Alptraum Kriegskindheit - Hans-Joachim Schubert - E-Book

Alptraum Kriegskindheit E-Book

Hans-Joachim Schubert

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Beschreibung

Urszula und Hans-Joachim (Jochen) Schubert (Jahrgang 1932 und 1929) erleben während ihrer Kindheit alle Facetten des Krieges wie Hunger, Kälte, Heimatlosigkeit und immer wieder die Konfrontation mit dem Tod. Urszulas Vater ist Pole, die Mutter Deutsche. Ihre Familie lebt bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Graudenz. 1939 wird die Stadt dem Deutschen Reich einverleibt. Sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion streben die Beseitigung Polens an. Die Elite des Nachbarn wird gejagt, verschleppt, ermordet. Slawen gelten bei den Nationalsozialisten als Untermenschen. Dennoch werden arisch aussehende polnische Kinder nach Deutschland entführt und dort zur Adoption freigegeben. Mit Einsetzen der Treibjagd auf die Polen 1939 flieht Urszulas Familie zunächst nach Wojniti und später nach Krakau. Um die Kinder zu schützen, trennen sich die Eltern, wie sie hoffen, nur für kurze Zeit. Die Mutter zieht mit Urszula und ihrem Bruder Werner, die nun schnellstens deutsche Kinder werden müssen, ins Elternhaus nach Danzig. Im großmütterlichen Nazihaushalt und in der Schule werden die Kinder wegen ihrer Herkunft und den unvermeidlichen Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache schikaniert. Den geliebten Vater werden sie nie wieder sehen. Urszula und Werner erleben Luftangriffe, Verschüttung, die nahezu vollständige Zerstörung Danzigs und schließlich ihre eigene Vertreibung. Als Flüchtlinge aus dem Osten werden sie nach Ankunft in Deutschland erneut als Menschen zweiter Klasse behandelt. Jochen ergeht es nicht besser. Er wächst gemeinsam mit seiner Schwester Gerdi bei der Mutter in ärmsten Verhältnissen in Erfurt auf. Um ihn kümmert sich kaum jemand, selbst als er schwer erkrankt. Jochen trifft die Kriegspropaganda mit voller Wucht. Er wird schließlich Kindersoldat. Geschildert werden zwei Einzelschicksale, stellvertretend für eine ganze Generation, die Kriegskinder.

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Urszula Barbara Schubert, geborene Matyasik 1932 in Tuchel, arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg in mehreren Berufen, nachdem sie mit ihrer Familie als Halbpolin aus Graudenz und Krakau und später aus Danzig geflohen war. Sie studierte am Institut für Lehrerbildung in Weimar und war danach u.a. als Pädagogin tätig. Im November 1954 heiratete sie Hans-Joachim Schubert. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Heute lebt sie in Erfurt.

Hans-Joachim Schubert (Dr. jur.) wurde 1929 in Erfurt geboren. Auch er arbeitete nach Kriegsende in mehreren Berufen, bevor er an der Hochschule für Justiz Potsdam-Babelsberg Jura studierte. Nach der Hochzeit mit Urszula Barbara Matyasik war er als Richter und Anwalt tätig und u.a. Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte des Bezirkes Erfurt. Er starb 1999 in seiner Heimatstadt.

Helga Matyasik, eigentlich Helga Schubert (Dr. med.), wurde 1960 in Halle/Saale als drittes Kind von Urszula und Hans-Joachim Schubert geboren. Sie arbeitet als Gefäßchirurgin und Expeditionsärztin. Ihre Reisen führten sie in mehr als 90 Länder. Von Helga Schubert erschienen bisher die Bücher „Die Perversion Leben“, „Heimat Schelfeis“, „Lebenselixier Berg“ und unter ihrem Pseudonym der Märchenband „Dezembers Geburtstag“.

Für diejenigen, die den Wert des Friedens zu schätzen wissen.

Unser Dank gilt Dr. Sigune Barsch-Gollnau, Helga Lübke und Andrea Breitlow für Ihre Mithilfe bei der Erstellung des Buches.

„Die Demokratie müssen wir beschützen.

Wenn es keine Demokratie gibt, ist es nur ein Schritt zum Massenmord - und das ist tatsächlich so.“

Éva Pusztai

(Jüdin und Auschwitz-Überlebende)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kindheit - unbeschwerte Zeit?

„Polackin“

Krieg

Trümmerberge in Städten und Köpfen

Holpriger Neubeginn

Endlich leben

Nachwort

Prolog

Vor mir liegt ein Foto, auf dem meine Großmutter als Kind mit ihrer Familie abgebildet ist. Im Zentrum des Bildes ist ihr Vater, ein sogenannter Versehrter des Ersten Weltkrieges, zu sehen, ein verbitterter junger Mann. Er starb mit 35 Jahren. Oma muss den Vater sehr geliebt haben, denn dieses Bild trug sie mit sich auf ihrem Weg durch die Luftschutzkeller und auf der Flucht mit ihren Kindern, wo andere Dinge wichtiger waren als ein Foto. Selbst das Bild ihrer Hochzeit ließ sie zurück.

Unsere Eltern, Jahrgang 1929 und 1932, waren zu Beginn des Zweiten Weltkrieges im August 1939 zehn und sieben Jahre alt. Das ist die Zeit, in der man unbekümmert und spielend die Welt entdeckt, behütet von Eltern und Gesellschaft. Doch der Krieg hat andere Gesetze. Da streiten die Erwachsenen über Achtung oder Verachtung, Wohlstand oder Armut, Leben oder Tod.

Der Start ins Leben bedeutete für meine Eltern Armut, verbunden mit Hunger und Kälte, Heimatlosigkeit, Schikanen und immer wieder die Konfrontation mit dem allgegenwärtigen Tod. Bis ins Erwachsenenalter hinein wussten meine beiden Geschwister und ich nicht viel über die Kindheit unserer Eltern. Ihre für uns bestimmte Geschichte begann mit der „Stunde Null“, der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945, die die Nachkriegszeit einläutete.

Zuversicht und Unbeschwertheit zeichneten wiederum unsere Kindheit in der damaligen DDR aus. Die Großväter kannten wir nicht. Sie waren wohl im Krieg gestorben, wie so viele Männer ihrer Generation.

Urszulas Mutter Angelika (links vorne) mit ihren Eltern und Geschwistern Trude und Bruno. Das Foto wurde gegen Ende des 1. Weltkrieges aufgenommen. Kurze Zeit später starb Urszulas Großvater (Bildmitte) im Alter von nur 35 Jahren

Mutters Vater war Pole. Ihre Familie lebte in Graudenz, Krakau und später in Danzig. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Großmutter, Mutter und deren Bruder nach Deutschland. Nähere Umstände erwähnten die Eltern, als wir Kinder waren, nur selten.

Krieg und Faschismus wurden in unserer Familie und auch in der DDR abgelehnt. Brachten sie nicht millionenfaches Leid über die Menschen? Und zum Glück lag die schreckliche Zeit unendlich weit zurück, zumindest im Empfinden von uns Kindern. Aber das war nicht der Fall. Bereits zehn Jahre nach Ende der Kapitulation Nazideutschlands, im Jahre 1955, wurde unser Bruder geboren. Manch einer kam zu dieser Zeit erst aus der Kriegsgefangenschaft zurück. 1957, als meine Schwester zur Welt kam, gab es noch Lebensmittelkarten. Doch wir Kinder wuchsen in Geborgenheit auf. Die Mängel der Nachkriegsepoche bekamen vor allem die Erwachsenen, insbesondere unsere Mütter zu spüren, die die Familien ernähren mussten. Vielleicht hatten wir wenig. Diese Frauen haben viel daraus gemacht. Meine Mutter sagt, sie hätte uns damals gern mehr geboten. Doch ich kann mich heute lediglich an eine glückliche Kindheit erinnern.

Wenn vom Unrechtsstaat DDR, in der wir unbeschwert aufgewachsen sind, die Rede ist, stimme ich dem zu, denn die Menschen konnten sich nicht frei auf dieser Erde bewegen. Ich bin heute dankbar, nach der deutschen Wiedervereinigung 25 Jahre lang in Frieden und Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland gelebt haben zu können. Doch was die Aufarbeitung der Verbrechen des Naziregimes anbetrifft, schäme ich mich für dieses Land. Eine umfassende Abrechnung mit den Schuldigen an dem verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte hat praktisch nie stattgefunden.

Eines von vielen traurigen Beispielen dafür ist Auschwitz. Klaus Wiegrefe (20) schrieb seine Recherchen 2014 im Spiegel nieder. Im größten Vernichtungslager des „Dritten Reiches“ nahe der Königsstadt Krakau wurden mindestens 1,1 Millionen Juden umgebracht, darüber hinaus Zehntausende Nichtjuden aus Polen, der Sowjetunion und anderen Ländern Europas. Der Großteil von ihnen wurde nach der Ankunft im Lager vergast. Heute, 70 Jahre später, sind von den 6500 SS-Leuten, die in Auschwitz am millionenfachen Morden beteiligt waren und den Krieg überlebt hatten, bisher nur 49 verurteilt wurden (20 davon in der ehemaligen DDR). Und es werden wohl auch nicht viel mehr werden, da die meisten von ihnen inzwischen längst eines natürlichen Todes gestorben sind. Täter wurden zu Gehilfen gemacht, um die Strafen milder ausfallen zu lassen, eine Demütigung für die Opfer. Wiegrefe schreibt in seinem Artikel: „Das Verstreichen der Zeit wurde zum mächtigsten Verbündeten der SS-Veteranen. So endete der Prozess um ein besonders fürchterliches Verbrechen 1976 mit einem Freispruch des SS-Führers Willi Sawatzki, weil der wichtigste Belastungszeuge nicht mehr vernehmungsfähig war. Es ging um den Mord an rund 400 ungarischen Kindern. Den SS-Leuten war das Zyklon B ausgegangen und so fuhren sie die Kinder zu Gruben und warfen sie lebend ins Feuer. Mit Fußtritten trieben SS-Männer die Kleinen zurück in die Flammen, wenn diese sich zu retten suchten…“. (20) Bezüglich anderer Konzentrationslager sah es nicht anders aus. In Stutthof, dem Lager nahe Danzig, in dem man meinen Großvater quälte, wurden Zehntausende von Menschen grausam ermordet. Von den 3000 beteiligten SS-Leuten standen lediglich 78 vor Gericht. (9)

Ursachen für die unzureichende Aufarbeitung der Verbrechen des Naziregimes dürften unter anderem Ignoranz, aber auch die Angst der deutschen Bevölkerung vor der ganzen Wahrheit gewesen sein.

Nicht wenige Angehörige der Justiz und der Politik im Nachkriegsdeutschland hatten eine „braune“ Vergangenheit. Einige Ärzte, die Euthanasie-Tötungsanstalten leiteten, arbeiteten nach dem Krieg in ihren Praxen weiter. Hans Globke, der an der Ausarbeitung der Nürnberger Rassengesetze beteiligt war, erhielt später im Bundeskanzleramt den Posten des Staatssekretärs und wurde Adenauers wichtigster Berater (17) und nach letzterem, der all dies duldete, sind heute ehrfurchtsvoll Plätze und Straßen benannt.

Beim Wiederaufbau Westdeutschlands ging es vor allem darum, die Leute, die im früheren Gefüge hohe Positionen inne hatten, zu gewinnen. Moralische Aspekte spielten, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Als es etwa um die Wiederbewaffnung Deutschlands ging, wurden die ehemaligen Generäle der Wehrmacht umworben. Von den Regierungen der Westmächte forderte man eine Ehrenerklärung für die Wehrmacht. In den Nürnberger Prozessen wurden fast alle zu Freiheitsstrafen verurteilten Verbrecher frei gelassen und nahezu alle zum Tode Verurteilten begnadigt. (3)

In Ostdeutschland hatten ehemalige Nazis wesentlich schlechtere Chancen, weshalb es viele von ihnen in die damalige amerikanische Besatzungszone zog. Aber auch im Osten gab es frühere NSDAP-Mitglieder, die später etwa SED-Spitzenfunktionäre wurden.

Vater als Jurist und Mutter wussten um die Geschehnisse der Vergangenheit und Gegenwart und erzogen uns Kinder im Sinne des Antifaschismus und Pazifismus. Und es war und ist für uns eine Selbstverständlichkeit, dass die begangenen Kriegsverbrechen der Deutschen durch nichts zu rechtfertigen sind. In Gesprächen mit einigen Gleichaltrigen, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen sind, fällt mir immer wieder der Versuch auf, das Leiden der eigenen Vorfahren (Verlust von Vätern und Großvätern, Luftangriffe etc.) in den Vordergrund zu stellen und damit die Mitschuld der Verwandten zu „lindern“. Diese Versuche sind bis in die Gegenwart zu beobachten.

Unsere Eltern haben nie bestritten, dass in ihren Familien Opfer, aber auch Täter waren. Doch von ihren persönlichen Erfahrungen als Kriegskinder erzählten sie uns so gut wie nie etwas (oder wir haben nicht richtig zugehört) und wir ahnten nicht, dass diese Erlebnisse tiefe Spuren bei ihnen hinterlassen hatten.

Als Mutter bereits das 50. Lebensjahr überschritten hatte, setzte sie sich eines Tages an die Schreibmaschine und tippte ihre Kindheitserlebnisse nieder. Was nicht auszusprechen gelang, wurde von der Seele geschrieben, aber auch nicht alles. Ihr Vater war Pole, die Mutter Deutsche. Aus dem polnischen Kind musste mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in kurzer Zeit ein deutsches Mädchen werden. Großmutter verließ mit ihren beiden Kindern Polen und zog in ihr deutsches Elternhaus nach Danzig, das damals dem Völkerbund unterstand. Den geliebten Vater sah Mutter nie wieder. Es folgten bittere Kriegsjahre, die Luftangriffe und nahezu völlige Zerstörung der neuen Heimatstadt Danzig und schließlich die Vertreibung. Das sind Erlebnisse, die sich tief in das kindliche Gehirn eingebrannt haben. Insbesondere im Alter, wenn Zeit zum Nachdenken ist, kehren sie an die Oberfläche zurück.

Mutter schaut sich keine Filme über Krieg und Gewalt an, denn die rufen die Erinnerung an die Kindheit wach. Noch heute, sie hat bereits das 80. Lebensjahr überschritten, plagen sie nachts Alpträume mit Details aus ihrer Kindheit. „Frauen werden zusammengetrieben, vergewaltigt und überall liegen Leichen herum, über die man steigen muss, um zu fliehen.“ Eine unbestimmte Angst begleitete sie ihr ganzes Leben lang.

Wenn ich Mutter Fragen zur Vergangenheit stelle, antwortet sie bereitwillig, doch ich merke, wie sie leidet. Kriegsberichte, aus welchem Teil der Erde auch immer, gehen ihr persönlich nahe und sie denkt an die Unschuldigen, vor allem an die Mütter und Kinder.

Vater schrieb seine Kindheitserlebnisse für uns Nachkommen im Alter von 64 auf. Fünf Jahre später ist er gestorben. Sein Elternhaus war bettelarm und er war sich als Junge praktisch selbst überlassen. Nur durch Glück hatte er als Bestandteil von „Hitlers letztem Aufgebot“, einer Armee vor allem aus Minderjährigen bestehend, der er als Kindersoldat angehörte, überlebt.

Ich bin Mutter und Vater heute dankbar dafür, dass sie ihr persönliches Erleben einer Zeit, an die sich niemand gerne erinnert, aufgeschrieben haben. Das war gewiss schwer und ich weiß, dass sie auch einiges verschwiegen haben.

Nur wenige von denen, die als Kinder die Kriegs- und Nachkriegszeit erdulden mussten, haben sich mit ihren Berichten an die Öffentlichkeit gewagt. Deren Schilderungen sind wichtig, um nachfolgenden Generationen klar zu machen, welchen Wert es hat, in Frieden aufwachsen zu können. Krieg, das wird so daher gesagt von denen, die ihn nie erleben mussten. Wie viel Elend er bringt, machen uns vor allem Einzelschicksale deutlich.

Auch deshalb fühle ich mich in der Pflicht, vorliegende Aufzeichnungen meiner Eltern zu veröffentlichen, denn jede Stimme zählt gegen das Vergessen.

Helga Matyasik

Kindheit - unbeschwerte Zeit?

Die Jahre, in denen unsere Eltern geboren wurden, waren Nachkriegs- und Vorkriegsjahre zugleich. Mutters Großvater mütterlicherseits wurde im Ersten Weltkrieg schwer verletzt und starb 1918. Unsere Oma war noch ein Kind, als sie den Vater verlor und Mutter hatte ihren Opa nie kennengelernt. Für sie war der zweite Mann der Großmutter, ein gewisser Bernhard Krischewski, der Großvater. Dieser diente in der Wehrmacht, geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft und starb unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges.

Auch Vater kannte seinen Opa väterlicherseits, der im Ersten Weltkrieg geblieben war, nicht. Am 11. November 1918 endete dieser Krieg, der 10 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Noch weitaus mehr waren körperlich und seelisch geschädigt. Der „Versailler Vertrag“ sollte nunmehr die Nachkriegsordnung regeln. U.a. verlor Deutschland ein Siebtel seines Territoriums und ein Zehntel seiner Bevölkerung. Auch Graudenz, die Stadt, in der Mutter den glücklichen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, gehörte, trotz einer deutschen Bevölkerungsmehrheit von 84 Prozent, nun zu Polen. Deutschland wurde die alleinige Schuld am 1. Weltkrieg gegeben, weshalb gewaltige Reparationszahlungen auf das Land zukamen. Das waren damals 132 Milliarden Goldmark. Der offiziell als Republik bezeichnete neue deutsche Staat, die „Weimarer Republik“, hatte nur zwei Möglichkeiten, diesen immensen Verpflichtungen nachzukommen, durch Erhöhung von Steuern oder Inflation. Letzteres war der Fall. 1923 hatte das Geld in Deutschland keinen Wert mehr. Die Menschen verloren ihr gesamtes, im Arbeitsleben angespartes Vermögen, was den Hass auf die Weimarer Republik nährte. Die Situation verschlimmerte sich noch mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929, dem Jahr, in dem Vater geboren wurde. Die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe. Die Not der Bevölkerung war guter Nährboden für die rechtsextreme Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, die NSDAP, mit ihrem unberechenbaren Führer Hitler. Er versprach einen Ausweg aus der Krise. Bei der Wahl 1932, dem Jahr, als Mutter geboren wurde, war die NSDAP mit 37% der Stimmen erstmalig stärkste Partei im Reichstag. Hitler wurde 1933 Reichskanzler. Das Unglück nahm seinen Lauf. Die Bestie strebte von Beginn an nach einem Großdeutschen Reich. Internationale Vereinbarungen wurden ignoriert und Deutschland militärisch aufgerüstet. (11) Dies war verbunden mit Hetzparolen gegen andere Völker.

Mutter lebte in ihrer frühen Kindheit in relativ wohlhabenden Verhältnissen in Polen, das nach dem Ersten Weltkrieg wieder souverän war. Vater, ein Kind aus dem „Erfurter Blechbüchsenviertel“ war bettelarm und kaum behütet, so dass die Kriegspropaganda hemmungslos auf dieses Kind einschlug. Sie war überall gegenwärtig, in der Schule und auf den Straßen. Vaters Mutter arbeitete damals im Erfurter Olympiawerk, wo eigentlich Bürotechnik hergestellt wurde. In den Jahren 1942 bis 1945, in denen die deutsche Wirtschaft vollkommen den Kriegsinteressen unterworfen wurde, galt das Olympiawerk als wichtiges Rüstungsunternehmen in Thüringen. (16) Somit wurden auch „Randfiguren“, wie Vater sie nennt, zu Mittätern.

H.M.

Urszula:

Mein richtiger Name ist Urszula Barbara Matyasik. Alle nennen mich Ursel oder Uschi. Geboren wurde ich am 31. Mai 1932 in Tuchel (heute Tuchola).

Ich hatte noch einen Bruder. Werner war zwei Jahre älter als ich und wir Geschwister mochten uns sehr. Später bekamen wir noch eine Schwester, aber nur für kurze Zeit. Es ist nicht viel, was mir von ihr in Erinnerung geblieben ist.

Bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hatten mein Bruder und ich in Graudenz in Westpreußen eine sehr glückliche Kindheit. Unsere Eltern führten eine gute Ehe. Vater war Pole und seine dreizehn Jahre jüngere Frau Angelika Matyasik, meine Mutter, Deutsche. Vater verehrte seine schöne Frau sehr und erfüllte ihr jeden Wunsch. Mutters Aufgabe bestand in der Kindererziehung, ansonsten brauchte sie sich kaum um etwas zu kümmern. Alle Dinge, die man zum Leben benötigte, wurden ins Haus gebracht. In unserer Speisekammer türmten sich geräuchertes Fleisch aller Art und andere Lebensmittel. Es fehlte uns an nichts. Vater war als Finanzkontrollrevident tätig. Er brachte oft Kollegen zum Essen mit zu uns nach Hause. Mutti konnte hervorragend kochen, war attraktiv und eine gute Gastgeberin. Die Herren kamen gerne zu uns. Die Mahlzeiten zogen sich über Stunden hin. Es war nicht so wie heute in Deutschland, dass die Menschen essen und gleich danach wird der Tisch abgeräumt. Es wurde ständig nachgereicht. Polnischer Wodka durfte zu keiner Mahlzeit fehlen.

Einmal im Monat gingen unsere Eltern auf einen Ball oder großen Empfang. Mutti sah immer toll aus in ihren langen Abendkleidern. Als kleines Mädchen habe ich immer davon geträumt, später auch einmal so elegant auszusehen.

Vater war ein gutaussehender Mann, groß, stattlich und darüber hinaus noch ausgesprochen unterhaltsam. Es wunderte nicht, dass die beiden überall gern gesehen waren. Wenn die Eltern vor hatten, abends wegzugehen, wurden wir Kinder besonders verwöhnt. Der Höhepunkt für uns war, wenn wir im Ehebett schlafen durften und Süßigkeiten und bunte Zeitungen bekamen. Irgendwann schliefen wir darüber ein. Am anderen Morgen erwachten wir immer im Kinderzimmer in unseren Betten.

Urszulas Mutter Angelika als junge Frau

Urszula und ihr Bruder Werner während der glücklichsten Zeit ihrer Kindheit in Polen.

Die Eltern von Urszula 1937 in Graudenz

Alle vier Wochen war bei uns Waschtag. Dann kam eine Waschfrau, die ganze zwei Tage lang im Keller arbeitete. Die Sachen meiner Puppe durfte ich selbst waschen. Es machte mir Spaß im Dampf und Dunst zu stehen, wie das bei Kindern eben so ist.

Etwas ganz Besonderes war die Vorweihnachtszeit, in der bei uns zu Hause ein Kommen und Gehen herrschte. Unvorstellbar viele Päckchen und Pakete wurden unserer Familie gebracht. Wahrscheinlich waren das größtenteils Bestechungspräsente, die unseren Vater milder stimmen sollten. So ließ es sich gut leben.

Mutti war zur Weihnachtszeit beständig am Backen. Sie fertigte Mohnstollen und unzählige Arten von Plätzchen an. Heute frage ich mich, wann wir all` dies gegessen haben.

Das eigentliche Weihnachtsfest war dann der Höhepunkt des Jahres in Polen. Ich glaube, nirgendwo sonst auf der Erde wird diese Feier so groß begangen, vorausgesetzt man besitzt die nötigen Mittel.

Jochen:

Ich wurde am 14. Mai 1929 als Hans-Joachim Schubert, ein Jahr nach meiner Schwester Gerda, in Erfurt geboren. Alle nennen mich Jochen. Ich bin in einem lockeren Familienverband ohne jegliches Vermögen und sonderlich großen Zusammenhalt aufgewachsen. Mein Vater arbeitete als Angestellter beim Standesamt in Erfurt. Da später, zur Nazizeit, auf Abstammung Wert gelegt wurde und man „arisch sein“ nachweisen musste, hat er sich wohl um den Stammbaum der Familie gekümmert. Väterlicherseits reichte dieser bis auf einen Landsknecht aus Österreich zurück. Das einzige Mal, dass ich die Mutter meines Vaters, deren Namen ich nicht einmal mehr kenne, gesehen habe, war 1943, als wir sie in Hameln bei Hannover besucht hatten. Ihr Mann war im Ersten Weltkrieg gefallen.

Meine Großeltern mütterlicherseits sind mir auch nur ganz dunkel in Erinnerung geblieben. Sie stammten angeblich aus Preußisch Stargard. Opa Below war Straßenbahnfahrer. Die Oma, an deren Namen ich mich auch nicht erinnere, ist in einer Nervenheilanstalt gestorben.

Mein Vater hatte drei Geschwister. Seine Schwester lebte in Hameln. Die beiden Brüder Willi und Karl wohnten in Erfurt. Willi war ein flotter Bursche, der in der Lingel-Schuhfabrik arbeitete. Er spielte Poker, was für die damalige Zeit recht ungewöhnlich war. Mehr weiß ich nicht.

Alles, was ich nun über meine frühere Kindheit schreibe, ist kaum gesichertes Wissen. Ich habe mit niemandem jemals darüber gesprochen. Schenke ich den Eindrücken, die alte Fotos vermitteln, Glauben, so muss es am Anfang meiner Kindheit auch Lichtblicke gegeben haben. Vater betrieb zur Zeit meiner Geburt in der Leopoldt-Straße 13 wohl ein Kolonialwarengeschäft. Ich habe mir das Haus einmal in den 50er Jahren angesehen. Es lag in einer äußerst ruhigen Gegend. Der Laden war sicher nie sonderlich einträglich gewesen.

Kurze Zeit nachdem ich auf die Welt gekommen bin, hatte Vater einen schweren Unfall. Er war aus einer Straßenbahn gestürzt. Es hieß immer, man hätte ihm danach eine silberne Platte in den Schädel eingesetzt. Vielleicht ist die Ehe der Eltern ja wegen der Krankheit meines Vaters gescheitert.

Davor sollen sie ein flottes Leben geführt haben, wurde erzählt. Dunkel kann ich mich erinnern, dass wir kurzzeitig im sogenannten „Feldherren-Viertel“ gelebt haben. Dort wohnten vor allem Arbeiter in roten Backsteingebäuden. Im Haus lebten auch ein Schustermeister und seine sehr nette Tochter. Sie verdiente ihr Geld in der nahegelegenen Sterngasse als Prostituierte.

Jochen (rechts) mit seiner Schwester Gerdi (1930)

Meine Großeltern wohnten in der dritten Etage in einer Küche, einem Schlafzimmer und einer guten Stube. Letztere wurde kaum benutzt. Sie war offenbar zu gut, obwohl nichts darin stand, was von Wert war. Meine Mutter, Gerdi und ich lebten in der Werder-Straße, die nach einem preußischen Offizier benannt war. Uns stand nur ein Zimmer im Erdgeschoss zur Verfügung. An Möbeln besaßen wir ein Ehebett, drei Stühle, einen Waschtisch und einen Kleiderschrank. An die Anordnung dieser Dinge kann ich mich eigenartigerweise noch genau erinnern.

Das Zimmer grenzte unmittelbar an ein kleines Schreibwarengeschäft der Hauseigentümerin, die leicht verwachsen war. Wir hörten jedes Geräusch aus dem Laden und durften selbst nicht gehört werden. Gegenüber von unserem Zuhause befand sich eine Fabrik, in der Schnürsenkel hergestellt wurden. Mein Stammplatz war das Fensterbrett, auf dem ich saß und alles erreichbare Lesematerial schmökerte. So haben wir zwei Kinder mit der Mutter in einem Zimmer gehaust. In diesem befand sich ein etwa 1,2 mal 1,2 Meter großes Durchgangsloch, das zum Raum eines Untermieters führte, welcher ein Verhältnis zur Hauseigentümerin gehabt haben soll.

Mutter verdiente als ungelernte Stanzerin im Olympia-Schreibmaschinenwerk etwa zwanzig Reichsmark wöchentlich. Vater konnte wegen seiner Krankheit zunächst nichts zu unserem Unterhalt beitragen. Also war äußerste Sparsamkeit angesagt.

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals eine Urlaubsreise gemacht haben. Im Winter musste ich die Kohlen pfundweise beim Händler in der Nebenstraße, später Thälmannstraße kaufen. Ein halber Zentner wäre Spitze gewesen.

So beengt in einem Raum zu leben, fiel schwer. Tagsüber waren wir im Kinderhort bei der freundlichen Frau Lange. Wurde dieser nachmittags geschlossen, mussten Gerdi und ich vor der Haustür warten, bis die Mutter kam, ob Sommer, ob Winter. Unterwäsche oder Winterkleidung kannte ich in meiner Kindheit nicht. Ich habe mich einmal so erkältet, dass ich eine Rippenfell- und Lungenentzündung bekam und circa ein

Jahr im Krankenhaus verbringen musste. Zahlreiche Narben an meinem Körper zeugen von den vielen Operationen, die ich in dieser Zeit über mich ergehen lassen musste. Ich erinnere mich noch genau, wie mich eine Schwester, die manchmal an meinem Bett wachte, fragte, ob ich Himbeer- oder Erdbeereis wolle. Das war die größte Freude, die sie mir machen konnte.

Jochen als kleiner Junge

Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte ich kaum laufen. Da meine Mutter arbeiten musste, hatte ich die Zeit allein zu verbringen. Ich war äußerst schwach, übte aber eifrig, um mich wieder selbstständig bewegen zu können. So lief ich jeden Tag ein Stück und habe die Strecke nach und nach verlängert. Erst ging ich langsam und dann im eiligeren Schritt in Richtung Kiesgrube. Das waren immerhin circa 500 Meter, für meinen damaligen Zustand eine sehr weite Strecke und große Anstrengung. Ich war keine zehn Jahre alt.

Später besuchte ich wieder die Schule und den Hort. In der Klasse gehörte ich zu den Ärmsten und war körperlich der Kleinste. Neben der Schule trug ich mit zum Familienerwerb bei. In der Kunstgewerbeschule, in der die Tochter des Klassenlehrers studierte, stand ich beispielsweise Model. Für eine Firma in der Johannesstraße fuhr ich mit einem Fahrrad mit Anhänger Zigaretten aus. Die beste Stelle, die ich hatte, war, zweimal täglich „Die Wochenschau“ vom Kino am Anger zum Meyfart-Kino zu bringen. Ich bekam wegen der großen Verantwortung, die ich hatte, stündlich 60 Pfennig, was aber noch wichtiger war, ich konnte die aktuellen Filme sehen, auch die, die nicht jugendfrei waren.

Im Sommer habe ich schließlich in der Nähe des Steinplatzes aus Holzlatten Obst- und Gemüsestiegen zusammengenagelt. Für das Geld kaufte ich mir eine Winteruniform, da diese billig war. Lange Hose und Jacke kosteten nur zwölf Reichsmark. Überhaupt trug ich praktisch immer die Kleidung des Jungvolkes, der Kinderorganisation der Nazis. Das waren im Sommer das Braunhemd und eine kurze Hose aus Manchesterstoff und im Winter eine blaue lange Hose aus Tuch und eine blousonartige Jacke. Ansonsten hatte ich noch einen grünen Pullover. Deshalb wurde ich Laubfrosch genannt. Und ein helles Hemd besaß ich auch. An den Füßen trug ich Schuhe der Uniform. Diese waren mit Zwecken benagelt, damit sie recht lange keine neuen Sohlen benötigten. Kleidungsstücke zum Wechseln besaß ich nicht. Wir hätten ja nicht einmal gewusst, wo wir weitere Sachen unterbringen sollten. Für Gerdi, Mutter und mich zusammen gab es nur einen Schrank für alle unsere Dinge. So etwas wie ein Küchenregal existierte nicht. Dafür wäre auch gar kein Platz in dem kleinen Zimmer gewesen.

Genauso ärmlich wie wir war mein Vater untergebracht. In der Nordstraße hatte er zwischen zwei Wohnungen ein schlauchartiges Zimmerchen bezogen, in dem hintereinander ein Bett, ein Stuhl, ein

Kleiderschränkchen und ein Waschtisch standen. Seine Nachbarn waren sehr alte