Sie hat sich immer sehr für den Betrieb interessiert. Vielleicht dass sie ihm so hat zeigen wollen, dass sie die Richtige für ihn ist. Ich weiß nix Näheres, nur, dass er mir vor ein paar Wochen g’sagt hat, also, des war noch vor der Geburt, dass das Kinderl abgesichert ist. Aber wegen der Heiraterei, da hat’s Streit geben, man hat’s ja bis in den Burghof hinunter hören können.“

Während die beiden Frauen das Baby versorgten, bat Enzio den Kellermeister, ihn zu begleiten. Er wollte einen Zeugen haben, wenn er das Arbeitszimmer seines Vaters durchsuchte.

Auf der Treppe im Wohnturm fragte er:

„Wie hat denn mein Vater diese Dame überhaupt kennengelernt?“

„Ja, des war so: Einmal hat das Fräulein Lehrerin ihren Bruder Massimo mit nach hier heroben begleitet. Der Massimo Esposito ist Weinhändler und hat mit dem Herrn Vater schon lange Geschäfte gemacht. Aber diesmal hat er mir das Verhandeln überlassen. Vom ersten Augenblick war er hin und weg von der Bianca. Sie war ja auch eine Schönheit. Die Familie stammt aus dem Mezzogiorno. Der Mussolini hat damals haufenweise arme Süditaliener in sein neu erworbenes Alto Adige gebracht. Wir sollten halt mehrheitlich Italiener werden, alles unter dem Motto der Italianità. Ja, die Bianca, der sah man Süditalien an. Das war eine Frau, so schön und sinnlich, dass die Männer es mit der Angst zu tun bekommen haben. Nur der Herr Graf nicht. Na ja, Sie werden es ja auch mitbekommen haben, dass er nach dem Tod Ihrer Frau Mutter kein mönchisches Leben geführt hat. Nix hat er anbrennen lassen, wie man so sagt.“

Enzio war froh, dass sie unterdessen die Tür zum Arbeitszimmer erreicht hatten, so genau wollte er über die Einzelheiten des Liebeslebens seines Vaters auch nicht Bescheid wissen.

„So, jetzt schauen wir mal, ob wir etwas finden. Mein Vater hat sicher nicht umsonst gesagt, das Kind sei abgesichert.“

Es war nicht schwer, in einer der Schubladen des alten Renaissance-Sekretärs fanden sie einen Umschlag, auf dem die Adresse eines Notars in Bozen aufgedruckt war.

„Herr Gasser, Sie sind mein Zeuge, dass ich diesen Umschlag geöffnet habe und das sicherlich darin vorhandene Dokument gelesen habe, ohne es in irgendeiner Weise verändert zu haben.“

Mit diesen Worten öffnete er den Umschlag und entnahm ein maschinengeschriebenes Dokument mit wichtig aussehenden Stempeln und Unterschriften. Nachdem er es überflogen hatte, setzte er sich auf den nächstbesten Stuhl und las das Wichtige laut vor:

„Ich bestätige, der leibliche Vater des Kindes zu sein, das Bianca Esposito erwartet. Feststellbar wird das erst nach der Geburt sein. Dessen ungeachtet setze ich dieses Kind zur Hälfte zum Erben ein. Frau Bianca Esposito wird nach meinem Tod und bis zur Erreichung des achtzehnten Lebensjahrs des genannten hälftigen Erben den Nießbrauch über diesen Teil haben. Die andere Hälfte erbt Enzio, mein Sohn aus erster Ehe.“

Enzio saß unbeweglich auf dem Stuhl und sah in eine im Arbeitszimmer nicht vorhandene Ferne. Dann murmelte er:

„Dessen ungeachtet … Das bedeutet, dass das Kind auch dann Erbe geworden wäre, wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht von meinem Vater stammt. Diese beiden Worte waren offenbar der Preis, den mein Vater zu zahlen bereit war, um der Eheschließung zu entgehen.“

Nach einer langen Pause fügte er noch hinzu:

„Da hat er sich’s aber einfach gemacht, denn diesen Preis hat ja nicht er bezahlt. Ich bin’s, der’s zahlen muss, Herrgott noch mal!“

Als Katja spät abends ihren Kopf in Enzios Armbeuge kuschelte, flüsterte sie:

„Ich finde das alles nicht so schlimm. Es wird sich nicht viel ändern. Außer, dass wir jetzt ein Kind haben. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als das Kind zu adoptieren.“

Sie schlief danach sofort ruhig ein. Auf Enzio hatte der Satz alles andere als beruhigend gewirkt.

2. Kapitel

Eppan, Freitag, 10. Oktober 1985

War es der Sonnenstrahl auf seinem Gesicht? Enzio erwachte und fühlte sich wohl. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass dieses Gefühl auch daher rührte, dass eine zarte Hand sein Glied mit ganz kleinen Bewegungen liebkoste. Er öffnete die Augen und sah in Katjas lächelndes Gesicht.

„Guten Morgen, mein Liebster. Ich habe mir überlegt, dass es womöglich keine schlechte Idee ist, den genius loci zu bemühen. Vielleicht ist Südtirol ja gut fürs Kinderkriegen. Deine Halbschwester braucht unbestreitbar ein Miterziehungskind. Los, die Pflicht ruft!“

„Früher hast du aber nicht so viele Worte gebraucht, um mich zu verführen. Und ein bisserl Spaß sollte es ja auch noch machen! Von wegen: die Pflicht ruft, wenn schon, dann die Kür!“

Katja sagte darauf nichts mehr, verstärkte aber den Druck ihrer Hand, was genau dazu führte, was sie vorher wortreich eingefordert hatte.

Später trafen sie in der Küche Maria Gasser, die Frau des Kellermeisters. Sie hatte ihnen ein schmackhaftes Frühstück bereitet und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

„Die jungen Herrschaften werden verzeihen, aber wir müssen uns um die Beerdigung kümmern. Wenn wir das nicht tun, macht das der Dorfpfarrer von Sankt Michael und der ist ein 150-prozentiger Italiener. Wenn’s nach dem ginge, hätten wir es hier bald nur noch mit Pater Pio und den Flagellanten zu tun.“

„Flage-was?“, fuhr Katja entsetzt dazwischen. „Was ist das denn?“

„Mein Schatz, das sind Menschen, die sich ihrer eigenen Sünden bewusst, zumeist mit Peitschenhieben auf den Rücken bestrafen. Mach dir keine Sorgen, du bist nicht der Typ für so was.“

„Mich zu geißeln?“

„Nein, dich deiner Sünden bewusst zu werden.“

Lachend fing Enzio den Boxhieb ab und Frau Gasser grinste, bevor sie wieder zum Thema überging:

„Beim Schreiner hab ich schon einen ganz schlichten Sarg bestellt. Ich denk, den stellen wir heute am Abend vor der Beerdigung unten in die Eingangshalle und dann soll sich der Pfarrer herbequemen, um den Herrn Grafen, Gott hab ihn selig, auszusegnen. Er wird alles auf Italienisch runterleiern, aber das macht nix. Wir verstehen Italienisch, die aber verstehen immer noch kein Deutsch. Der Pfarrer lässt sich Don Rocco nennen. Den mag hier keiner. Sei’s drum! Den Sarg ins Dorf runtertragen, das machen die Schützen aus Eppan morgen. Gleich nach dem Unglück ham die meinen Mann angeläutet und g’sagt, dass sie ihrem Ehrenmitglied das nicht versagen können und wollen. Und wenn er dann druntn im Dorf im Familiengrab beigesetzt ist, dann kommen alle wieder auf die Burg zu einer Merende.“

„Und eine Merende ist was?“, fragte Katja.

„Danke, Frau Gasser. Das ist alles im Sinne meines Vaters. Da bleibt mir ja nichts mehr zu tun, außer meiner Frau zu erklären, dass man in Südtirol zu einer Brotzeit Merende sagt.“

Er küsste seine Frau zärtlich und wandte sich dann noch einmal der Frau des Kellermeisters zu:

„Ach, ich vergaß noch zu fragen: Auf wann haben Sie die Beerdigung angesetzt?“

„Morgen um zwei Uhr mittags.“

Frau Gasser hatte wirklich an alles gedacht: Kurz vor 18 Uhr brachte der Wagen des Bestatters den Verstorbenen auf den Burghof. Mit Enzios und des Kellermeisters Hilfe trug man den Sarg in die Eingangshalle und bahrte ihn dort auf.

„Herr Graf, soll der Sarg geschlossen bleiben?“

„Enzio wollte auf jeden Fall seinen Vater noch einmal sehen, so bat er die Männer aus dem Beerdigungsinstitut, den Deckel abzunehmen. Es war ein Moment besonderer Anspannung und Enzio war froh, dass in diesem Moment auch Katja in die Eingangshalle kam und nach seiner Hand suchte.

Als die Schrauben gelöst waren und der Sarg sich öffnete, lag plötzlich schutzlos der so geliebte, der so komplizierte und der so oft beschimpfte Vater vor ihm. Er hatte seine Tracht an. Der alte Graf sah zufrieden aus, als wolle er sagen:

„Ja, so kann ich vor meinen Schöpfer treten.“

„Fesch sieht er aus“, flüsterte Katja ihrem Mann ins Ohr.

Die Entscheidung, ob die Aussegnung bei offenem oder geschlossenem Sarg stattfinden solle, wurde den Angehörigen abgenommen. Ehe man den Deckel wieder aufsetzen konnte, war der Pfarrer in vollem Ornat mit seinen Messdienern, den Nachbarn, Freunden und einigen Verwandten angekommen.

Der Pfarrer, der es offenbar eilig hatte, wollte sogleich mit der Zeremonie beginnen. Daran wurde er vom ebenfalls erschienenen Bürgermeister gehindert.

„Wir müssen noch auf die Abordnung der Bürgerkapelle Sankt Michael warten, die haben dem Grafen zu Lebzeiten immer versprochen, bei der Aussegnung und der Beerdigung aufzuspielen.“

Was der Bürgermeister nicht sagte, war, dass er dem Kapellmeister angeordnet hatte, nicht um sechs Uhr zu kommen, sondern erst um sieben. Er kannte doch die Eile des Gemeindepfarrers.

Und so saßen alle eine knappe Stunde am offenen Sarg und beteten den Rosenkranz, während Don Rocco, der Pfarrer, mühsam um Haltung rang.

Schließlich hörte die Gemeinde zunächst leise von weit her die bekannten Klänge aus Chopins Trauermarsch. Immer näher kam die tragende Melodie, immer fordernder holte sie die Anwesenden aus der Versunkenheit des Rosenkranzes heraus. Als die Musikanten auf den Burghof einbogen, war allen mit einem Schlag wieder gegenwärtig geworden: Hier hatte der Tod unbarmherzig und wahllos zugegriffen. Enzio spürte, wie ihm die Tränen kamen, deren er sich nicht schämte.

Er wischte sie mit einem großen weißen Taschentuch aus den Augen. Er hatte nichts dagegen, dass alle sahen, dass er trauerte.

Nun war der Pfarrer dran, der seinen aufgestauten Unmut auch in Worte zu fassen wusste:

„Bene, finalmente! Ora possiamo iniziare la benedizione del defunto.“

Nach den vorgesehenen Worten der Liturgie, die, wie die Gemeinde fand, der Priester ohne großes Engagement ablas, war die Zeremonie beendet. Als der Geistliche mit seinen Ministranten schon im Aufbruch war, spielte die Kapelle die italienische Hymne. Da musste der 150-prozentige Italiener natürlich innehalten und Haltung annehmen. Sofort anschließend spielte nun die Kapelle „Wohl ist die Welt so groß und rein …“, die Hymne Südtirols. Und da blieb dem heiligen und ungeliebten Mann nun auch nichts weiter übrig, als stehen zu bleiben.

Der Bürgermeister schaute zufrieden drein. Er hatte es dem Walschen mal wieder gezeigt.

Der letzte Ton war verklungen. Der Pfarrer setzte sich unmittelbar in Bewegung, dicht gefolgt von der Abordnung der Bürgerkapelle, die nun einen fröhlichen Landler spielte.

3. Kapitel

Eppan, Samstag, 11. Oktober 1985

Gegen Mittag kamen die ersten Nachbarn und Verwandten. Man versammelte sich um den nunmehr geschlossenen Sarg und jeder sprach ein stilles Gebet. Danach legte sich eine schwere Hand auf Enzios Schulter. Als er sich umdrehte, schaute er in das Gesicht seines Patenonkels Albert. Er trug prächtige Südtiroler Tracht und plötzlich kam sich Enzio in seinem Cut deplatziert vor. Alberto gehörte die benachbarte Burg, die einen ebenso auffallenden Wohnturm hatte wie die der Grafen Altspaur. Sie waren verwandt, Enzio wusste aber nicht wie. Onkel Albert war einer der engsten Freunde seines Vaters gewesen.

Der schaute seinem unterdessen erwachsenen Patensohn in die Augen und sagte mit Donnerstimme:

„Weißt schon, jetzt bist der letzte Altspaur. Streng dich an!“ Und dann umarmte er ihn herzlich und sagte erheblich leiser:

„Schad ist’s um den Toni und schad ist’s, dass ihr euch nimmer versöhnen habt’s können.“

Die Totenmesse wurde in der Sankt Michaels Kirche gelesen, wohin alle dem Wagen, der den Sarg hinunterbrachte, nachgefahren waren. Die Bürgerkapelle war vollständig anwesend und füllte die Orgelempore restlos aus. Zur Überraschung aller spielte sie zum ersten Mal eine Bläserfassung des „Lacrimosa“ aus Mozarts Requiem. Anschließend wurde der Verstorbene im großen Familiengrab auf dem Friedhof beigesetzt.

Während all dieser Zeremonien richtete sich die Neugierde aller auf Katja. Niemand hatte Enzios Frau bisher kennenlernen können. Sie sah prachtvoll aus. Das Oberteil des Kleides war bis zum Hals mit schwarzer Spitze besetzt und unter dem Hut mit ebenfalls schwarzem Schleier leuchtete ihre rote Haarpracht. Enzio bemerkte mit Stolz, dass alle Augen auf seine Frau gerichtet waren. Sie quittierte die Aufmerksamkeit mit einem feinen Lächeln.

4. Kapitel

Ibiza, Sommer und Herbst 1985

Im Sommer war Carlitos vier Jahre alt geworden. Er lebte mit seiner Mutter, Giovanna, in einer renovierten Finca oberhalb des Torrent de Buscastell gegenüber vom Puig d’en Socarrat.

Er war der Sohn des bei einem Unfall umgekommenen Karl von Tröger, des ältesten Sohnes des ebenfalls verstorbenen Barons Schorsch. Carlitos war zusammen mit Katja der Erbe des riesigen Besitzes der Familie Tröger geworden. Dennoch hatte es seine Mutter vorgezogen, vor seiner Geburt wieder nach Ibiza zurückzukehren. Dort hatte sie zuvor mit Karl wunderbare, wenn auch entbehrungsreiche Jahre verbracht. Von Not war nun keine Rede mehr. Giovanna war von Katja mit genügend Geld ausgestattet worden, um sich ein Haus kaufen zu können: Für Carlitos schickte sie monatlich den Betrag von 5.000 DM auf die Insel. Das war für die Verhältnisse junger Menschen, die auf der Insel lebten, ein mittleres Vermögen. Früher hatte Giovanna Geld verdient, indem sie freizügige Strickmode kreierte, jetzt ging sie ganz in der Erziehung ihres Sohnes auf. Zumindest dachte sie das. Tatsächlich kümmerte sich um den Buben Xisco, der Nachbar, dem unten am Torrent Felder und Gärten gehörten, die er sehr gewissenhaft bewirtschaftete. Es war vor einem knappen Jahr gewesen. Carlitos hatte eine Ziege im Buschwald verfolgt. Als er sie nicht einfangen konnte, landete er schließlich auf dem Acker, auf dem Xisco gerade Kichererbsen aussäte. In regelmäßigen Abständen steckte er eine Erbse in den Boden und scharrte mit dem Fuß Erde darüber. Er lachte, als er beobachtete, wie der kleine Bub der Ziege hinterherrannte. Carlitos blieb stehen und genierte sich. Der lachende Mann winkte ihn zu sich heran und gab ihm einen Schluck Wasser aus einem Tonkrug. Was er sagte, verstand Carlitos nicht und was der Bub sagte, verstand der Mann nicht. Mit dem Zeigefinger deutete er auf sich und sagte „Xisco“. Das verstand Carlitos und zeigte mit seinem kleinen Finger auf sich und sagte „Carlitos“. Später setzte Xisco seinen neuen Freund auf seinen Esel. Sicher ist der Bub das Kind von der Italienerin, die da droben vor einiger Zeit eingezogen war, dachte Xisco. Sie fanden sie am Rand des Swimmingpools in Meditationshaltung. Vorsichtig räusperte er sich und fragte, ob der auf dem Esel sitzende Carlitos hier wohne. Er verschwieg ihr, wo ihr Sohn den ganzen Tag gewesen war. Am nächsten Tag freute sich Xisco, als Carlitos in aller Frühe wieder zu ihm auf den Acker kam. An diesem Tag lernte er die ersten Worte auf ibicenco und wie man Garbanzos aussät. Im Laufe des Tages erzählte ihm Xisco die Geschichte vom Winzling „Garbancito“, der nur so groß wie eine Kichererbse war. Er verstand nicht alles, aber da er mit seiner Mutter immer italienisch sprach, konnte er sich ausdenken, um was es ging. Beide lachten darüber, wie Garbancito mit einem Pups aus dem Bauch der Kuh flog, die ihn zuvor gefressen hatte. Sie hatte das winzige Kerlchen nicht im Kohlkopf gesehen, der ihr zum Mittagessen geschmeckt hatte. Abends erzählte Carlitos seiner Mutter die Geschichte und sagte ihr so entschieden, dass sie nicht widersprach, dass er jetzt jeden Tag zu Xisco gehen werde. Als er später ins Bett ging, erklärte er ihr auch noch, dass er Bauer werden wolle.

Tatsächlich lernte Carlitos bei Xisco alles, was man als „pagès“ beherrschen muss. Bald wusste er die Hähne zu bedienen, die das Wasser auf die Felder leiteten, Kopfsalat ernten war auch nicht weiter schwierig, nachdem er sich ein paar Mal mit dem scharfen Messer geschnitten hatte. Xisco erzählte seinem kleinen Freund, dass seine Frau gestorben war und Fina, die Tochter, die habe unbedingt studieren wollen und jetzt wohne sie in Madrid.

„Sie arbeitet in einem Krankenhaus und um sie herum fahren stinkende Autos. Sie hat vergessen, wie schön es ist, unter einem Feigenbaum zu sitzen.“

Carlitos gab dem alten Mann recht: Es gibt nichts Schöneres als im Schatten eines Feigenbaumes zu sitzen. Man konnte die Eidechsen und Käfer beobachten. Manchmal erzählte Xisco eine Geschichte und oft knurrte Brac, der Hund, der im Schlaf all die Abenteuer erlebte, auf die er jetzt auf seine alten Tage verzichten musste.

Wenn es Zeit war, breiteten sie Netze unter den Bäumen aus und schlugen mit langen Bambusstangen Johannisbrot oder Mandeln von den Bäumen. Sie packten alles in Säcke und dann durfte Carlitos mitfahren in Xiscos uraltem Deux Chevaux Kastenwagen, dessen hintere Türen mit einer Kordel zusammengehalten werden mussten. In San Antonio Abad wurden die Säcke in der Cooperativa Agrícola abgewogen und Xisco bekam Geld ausbezahlt. Carlitos gab er davon 100 Peseten ab, was den Buben in seinem Entschluss, Bauer zu werden, bestärkte. Damit konnte man richtig Geld verdienen.

Giovanna war nicht unglücklich, ihren Sohn tagsüber abgeben zu können. Sie hatte die beiden aus der Ferne immer wieder beobachtet und wusste ihren Sohn beim Nachbarn in guten Händen. Insgeheim aber wunderte sie sich über Carlitos, denn sein Großvater war Musiker in Mailand und Carlos, der verstorbene Vater, war eine Größe in der Musikszene der Insel gewesen. Der Kleine hätte doch eigentlich Interesse an der Musik zeigen müssen!

„Zwei Mal Musiker macht ein Mal Bauer?“ murmelte sie, wenn ihr Sohn abends von oben bis unten dreckig, aber glücklich nach Hause kam.

Ihre eigenen Interessen richteten sich schon bald nach anderen Sphären aus. Das lag an Umberto, einem baumlangen Römer. Er war ihr Yogalehrer. Eines Tages erzählte er wie nebenbei, er habe in Italien auch eine Ausbildung als Geburtshelfer gemacht, er sei eine männliche Hebamme. Leider sei ihm der berufliche Erfolg in der Heimat versagt geblieben. Er selbst sei einfach zu groß, ganz zu schweigen von seinen Händen. Da hätten die jungen Römerinnen Angst bekommen und mit einem Lächeln fügte er hinzu, dass die jungen Väter ihn mit äußerstem Argwohn, ja mit Eifersucht, betrachtet hätten.

Da hatte Giovanna eine Idee …

5. Kapitel

Eppan, Sonntag, 12. Oktober 1985

Katja hatte Glück, sie erreichte Robert Wagner in seiner Kanzlei in Würzburg. Er war der Rechtsanwalt der Familie. Sein Vater war früher Onkel Schorschs rechte Hand gewesen. In Zeiten, als sie und Robert in Schweinfurt aufs Gymnasium gingen, waren sie ein Paar geworden.

„Robert, verzeih, dass ich dich am Sonntag störe.“

„Wie du siehst, bin ich sowieso im Büro. An solchen Tagen kann man so schön ungestört arbeiten, es sei denn, die liebe, liebe Katja ruft an.“

„Mach du nur deine Witze, aber so richtig lustig ist es nicht, weshalb ich dich anrufe. Sicher hast du gehört, dass Enzios Vater gestorben ist. Er wurde bei einem Murenabgang verschüttet.“

„Oh Gott, das ist ja grauenhaft. Bitte richte ihm mein Beileid aus.“

„Mach ich, aber jetzt pass auf: Der Onkel Toni, Enzios Vater, hatte ein Gspusi, eine junge Italienerin.“

„Na, das wollen wir dem alten Herrn doch von Herzen gönnen, oder?“

„Robert, darum geht es überhaupt nicht, vor zwei Wochen hat die Frau ein Kind bekommen.“

Robert lachte am anderen Ende der Leitung lange und laut, dann prustete er los: „Sag bloß, das Kind hat auch noch rote Haare, das hatten wir doch schon mal.“

„Robert, reiß dich am Riemen, das ist alles nur scheinbar lustig. Die Mutter des kleinen Mädchens ist mit Enzios Vater zusammen verunglückt. Vorher hat er die Vaterschaft anerkannt und das Mädchen neben Enzio zur Hälfte als Erbin des Besitzes der Familie eingesetzt. Enzio und ich haben uns überlegt, das Kind zu adoptieren. Mit dem Kinderkriegen klappt es bei uns ja nicht. Allerdings wollen wir vorher wissen, was du davon hältst.“

Der Anwalt überlegte kurz und dann begann er langsam schneller werdend zu sprechen: „Ihr würdet euch dem Verdacht aussetzen, das Erbe des Kindes zu schmälern. Jetzt erbt sie die eine Hälfte, als Enzios Adoptivtochter erbt sie dessen Hälfte, wenn er stirbt. Dann würde sie mit den Kindern, die ihr hoffentlich noch bekommt, teilen müssen, also jedes Mal, wenn du ein Kind bekommst, würde sie weniger erben. Um diesem Verdacht aus dem Weg zu gehen, müsst ihr den italienischen Behörden klarmachen, dass durch eine mögliche Adoption durch euch die vermögensrechtliche Situation des Kindes nicht betroffen sein kann.“

„Okay, das habe ich verstanden, an was müssen wir sonst noch denken?“

„Als deine Adoptivtochter wird sie natürlich auch deine Erbin in Allsberg, da sie aber vorab schon Eigentümerin der Hälfte des altspaurschen Erbes geworden ist, wird sie immer mehr haben als ihre nachgeborenen Geschwister. Das kann zu Unfrieden führen.“

„Na, das werden wir schon meistern. Fällt meinem juristischen Genie sonst noch was ein?“

„Erst mal nicht.“

„Robert, hab vielen Dank für deinen Rat. Ich halte dich auf dem Laufenden.“

Sie traf Enzio im Weinkeller unter der Burg. Er lief durch die schier endlosen Gänge und verschaffte sich einen Überblick über den Zustand des Betriebes. Als er Katjas Schritte hörte, rief er ihr zu:

„Jetzt zahlt sich aus, dass ich in den vergangenen Jahren in Allsberg eine komplett neue und moderne Weinkellerei eingerichtet habe. Diese Erfahrung zeigt mir, wie vollkommen überaltert das hier alles ist. Hier muss dringend was passieren.“

„Das mag sein, aber jetzt setz dich erstmal irgendwo hin, ich will dir erklären, was Robert Wagner gesagt hat.“

„Einige Minuten später schüttelte Enzio den Kopf und dann murmelte er:

„Seit klar war, dass Mama keine Kinder mehr bekommen konnte, wurde ich dazu erzogen, wurde mir dauernd vorgebetet, dass ich einmal Herr auf der Burg Altspaur sein werde. Es sei meine Pflicht, mich darauf vorzubereiten. Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht da ein kleines Mädchen auf und schwupp, schon gehört mir nur noch die Hälfte. Die materielle Frage ist mir egal, nur befürchte ich, dass ich jetzt hier ähnliche Schwierigkeiten mit den Jugendämtern bekomme, wie du sie wegen Carlitos in Deutschland mit dem Familiengericht hast. Ich würde auch gern mal wissen, wie das alles so gekommen ist.“

„Weißt du was, ruf Onkel Albert an und sag ihm, wir kämen zu ihm zum Mittagessen.“

Den Weg zur Burg der Grafen Khofler legten die beiden zu Fuß zurück. Enzio nutzte die Zeit, alles zu erklären, was man von Onkel Albert wissen musste.

„Ich glaube, seine Großmutter und die meines Vaters waren Geschwister. Onkel Albert hat keine Kinder, er war nie verheiratet. Ich war oft drüben bei ihm. Er hat mich mit all dem verwöhnt, von dem er wusste, dass es zu Hause verboten war. Zunächst war das Schokolade und Bonbons, später durfte ich die Playboy-Hefte lesen, die er sammelte. Viel gelesen hab ich nicht, mehr geschaut. Immerhin hab ich etwas Englisch gelernt, weil die Bildunterschriften, die wollte ich schon verstehen. Als ich noch kleiner war, hab ich ihn gefragt, weshalb er nicht verheiratet sei. Er antwortete, er habe nie Zeit gefunden, zu heiraten. Als ich ihm Jahre später noch einmal diese Frage stellte, lachte er und sagte nur:

„Warum soll ich das Menu nehmen, wenn ich à la carte essen kann?“

„Ich hab das damals nicht sofort verstanden, später schon. Knuff mich nicht, das war vor dir! Um es kurz zu machen, Onkel Albert ist und war ein Bonvivant von hohen Graden. Er liebt die Frauen und das Geld, beides möglichst im Plural. Er hat für die italienische Industrie in aller Herren Länder den Türöffner gemacht und hat dabei kräftig verdient. Dass er dabei von beiden Seiten Geld nahm, war bekannt und akzeptiert. Ich habe einmal mitbekommen, wie er zu meinem Vater sagte:

„Dem Agnelli war es doch wurscht, dass ich von den Saudis kassierte. Dem Avvocato aus Turin ging es darum, dass ich denen seine Flieger verkaufe und dafür hat er mich liebend gerne noch mal bezahlt.“

„Dennoch hat er immer wieder Geld gebraucht, und so hat er seine Weinberge peu à peu an meinen Vater verkauft. Die Burg hat er in eine Kulturstiftung eingebracht. Er darf dort bis zum Lebensende wohnen. Eines hat er damit erreicht: Weder er noch seine Neffen und Nichten haben Ärger mit dem „Zeuch“, wie ihr in Franken immer sagt.“

„Es hätte also Erben gegeben?“

„Ja, die Eva, den Daniele und den Tino. Das sind die Kinder seiner Schwester, einer, wie er sagt, bigotten Betschwester. Sie ist in Rom mit einem dieser Vatikan-Adeligen verheiratet. Es stimmt sicher nicht, aber Onkel Albert behauptet, sein Schwager dürfe dabei helfen, wenn der Papst die Schuhe wechselt.“

Von Weitem schon sahen sie Onkel Albert im Burgtor stehen. Er winkte. Neben ihm stand eine Frau, die sich beim Näherkommen als eine junge Schönheit entpuppte.

„Das ist Gabriela, ich habe sie in Rio kennengelernt. Meinen Freunden von der Modebranche in Mailand hat sie auch gleich gefallen und jetzt versüßt sie mir das Leben, wenn sie nicht vor der Kamera steht. Zur Beerdigung hab ich sie nicht mitgenommen, weil sie hat einfach keine schwarzen Kleider im Koffer g’habt, und sie schwarz anmalen? Ich weiß nicht …“

„Hi, I am Gabriela,“ stellte sich nun die junge Frau selbst vor. Sie hatte offenbar nicht mitbekommen, was ihr Gönner zuvor erzählt hatte.

Mit großer Geste lud nun der Burgherr ein. Heute trug er nicht Tracht, sondern beige Chinos, weißes Polohemd und darüber einen leichten hellblauen Pullover mit V-Ausschnitt. Seine Füße steckten ohne Socken in rosa Segelschuhen. Katja fand die Farbzusammenstellung gewagt, war aber dessen ungeachtet beindruckt von der lässigen Eleganz dieses älteren Herrn.

Im Burghof stand eine Statue von Giacometti.

„Femme, épaule cassée“, murmelte Katja hingerissen.

„Verstehst du was davon? Ich hatte Glück, Giacometti hat nur wenige Abgüsse autorisiert und einen davon hat er mir überlassen. Ich hatte damals viel Geld und er brauchte welches. Er hat mich dann auf die Idee gebracht, immer ein Drittel meiner Einkünfte in Kunst anzulegen. Der Rat war gut, von heute aus gesehen. Jetzt verkaufe ich ab und zu ein Werk und kann davon ausgezeichnet leben. Damals führte der Rat zu wiederkehrenden finanziellen Engpässen, die ich dank meines Freundes Toni überbrücken konnte, weil ich ihm stückerlweis meine Weinberge verhökern konnte. Aber mach dir keine Sorgen. Die Dame dort auf ihrem Sockel ist ein Nachguss. Das Original steht etwas sicherer bei mir im Schlafzimmer.“

Im Treppenhaus hing ein Paul Klee und eines der seltenen Ölbilder Giacomettis.

„Ein bisschen was versteh ich schon davon, Onkel Albert, ich habe Kunstgeschichte studiert, aber nicht abgeschlossen.“

„Typisch höhere Tochter!“

„Ja ja, du hast natürlich Recht. Aber darum ging es mir vorhin nicht. Ich wollte dir erzählen, wie es kam, dass ich von moderner Kunst etwas verstehe. Als ich das Schloss Allsberg von meinem Onkel Schorsch geerbt hatte, erfuhr ich, dass die Nazis zum Ende des Krieges mehrere Kisten und Pakete in einem Teil des Kellers eingelagert hatten und dann den Zugang vermauerten. Es war ziemlich abenteuerlich, wie wir da reingegangen sind, der Enzio, ich und, du wirst es nicht glauben, der Dorfklempner hat uns geholfen. Mit dessen Abflussrohrgucker konnten wir feststellen über die Kellerfenster, ob durch das Einbrechen der Mauer, etwa durch Frischluft Schäden entstehen könnten. Das war natürlich Blödsinn, damals waren wir ja noch blutige Laien. Was wir fanden, war haufenweise den Juden geraubte Kunst und einige ausgelagerte Gegenstände aus der Würzburger Residenz.“

„Ich erinnere mich, ich habe damals davon in der New York Times gelesen. Ich war grad für die Benettons drüben. Muss ein riesiges Ereignis gewesen sein, als die Raubkunst in deinem Schloss ausgestellt wurde.“

„Stell dir vor, mit der Rückgabe bin ich noch heute beschäftigt. Es ist gar nicht so einfach, die rechtmäßigen Eigentümer geklauter Bilder zu finden.“

Damit waren sie im Saal angekommen. Ein elegantes Kreuzgewölbe, das sich auf eine Säule in der Mitte des Raumes stützte, hielt die hohe Decke und ermöglichte so durch große Fenster einen wunderbaren Lichteinfall.

Auch hier Kunst allerorten. Katja beschloss, sich erst später damit zu beschäftigen.

„Ich kann nicht kochen und Gabriela übrigens auch nicht. Es gibt halt nur die paar Kleinigkeiten, die ich im Haus hatte.“

Wenn man Parmaschinken, Parmesanbrocken, Mailänder Salami, Oliven, reife und getrocknete Tomaten sowie Mozzarella Kleinigkeiten nennen will, dann hatte er recht.

Sie setzten sich zusammen an das obere Ende des riesigen Tisches. Gabriela hatte sich auf eine Chaiselongue im Erker zurückgezogen und hörte über Kopfhörer Pink Floyd.

„Onkel Albert“, begann Enzio, „wir brauchen deinen Rat wegen, wie soll ich mich ausdrücken, tja, wegen meiner Halbschwester.“

„Ich habe schon davon gehört. Nenn es, wie du willst, es ist und bleibt ein Bangert, una bastarda.“

„Das arme Kind kann doch nichts dafür! Wir müssen die Fakten ohne Vorurteile angehen!“

„Natürlich, immer diese fortschrittlichen Deutschen. Hier in Italien heißt so ein Wurm eben bastarda. Ist doch so, Enzio?“

Kurz darauf verzog der Angesprochene vor Schmerz und Schrecken sein Gesicht.

„So, so, Donna Catarina pflegen ihren Mann unter dem Tisch zu treten.“

Onkel Albert lachte schallend und als er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, stupste er Enzio an.

„Ich hab dich immer vor der Ehe gewarnt, mein lieber Patensohn. Aber Katja hat ja recht, wir müssen die Fakten betrachten. Ich gesteh, dass ich die Gesetzeslage nicht kenne. Ich bin zu oft im Ausland und kann nicht jede Gesetzesänderung verfolgen, insbesondere nicht bezüglich des Erbrechts von unehelichen Kindern.“

„Das ist geklärt, sie bekommt die Hälfte.“

„Und damit hast du bis zur Volljährigkeit des Kindes stets die italienischen Jugendbehörden an der Backe.“

„Genau das ist meine Sorge. Ich hab’s vorhin schon zu Katja gesagt: Da werde ich ein ganzes Leben dafür erzogen, ja sogar konditioniert, die Güter der Familie Altspaur zu erben. Vielleicht wäre ich viel lieber Lokomotivführer geworden? Aber nein, mir wurde eingebläut, meine Aufgabe und Verantwortung sei Altspaur! Plötzlich und unerwartet schrumpfen Aufgabe und Verantwortung auf die Hälfte zusammen, nur weil mein Vater auf seine alten Tage nochmal aus der Hose musste! Hätte er damals an mich übergeben, wäre das nicht passiert!“

„Also Enzio, ohne da ins Detail gehen zu wollen, aber da kenne ich deinen Vater besser als du. Der hatte immer nebenher was am Laufen, allerdings hat er früher besser aufgepasst. Und an dem Zerwürfnis, das du angesprochen hast, warst du ja nicht minder schuld.“

„Wieso?“

„Na, verzeih, das ist jetzt fast fünf Jahre her. Hätt’st ja mal anrufen können, vorbeikommen wär auch nicht schlecht gewesen.“

„Ich hab ihn an Weihnachten, seinem Geburtstag und zum Todestag meiner Mutter immer angerufen. Er hat das Gespräch stets sehr kurz, fast protokollarisch, gehalten. Was hätt ich denn tun sollen?“

„Ich hätte sogar barfuß im Schnee mit einem härenen Gewand über den Schultern vor dem Burgtor gewartet bis der alte Sturkopf sich meiner erbarmt! Herr Gott noch mal du warst doch der Jüngere und du wolltest was von ihm! Ich gebe zu, auch ich habe versagt. Ich wusste von der Misere und hab nicht Kontakt zu dir aufgenommen. Und, das muss ich zugeben, mit seinem „idillio senile“ hat er mich dann doch a bisserl überrascht.“

Stille trat ein und man hörte nur schwach aus Gabrielas Kopfhörern David Gilmores Stimme: „Shine on you crazy diamond“.

Enzio schaute zur jungen Brasilianerin hinüber und ließ ein lapidares „Und du?“ im Raum stehen.

Onkel Albert schaute etwas verdattert drein. Es war zu sehen, wie er überlegte, ob er zornig oder belustigt reagieren sollte. Es dauerte etwas, aber dann lachte der alte Herr und sagte.

„Enzio, mein Lieber, bei mir ist es etwas anderes. Vergiss nicht, ich bin jünger als dein Vater. Ich war nie verheiratet, ich war nicht einmal länger liiert. Dass ich immer wieder eine neue und meist jüngere Freundin hatte und habe, ist bei mir der Normalzustand. Bei deinem Vater kam diese Liebe zu der doch sehr viel jüngeren Bianca halt etwas unvorhergesehen.“

„Gut, dass wir auf die Dame Bianca zu sprechen kommen. Onkel Albert, ich darf doch so sagen? Onkel Albert, ich sehe, dass uns nichts anderes übrigbleibt, als das Kind zu adoptieren, wenn wir verhindern wollen, dass es in einer Umgebung aufwächst, in der es kein Verhältnis zu dem bekommen kann, was immerhin zur Hälfte ihr gehört. Als zukünftige Mutter dieser, wie du sagst bastarda, möchte ich so viel wie nur möglich über die biologische Mutter erfahren. Zuvor aber noch eines: Nach eurer Definition bin ich auch eine bastarda. Meine Eltern haben nie geheiratet. Seht her, was dabei herausgekommen ist. Der, wenn ihr so wollt, Makel der unehelichen Geburt vergeht mit der Zeit. Nun aber zu Bianca. Wie war sie?“

„Beginnen wir damit, was sie war. Sie war eine Schönheit. Nein, ich untertreibe, sie war eine bellezza. Sie war groß, für eine Süditalienerin sogar sehr groß, ich würde sagen eins fünfundsiebzig. Sie und Toni, das war ein schönes Paar. Sie hatte den dunklen Teint des Südens und fast schon ein griechisches Profil. Haare natürlich schwarz, aber die Augen auch, allerdings hatte ich immer den Eindruck, dass sie trotz ihrer Dunkelheit sprühten. Und noch etwas war sie, nämlich Lehrerin an der Grundschule in Eppan. Die Burschen haben sie schon umschwärmt, aber keiner hat sich herangetraut. Schön und gescheit, damit kannst du als Frau womöglich in der Stadt punkten, aber auf dem Land niemals. Bianca hatte auch Sinn für Humor. Sie erzählte wunderbare Geschichten von ihrer Familie drunten im Mezzogiorno. Sie war zwar gebürtige Südtirolerin, aber die alten Geschichten kannte sie. Da war zum Beispiel Onkel Vito. Der war der Kohlebeauftragte der Familie. Im Winter, wenn es kalt war, musste er beim Bahnhof Heizmaterial organisieren. Die Zeiten waren schlecht und das wusste auch der Bahnhofsvorstand und heuerte deshalb zwei Aufpasser mit Hund an. Paolo und Ugo waren zufällig Vitos Vettern und Nero freute sich über die nächtlichen Ausflüge, denn tagsüber hing er auf dem kleinen Hof, auf dem alle lebten, an der Kette. Also, wenn du mich fragst, ich denke nicht, dass die Familie Esposito nur aus Ehrenmännern bestand, aber sie wussten sich zu helfen. Bianca war sehr belesen. Das unterschied sie von unserem guten Toni, er sich eigentlich nur für Wein, Weib und die Jagd begeistern konnte. Sie hat sich immer mit mir über das unterhalten, was sie gerade gelesen hatte. Ich bin beileibe kein Intellektueller und auch kein Bücherwurm. Aber während meiner vielen langen Flüge habe ich halt angefangen zu lesen, und so konnte ich annähernd mithalten. Wir drei haben uns sicher alle vierzehn Tage ein Mal getroffen und ich gestehe es, manchmal war ich neidisch auf den Toni.“

„Hätte denn eine Ehe Aussicht auf Bestand gehabt?“

„Katja, das ist eine sehr weibliche Frage. Die Mexikaner haben da eine weise Formel. Sie sagen, el matrimonio dura mientras dura dura. Ohne ins Detail gehen zu wollen, sie meinen, das hänge davon ab, wie lange alles schön hart bleibt. Zwar habe ich das Licht nicht gehalten, aber als Bianca schwanger wurde, ging es ihr, ganz Löwenmutter, ausschließlich darum, die Zukunft ihres Kindes abzusichern. Sie drang auf Ehe, und Toni wehrte sich nach Kräften. Die Gassers haben mir berichtet, sie seien als direkte Nachbarn oft Zeugen wilder Auseinandersetzungen gewesen. Ob die Ehe Bestand gehabt hätte? Ich glaube eher nicht. Ich denke, Bianca hat auch mit der Biologie gerechnet, schau, Toni ist im Mai siebzig geworden. Bianca war es wahrscheinlich egal, ob sie sich in der Ehe mit Toni würde langweilen müssen oder ob sie eine frühe Witwe geworden wäre. Es ging ihr um das Kind. Sie war noch jung. Ihren Dreißigsten haben wir im Juni gefeiert.“

„Also, ein durchtriebenes Stück“, stellte Katja fest.

„Nein, gar nicht, meine Liebe. Sie war eine Frau, die genau wusste, was sie wollte. Sie war gescheit, sie war lustig, sie war schön. Ein Schadchen hätte daraus drei Ehen gemacht.“

„Was ist denn ein Schadchen?“ schaltete sich nun Enzio ins Gespräch ein.

„Ha, das weiß diesmal ich! Das ist der jiddische Ausdruck für den Heiratsvermittler.“

„Ja, Bianca hätte für drei Ehen gereicht. Lass es mich mit den Worten eines alten Mannes sagen, der die Frauen liebt: Bianca war ein Klasseweib!“

„Gut und schön, ich will es meinem Vater ja auch gönnen. In seinem Alter war er doch sicher nicht der Heldentenor, der der jungen Sofia Loren den Kopf verdreht! Wie kam das denn zu dieser Verbindung?

„Das kann ich dir sagen, denn genau das hab ich sie auch gefragt. Sie hat damals geantwortet, sie sei es leid gewesen, von den Junggesellen des Dorfes immer nur angehimmelt zu werden. Sie habe ihn zum ersten Mal gesehen, als sie ihren Bruder, einen Weinhändler, auf die Burg begleitete. Sofort habe der Graf mit ihr geflirtet. Und dann sei er zu einem Fest drunten im Dorf gewesen. Zum Tanz hat er sie aufgefordert und nicht mehr losgelassen. Dein Vater war ein bekannt guter Tänzer. Sie sagte, diese Entschlossenheit habe ihr imponiert.“

„Ach da fällt mir ein, wann wird die Bianca denn beerdigt? Katja und ich sollten uns davor nicht drücken.“

„Das ist zu spät, Massimo, Biancas Bruder, hat den Sarg sofort nach Palizzi, dem Dorf der Familie in Kalabrien schaffen lassen. Dieser Massimo ist ein eher unangenehmer Kerl. Er verdient sein Geld wie gesagt als Weinhändler. Mit dem Toni hat er schon seit vielen Jahren Geschäfte gemacht. Als er merkte, was da mit seiner Schwester und dem Herrn Graf los war, hat er ein Riesentamtam veranstaltet. Aber Bianca hat ihm offenbar schnell klargemacht, dass er sich da gefälligst rauszuhalten habe.“

„Nun zurück zur Eingangsfrage: Sollen wir das Kind adoptieren?“

Albert schwieg, dann schaute er Katja in die Augen und ehe er antwortete, umspielte ein amüsiertes Lächeln seinen Mund.

„Du weißt es nicht? Schau, meine Mutter hat hier auf der Burg Hunde gezüchtet. Ich habe diese ewige Kläfferei gehasst. Meine Mutter hat immer alles nur unter dem Gesichtspunkt der Weitergabe guter Gene gesehen, und sie hätte gesagt: „Aus züchterischen Gründen müsst ihr es tun!“

Alle lachten.

Die Anspannung war damit von allen gewichen und Onkel Albert rief erleichtert: „Gut, dann können wir ja jetzt endlich zum Champagner übergehen! Da lass ich mich heute nicht lumpen. Ich hatte schon mit eurem Besuch gerechnet und ein paar Fläschchen vom Dom Pérignon in den Eisschrank gelegt.“

6. Kapitel

Rückblende, Frankfurt, Januar 1982

Es war eine blöde Fahrerei. In der Nacht hatte es stark geschneit und im Spessart war es dem Winterdienst bisher lediglich gelungen, eine Fahrspur zu räumen. Robert Wagner, Katjas Rechtsanwalt, hatte ihr gesagt, die Fahrt könne sie sich sparen. Das Bundesentschädigungsgesetz sähe vor, dass die Ansprüche auf Restitution von geraubtem jüdischem Eigentum schon seit Jahren verjährt seien. Wenn sie das Büro des Jewish Claims Council besuchen wolle, werde sie niemand daran hindern, aber sie werde nichts erreichen.

„Ich will den Uta-Scheiß aber loswerden!“

Diese Überzeugung hatte sich immer fester in ihrer Gedankenwelt verbissen, all die Kunstschätze, die Tante Utas Nazi-Ehemann im Keller von Schloss Allsberg versteckt hatte, all die Immobilien in Würzburg, die Ziegelei und der Weingroßhandel, das lastete auf ihrem Gewissen. Enzio hatte sie am Ende davon überzeugen können, den Weingroßhandel zu behalten, aber sie wollte wenigstens dafür bezahlen können. Und deshalb war ihr der Kontakt zum Claims Council wichtig.

Die Straßenverhältnisse wurden auch nach Aschaffenburg nicht besser und Katja merkte, dass sie nicht pünktlich um neun Uhr ankommen würde. Unterdessen gab es Angeber, die mit kiloschweren Koffern durch die Gegend liefen, um immer erreichbar zu sein und in aller Öffentlichkeit zu telefonieren. So signalisierten sie ihren Mitmenschen wie wichtig, wie schrecklich wichtig sie doch seien. In diesem Moment hätte sie gerne ein solches Ding zur Verfügung gehabt. Sie hasste Unpünktlichkeit. Sie erreichte das Gebäude des Claims Councils gut eine Stunde später als gedacht. Polizisten standen davor und verlangten ihren Ausweis. An der Pforte schaute sie ein alter Mann freundlich an und sagte:

„Sie müssen die Gräfin sein. Wir erwarten heute sonst niemanden. Ich rufe schnell an und dann wird man Sie abholen.“

Wenig später öffnete sich die Tür des Aufzugs und ein hochgewachsener Mann in ihrem Alter kam auf sie zu. Plötzlich stutzte er und zeigte mit dem Finger auf den eigenen Kopf. Unter der Kippa, die er trug, quoll dichtes gelocktes rotes Haar hervor. Beide grinsten und statt einer Begrüßung fragte Katja ihr Gegenüber:

„Hat man Sie als Kind auch wegen Ihrer Haare gehänselt?“

„Nein, im Marais gab es viele Rothaarige, das war normal. Sogar unser Rabbi hatte rote Haare. Da wagte es niemand, andere deshalb lächerlich zu machen.“

Katja hörte den französischen Akzent heraus und als sie seine Visitenkarte in der Hand hielt, erklärte sich alles:

Dr. Samuel Finkelsztajn.

Katja schaute ihn verblüfft an.

„Sagen Sie bloß, Sie haben mit der Pâtisserie Finkelsztajn, der Boutique Jaune in der Rue des Rosiers in Paris zu tun?“

„Ja, das sind entfernte Verwandte von mir, aber jetzt lassen Sie uns erst einmal nach oben gehen.“