Als bei Bruno Lenkovich einmal die Zeit stehenblieb - Werner Leuthner - E-Book

Als bei Bruno Lenkovich einmal die Zeit stehenblieb E-Book

Werner Leuthner

0,0

Beschreibung

Die vorliegende dritte Kurzgeschichtensammlung vereint weitere 27 seiner Kurzgeschichten und zwei Gedichte, gegliedert in die Sparten »Beziehungen«, »Gesellschaft«, »Komisch«, »Märchen und Fabeln«, »Krimi« und »Mysteriös«! Im »Anhang« gibt es noch einen kurzen Essay über das »Wesen der Kurzgeschichte«.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 158

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor:

Werner Leuthner ist 1942 in München geboren und dort aufgewachsen. Er durchlief drei Ausbildungen: zum Maschinenschlosser, zum Wirtschaftsingenieur und zum Diplompädagogen (Schwerpunkt: außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung).

Sein Berufsleben verbrachte er bei Krauss-Maffei in München-Allach, Siemens in München und dann in der Stadtverwaltung Villingen-Schwenningen. (VHS, Ausbildungswesen, Personalrat). Die letzten zehn Jahre war er als Studienberater in einer Außenstelle der Fern-Universität Hagen tätig.

Diese Tätigkeiten ermöglichten ihm einen breiten Einblick in die Lebensumstände der verschiedensten Menschen.

»Richtig« zu schreiben begonnen hat er mit seinem Renteneintritt 2002. In der Schreibwerkstatt in Villingen-Schwenningen und in der Schreibwerkstatt an der PH-Freiburg hat er Austausch und Anregung gefunden.

Die vorliegende dritte Kurzgeschichtensammlung vereint weitere 27 seiner Kurzgeschichten und zwei Gedichte, gegliedert in die Sparten »Beziehungen«, »Gesellschaft«, »Komisch«, »Märchen und Fabeln«, »Krimi« und »Mysteriös«! Im »Anhang« gibt es noch einen kurzen Essay über das »Wesen der Kurzgeschichte«.

Vom selben Autor:

Maslaukes Transformation,

ISBN 9-783752-667196

Maslauke Zwo – Weitere kurze Geschichten,

ISBN 9-783753-445106

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Gesellschaft

Ein Gespräch auf der Parkbank

Was wiegt denn eine Seele, Herr Rychel?

Ach, diese Lappalie

Astrid Zmöl: Alles geplant?

Alle meine Schnäppchen

Die Suche des Friedemann Görlitz

»Sie haben Recht, – ja, Sie haben Recht!«

Ein Versicherungsfall

Die Zeit klebt hier an allen Wänden

Der Aufsteiger

Das Krippenspiel

Komisch

»Verstehen Sie Spaß?«

Das Gewicht von Engeln

Märchen und Fabeln

Marius und der Kater

Chiara und die Amsel

Rufus, die Fledermaus

Veronika und die Marder

Mysteriös

Als bei Bruno Lenkovich einmal die Zeit stehen blieb

Der Kraftstein

Ein Traum, ein Brunnen und das Vergessen

Die Krähe im Feld

Das Gefühlspuzzle

Im Wartezimmer

Krimi

Die vertraute Stimme

Meine Nachbarn, der Hausierer und ich

Die Nachricht

Beziehungen

Heute schon geküsst?

Kleine Geierkunde

Eine Wanderung im Wald mit Alfred

Anhang

Vom ›Wesen‹ der Kurzgeschichte(n)

Vorwort

Nun, bei meinem dritten Band habe ich mit der Maslauke-Tradition der beiden ersten Bände (›Maslaukes Transformation‹ und ›Maslauke ZWO‹) gebrochen. Dies wird schon am Cover deutlich.

Zwei Texte habe ich erneut aufgenommen. Einmal das ›Gespräch auf der Parkbank‹, weil mir dieser wichtig erschien. Und ›Das Wesen der Kurzgeschichte‹ zur Orientierung für alle Leserinnen und Leser, die sich neu auf diese literarische Form einlassen.

Die übrigen Texte sind zum Teil neu; zum anderen Teil aus meinem Geschichtenfundus. Die angehängte Jahreszahl weist auf das Jahr der Entstehung hin.

Nicht alle Texte hier sind Kurzgeschichten im eigentlichen Sinne, folgen also nicht deren ›Dramaturgie‹. Die Spannweite reicht von der Erzählung, Märchen, Fabeln über Gedichte bis zur klassischen Kurzgeschichte.

Die Titelgeschichte ›Als bei Bruno Lenkovich einmal die Zeit stehen blieb‹ deutet auf mein Faible an mysteriösen und philosophischen Themen hin.

Die Zuordnung der einzelnen Texte zu den Kapiteln ist nicht immer eindeutig. Der Übersichtlichkeit halber habe ich das bisherige Schema beibehalten.

Wir haben versucht, Band III noch lesbarer zu gestalten: Ränder breiter, Schrift dunkler. Ich hoffe, Sie empfinden das auch als Verbesserung!

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich viel Spaß bei der Lektüre von ›Bruno Lenkovich…‹. Und ich freue mich wieder auf Ihre Rückmeldungen.

Mein Dank gilt Hanno Schreiber für die Gestaltung des Buchs, Luisa Demmler und Frank K. für das völlig neue Cover und Klara J. Allgeier für die genaue Durchsicht!

Villingen, im Februar 2023

Werner Leuthner

Gesellschaft

Ein Gespräch auf der Parkbank

Obwohl ich keine Unterhaltung suchte, setzte ich mich zu dem älteren Herrn auf die Parkbank: Zehn Meter weiter und die nächste Bank wäre frei gewesen. Aber mir war an einer – wenn auch stummen – Gesellschaft gelegen. Ich nickte ihm zu und schaute dann den Leuten nach, die alle diese Stelle passierten. Er betrachtete mich die ganze Zeit von der Seite her, das spürte ich. Da wandte ich mich ihm zu. Er war mir nicht unsympathisch, dieser kleine Grauhaarige in seinem Anzug, deshalb nickte ich ihm erneut zu und bemühte ich mich gleichzeitig, ein bisschen freundlich zu wirken.

Irgendwann, so begann er vor sich hin zu reden, irgendwann sind sie alle vom Leben weichgekocht. Manche werden Zyniker, das sind die Schlimmsten, – sie können keine positive Regung mehr zulassen und fürchten sich vor Fröhlichkeit und vor Farben, alles zersetzen sie mit ihrem Zynismus – wie mit Säure – nur Grau hat bei Ihnen Bestand.

Da sind mir die stillen, die traurigen Trinker lieber, die auf ihren speziellen Pegel hinsteuern. Erst dieser Pegel lässt sie Mensch sein, erlaubt ihnen ein Überleben in ihrer Welt. In diesem Zustand kommen ihnen die erstaunlichsten Einsichten. Ich sage Ihnen, wahre Philosophen sind sie dann. Oft fühlen sie sich so der allumfassenden Lösung ganz nahe, der Lösung für alle Probleme. Man sieht es dann ihren Gesichtern an, wenn sie zu leuchten beginnen. Sie wollen sich die Lösung einprägen, abspeichern für den nächsten Tag, an dem sie endlich aktiv werden wollen. Und dann sind sie besonders traurig, wenn ihnen dies nicht gelingt, wenn ihnen die Lösung wieder mal entgleitet. Es ist schon paradox: wenn sie die Lösung haben, können sie sie nicht umsetzen und wenn sie die Lösung umsetzen könnten, fällt sie ihnen nicht mehr ein.

Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: Die lauten Trinker mag’ ich nicht, die da herum poltern und andere belästigen. Ebenso wenig mag’ ich die Hektiker, die mit ihrer Geschäftigkeit all die leeren Pausen zudecken wollen. – Buddhist müsste man sein. Wenn so jemand keine Erwartungen mehr an das Leben hat, können ihm die Widrigkeiten des Lebens auch nichts mehr anhaben, dann ist er frei. Aber wer schafft das schon – ohne Bedürfnisse und ohne Erwartungen an das Leben zu sein. Unsereins ohne Bedürfnisse – da wären wir wohl schon tot!

Nach einer erneuten Pause drehte er sich ganz zu mir herüber, sah mich direkt an und sagte: Und – wenn ich Sie fragen darf – wie halten Sie es?

Ich erschrak und für einen Moment war ich sprachlos; ich zuckte mit den Schultern. Dann hörte ich mich stottern: ich, ich muss in Bewegung bleiben, muss mich immer wieder in Bewegung setzen. Das Ziel kenne ich auch nicht, trotzdem hoffe ich, ihm näher zu kommen.

Mit einem Ruck stand ich auf, wandte mich ihm zu und verabschiedete mich mit einem Nicken. Mit schnellen Schritten entfernte ich mich. Irgendwann, so klang es in mir nach, irgendwann sind sie alle vom Leben weich gekocht… Langsam fand ich wieder zu meinem normalen Tempo zurück. Irgendwann…

(2002/2008/2015)

Was wiegt denn eine Seele, Herr Rychel?

Teil I

Bernd Rychel hatte als Lehrer hier im Gymnasium die Fächer »Deutsch« und »Ethik« unterrichtet und war nun schon fünf Jahre im Ruhestand. Seine Lieblingslektüre in allen Zeitungen, die er in die Finger bekam, waren die Todesanzeigen. Diese studierte er hingebungsvoll. Und mit einer ihm selbst nicht ganz geheueren Genugtuung.

Irgendwann kam ihm die Idee, als Trauerredner zu wirken, und so dem Sterben und dem Tod näher zu kommen, nicht nur vermittelt, auf Distanz, durch die Todesanzeigen. Er las entsprechende Berufsbilder und bildete sich autodidaktisch fort. Er hatte ja schon eine breite Basis. Und er konnte zuhören und emphatisch sein. Seinen ersten Einsatz hatte er bei der Trauerfeier für einen ehemaligen Kollegen. Nachdem dieser Auftritt erfolgreich ablief, war er sich sicher, dass dies das richtige Betätigungsfeld für ihn im Ruhestand war. Allerdings musste er sich mit seinen persönlichen Ansichten sehr zurückhalten.

Für Bernd Rychel waren die Menschen unbelehrbar; Kriegsfolgen hatten sie nie davon abgehalten, weitere Kriege zu führen. Inzwischen mit modernster, effizienter Technologie – doch dahinter die alten archaischen Muster. Und die Ausplünderung des Planeten schritt ungehindert voran. Für den Planet »Erde« war die Menschheit sicher wie eine schlimme Krätze. Deshalb musste jeder Todesfall dem Planeten ein Quäntchen Erleichterung bringen. Doch die Weltbevölkerung wuchs stetig weiter und damit die Belastung für diese Welt.

Die Hinterbliebenen hatten sich auch das Paul-Gerhard-Lied »Wir sind nur Gast auf Erden« gewünscht. Beim Spazierengehen summte er die erste Strophe vor sich hin:

»Wir sind nur Gast auf Erden,

Und wandern ohne Ruh,

Mit mancherlei Beschwerden,

Der ew’gen Heimat zu!«

Ihm gefiel dieses Lied auch, doch an zwei Begriffen störte er sich, und zwar immer wieder, an »Gast« und an »Heimat«!

In seiner Vorstellung bedeutete »Gast«, dass man eingeladen wurde. Dass man folglich auch die Möglichkeit gehabt hätte, die Einladung auszuschlagen. Doch niemand ist je gefragt worden. Niemand konnte gefragt werden. Ungefragt ist jede und jeder zu Welt gekommen. Wer hätte auch antworten sollen? Vor der Befruchtung gab es nichts. Und der Zellhaufen danach kann sich auch nicht äußern. Doch dann ist es bereits zu spät. Bis man auf die hypothetische Frage »Wolltest du denn auf die Welt kommen?« antworten kann, muss man in seiner persönlichen Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten sein. Später würde die Frage dann vielleicht lauten: »Willst du auf der Welt sein oder bleiben?«.

Sollte man nicht die erste Zeile in diesem Liedtext umformulieren; wie wäre es mit:

»Vorübergehend sind wir auf Erden«

Das sind zwei Silben mehr als beim Original. Oder:

»Begrenzte Zeit sind wir auf Erden«

Auch nicht besser.

Statt »Gast« das Wort »kurz« zu nehmen, schien ihm zu dürftig. Dann wollte er es doch bei der alten Form belassen.

Der Begriff »Heimat« war für Rychel zuerst einmal ein Ort oder eine Gegend, zu dem man eine emotionale Bindung hat. Entweder aus eigener Erfahrung, weil man dort aufgewachsen ist oder aus der Schilderung seiner Eltern oder Großeltern, wie etwa bei den Heimatvertrieben.

Aber von der »ew’gen Heimat« konnte ja niemand berichten, sie ist ein reiner Sehnsuchtsort. Ist man von dort aufgebrochen bei der Geburt? Niemand hat eine Erinnerung. Niemand kann eine Erinnerung haben!

Sie ist der Ort, in dem es im Gegensatz zum oft beschriebenen »Jammertal«, der Erde, eben keine Beschwernisse, Krankheiten, Not und Bedrängnis mehr gibt. Also eigentlich das Paradies.

Doch da gibt es noch eine Hürde für die Gläubigen zu überwinden, das Fegefeuer. Rychel grinste in sich hinein, als er darüber nachdachte. Er war froh, nicht kirchengläubig zu sein. Er würde einmal diesen Umweg nicht nehmen müssen.

Bei den Gesprächen mit den Hinterbliebenen musste er darauf achten, keine religiösen Gefühle zu verletzen. Doch in der Regel kamen zu ihm, dem »Freien Trauerredner«, überwiegend Leute mit nur noch geringer oder gar keiner Kirchenbindung mehr.

Ein Begriff schien Rychel alle Veränderungen überdauert zu haben, der Begriff der Seele.

Aber auch sein Lieblingsphilosoph Arthur Schopenhauer brachte ihn hier nicht weiter. Dieser schrieb, »Die sogenannte Seele ist die Verbindung des Willens mit dem Intellekt«.

Dies aufzugreifen, würde alles verkomplizieren und seiner Absicht zuwider laufen, auf ein allgemein verbreitetes Verständnis von Seele zu bauen.

Auch die moderne Hirnforschung war für ihn nicht hilfreich, taucht doch dort der Begriff »Seele« kaum mehr auf. Forschungsgegenstand ist jetzt »Geist« oder »Gehirn«. Ihm, Rychel, war eine reduktionistische Sicht, dass alles »Geistige« auf chemisch-elektrische Prozesse zurückzuführen sei, ja selbst zu nüchtern und musste erst recht für seine Kundschaft enttäuschend sein.

Auch aus Sicht der Hinterbliebenen kam es ja weniger auf die geistige Kompetenz an, die einen Verstorbenen auszeichnete, sondern auf seinen Charakter, sein Wesen. Also die immaterielle »Essenz«, die als Seele bezeichnet wird. War er oder sie eine »Gute Seele«?

Bei seinen Spaziergängen trug Bernd Rychel – ganz altmodisch – ein Notizbuch mit sich und hielt darin seine Einfälle zum Begriff »Seele« fest. Redewendungen und zusammengesetzte Wörter.

Irgendwann stellte er diese Liste zusammen:

sich etwas von der Seele reden,

Worte, die Balsam für die Seele waren,

ein Herz und eine Seele sein,

es liegt mir auf der Seele,

du sprichst mir aus der Seele,

mit Leib und Seele dabei sein,

seine Seele dem Teufel verkaufen,

nun hat die arme Seele Ruh‘,

Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen,

darauf erpicht sein, wie der Teufel auf die arme Seele,

eine schwarze Seele haben,

Die Absicht ist die Seele der Tat,

aber auch einzelne Worte wie »seelengut«, »seelenruhig«, »unbeseelt«, »unselig«, »Seelenheil« oder »Seelsorger«.

Er wollte diese Aufzählung dahin gehend abklopfen, was für den Einsatz bei seinen Trauergesprächen geeignet wäre.

Ganz aus der Reihe fiel dabei etwas durchaus Materielles, das im süddeutschen Raum vorkommende Gebäck »Seele«. Meist ist es mit Salz und Kümmel garniert und sieht wie ein kleines Baguette aus (und schmeckt ähnlich). Wie kam diese Art von »Weißbrot« wohl zu seinem Namen, rätselte Rychel. Neben all den Semmeln, Brötchen, Schrippen, Laugen und Laugenstangen? Stellte man sich so die Form von Seelen vor: etwas über 20 Zentimeter lang, sechs bis sieben Zentimeter breit und drei hoch?

Rychel stand dem Seelenglauben sehr skeptisch gegenüber, vor allem dem der kirchlichen Ausprägung. Die Seele ist unsterblich – so lautet das Dogma. Doch wenn die Seele die personale Essenz eines Menschen ist, so muss sie sich im Laufe des Lebens erst heranbilden und ausprägen. »Reifen?«

Bei der Geburt wird jedem neuen Menschlein eine Seele »von Gott zugeteilt«. Oder eine Seele geht auf irgend einem geheimnisvollen Wege die Verbindung zu diesem Neugeborenen ein, das ja noch keine Persönlichkeit ist oder hat. Rychel legte sich das mit einem Bild aus der Chemie oder Physik zurecht: So wie sich zwei Atome gegenseitig anziehen (können), um dann gemeinsam ein Molekül zu bilden, so ziehen sich Mensch und Seele an.

(Was den Zeitpunkt anging, hielt er es für völlig unwahrscheinlich, dass diese Koppelung schon mit der Zeugung erfolgen könnte).

Es war für Bernd Rychel logisch, dass diese so verbundene Seele ein »Blanko«-Exemplar sein müsse, denn diese sollte ja im Laufe des Lebens »gefüllt« werden mit all dem, was diesen einen Menschen später ausmacht!

Rychel plagten Zweifel. (Doch von diesen Zweifeln bekamen seine Kunden nichts mit.) Da Seelen unsterblich sind, müssen sie schon vorhanden sein! Es müsste also einen unerschöpflichen Fundus an Seelen geben. Jetzt leben etwa acht Milliarden Menschen auf der Erde. Hinzu kommen die vielen, die schon früher lebten.

Die Kirchengläubigen gehen von der Weiterexistenz ihrer Seelen aus – möglichst nahe bei (ihrem) Gott, also in der »ew’gen Heimat«.

Und was passiert mit den Seelen der Ungläubigen? Werden diese recycelt? Nach einem »Reset« erneut in Umlauf gebracht? Ganz nachhaltig!

An eine für Rychel sympathischere Sicht von Seelen im Jenseits konnte er sich bei Dante erinnern. In Dante Alighieris vor etwa 700 Jahren erschienenen »Commedia« werden Seelen als sichtbare Schatten beschrieben. Man konnte sie aber nicht anfassen oder umarmen, auch wenn sie eine (ihre) Stimme besaßen. In der christlichen Lehre sind Seelen körperlos und (eigentlich) unsichtbar. Doch wie kann man etwas Unsichtbares Gläubigen vermitteln?

Rychel kamen verschiedene mittelalterliche Darstellungen von Sterbenden in den Sinn. Darin sieht man eine (kleine) menschliche Gestalt aus dem Mund des Moribunden entweichen: die Seele. Und oft streiten sich dann ein Engel und ein Teufel um diese sich vom Körper lösende Seele.

Die Ägypter haben dagegen den »Geist« des Toten als Vogel dargestellt. Bereits in den Höhlen von Lascaux, also vor circa zwanzigtausend Jahren, hat man den nicht-materiellen Teil des Menschen in Form von »Totenvögeln« veranschaulicht.

Der Stauferkaiser Friedrich der Zweite wurde für seine Naturbeobachtungen berühmt, zum Beispiel seine Aufzeichnungen über Falknerei. Von diesem Friedrich wird berichtet, dass er einen zum Tode Verurteilten in ein dichtes Fass einschließen ließ. Wie zu erwarten, erstickte der Unglückliche dort. Friedrichs Überlegung war, dass die Seele des Toten aus diesem Behältnis ja nicht entweichen konnte und folglich zu sehen sein müsste. Er ließ das Fass vorsichtig öffnen. Außer dem Toten war nichts zu entdecken. Von dem Gesuchten also keine Spur.

Bei seinen Recherchen zum Thema »Seele« stieß Rychel auch auf den amerikanischen Arzt Duncan MacDougall (1866 -1920), der Sterbende auf die Waage legte und ihr Gewicht vor und nach deren Tod ermittelte. Die Gewichtsunterschiede betrugen zwischen 8 und 35 Gramm. Das müsste dann das Gewicht der flüchtigen Seelen sein, schlussfolgerte MacDougall. Doch nachdem die Versuchsreihe nur sechs »Probanden« umfasste, gerieten seine Ergebnisse in Vergessenheit…

Teil II

Da wurde an Bernd Rychel ein ungewöhnlicher Antrag gestellt. Ob er nicht auch als Sterbebegleiter wirken könne? Ein späterer Einsatz als Trauerredner würde sich dann ja geradezu anbieten, da er den Sterbenden noch persönlich kennengelernt habe.

Der Betroffene sei 66 Jahre alt, leide an einer inzwischen unheilbaren Form von Leukämie, seine Lebenserwartung sei – optimistisch geschätzt – noch 14 Tage. Er sei Forstarbeiter gewesen und heiße Franz Kornhaas.

Rychel hatte Bedenken, ob er bei jemandem, der eine vergleichsweise einfache Arbeit ausgeübt hatte, den »richtigen Ton« treffen würde. Doch er war auch neugierig und sagte zu.

Das Zimmer im Hospiz, in dem Herr Kornhaas untergebracht war, war hell und geräumig und das Bett stand mit dem Fußende zum Fenster. Rychel räusperte sich, doch nichts geschah. Er trat zum Bett und erschrak: Ein großer und völlig abgemagerter Mann lag da im Bett, das Kopfteil erhöht. Zugedeckt mit einer leichten Decke, auf der Arme und Hände lagen. Kornhaas wandte den Kopf und sah ihn erwartungsvoll an.

»Ich heiße Bernd Rychel«, so stellte er sich vor. »Ihr Sohn meinte, ich könnte mich mit Ihnen unterhalten? Darf ich mich zu Ihnen setzen?

Rychel wartete, und es kam ihm sehr lange vor, bis Herr Kornhaas nickte. Rychel zog einen Stuhl heran, setzte sich und verharrte so.

Dann sprach Herr Kornhaas mit leiser Stimme: »So, mein Sohn hat Sie also geschickt? Sind Sie denn Pfarrer?«

»Geschickt? Das trifft es nicht. Da ich im Ruhestand bin, habe ich viel Zeit. Und Ihr Sohn hat dies mitbekommen und wohl gemeint, es wäre eine Abwechslung für Sie. Ich bin kein Pfarrer; ich war Lehrer.«

»Mir ist nicht langweilig! Mir war nie langweilig!« und nach einer Pause: »Ich war oft alleine in meinem Wald und habe nichts vermisst! Was haben Sie unterrichtet? Naturkunde? Biologie?«

Rychel schüttelte den Kopf: »Nein, nicht Bio – Deutsch und Ethik!«

»Schade!«

»Aber vielleicht wollen Sie sich ja nicht über Gehölze mit mir unterhalten, sondern über die knappe Zeit, die Ihnen noch bleibt«, entgegnete Rychel.

Kornhaas lachte heiser: »Also doch Pfarrer! Ich habe nichts zu beichten. Ich bin mit mir im Reinen! Es gibt für mich nichts mehr zu klären. Die Person, die ich vernachlässigt habe, die zu kurz gekommen ist, da kann ich nichts mehr gut machen. Die ist schon lange tot, Else, meine Frau!

In meiner Freizeit war ich viel, sehr viel mit meinen Feuerwehrkameraden unterwegs – und wenig zu Hause.«

Kornhaas holte ziehend Luft.

»Und mit meinen beiden Kindern gibt es auch nichts zu klären! Sie erben das Häuschen je zur Hälfte. Aber ich bin ihnen dankbar, dass ich hier sein kann. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass das alles die Krankenkasse zahlt! Schönes Zimmer, sehr freundliche Leute. Gutes Essen, von dem ich kaum etwas zu mir nehmen kann. Wirklich wie im Urlaub!«

Kornhaas machte eine Pause. »Es geht mir gut. Ziemlich gut sogar!«

Er hielt wieder inne, dann: »Keine Schmerzen. Nur müde – immer müde! Vom Nichtstun müde! Ich verstehe das nicht. Ich werde noch mein Sterben verschlafen. Dabei will ich doch wissen, wie es ist, das mit dem Sterben! Wissen Sie, wie das ist? Herr… Herr… Entschuldigung, ich hab‘ Ihren Namen vergessen!«

»Das macht nichts«, entgegnete Rychel, »mein Name ist auch nicht so geläufig. Rychel heiße ich! Er hielt inne.

»Ich glaube, jede oder jeder stirbt anders. Es ist immer ein ganz persönlicher Vorgang. Haben Sie denn eine bestimmte Erwartung, Herr Kornhaas?«