Als das Dorf noch Zukunft war - Katja Bruisch - E-Book

Als das Dorf noch Zukunft war E-Book

Katja Bruisch

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Beschreibung

Gab es für das russische Dorf am Beginn des 20. Jahrhunderts eine Zukunft jenseits von Kollektivierung, Hunger und Gewalt? Anhand einer Gruppe einflussreicher Agrarexperten untersucht diese Studie das Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Sie beleuchtet, wann und unter welchen Bedingungen es den Experten gelang, ihre Vision einer ländlichen Moderne zum Leitbild staat­licher Agrarpolitik zu machen, und warum sie letztlich scheiterten. Die Arbeit belegt die Heterogenität moderner Programmatik in Russland und trägt dazu bei, das Verhältnis von Expertise und Ideologie im 20. Jahrhundert zu verstehen.

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Seitenzahl: 750

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS

BEGRÜNDET VONDIETRICH GEYER UND HANS ROOS

HERAUSGEGEBEN VONJÖRG BABEROWSKIKLAUS GESTWAMANFRED HILDERMEIERJOACHIM VON PUTTKAMER

BAND 47

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie der Göttinger Graduiertenschule für Geisteswissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung:

„Bauerngespräche“ an der Moskauer Landwirtschaftlichen Akademie (erstes Drittel des 20. Jahrhunderts), Historisches Museum der Timirjazev-Landwirtschaftsakademie Moskau

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb

der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal

Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

ISBN 978-3-412-22385-4 (Print)

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics, GriesheimISBN dieses eBooks: 978-3-412-21823-2

INHALT

ZUR REIHE

DANKSAGUNG

EINFÜHRUNG

1.  „ … DASS DIE ZUKUNFT UNS GEHÖRT“ – WISSENSCHAFT, ÖFFENTLICHKEIT UND POLITIK IM SPÄTEN ZARENREICH

1.1  Die Entdeckung der Bauern

1.1.1  Die blinden Flecken der Agrarwissenschaft

1.1.2  Die bäuerliche Landwirtschaft als heuristisches Konzept

1.1.3  Agrarfrage und sozialer Wandel

1.2  Agrarismus als wissenschaftliches Paradigma

1.2.1  Die Wende zur Sozialwissenschaft

1.2.2  Der Mythos von der „werktätigen Bauernwirtschaft“

1.2.3  Genossenschaftsdiskurs und Gesellschaftskritik

1.3  Agrarismus als gesellschaftliche Bewegung

1.3.1  Die Mission der Agronomen

1.3.2  Strategien der professionellen und sozialen Vernetzung

1.3.3  Agrarismus als politisches Programm

2.  „BÜRGERPFLICHT“ UND „RETTUNG RUSSLANDS“ – AGRAREXPERTEN IN WELT- UND BÜRGERKRIEG

2.1  Aufstieg zur Expertenelite

2.1.1  Der parastaatliche Komplex als Karriereoption

2.1.2  Agrarismus als staatliche Ideologie

2.1.3  Die politische Mobilisierung des Agrarismus

2.2  Das Ende der Gewissheit

2.2.1  Inkorporation in die sowjetische Öffentlichkeit

2.2.2  Arrangements mit den Bolschewiki

2.2.3  Kollektive Irritation: der Bürgerkrieg

2.3  Grenzen der Verständigung

2.3.1  Die politische Ökonomie des Sozialismus

2.3.2  Der Hunger und die letzte Mobilisierung der obščestvennost’

2.3.3  Konkurrenz um die öffentliche Deutungsmacht

3.  „25 JAHRE MIT DEM GESICHT ZUM DORFE“ – VORREVOLUTIONÄRE EXPERTEN UNTER DEN BOLSCHEWIKI

3.1  Die Verstaatlichung des Agrarismus

3.1.1  Karriere und Patronage

3.1.2  Nationalisierung von Wissenschaft und Bildung

3.1.3  Expertise international

3.2  Agrarismus und sozialistisches Credo

3.2.1  Déjà-vu: die Neue Ökonomische Politik

3.2.2  Die Ordnung der Zukunft

3.2.3  „Bürgerliche Spezialisten“ und bolschewistischer Antiintellektualismus

3.3  „An der Agrarfront“

3.3.1  Die marxistische Wende der Agrarökonomie

3.3.2  Die Marginalisierung der alten Eliten

3.3.3  Stalins Verdikt

4.  „ … DER SCHWERE WAGEN DER GESCHICHTE“ – KONTEXTE DES ERINNERNS UND VERGESSENS

4.1  Agrarexperten in der Emigration

4.1.1  Sehnsucht nach der „Welt von gestern“

4.1.2  Divergierende Horizonte

4.1.3  Neue Wege

4.2  Ausgrenzung und Vereinzelung in der Sowjetunion

4.2.1  Stigmatisierte Experten

4.2.2  Physische Vernichtung und öffentliches Schweigen

4.2.3  Einsame Ankunft im Sozialismus

4.3  Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption

4.3.1  Čajanov und die Krise der Modernisierungstheorie

4.3.2  Die Neuvermessung des sowjetischen Dorfes

4.3.3  krest’janovedenie: Agrarismus im postsozialistischen Russland

5.  „UNSERE DÖRFER … BESSER ALS EINE WÜSTE“ – SCHLUSSBETRACHTUNG

6.  ANHANG

6.1  Kurzbiographien

6.2  Abkürzungsverzeichnis

6.3  Glossar

7.  QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

7.1  Quellen

7.1.1  Archivmaterialien

7.1.2  Quelleneditionen

7.1.3  Publizierte Quellen

7.2  Sekundärliteratur

7.3  Abbildungsnachweis

8.  PERSONENREGISTER

ZUR REIHE

Die Beiträge für Geschichte Osteuropas erscheinen fortan in einem neuen Layout. Zwanzig Jahre nach der letzten Veränderung und nach einem partiellen Generationswechsel halten die Herausgeber eine solche Auffrischung für angezeigt. Sie verbinden die äußere Kur mit einer inhaltlichen Neuausrichtung. Ohne den bisherigen Schwerpunkt aufzugeben, der auf der russisch-sowjetischen Geschichte lag, möchten sie die Beiträge stärker sowohl zur ostmitteleuropäischen als auch zur ‚allgemeinen‘, westeuropäischen Geschichte öffnen. Die Reihe soll weiterhin vor allem Monographien aufnehmen, dabei aber Osteuropa – in Anknüpfung an ihre Anfänge – wieder breiter verstehen und vergleichenden Perspektiven gebührenden Raum geben. Sie trägt damit einer ebenso aktuellen wie alten Einsicht Rechnung: dass der Blick in die Tiefe zur klarsten Erkenntnis führt, wenn er in ein breites Sichtfeld eingebettet bleibt. Gerade in diesem Sinn soll die Reihe weiterhin sichern, wofür sie bislang zu stehen versucht hat: ein hohes Niveau an akribischer und zugleich reflektierter Forschung. [<<9||11>>]

DANKSAGUNG

Mein besonderer Dank gilt Manfred Hildermeier, dem Betreuer meiner Dissertation, der meine Arbeit von Anfang an mit viel Interesse und Wohlwollen unterstützt und mich mit der Versicherung, der rote Faden werde sich mit der Zeit schon zeigen, immer wieder motiviert hat. Dass aus den einzelnen Gedankensträngen ein zusammenhängender Text entstand, haben viele Menschen und Institutionen möglich gemacht. Das DFG-Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“ an der Georg-August-Universität Göttingen hat mich in den ersten beiden Jahren der Promotion mit einem Stipendium gefördert. Hier erhielt ich auch wichtige methodische Anregungen sowie hervorragende Arbeitsbedingungen. Das Deutsche Historische Institut in Moskau finanzierte im Frühjahr 2009 einen dreimonatigen Archivaufenthalt und war damals eine wichtige Anlaufstelle bei alle größeren und kleineren Moskauer Sorgen. Dass ich meine Dissertation als Mitarbeiterin des DHI fertig stellen konnte, erwies sich als ein großes Glück. Als Direktor des Instituts hat Nikolaus Katzer in der Abschlussphase die nötigen Freiräume gewährt. Meine Kollegen Sandra Dahlke, Lorenz Erren, Ingrid Schierle und Denis Sdvižkov haben Teile der Arbeit gelesen und mit geistreichen Kommentaren versehen. Sie waren und sind mir auch in vielen anderen Fragen wichtige Ansprechpartner. Hilfreiche Anmerkungen zum Manuskript erhielt ich ebenfalls von den Mitgliedern meiner Promotionskommission Lutz Häfner und Michael Kopsidis. Michael Kopsidis hat es außerdem möglich gemacht, dass ich mich Ende 2012 am IAMO in Halle/Saale für zwei Wochen ganz in die Fertigstellung des Manuskripts vertiefen konnte. Danken möchte ich auch David Feest, Jörn Happel, Julia Herzberg, Ulrike Huhn und Julia Metger. Auf den verschiedenen Etappen sind mir ihre elektronischen Literaturlieferungen, die aufmerksame Lektüre von einzelnen Teilen oder des gesamten Texts, Humor und Durchhalteparolen eine große Hilfe gewesen. Julia Metger nahm darüber hinaus meine zahllosen Anrufe aus Moskau entgegen. Elena Kalinina und Tat’jana Savinova von der Abteilung für persönliche Nachlässe des RGAĖ waren nicht nur immer geduldig und hilfsbereit, wenn ich mich mit dem Entziffern einzelner Dokumente schwertat. Sie haben mir auch so manchen Archivtag mit Tee und Konfekt versüßt. Meine Moskauer Gesprächspartner Sergej Alymov, Igor’ Kuznecov und Aleksandr Nikulin machten mich auf verschiedene Aspekte des Themas aufmerksam, ohne die dieses Buch wohl um einige Nuancen ärmer wäre. Kurz vor der Drucklegung half Stanislav Veličko vom Historischen Museum der Timirjazev-Akademie in Moskau mit der unbürokratischen Genehmigung zur Veröffentlichung von Fotografien aus den Museumsbeständen. Meiner Mutter und ihren Tomatenpflanzen widme ich dieses Buch. [<<11||13>>]

EINFÜHRUNG

Im Jahr 1925 erschien unter dem Titel „Bauerngespräche“ (krest’janskie besedy) in Moskau eine kleine Broschüre. Gedacht war sie für die Vorbereitung von Veranstaltungen, bei denen ausgewiesene Landwirtschaftsspezialisten den Bauern nahe bringen sollten, wie diese ihre landwirtschaftlichen Erträge steigern konnten, indem sie etwa die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Fruchtfolgesysteme bedachten, Düngemittel einsetzten oder moderne Gerätschaften benutzten. Neben Ratschlägen zum inhaltlichen Aufbau solcher Schulungen beinhaltete das kleine Heftchen ein Plädoyer dafür, einen Dialog zwischen Bauern und Experten in Gang zu setzen. Nur eine Verbindung von Theorie und Praxis, wissenschaftlicher Erkenntnis und tradiertem Erfahrungswissen könnte zum landwirtschaftlichen Erfolg führen:

„1. Das bäuerliche Publikum besitzt einen großen Vorrat an Wissen und praktischer Erfahrung, der häufig die Kenntnisse des Lektors übersteigt. 2. Der Lektor verfügt seinerseits über Kenntnisse, die für die Bauern von Nutzen sind, sowie über die Fähigkeit, schwierige landwirtschaftliche Fragen zu klären. 3. Die Aufgabe der Bauerngespräche besteht darin, diese beiden Wissensquellen – die praktische Erfahrung und den theoretischen Gedanken – miteinander zu verbinden […].“1

A. G. Dojarenko (1874 – 1958), der Verfasser des Leitfadens, zählte zu den angesehensten Agrarexperten seines Landes. Er leitete die landwirtschaftliche Versuchsstation der Landwirtschaftlichen Timirjazev-Akademie in Moskau, wo er zugleich eine Professur für Allgemeine Landwirtschaftslehre innehatte.2 Daneben war Dojarenko ein gefragter Berater im russischen Volkskommissariat für Landwirtschaft, der Schaltstelle staatlicher Agrarpolitik während der 1920er Jahre.

Der berufliche Werdegang des Agrarwissenschaftlers ist symptomatisch für die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion, die im Zentrum dieser Untersuchung [<<13||14>>] stehen. Zur Beschäftigung mit der Landwirtschaft gelangte Dojarenko über Umwege.3 Wie viele seiner Zeitgenossen hatte der Sohn eines Dienstmädchens zunächst von einer Karriere als Ingenieur geträumt.4 Nach einem missglückten Versuch, sich am Petersburger Institut für Verkehrswesen zu immatrikulieren, hatte er Naturwissenschaften und Recht an der Petersburger Universität studiert und eine Meisterklasse in Kompositionslehre unter der Leitung des berühmten Komponisten N. A. Rimskij-Korsakov absolviert. Im Jahr 1898 begann Dojarenko dann ein Studium der Agronomie am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut. Fortan stand die Landwirtschaft im Zentrum seiner professionellen Tätigkeit. Nachdem er im Anschluss an das Studium einige Jahre als Wissenschaftler tätig gewesen war, übernahm er während des Ersten Weltkrieges Funktionen in mehreren von der Regierung einberufenen Gremien zur Sicherstellung der Lebensmittelversorgung. Nach der Februarrevolution gehörte der Agrarwissenschaftler verschiedenen Expertenkommissionen an, die im Auftrag der Provisorischen Regierung eine Bodenreform ausarbeiteten. Neben seiner Tätigkeit als Professor beriet er die Bolschewiki in den 1920er Jahren in Fragen des landwirtschaftlichen Versuchswesens und arbeitete in der Planungsabteilung des Volkskommissariats für Landwirtschaft. Dojarenko war Teil der sowjetischen Bürokratie.

Unter seinen Zeitgenossen war Dojarenko vor allem als Pädagoge und Organisator landwirtschaftlicher Beratungsprogramme bekannt. Das Anliegen, landwirtschaftliche Praxis und theoretisches Wissen miteinander zu verbinden, zog sich wie ein roter Faden durch seine professionelle Biographie. Er war aktiv in die Popularisierung von Wissen involviert, dem sich Vereine, gelehrte Gesellschaften, nichtstaatliche Bildungseinrichtungen, Museen und berufliche Interessenverbänden im ausgehenden Zarenreich widmeten.5 So unterrichtete Dojarenko nicht nur am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut, sondern auch an den auf private Initiative gegründeten Golicynschen Landwirtschaftlichen Kursen für Frauen und der Moskauer Städtischen Volkshochschule. Über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten war Dojarenko außerdem Herausgeber des „Landwirtschaftsboten“ (Vestnik sel’skogo chozjajstva), einer der führenden Agrarzeitschriften des Landes, die nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch praktisch tätigen Agronomen, Genossenschaftsvertretern, Landvermessern und Ökonomen in der Provinz als Informations- und Kommunikationsplattform diente. Zu besonderer Popularität verhalfen ihm seine Bemühungen um [<<14||15>>] einen direkten Austausch zwischen Wissenschaftlern und Bauern. Als langjähriges Mitglied der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft (Moskovskoe obščestvo sel’skogo chozjajstva) und der Gesellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Volk (Obščestvo rasprostranenija sel’skochozjajstvennych znanij v narode) richtete Dojarenko Schulungen für die landwirtschaftlich tätige Bevölkerung aus, die er bis in die späten 1920er Jahre fortführte. Bereits 1921 sah er sich in seinem Anliegen, Bauern und Experten zur Kooperation anzuregen, bestätigt. Die Angebote der Agronomen würden auf dem Dorf in Anspruch genommen und bereitwillig umgesetzt: So sei das schon vor der Revolution gewesen.6

A. G. Dojarenko (1912)

Dojarenkos Wertschätzung bäuerlichen Erfahrungswissens und sein Vertrauen in die Modernisierungsbereitschaft der Bauern waren keine Selbstverständlichkeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Modernisierung des ländlichen Raums [<<15||16>>] eines der bedeutendsten Themen auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda Russlands. Nicht wenige Zeitgenossen glaubten, die Bauern seien der Grund für den ökonomischen Entwicklungsrückstand, den sie beim Vergleich Russlands mit den Ländern Westeuropas oder den USA feststellten. Für die Vertreter der politischen und gesellschaftlichen Eliten war der Verweis auf die Rückständigkeit der ländlichen Bevölkerung ein Modus der kulturellen Selbstverständigung.7 In Ivan Bunins Erzählung „Das Dorf“ (1909/10) wettert Tichon, einer der Hauptprotagonisten, im Alkoholrausch: „Sie pflügen schon tausend Jahre, ach was, mehr! Aber vernünftig pflügen, das versteht nicht einer! Ihre einzige Arbeit verstehen sie nicht! Wissen nicht, wann sie aufs Feld sollen! Wann sie säen sollen, wann mähen! ‚Wir machen’s wie alle‘, das ist ihre ganze Weisheit.“8 Maksim Gor’kij teilte die Auffassung, die russischen Bauern seien unwissend und traditionsverhaftet. 1922, also nur ein Jahr, nachdem sich Dojarenko so positiv über den Innovationswillen der Bauern geäußert hatte, zeichnete der Schriftsteller ein düsteres Bild: „Wer im Leben des Dorfes etwas Eigenes, Neues einführen will, dem tritt es mit Mißtrauen und Feindseligkeit entgegen, zermürbt ihn rasch oder stößt ihn hinaus.“9 Die tiefe Abneigung führender Bolschewiki gegenüber dem Dorf wurde am Ende der 1920er Jahre schließlich zu einem entscheidenden Beweggrund für die gewaltsame Auflösung der bäuerlichen Agrarordnung. Mit der Kollektivierung sollten die Traditionen des ländlichen Russlands ausgelöscht und die ländlichen Regionen nach den Vorstellungen der Revolutionäre geordnet werden.10

Mit seinem Glauben an die Entwicklungsfähigkeit des Dorfes stand Dojarenko jedoch keineswegs allein. Agronomen, Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler prognostizierten am Beginn des 20. Jahrhundert einen dynamischen Aufschwung der bäuerlichen Landwirtschaft. Zwar rekurrierten auch sie auf das seit dem späten 18. Jahrhundert in Russland verbreitete Denken in Kategorien des Fortschritts und der Rückständigkeit.11 Das Unbehagen, das manche ihrer Zeitgenossen gegenüber der ländlichen Bevölkerung verspürten, war ihnen jedoch fremd. Vielmehr folgte ihre Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft der Leitidee, die Bauern seien die entscheidenden Protagonisten ländlicher Entwicklung. 1906 nannte der Kiever Ökonom V. A. Kosinskij die Bauernwirtschaft eine [<<16||17>>] „lebensfähige, starke und zur Entwicklung fähige Wirtschaftsform“, die Krisen mitunter besser gewachsen sei als landwirtschaftliche Großbetriebe.12 Für den Moskauer Wirtschaftswissenschaftler N. P. Makarov stellte Kosinskijs Auffassung 1920 bereits eine Gewissheit dar. Mit seinen Forschungen, so Makarov in der Einleitung einer Monographie über die Ökonomie des russischen Dorfes, habe er sich „jenen Stimmen anschließen [wollen], die sagten, dass die Bauernwirtschaft nicht nur fortschrittsfähig ist, sondern tatsächlich Fortschritte macht“.13 Der Ökonom verbarg nicht, dass er seine Arbeit als offene Stellungnahme in der Debatte über die soziale und ökonomische Rolle der ländlichen Bevölkerung betrachtete, die die Gemüter von Politikern, Wissenschaftlern und Intellektuellen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erhitzte. Sein Buch, verfasst in einer schmucklosen Sprache, voll von Tabellen und Zahlen, war ein Bekenntnis zur Lebens- und Wirtschaftsweise der Bauern: „[…] das bäuerliche Russland braucht seine eigene, intakte bäuerliche Ideologie.“14

Der Wunsch nach einer Integration bäuerlicher Traditionen in ein Entwicklungsprogramm für das Dorf war beileibe kein Spezifikum des Zarenreichs. Er war vielmehr eine Variante der Ideologie des Agrarismus – ein intellektueller Gegenentwurf, mit dem Politiker, Wissenschaftler, Bauernverbände, Genossenschaftsvertreter, Schriftsteller und Maler in vielen Teilen der Welt auf die sich abzeichnende Überwindung der traditionellen Agrargesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert reagierten und in dem sie ihr Unbehagen am rasanten Wachstum von Industrie und Städten ausdrückten.15 Im Zentrum des Agrarismus stand die Idee von der zentralen Rolle der Landwirtschaft in der ökonomischen Wertschöpfung. Diese ging einher mit der Überzeugung von der Höher- bzw. Gleichwertigkeit ländlicher gegenüber städtischen Lebensformen und einer grundlegenden Sympathie für die bäuerliche Familienwirtschaft als kleinste Einheit ländlicher Wirtschaft und Gesellschaft.16 Ideologisch bewegte sich der Agrarismus zwischen zwei Polen: dem konservativ-agrarromantischen Mythos einer untergegangenen ländlichen Gesellschaft auf der einen und der Vision einer Agrarmoderne mit hochspezialisierten Familienbetrieben, einflussreichen landwirtschaftlichen Interessenverbänden, neuester Technologie und funktionsfähigen Märkten für Agrarprodukte auf der anderen Seite.17 Im Fall von Wissenschaftlern wie Dojarenko war der Agrarismus ein „alternativer Modernisierungsdiskurs“18. Seine Anhänger [<<17||18>>] thematisierten die Bauern als Träger von Fortschritt und Wandel und entwarfen eine Agenda zur gleichberechtigten Integration der ländlichen Bevölkerung in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Wissenschaft und gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch gingen in der Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Landwirtschaft Hand in Hand: Das Dorf wurde zum Angelpunkt der Zukunft.

Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Agrarpolitik

Die Etablierung des Agrarismus fiel in eine Zeit, in der die Landwirtschaft und die ländliche Bevölkerung des Zarenreichs in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten. Nach der schweren Hungersnot von 1891/92, die Hundertausenden Menschen das Leben kostete und weite Teile der ländlichen Bevölkerung in den betroffenen Gebieten von Nahrungsmittelhilfen abhängig machte,19 wurde die Modernisierung des ländlichen Russlands zu einem allseits diskutierten Thema. Die seit der Rezeption der Aufklärung unter Naturforschern und Gutsbesitzern verbreitete Auffassung, dass die Entwicklung der Landwirtschaft durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Kenntnisse und planvolles Handeln gesteuert werden müsse, wurde zu einem Konsens, den Vertreter der staatlichen Bürokratie ebenso teilten wie eine stetig an Bedeutung gewinnende gesellschaftliche Öffentlichkeit. An den agrarwissenschaftlichen Instituten und Fakultäten des Lands ging die Zahl der Studienbewerber regelmäßig über die vorhandenen Studienplätze hinaus. Die Auflagen von Zeitschriften und populärwissenschaftlicher Publikationen mit landwirtschaftlichem Fokus nahmen stetig zu.20 Zugleich trat der Zentralstaat immer prominenter als Regulierungsinstanz des Wirtschafts- und Soziallebens auf dem Lande in Erscheinung. Im späten 19. Jahrhundert unternahmen zunächst das Innen- und das Finanzministerium zahlreiche Maßnahmen, um das Dorf in die administrativen Hierarchien des Reichs und die bäuerliche Landwirtschaft in die nationale Ökonomie zu integrieren. Mit der 1894 zum Abschluss gebrachten Umbildung des Agrarministeriums entstanden dann die institutionellen Voraussetzungen für eine interventionistische Agrarpolitik. Fortan war die Landwirtschaft ein reguläres Feld staatlicher Wirtschaftsförderung.21

[<<18||19>>] Für Vertreter landwirtschaftsbezogener Disziplinen bedeutete das wachsende öffentliche Interesse an den ländlichen Regionen des Reichs einen Zugewinn an gesellschaftlicher Autorität und beruflichen Perspektiven. Mit der an Einfluss gewinnenden Idee, die Entwicklung des ländlichen Raumes lasse sich durch politische, ökonomische und legislative Maßnahmen sowie die Verbreitung von Bildung und Technik steuern, wurde das Wissen über das Dorf und seine Ökonomie zu einer verwaltungstechnischen und politischen Ressource. Absolventen der Agrarwissenschaft und der Politischen Ökonomie, Statistiker, Veterinärmediziner und Landvermesser fanden in den ländlichen Selbstverwaltungsorganen (sing.: zemstvo), Genossenschaften und Hochschulen des Zarenreichs ein sich dynamisch entwickelndes Tätigkeitsfeld.22 Auch in den Organen des Zentralstaats nahm die Nachfrage nach Landwirtschaftsspezialisten seit dem späten 19. Jahrhundert deutlich zu. Wie in anderen Bereichen der zentralstaatlichen Bürokratie ging die Wende zum agrarpolitischen Interventionismus mit dem Aufstieg von Fachleuten in den Staatsdienst einher. Personen mit einer agrarwissenschaftlichen bzw. landwirtschaftsbezogenen wissenschaftlichen Qualifikation boten sich nun Karrieren in der staatlichen Administration.23 Der Glaube an die Gestaltbarkeit ländlicher Entwicklung wurde somit zu einem Faktor sozialer Mobilität.

Der Bedeutungszuwachs von Agrarexperten spiegelte nicht nur die zunehmende Professionalisierung der russischen Verwaltungskultur, sondern auch die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“24 im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Die Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft wurde nicht nur als ein technisches, sondern auch als ein soziales Problem diskutiert. Die Agrarspezialisten beschäftigten sich ausgiebig mit der Beschaffung von landwirtschaftlichem Gerät, der Klassifizierung landwirtschaftlicher Böden oder der Herstellung von Saatgut. Den Fragen, unter welchen Bedingungen die ländliche Bevölkerung effektivere landwirtschaftliche Verfahren anwenden würde oder welche Anreize ökonomischer oder rechtlicher Art sie zur Ausweitung ihrer Produktion bewegen könnten, schenkte ein bedeutender Teil von ihnen jedoch mindestens ebenso große Beachtung. Die Debatte über die Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft war somit eine Auseinandersetzung über die Regulierung sozialer Beziehungen und als solche Teil eines breiten Diskurses über die Schaffung einer besseren Gesellschaft.25[<<19||20>>]

Agrarexperten im kollektiven Porträt: Perspektiven einer Ideen-, Sozial- und Politikgeschichte des russischen Agrarismus

Die Biographie Dojarenkos ist ein geradezu mustergültiges Beispiel dafür, wie die Landwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückte und landwirtschaftsbezogenes Wissen zu einer Ressource für sozialen Aufstieg wurde. Dojarenko gehörte einer Elite aus Wissenschaftlern, Genossenschaftsaktivisten, Publizisten und Intellektuellen an, die sich erfolgreich als Experten profilierten und die Vision einer von Bauern getragenen Agrarmodernisierung zu einem Gegenstand der staatlichen Agrarpolitik machten. Doch wie erlangten die Anhänger des Agrarismus die Autorität von Experten, deren Wissen als Ressource erfolgreicher Agrarpolitik in Anspruch genommen wurde? Wie erklärt es sich, dass ihre beruflichen Karrieren von der politischen Zäsur des Jahres 1917 scheinbar so wenig beeinflusst wurden? Wie vereinbarten die Vertreter dieser Elite die Idee einer bäuerlichen Agrarmodernisierung mit dem technokratisch-etatistischen Modernisierungsmodell zarischer Beamter und bolschewistischer Funktionäre, die die Bauern als Objekte einer notfalls gewaltsam durchzusetzenden Zivilisierungsmission betrachteten?26

Meine Untersuchung zielt auf eine Ideen-, Sozial- und Politikgeschichte des russischen Agrarismus im frühen 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen jene Personen, die den Agrarismus als wissenschaftliches Paradigma, gesellschaftliche Bewegung und politisches Programm konstituierten und damit zu einer öffentlichen Angelegenheit machten. Ich porträtiere die Vertreter dieser Elite im Rahmen einer kollektiven Biographie und untersuche ihre Karrieren im Bildungs- und Hochschulwesen, ihren Beitrag zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ auf dem Feld der Agrarpolitik sowie ihre Rolle als politische Akteure mit einem eigenen politischen Programm. Auch wenn die Berufswege und mitunter sogar die persönlichen Biographien der hier im Zentrum stehenden Personen einander in zum Teil frappierendem Maße gleichen, zielt meine Untersuchung nicht auf die Konstruktion einer Normalbiographie. Vielmehr geht es mir um eine Verbindung von Struktur- und Akteursgeschichte.27 Dabei möchte ich am Beispiel einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe den gesellschaftlichen oder politischen Wandel im Russland des frühen 20. Jahrhundert sichtbar machen. Zugleich untersuche ich die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster führender Vertreter des Agrarismus [<<20||21>>] sowie die sich verändernden Räume, Formen und Inhalte ihrer Interaktion. Dies soll dazu beitragen, die Agrarexperten in ihrer Zeit verorten, ohne ihre Position als individuelle Akteure oder Angehörige einer gesellschaftlichen Elite aus dem Blick zu verlieren.28

Das gruppenbiographische Porträt erleichtert es zugleich, den Agrarismus als eine politische Kraft zu verstehen. Auch wenn der Agrarismus in Russland nicht in Gestalt einer politischen Partei auftrat,29 beschränkte sich seine Reichweite nicht auf wissenschaftliche Abhandlungen, Datensammlungen oder ökonomische Modelle. Sowohl in der späten Zarenzeit als auch nach der Revolution waren seine Anhänger in eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Zukunft Russlands involviert. Die Hoffnung auf eine von der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung getragene Modernisierung des ländlichen Raums behinhaltete eine Stellungnahme zugunsten der gesellschaftlichen und politischen Gleichstellung der Bauern. Betrachtet man Kommunikation als ‚politisch‘, „wenn sie sich auf Belange eines „großen Ganzen“ [bezieht], das heißt auf Breitenwirksamkeit, Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit zielt oder in diesem Sinne gedeutet [wird]“30, lassen sich sowohl die öffentliche Verständigung über die Zukunft des Dorfes wie auch die verschiedenen Bestrebungen zur Multiplikation und Institutionalisierung des Agrarismus als Akte politischer Kommunikation verstehen. Die vorliegende Arbeit beleuchtet, wie die Anhänger des Agrarismus im Rahmen von Hochschulen, auf Genossenschaftskongressen, in der Publizistik sowie in politischen Beratungsgremien ihre Vision eines künftigen Dorfes zur Sprache brachten und auf diese Weise Teilhabe an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einforderten. Sie leistet damit einen Beitrag zu einer Geschichte des Politischen im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion, die sich nicht an der Dichotomie von Staat und Gesellschaft orientiert, sondern Politik als einen prinzipiell offenen kommunikativen Aushandlungsprozess begreift.31

Meiner Untersuchung liegt ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Expertise zu Grunde. Expertise ist demnach keine objektiv feststellbare Tatsache, sondern das Ergebnis sozialer Interaktion: Selbst einzigartige Fertigkeiten oder Kenntnisse werden erst dann zur Expertise, wenn ihnen eine handlungsrelevante Bedeutung zugeschrieben wird und sie entsprechend nachgefragt werden. Experten lassen sich daher als „Personen [verstehen], von denen angenommen wird, dass sie aufgrund [<<21||22>>] ihres routinemäßigen Umgangs mit bestimmten Themen Erfahrungen in relevanten Handlungskontexten gesammelt haben und daher Vertrauen sowie gesellschaftliches Ansehen genießen“32. Ob sich Personen oder Gruppen als Experten etablieren können, hängt wiederum davon ab, ob sie andere von ihrer Fähigkeit zur Lösung von Problemen überzeugen können bzw. ob ihre Fähigkeiten und ihr Wissen von Entscheidungsträgern als Ressource wahrgenommen und in Anspruch genommen werden.33 Ebenso wenig wie das Ansehen oder die Autorität stellt jedoch auch die Anerkennung einer Person als Experte einen unveränderlichen Sachbestand dar. Entsprechend begreife ich den Expertenstatus von Wissenschaftlern wie Dojarenko als Gegenstand eines fortwährenden Verständigungssprozesses über die Rolle wissenschaftlichen Wissens und die Verteilung von Entscheidungskompetenzen bei der Lösung der Agrarfrage.

Im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen die Interdependenzen zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Diese betrachte ich nicht als feststehende, klar voneinander abgrenzbare Systeme, sondern als ineinander verschränkte kommunikative Räume, auf deren Standards, Werte und Hierarchien die Vertreter des Agrarismus mitunter selbst einwirken konnten. Ausgehend von dem Plädoyer zur „Historisierung der Wissensgesellschaft“34 möchte ich das Verhältnis zwischen dem Agrarismus als einer spezifischen Form des Wissens über die ländliche Ökonomie und der gesellschaftlichen und politischen Umgebung aufzeigen, in die er eingebettet war. Zugleich gehe ich der Frage nach, ob und in welchem Maße der Agrarismus als „gesellschaftliche Gestaltungskraft“35 wirksam wurde bzw. ob und wenn ja wie es seinen Anhängern gelang, relevante Entscheidungsträger für die Agenda der ländlichen Moderne zu mobilisieren. Meine Untersuchung verfolgt damit das in Bezug auf den ostmitteleuropäischen Raum formulierte, für den russischen Kontext aber nicht minder relevante Anliegen, den Agrarismus mit Blick auf seine Träger, Interessen und Institutionen zu untersuchen,36 um so zu Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen Ideen und sozialer Ordnung zu gelangen. [<<22||23>>]

Ländliche Moderne als analytische Kategorie

Im späten Zarenreich war die Beschäftigung mit den Bauern Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung über das Wesen und Schicksal Russlands. Die unterschiedlichen Bilder, die sich die Eliten von den Bauern machten, zeigten an, wie sie sich die Zukunft ihres Landes vorstellten.37 Dies galt auch für die Vertreter der Agrarwissenschaften und ihrer Nachbardisziplinen, die die bäuerliche Ökonomie in das Zentrum ihres Interesses rückten. Anders, als wiederholt angenommen wurde, ging es Wissenschaftlern wie Dojarenko, Makarov oder Kosinskij nicht darum, „[…] eine idealisierte bäuerliche Welt vor der als rationalistisch empfundenen Moderne zu schützen“38. Vielmehr banden sie die ländliche Bevölkerung und die Traditionen der bäuerlichen Landwirtschaft in den Entwurf eines ökonomisch und technologisch fortschrittlichen Russlands ein. Die Agenda des Agrarismus resultierte aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Transformation ländlicher Lebenswelten im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung, die die Wissenschaftler nicht nur aus Berichten über den Westen Europas oder Amerika kannten, sondern zunehmend auch in Russland beobachteten. Im Unterschied zu den meisten ihrer Zeitgenossen, die Fortschritt und Entwicklung mit der Ausweitung der Industrieproduktion und einer abnehmenden Bedeutung der Landwirtschaft in Verbindung brachten, formulierten sie ein Programm, dessen Fokus nicht auf dem Wachstum der Städte lag, sondern die Entwicklung des Dorfes zur Maxime erhob. Agrarentwicklung galt dabei nicht als Voraussetzung einer wie auch immer gearteten urbanen Moderne. Sie war vielmehr Inbegriff einer Entwicklungsstrategie, die auf eine andere, eine ländliche Moderne zulief.

Der Begriff der ländlichen Moderne bezieht sich in den folgenden Ausführungen nicht auf einen spezifischen Entwicklungsstand ländlicher Regionen. Ich verwende ihn vielmehr als heuristische Kategorie zur Beschreibung einer zeitgenössischen Zukunftsprojektion.39 Ländliche Moderne dient als Chiffre für einen [<<23||24>>] Ordnungsentwurf, der die Tradition des populistischen Antiurbanismus 40 mit einem optimistischen Glauben an die gesellschaftliche Gestaltungskraft von Wissen und Vernunft verband, der seit der Aufklärung in Europa und den USA an Einfluss gewann und auch das Selbstverständnis professioneller Eliten im späten Zarenreich prägte.41 Hinter der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Bauern stand die Suche nach einer entwicklungspolitischen Agenda für das Dorf. Als der Moskauer Agrarökonom A. V. Čajanov im Jahr 1913 einen Vorlesungszyklus über die Funktionsweise von Genossenschaften hielt, unterstrich er, dass das Verständnis landwirtschaftlicher Genossenschaften keinen Selbstzweck darstellte. Vielmehr sah er darin eine notwendige Voraussetzung, um die ländlichen Regionen durch den gezielten Ausbau des Genossenschaftswesens in die Lage zu versetzen, „mit festen Schritten in eine bessere landwirtschaftliche Zukunft“ zu gehen und zur „ökonomische[n] Wiedergeburt des russischen Dorfes“ beizutragen.42 Čajanovs Worte verdeutlichen die zwei Dimension der zeitgenössischen Wahrnehmung, auf die sich der Begriff der ländlichen Moderne in den folgenden Ausführungen bezieht: auf die Überzeugung, man stehe am Beginn einer durch menschliches Handeln formbaren Zukunft,43 und den Glauben, Russland werde seine ländliche Prägung im Zuge von wirtschaftlicher Dynamisierung und sozialem Wandel nicht automatisch verlieren.

Der Entwurf des Dorfes als Ort der Zukunft war ein Gegenprogramm zur urbanen Industriemoderne und ihren negativen Begleiterscheinungen. Dabei war der russische Agrarismus jedoch keine Absage an Entwicklung und Fortschritt an sich. Dass Wissenschaftler wie Dojarenko, Kosinskij, Makarov oder Čajanov die Bauern in das Zentrum ihres Zukunftsentwurfs stellten, bedeutete nicht, dass sie politischen Konservatismus, Nationalismus und kulturkritische Technikskepsis zu einem rückwärtsgewandten agrarian myth zusammenfügten.44 Die Auseinandersetzung mit dem ländlichen Russland war vielmehr Teil einer Agenda, die Kapitalismuskritik, wissenschaftlichen Gestaltungsanspruch und demokratischen Reformwillen zum emphatischen Entwurf einer „besseren Zukunft“45[<<24||25>>] verband. Damit ist diese Agenda zugleich ein Beispiel für die Heterogenität moderner Programmatik im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Pläne zur Modernisierung des ländlichen Raums beinhalteten nicht notwendigerweise Maßnahmen zur Zentralisierung, Homogenisierung und Kollektivierung, die bisweilen als die einzigen Antworten gelten, mit denen Zeitgenossen auf die wahrgenommene Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft reagierten.46 Wie in anderen Ländern war die Überzeugung, dass eine dauerhafte Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge flexible und lokale Lösungen erforderte,47 auch unter vielen russischen Agrarexperten Konsens.48 Konkret zielte die Agenda von Wissenschaftlern wie Dojarenko auf die Stärkung von bäuerlichen Familienwirtschaften, Genossenschaften und ländlicher Selbstverwaltung. Damit wies die Vision der ländlichen Moderne nicht nur deutliche Überschneidungen mit modernistischen Ausprägungen des Agrarismus in Ostmitteleuropa auf.49 Sie erinnerte auch an Vorschläge zur ländlichen Modernisierung, wie sie zeitgleich in einem transatlantischen Diskurs über die Verbindung von Marktwirtschaft, Sozialreform und demokratischer Mitbestimmung entstanden. In ihrem Kern war die Agenda der ländlichen Moderne daher ein Beispiel für „Sozialpolitik in einem progressiven Zeitalter“50.

[<<25||26>>] Ländliche Moderne ist zwar kein Quellenbegriff. Der Ausdruck erlaubt jedoch, zeitgenössische Vorstellungen über die Zukunft des ländlichen Russlands auf einen Nenner zu bringen. Denn diese Zukunft besaß einige Konturen. Der Statistiker und Ökonom N. P. Oganovskij war zuversichtlich, dass der russische Bauer künftig im Austausch mit dem Weltmarkt stehen, seine Waren auch jenseits der Grenzen seines Landes vertreiben, ausländische Maschinen benutzen und Geld genug besitzen würde, um seiner Frau an Feiertagen ein Tuch aus kaukasischem Stoff zu schenken.51 Entworfen von Vertretern der professionellen Eliten, für die die Ablehnung der gesellschaftlichen Hierarchien und der politischen Verfasstheit des Zarenreichs einen wichtigen Bestandteil ihres Selbstverständnisses bildete,52 ging die Vision von der ländlichen Moderne allerdings deutlich über den technokratischen Wunsch nach wirtschaftlicher Optimierung und Wohlstand hinaus. Als der Agronom A. F. Fortunatov 1913 das Ideal des künftigen Dorfes mit den Begriffen „Brot“ (chleb), „Wissen“ (svet) und „Freiheit“ (svoboda)53 umriss, brachte er das gesellschaftspolitische Anliegen des Agrarismus auf den Punkt: Auf der Suche nach einer Alternative zur bestehenden Ordnung, die die Bauern in einem eigenen Stand zusammenfasste, rechtlich isolierte und politisch marginalisierte, formulierten seine Anhänger die Idee eines öffentlichen Gemeinwesens, das sich im Rahmen von Vereinen, Genossenschaften, Gesellschaften und Selbstverwaltungen „von unten“ (snizu) bildete und Bauern die gleichen Zutrittsmöglichkeiten zu den relevanten Entscheidungsgremien des Landes gewährte wie den privilegierten Schichten des Russischen Reichs..54 Die ländliche Moderne war folglich auch ein Imperativ des politischen Wandels.

Forschungsstand und Quellen

Obwohl der Agrarismus in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein in Abhängigkeit von der politischen Konjunktur mehr oder minder einflussreicher Bestandteil der staatlichen Agrarpolitik war, gibt es bislang keine systematische Studie über seine Konstituierung als intellektuelle Strömung und gesellschaftliche [<<26||27>>] Bewegung, seine organisatorische Gestalt und seine politische Bedeutung. Arbeiten zur Ideen- und Politikgeschichte des späten Zarenreichs und der frühen Sowjetunion konzentrierten sich meist auf die „großen“ Ideologien, wie den Marxismus, das narodničestvo oder den Liberalismus und ihre organisatorischen Ausprägungen in politischen Parteien. Die parteiübergreifende Debatte über das Modernisierungspotential der bäuerlichen Landwirtschaft ist daher noch nicht als eine eigene geistige Strömung identifiziert worden.55 Der Fokus auf die dominanten politischen Strömungen und Parteien führte dazu, dass Russland in international vergleichenden Studien über den Agrarismus entweder gar keine oder nur als Beispiel für eine radikale Variante agrarischen Denkens, das sich am deutlichsten im revolutionären Anspruch der Sozialrevolutionäre zeigte, Erwähnung fand. Auf der Landkarte des europäischen Agrarismus hat man Russland daher in der Regel am äußersten Rand lokalisiert und dessen progressive, reformorientierte Spielart im Zarenreich nicht explizit untersucht.56

In der Geschichte des wirtschaftlichen Denkens in Russland stellt der Agrarismus ebenfalls einen blinden Fleck dar. Zwar widmen sich einige theoriegeschichtliche Untersuchungen dem intellektuellen Erbe von Ökonomen, die auch im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen stehen.57 Dass sich viele von ihnen, wie etwa der für seine Arbeiten zur Konjunkturtheorie bekannte Wirtschaftswissenschaftler N. D. Kondrat’ev oder S. N. Prokopovič, der mit seinen Studien zur sowjetischen Planwirtschaft internationale Reputation erlangte, ausgiebig mit Problemen von Agrarökonomie und -politik beschäftigten, wurde jedoch eher beiläufig behandelt. Da sich die Arbeiten zur ökonomischen Ideengeschichte in Russland auf die immanente Interpretation theoretischer Schriften konzentrieren,58 tendieren sie zudem dazu, die Rolle der Wirtschaftswissenschaftler als gesellschaftliche und politische Akteure sowie die Bedeutung von dominanten gesellschaftlichen Diskursen, institutionellen Bedingungen und politischen Machtverhältnissen für die [<<27||28>>] Etablierung wissenschaftlicher Paradigmen zu vernachlässigen.59 So erschließen sie der ökonomischen Theoriegeschichte zwar einen über viele Jahre stiefmütterlich behandelten historischen Raum. Sie tragen jedoch kaum dazu bei, die Wirtschaftslehre des späten Zarenreichs und der frühen Sowjetunion zu kontextualisieren.60 Ähnliches gilt für die detaillierten Untersuchungen zu den ideologischen Debatten über die Agrarfrage in der frühen Sowjetunion.61 Auch wenn diese die politischen Hintergründe der wirtschafts- und agrarwissenschaftlichen Auseinandersetzungen beleuchten, lassen sie die Akteursposition der Ökonomen, ihre Wahrnehmungsweisen und ihre Handlungsspielräume innerhalb sowjetischer Institutionen weitgehend außer Acht.62

Der Agrardiskurs des späten Zarenreichs und die staatliche Agrarpolitik im ersten Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft wurden inzwischen eingehend erforscht. Yanni Kotsonis hat die Konstruktion der bäuerlichen Rückständigkeit im vorrevolutionären Elitediskurs offengelegt.63 Ilya Gerasimov untersuchte die Interaktionen zwischen Bauern und Experten,64 die in ländlichen Selbstverwaltungen, landwirtschaftlichen Gesellschaften oder Genossenschaften tätig waren.65 Die institutionengeschichtlichen Studien Markus Wehners und James W. Heinzens über das sowjetrussische Volkskommissariat für Landwirtschaft (Narkomzem) haben gezeigt, dass Agrarexperten, deren Karrieren in die Zarenzeit zurückreichten, wesentlich zur Übersetzung der Neuen Ökonomischen Politik in konkrete agrarpolitische Maßnahmen beitrugen.66 Obwohl diese Untersuchungen einander hervorragend ergänzen, lassen sie einige zentrale Probleme unberührt, die für das Verhältnis von Agrarismus, Expertise und Ideologie in Russland entscheidend sind. Dies betrifft [<<28||29>>] das Zusammenspiel personeller, institutioneller und ideologischer Faktoren und deren Bedeutung für die Verständigung zwischen Experten und Bolschewiki und den dringenden Rückkehrwunsch einiger während des Bürgerkriegs ausgewanderter bzw. des Landes verwiesener Agrarwissenschaftler und Ökonomen in den 1920er Jahren. Auch das politische Selbstverständnis der Experten sowie ihre Einbindung in soziale Räume jenseits des bolschewistischen Staatsapparats und transnationale Expertennetzwerke wurden bislang nur vage behandelt. Darüber hinaus tendieren die genannten Arbeiten dazu, die Geschichte der Elite „vom Ende“, das heißt, mit dem Wissen um die tragischen Schicksale ihrer führenden Vertreter in der Zeit des Stalinismus zu lesen. Personen, die den Terror der 1930er Jahre überlebten oder ihre Karrieren in der Emigration fortsetzten, fanden bisher nur beiläufige Beachtung. Dies gilt auch für die Untersuchung Alessandro Stanzianis. Dieser hat zwar die Karrieren vieler der hier interessierenden Wirtschaftswissenschaftler verfolgt, führt seine Untersuchung jedoch nur bis in die Frühphase des Stalinismus.67 Das Erbe des russischen Agrarismus in der poststalinistischen Sowjetunion und jenseits der sowjetischen Grenze sowie seine Tradierung im postsowjetischen Russland sind daher noch nicht erforscht worden.

Meine Untersuchung beruht auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellenarten. Anhand von wissenschaftlichen Monographien oder Beiträgen aus der zeitgenössischen wirtschafts- und agrarwissenschaftlichen Fachpresse, der wichtigsten Grundlage klassischer theoriegeschichtlicher Untersuchungen, werden die intellektuelle Genese des Agrarismus und seine Etablierung als wissenschaftliches Paradigma nachvollzogen. Publizistische Texte, Materialien über die Zusammenkünfte von Genossenschaftsvertretern und Agronomen, Tätigkeitsberichte landwirtschaftlicher Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Dokumente von Genossenschaftsverbänden und landwirtschaftlichen Gesellschaften geben Auskunft über die Rolle der Elite im öffentlichen Raum. Zugleich lassen sie Rückschlüsse auf die Spielräume zum kollektiven Handeln zu, über welche die Anhänger des Agrarismus zu unterschiedlichen Zeiten verfügten.

Das Schrifttum staatlicher Behörden dokumentiert die Einbindung der Landwirtschaftsspezialisten in die Agrarpolitik. Sitzungsprotokolle, Gesetzesentwürfe und die interne Korrespondenz bilden Entscheidungsprozesse innerhalb der betreffenden Behörden ab und erhellen Details über die Handlungsspielräume der Experten innerhalb der staatlichen Bürokratie. Für die Jahre vor der Machtergreifung der Bolschewiki betrifft dies insbesondere Veröffentlichungen über die Tätigkeit der versorgungspolitischen Organe der zarischen Regierung während des Ersten Weltkriegs sowie die Aktenbestände der Provisorischen Regierung. Dokumente aus den [<<29||30>>] Beständen des Volkskommissariats für Landwirtschaft sowie der 1920 zur Kontrolle staatlicher Institutionen gegründeten Arbeiter-Bauern-Inspektion (Rabkrin), die das Narkomzem regelmäßigen Revisionen unterzog, liefern aufschlussreiche Details über die Tätigkeit der Experten im bolschewistischen Staatsapparat.

Auf der Grundlage leider nur fragmentarisch überlieferter Selbstzeugnisse in Form von Briefen und Erinnerungen werden Selbstbilder, Wahrnehmungsmuster und Sinnhorizonte der Zeitgenossen rekonstruiert und die kollektive Biographie um eine Binnenperspektive der Akteure ergänzt. Die archivalischen Sammlungen, die in der Regel mit Hilfe von hinterbliebenen Angehörigen und aufgrund der Stigmatisierung vieler der hier interessierenden Personen bisweilen gegen den Widerstand der Archivverwaltungen angelegt wurden, sind jedoch mitunter sehr lückenhaft. Es ist davon auszugehen, dass ein entscheidender Teil privater Dokumente entweder bei Verhaftungen beschlagnahmt oder von den betreffenden Personen selbst bzw. ihren Angehörigen vernichtet wurde, um möglichen Verdächtigungen durch die Behörden zu entgehen.68 Trotz aller Lücken liefern diese Bestände jedoch wichtige Mosaiksteine, um private Sorgen, Ängste und Handlungsmotive in konkreten Situationen nachzuvollziehen und den russischen Agrarismus des frühen 20. Jahrhunderts aus einer akteurszentrierten Perspektive zu konturieren. [<<30||31>>]

 

1Dojarenko, Krest’janskie besedy, S. 13f.

2Die größte landwirtschaftliche Hochschule Russlands wurde mehrfach umbenannt. Gegründet wurde sie 1865 als Land- und Forstwirtschaftliche Petrovka-Akademie (Petrovskaja zemledel’českaja i lesnaja akademija). Zwischen 1894 und 1917 hieß die Einrichtung offiziell Moskauer Landwirtschaftliches Institut (Moskovskij sel’skochozjajstvennyj institut). 1917 erfolgte die Umbenennung in Landwirtschaftliche Petrovka-Akademie (Petrovskaja sel’skochozjajstvennaja akademija) und 1923 in Landwirtschaftliche Timirjazev-Akademie (Sel’skochozjajstvennaja akademija imeni K. A. Timirjazeva). Vgl. Moskovskaja Sel’skochozjajstvennaja Akademija, S. 13 – 186.

3Zur Biographie Dojarenkos siehe Kurenyšev, On slyšal muzyku polej. Am Ende seines Lebens verfasste Dojarenko eine Autobiographie, in der er auf die Anfangsjahre seiner Tätigkeit als Agronom einging. Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo.

4Zur Popularität des Ingenieurberufs im späten Zarenreich siehe Schattenberg, Stalins Ingenieure, S. 51.

5Andrews, Science, S. 26 – 35.

6Dojarenko, Charakternye čerty, S. 4.

7Kotsonis, Peasants.

8Bunin, Das Dorf, S. 419.

9Gorki, Vom russischen Bauern, S. 90.

10Lynne Viola, die den bäuerlichen Widerstand gegen die Kollektivierung untersucht hat, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Krieg der Kulturen“ zwischen Bauern und Bolschewiki. Viola, Peasant Rebels, S. 3. Ausführlich dokumentiert wurde die Kollektivierung in Danilov et al (Hg.), Tragedija.

11Hierzu Hildermeier, Privileg der Rückständigkeit.

12Kosinskij, K agrarnomu voprosu, Bd. 1, S. 478.

13Makarov, Krest’janskoe chozjastvo, S. V. Hervorhebung im Original.

14Ebd., S. VI.

15Einen Überblick über solche Gegenentwürfe bietet Mai, Agrarische Transition.

16Zu den philosophischen Wurzeln des Agrarismus siehe Montmarquet, Foundations.

17Eellend, Rural Citizen, Kap. 2.

18Schultz, Einleitung, S. 10.

19Robbins, Famine, S. 170f., Appendix Tabelle 2, S. 186f.

20Die umfassendste Studie über das wachsende gesellschaftliche Interesse und die Zunahme von nichtstaatlichen Initiativen zur Modernisierung der Landwirtschaft stammt von Gerasimov, Modernism. Siehe auch Elina, Ot carskich sadov, Bd. 1, Abschnitt II.

21Yaney, Urge to Mobilize; ders., Imperial Russian Government; Macey, Government.

22Gerasimov, Modernism, Kap. 5.

23Zum Bedeutungszuwachs von Experten in der zarischen Bürokratie und ihre Rolle im sowjetischen Staatsapparat siehe Rowney, Transition. Auf dem Gebiet der staatlichen Agrarpolitik wurde diese Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution beschleunigt. Siehe hierzu die Abschnitte 2.1 und 3.1 dieser Arbeit.

24Raphael, Verwissenschaftlichung.

25Den Glauben an die gesellschaftliche Gestaltungskraft von Wissen teilten auch Vertreter human- und naturwissenschaftlicher Disziplinen. Beer, Renovating Russia, S. 3 – 6; Josephson et al, Environmental History, S. 55f. Er strukturierte zugleich den Hygienediskurs im ausgehenden Zarenreich. Strobel, Gesundung Russlands.

26Holquist, “In Accord …”; Baberowski, Verbrannte Erde, S. 172 – 191.

27Schröder, Kollektive Biographien, S. 9; Gallus, Biographik, S. 42 – 46.

28Harders; Lipphardt, Kollektivbiographie.

29Dies ist ein entscheidender Unterschied zum Agrarismus in Ostmittel- und Südosteuropa, wo sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit einflussreiche Bauernparteien etablierten. Vgl. van Meurs, Demokratie; Gollwitzer, Bauerndemokratie, S. 11 – 24.

30Albert; Steinmetz, Be- und Entgrenzungen von Staatlichkeit, S. 20; Frevert, Neue Politikgeschichte.

31Sperling, Jenseits von ‚Autokratie‘ und ‚Gesellschaft‘, S. 31 – 37.

32Stehr; Grundmann, Expertenwissen, S. 9.

33Zur Legitimität und Autorität von Experten siehe Turner, Problem, Hitzler, Wissen, S. 25 – 28; Engstrom; Hess; Thoms, Figurationen, S. 8f.

34Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte.

35Diesen Begriff übernehme ich von Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft.

36Schultz, Einleitung, S. 9.

37Dies zeigt anhand von Bauerndarstellungen in Literatur, bildender Kunst und Wissenschaft Frierson, Peasant Icons. Auf die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Bauernbildern und Zukunftsprojektionen der gebildeten Schichten verweist auch Herzberg, Gegenarchive, S. 8.

38So die Einschätzung Joachim Zweynerts, der die Bauernwirtschaftstheorie des Agrarökonomen A. V. Čajanovs, eines engen Freundes und Kollegen Makarovs, etwas einseitig als direkte Fortsetzung des narodničestvo begreift. Zweynert, Thünen-Rezeption, S. 278. Zu ähnlichen Urteilen kamen marxistische Ökonomen in den 1920er Jahren und Vertreter einer marxistischen Strömung in der Entwicklungsökonomie. Eingehender hierzu siehe den Abschnitt 3.3 „An der Agrarfront“ sowie das Kapitel 4.1.1 „Čajanov und die Krise der Modernisierungstheorie“ dieser Arbeit.

39Ähnlich begründet Yanni Kotsonis die Verwendung des Begriffs der Moderne als Analysekategorie: “[…] the important fact is that historical actors debated within the terms of modernity, and for this reason can be considered within the rubric of modernity. […] Russians participated in debates on enlightenment, universalism, and integration through a discourse on the West.” Kotsonis, Introduction, S. 3.

40Zu den antiurbanistischen Visionen der Populisten und dem Fortleben antiurbaner Traditionen im sog. „Disurbanismus“ siehe Stites, Revolutionary Dreams, S. 26 – 30, 191 – 196.

41Hoffmann, Masses, S. 4 – 8, 19 – 34; Beer, Renovating Russia, S. 5 – 7.

42Čajanov, Kratkij kurs kooperacii (1915), S. 72f.

43Dies ist eine der Leitideen moderner Programmatik. Gumbrecht, Modern, S. 120 – 122.

44Zu den ideologischen Überschneidungen zwischen Agrarpopulismus und politischem Konservatismus siehe Brass, Agrarian Myth. Die Traditionen des „romantischen Agrarismus“ in den USA beleuchtet Danbom, Romantic Agrarianism.

45Dies war der Titel eines Sammelbandes des Ökonomen M. I. Tugan-Baranovskij, der sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet der Genossenschaftstheorie hervortat. Tugan-Baranovskij, K lučšemu buduščemu.

46So sieht James C. Scott die entscheidenden Prinzipien, die dann während der Kollektivierung zum Tragen kamen, bereits in der Agrarpolitik des zarischen Staates angelegt: “[…] same belief in reform from above and in large, modern, mechanized farms as the key to productive agriculture. There is also, alas, the same high level of ignorance about a very complex rural economy coupled, disastrously, with heavy handed raids on the countryside to seize grain by force.” Scott, Seeing like a State, S. 204.

47Auf dem Gebiet der Pflanzenzucht wurden die Bedürfnisse von Kleinbauern im späten deutschen Kaiserreich ebenso berücksichtigt wie lokale landwirtschaftliche Bedingungen. Harwood, Green Revolutions, Kap. 2. Auch in Italien stand man am Beginn des 20. Jahrhunderts lokalen und traditionellen Formen von Wissen aufgeschlossen gegenüber. D’Onofrio, Knowing to Transform, S. 6. Die „reisenden Lehrstühle“ italienischer Agronomen waren entscheidende Instrumente zur Annäherung von wissenschaftlicher Expertise und lokaler Erfahrung. Ebd., S. 50.

48Im ausgehenden Zarenreich suchten Landwirtschaftsspezialisten und Bauern gleichermaßen nach Möglichkeiten, um die Landwirtschaft an die naturräumlichen Bedingungen der Steppe anzupassen. Mitunter sahen sie in der Steppe ein Ökosystem, dessen Erhalt eine nachhaltige Bewirtschaftung erforderte. Moon, Plough, Teil III.

49Dass eine Reduzierung des Agrarismus auf eine antimoderne Verklärung des Landlebens zu kurz greift, unterstreichen Kubů et al., Agrarismus, S. 20. Zum ostmitteleuropäischen Agrarismus siehe außerdem Ionescu, Eastern Europe; Schultz; Harre (Hg.), Bauerngesellschaften.

50So lautet der Untertitel einer transfergeschichtlichen Untersuchung zur Sozialpolitik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Rodgers, Atlantic Crossings. Zur ländlichen Modernisierung siehe ebd., Kap. 8. Der russische Fall ist in Rodgers Darstellung nicht berücksichtigt, obwohl sich zahlreiche sozialpolitische Anliegen und Maßnahmen im späten Zarenreich kaum von jenen unterschieden, die im transatlantischen Raum diskutiert wurden.

51Oganovskij, Russkij krest’janin, S. 44f.

52Hier bildeten die Agrarwissenschaftler, Statistiker und Ökonomen, die die Vision von der ländlichen Moderne entwickelten, keine Ausnahme. Vgl. Hoffmann, Masses, S. 32 – 34; Balzer, Professions, S. 190 – 196.

53Fortunatov, Kto on?, S. 14.

54Die Agrarexperten griffen auf das zeitgenössische Konzept obščestvennost‘ zurück, um ihre Vision einer Gesellschaft gleichberechtigter Staatsbürger zum Ausdruck zu bringen. Hierzu Gerasimov, Modernism, S. 23f. Siehe auch das Kapitel 1.2.3 „Genossenschaftsdiskurs und Gesellschaftskritik“ in dieser Arbeit.

55Parteigeschichtliche Arbeiten erwähnen zwar einige der hier interessierenden Personen. Vgl. etwa Hildermeier, Sozialrevolutionäre Partei; Galai, Liberation Movement; Emmons, Political Parties. Die parteiübergreifenden Gemeinsamkeiten des Agrardiskurses und die parteiübergreifende Kooperation seiner Vertreter wurden bislang jedoch kaum aus ideologie- und politikgeschichtlicher Perspektive thematisiert.

56Vgl. Gollwitzer, Bauerndemokratie, S. 35 – 39 sowie nachfolgend Schultz, Einleitung, S. 10f.; Holec, Agrardemokratie, S. 42; Eellend, Rural Citizen, S. 32. Die unterschiedlichen Facetten agrarischen Denkens in Russland berücksichtigt Walicki, Russia. Dieser schenkt jedoch den Institutionen und Trägern des Agrarismus in Russland kaum Beachtung.

57Zu den bedeutendsten Beispielen dieser Tradition zählen Zweynert, Geschichte; Barnett, History; Abalkin (Hg.), Očerki; Barnett; Zweynert (Hg.), Economics.

58Dies gilt auch für Arbeiten zur agrarökonomischen Ideengeschichte, in denen russische Vertreter der Disziplin erwähnt werden. Brandt, Thaer; Schmitt, Alexander Tschajanow; Noũ, Studies, Kap. 10.

59Wie eine Verbindung aus wirtschaftlicher Ideen-, Institutionen-, Sozial- und Politikgeschichte aussehen kann, demonstrierten am Beispiel der bundesdeutschen Wirtschaftswissenschaften Nützenadel, Stunde der Ökonomen; Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft.

60Siehe meine Rezension zum jüngsten Sammelband von Vincent Banett und Joachim Zweynert. Bruisch, Rezension zu Barnett; Zweynert.

61Gross, Agrarian Debate; dies., Rural Scholars; Cox, Peasants.

62Dies ist vor allem eine Folge des limitierten Quellenmaterials. Gross und Cox verfassten ihre Arbeiten vor der Öffnung der russischen Archive nach dem Ende der Sowjetunion. Die Darstellungen beziehen sich daher fast ausschließlich auf die zeitgenössische Fachpresse und Publizistik.

63Kotsonis, Peasants.

64Siehe Gerasimovs überzeugenden Kritik an Kotsonis’ diskursgeschichtlichen Ansatz, der die Kommunikation zwischen beiden Gruppen weitgehend vernachlässigt. Gerasimov, Limitation.

65Gerasimov, Modernism. Die Studie Gerasimovs kommt dem Anliegen eines Gruppenporträts der Agrarexperten am nächsten. Er untersucht eine über 1000 Personen umfassende Gruppe und kann individuelle Sichtweisen und Motivationen daher nur am Rande behandeln. Auch die Einbindung der vorrevolutionären Experten in den sowjetischen Staatsapparat sowie ihre wechselnden Rollen in den Hierarchien der sowjetischen Gesellschaft werden bei ihm nur knapp umrissen. Zur vorrevolutionären Zemstvo-Agronomie siehe außerdem Matsuzato, Agronomists.

66Wehner, Bauernpolitik; Heinzen, Soviet Countryside.

67Stanziani, L’économie.

68Hiervon berichtet der Sohn des Ökonomen L. B. Kafengauz in seinen Erinnerungen. RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 4f.

1. „ … DASS DIE ZUKUNFT UNS GEHÖRT“ – WISSENSCHAFT, ÖFFENTLICHKEIT UND POLITIK IM SPÄTEN ZARENREICH

1.1 Die Entdeckung der Bauern

1.1.1 Die blinden Flecken der Agrarwissenschaft

Bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts war das Russische Reich ein bäuerlich geprägtes Agrarland.1 Verglichen mit den führenden europäischen Wirtschaftsnationen setzte der sektorale Wandel in Russland verspätet ein und vollzog sich zugleich deutlich langsamer. War der Anteil der Landwirtschaft am Volkseinkommen in den ersten drei Jahrzehnten der Industrialisierung im Vereinigten Königreich von 45% auf 32%, in Deutschland von 32% auf 23%, in Frankreich von 50% auf 45% und in den Niederlanden von 25% auf 20% gesunken, zeigte dieser Indikator in Russland trotz einer aktiven staatlichen Industrialisierungspolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert kaum Veränderungen. 1883 wurden 57% und 1913 noch immer 51% des Nationaleinkommens in der Landwirtschaft generiert.2 Die zeitgenössische Bevölkerungsstatistik reflektiert die Schlüsselfunktion der Landwirtschaft für die Wirtschaft des Zarenreichs. Nach der Volkszählung von 1897 stammten 85,1% der Bevölkerung des europäischen Russlands aus dem Stand der Bauern. 74,9% der Gesamtbevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig.3 In weiten Teilen des Russischen Reichs bestimmten patriarchal organisierte familiäre Haushaltswirtschaften das Bild der Landwirtschaft. Aufgrund ausgesprochen heterogener klimatischer und infrastruktureller Bedingungen waren der Marktanteil der Agrarproduktion, die Fruchtfolge und der technische Entwicklungsgrad der Landwirtschaft regional stark verschieden.4 Im späten 19. Jahrhundert trugen [<<31||32>>] der Ausbau des Eisenbahnnetzes, ein dynamisches Bevölkerungswachstum und die wachsende Bedeutung von Absatzmärkten für Agrarprodukte im In- und Ausland zu einer Vertiefung der regionalen Spezialisierung bei.5

Obwohl Bauern den überwiegenden Anteil an der Bevölkerung ausmachten und Bauernwirtschaften die Landwirtschaft des Zarenreichs dominierten, war die bäuerliche Landwirtschaft als solche lange kein Gegenstand der russischen Agrarwissenschaft. Die Wurzeln der systematischen Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft lagen im ausgehenden 18. Jahrhundert, als adlige Gutsbesitzer (pomeščiki) angesichts der beginnenden Kommerzialisierung ein ökonomisches Interesse an ihren Gutswirtschaften (usad’by) entwickelten.6 Nach der Aufhebung der adligen Dienstpflicht im Jahre 1762 bildete die Aussicht, ihre Ländereien in kontinuierliche Einnahmequellen zu verwandeln, für viele von ihnen einen Anreiz zur Rationalisierung ihrer Güter. Die pomeščiki erprobten neue Methoden zur Verwaltung ihrer Anwesen, führten landwirtschaftliche Experimente durch und verfassten Traktate über praktische Fragen der Landwirtschaft.7 Das geistige Klima des aufgeklärten Absolutismus begünstigte diese Entwicklung. Nachdem die Merkantilisten der Landwirtschaft traditionell wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten, verbreitete sich mit der Rezeption physiokratischer Ideen unter Katharina II. die Überzeugung, die Förderung der Landwirtschaft und landwirtschaftlich relevanter Wissensbestände könne zum Wohlstand des Landes beitragen.8 Auf Geheiß der Zarin wurde 1763 eine Klasse für Landwirtschaft an der Akademie der Wissenschaften eingerichtet. 1765 folgte die Gründung der Freien Ökonomischen Gesellschaft (Vol’noe ėkonomičeskoe obščestvo), die bald zu den wichtigsten Foren für den intellektuellen Austausch über die Landwirtschaft zählen sollte.9

Die Genese der Agrarwissenschaft war Teil der Verwestlichung der gesellschaftlichen Eliten des Russischen Reichs. Wie in den Ländern Westeuropas, wo [<<32||33>>] vergleichbare Entwicklungen einige Jahrzehnte zuvor eingesetzt hatten,10 entwickelte sich die Landwirtschaft seit dem späten 18. Jahrhundert von einer privaten Angelegenheit des einzelnen Gutsbesitzers zum Gegenstand des gelehrten Diskurses. Nach dem Vorbild westeuropäischer Gutsbesitzer und -verwalter verfassten pomeščiki Zeitschriftenartikel oder kleinere Broschüren, in denen sie Probleme des Pflanzenbaus und der Tierzucht erörterten. Einige von ihren richteten auf ihren usad’by Versuchswirtschaften ein und präsentierten diese als Musterbeispiele erfolgreicher Landwirtschaft.11 Eine wachsende Zahl adeliger Gutsherren engagierte sich darüber hinaus in landwirtschaftlichen Gesellschaften. Nachdem die Einrichtung der ersten reichsweit agierenden Assoziationen auf Vertreter der Monarchie zurückgegangen oder zumindest intensiv gefördert worden war, entwickelten sich die landwirtschaftlichen Gesellschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend unabhängig von der Patronage durch die kaiserliche Familie. Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging die Gründung von Gesellschaften, deren Tätigkeit sich in der Regel auf das Gebiet eines Gouvernements erstreckte, häufig auf die Initiative von Angehörigen des gutsbesitzenden Adels zurück. Die Gesellschaften engagierten sich für die Weiterentwicklung und Verbreitung agrarwissenschaftlicher Erkenntnisse und bildeten darüber hinaus ein neues Forum lokaler Geselligkeit. Die Sorge um die Landwirtschaft wurde damit zu einem Bestandteil adeliger Kultur.12

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft folgte Vorstellungen von Rationalität und Wirtschaftlichkeit, die von den Pionieren der Agrarwissenschaft in Westeuropa entwickelt worden waren. Die russische Agrarökonomie war zunächst eine rein betriebswirtschaftliche Disziplin, die darauf zielte, die Rechnungsführung der Adelsgüter zu professionalisieren. Mit der Rezeption der Arbeiten Albrecht Thaers, einer der Urväter der Agrarwissenschaft,13 setzte sich im Zarenreich die Vorstellung durch, landwirtschaftlicher Erfolg bemesse sich an der Höhe des Gewinns, den ein Gut erwirtschaftete. So orientierten sich die ersten agrarökonomischen Kurse, die der Landwirtschaftsprofessor B. A. Cellinskij seit 1842 unter dem Titel „Hauswirtschaft“ (Domovoustrojstvo) und später unter dem Titel „Wirtschaftsorganisation“ (Organizacija chozjajstva) am Landwirtschaftlichen Institut in Gory (Gorygoreckij [<<33||34>>] Sel’skochozjajstvennyj Institut) hielt, an den Interessen von pomeščiki und zukünftigen Verwaltern adliger Güter. Auch die „Grundlagen der Agrarökonomie“ (Osnovy sel’skochozjajstvennoj ėkonomii) des Moskauer Professors A. P. Ljudogovskij sowie das 1875 unter seiner Beteiligung herausgegebene „Handbuch für russische Landwirte“ (Nastol’naja kniga dlja russkich sel’skich chozjajev) richteten sich an eine Leserschaft aus adligen Gutsbesitzern.14 Russische Agrarwissenschaftler übernahmen zugleich die in Westeuropa übliche Einordnung landwirtschaftlichen Wissens in den Bereich der Naturwissenschaften.15 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts rückte die Generierung landwirtschaftsbezogener Wissensbestände auf der Grundlage von theoretischen Erkenntnissen aus der Biologie, Chemie oder Physik an die Stelle des Beobachtens und Beschreibens landwirtschaftlicher Prozesse, wie es die Experimentalökonomen des 18. Jahrhunderts praktiziert hatten. Landwirtschaftlicher Fortschritt, so die Implikation des naturwissenschaftlichen Paradigmas, wurde erreicht, wenn ein Gutsherr bei seinen Anbauentscheidungen auf die Einsichten der Naturwissenschaften zurückgriff.16

Die Etablierung der Agrarwissenschaft war symptomatisch für die veränderte Wahrnehmung der Landwirtschaft im Diskurs der russischen Eliten. Hatte sie lange als ein undynamisches und wenig lohnenswertes Tätigkeitsfeld gegolten, sah man in ihr nun einen Wirtschaftszweig, der sich durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse in ein einträgliches Gewerbe verwandeln ließ. Mit dem in der zeitgenössischen ökonomischen Literatur postulierten Anspruch, Adelsgüter sollten einen betriebswirtschaftlichen Überschuss abwerfen, wurde das neuzeitliche Entwicklungsdenken Bestandteil des wissenschaftlichen Agrardiskurses. Der zeitgleich einsetzende Aufstieg der Naturwissenschaften förderte zudem die Überzeugung, bei der Agrarproduktion handele es sich um eine planbare ökonomische Größe. Kenntnisse über die Zucht von Pflanzen oder Tieren, über den Boden, das Klima oder das Wetter galten gleichsam als Versicherung gegen die Launen der Natur. Diese Entwicklungen spiegelten den optimistischen Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt durch Wissen und Vernunft, der mit der Rezeption aufgeklärten Gedankenguts im 18. Jahrhundert im Zarenreich an Einfluss gewann. Die Landwirtschaft galt nun zunehmend als ein Gebiet bewusster menschlicher Intervention. „Wissenschaftliche Landwirtschaft“, brachte der Moskauer Professor für Mineralogie, Physik [<<34||35>>] und Landwirtschaft M. G. Pavlov im Jahr 1838 dieses Denken auf den Punkt, sei „kalkulierter Erfolg“ (rassčitannyj uspech).17

Mit der Erhebung von Wissenschaft und betriebswirtschaftlicher Rationalität zu Maximen einer zeitgemäßen Landwirtschaft wurde die bäuerliche Landwirtschaft zu einem blinden Fleck der Agrarwissenschaft. Der bäuerliche Haushalt, bis in das 20. Jahrhundert die wichtigste soziale und wirtschaftliche Einheit des ländlichen Russlands, hatte nur wenig mit dem Bild von der „richtigen“ Landwirtschaft gemein, das die zeitgenössische Agrarwissenschaft entwarf. Anstelle des wissenschaftlichen Wissens, das die Vertreter der neuen Disziplin zur conditio sine qua non erfolgreicher Landwirtschaft erhoben, beruhten die Anbauentscheidungen der Bauern vor allem auf mündlich überliefertem Erfahrungswissen. Darüber hinaus waren die Konsumbedürfnisse der Haushaltsangehörigen für das ökonomische Kalkül der Bauern viel entscheidender als ein monetär messbarer betriebswirtschaftlicher Gewinn, der im Zentrum der landwirtschaftlichen Betriebslehre stand.18 Russische Agrarwissenschaftler richteten ihren Fokus daher auf die idealiter „rationellen“ Wirtschaften der pomeščiki. Während dem wissenschaftlich interessierten Gutsbesitzer im zeitgenössischen Diskurs die Rolle eines Initiators von landwirtschaftlicher Entwicklung und agrartechnischem Fortschritt zugeschrieben wurde, traten die Bauern lediglich als Schützlinge ihrer wohlmeinenden Gutsherren in Erscheinung. Die Bauern, so eine geläufige Vorstellung, konnten die Ratschläge der Gutsbesitzer zwar umsetzen. Einen originären Beitrag zur Entwicklung der Landwirtschaft erwartete man von ihnen jedoch nicht.19 Als Studienobjekte der Agrarwissenschaft, deren Vertreter den Zielen des Wachstums und des Gewinns anhingen, schieden die Bauernwirtschaften folglich aus.

Dass die Vertreter der russischen Agrarwissenschaft die adlige Gutswirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellten, resultierte nicht allein aus der Übernahme westeuropäischer Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit und Rationalität. Die neue Disziplin war zugleich ein Spiegel der sozialen und kulturellen Hierarchien des Zarenreichs. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft waren die Bauernwirtschaften durch eine Vielzahl von monetären und nichtmonetären Verpflichtungen ökonomisch mit den Gütern des Adels, des Staats oder der Kirche, denen sie angehörten, verflochten. Eine „bäuerliche“ Landwirtschaft war daher analytisch kaum fassbar.20 Hinzu kam, dass die Protagonisten des gelehrten Agrardiskurses in der Regel selbst von der bestehenden Organisation der ländlichen Herrschaft profitierten. Zwar ergriffen Vertreter des Landadels seit dem frühen 19. Jahrhundert vermehrt [<<35||36>>] Maßnahmen zur landwirtschaftlichen Schulung der Bauern. Manche von ihnen plädierten in den 1850er Jahren sogar für die Aufhebung der Leibeigenschaft. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sie die Bauern als unabhängige Landwirte ansahen. Vielmehr glaubten sie, diese benötigten den Schutz, die Fürsorge und die Anleitung durch den Gutsadel, um einen Beitrag zum Wohlstand der lokalen Gesellschaft und des Landes insgesamt zu leisten.21 In den Debatten über die rationelle Landwirtschaft entwickelten Wissenschaftler und Gutsadlige folglich auch Argumente für die Stabilisierung der lokalen Herrschaftsverhältnisse.

1.1.2 Die bäuerliche Landwirtschaft als heuristisches Konzept

Die Idee, es gäbe eine bäuerliche Form der Landwirtschaft, entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie in anderen Teilen Europas war die Auseinandersetzung mit der ländlichen Bevölkerung auch im Zarenreich Teil der Suche nach einer nationalen Identität. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert hatten Dichter und Literaten das Dorf als Idylle beschrieben, in der Sitten und Moral nicht durch die Lasterhaftigkeit des Stadtlebens verdorben und nationales Brauchtum, Mythen und Lieder tradiert wurden.22 Dieser Topos spiegelte sich im Begriffspaar obščestvo und narod. Während sich obščestvo in der Bedeutung „höhere Gesellschaft“ zunächst auf einen kleinen Kreis politischer Würdenträger und Gelehrter bezog und im 19. Jahrhundert zunehmend der Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Gruppen diente, die sich als Vertreter einer „höheren“, zumeist westlich geprägten Kultur verstanden, verkörperte narod die Idee der von äußeren Einflüssen unberührten Welt des Dorfes. Dem deutschen Volk und dem französischen peuple entsprechend bezog sich narod zugleich auf das Volk im Sinne der Nation. National- und Bauerndiskurs waren also auf das Engste miteinander verbunden.23 Im Zuge der Debatte über die Aufhebung der Leibeigenschaft während der 1850er Jahre trat dieser Zusammenhang offen zutage. Die Diskussionen über die konkrete Ausgestaltung der Reform spiegelten nicht allein den Wunsch wider, einer Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung durch die Schaffung von Institutionen vorzubeugen, die Bauern weiterhin an das Dorf banden. Vielmehr beschworen die involvierten Beamten ein Nationskonzept, in [<<36||37>>] dem Bauern und Boden untrennbar miteinander verbunden waren. Mit der Reformgesetzgebung wurde diese Vorstellung dann zu einer gesellschaftlichen Tatsache. Die Stärkung der bäuerlichen Kommunen und der Ausbau einer von der staatlichen Rechtsprechung isolierten ländlichen Gerichtsbarkeit machten die Bauern als eine vermeintlich homogene Bevölkerungsgruppe sicht- und unterscheidbar.24

Angehörige der etablierten Schichten und Vertreter der intelligencija wurden im Zuge dieser Entwicklungen von einem romantischen Bauernkult erfasst. Historiker, Juristen und Ethnographen erkoren die ländliche Bevölkerung zu ihrem Studienobjekt. Literaten und Künstler machten sie zum bevorzugten Gegenstand ihres Schaffens.25 Zugleich wurden die Bauern zur Projektionsfläche für Gesellschafts- und Nationsentwürfe der unterschiedlichsten Art. Anhänger der sozialrevolutionären Bewegung (narodničestvo), die in der bäuerlichen Dorfgemeinde eine ursozialistische Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmachten, glaubten, sie könnten die ländliche Bevölkerung für einen Aufstand gegen die Autokratie gewinnen.26 Vertreter konservativer Gesellschaftsentwürfe sahen in den Dorfbewohnern dagegen einen Faktor gesellschaftlicher Stabilität. Zarische Beamte rückten die „russischen Bauern“ in das Zentrum ihrer politischen Rhetorik und stilisierten sie zum Fundament von Autokratie und Orthodoxie.27 Ihren ideologischen und politischen Differenzen zum Trotz stimmten die Eliten des Reichs in einem wichtigen Punkt überein. Sie konstruierten die Bauern als ihr kulturelles Gegenüber und entwarfen sie als eine spezifische gesellschaftliche Gruppe, von deren Wesensart wiederum das weitere Schicksal Russlands abhing.28

Die Entdeckung der Bauern löste eine paradigmatische Wende im Agrardiskurs des Zarenreichs aus. Mit der Etablierung der Bauern als sozialer Kategorie ließen sich nicht nur die Rechtsnormen, Sitten und Bräuche der Dorfbevölkerung von jenen anderer Bevölkerungsgruppen unterscheiden. In den Jahrzehnten nach der Aufhebung der Leibeigenschaft setzte sich auch die Auffassung durch, die Bauern betrieben eine spezifische Form der Landwirtschaft. Die Stärkung der Landumteilungsgemeinde (obščina) durch die Reformen Alexanders II. trug entscheidend zur Durchsetzung dieser Vorstellung bei. Aus Sicht der Zeitgenossen lebten die Bauern in der von äußeren Einflüssen weitgehend unberührten Welt der Dorfgemeinde, die nicht nur das gesellschaftliche Zusammenleben, sondern auch die landwirtschaftliche Tätigkeit der Bauern regulierte. So unterschied die Erntestatistik des zarischen Innenministeriums konsequent zwischen Umteilungsland und Ländereien, die sich [<<37||38>>] nicht in kommunalem Besitz befanden. Obwohl Angehörige des Bauernstands vielfach auch Böden bewirtschafteten, die keiner Umteilungsgemeinde gehörten, setzte die Statistik „kommunale“ (nadel’nye) und „bäuerliche“ (krest‘janskie) Ländereien gleich.29 Für die Vertreter des narodničestvo war die Umteilungsgemeinde ebenfalls die entscheidende Kategorie zur Beschreibung der bäuerlichen Landwirtschaft. Sie glaubten, dass das Zarenreich einer von den Ländern Westeuropas abweichenden historischen Entwicklung folgte: Dank der egalitären und gemeinwirtschaftlichen Tradition der obščina werde Russland die zahlreichen Probleme, die der Kapitalismus in den Staaten Westeuropas mit sich brachte, vermeiden und direkt zum Sozialismus übergehen können. Die Dorfgemeinde wurde somit zum Prototyp einer zukünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.30

Im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierte sich die bäuerliche Landwirtschaft als heuristische Kategorie. Unter den Agrarwissenschaftlern, Ökonomen und Statistikern, die die Generierung und Systematisierung von Wissen über die bäuerliche Ökonomie des Dorfes vorantrieben, fand das narodničestvo allgemeinen Zuspruch.31 Das zunehmende wissenschaftliche Interesse an der bäuerlichen Landwirtschaft führte daher zur Tradierung und Verstetigung zentraler Topoi des populistischen Diskurses. Es war jedoch weniger das idyllische Bild des bäuerlichen Sozialismus als die ideologische Neuausrichtung der Bewegung, die der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der bäuerlichen Wirtschaft Vorschub leistete. Nach dem „Gang ins Volk“ zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine von der Masse der Bauern getragene Erhebung gegen die Autokratie. Während sich nun ein Teil der Bewegung in den Untergrund zurückzog, ihre Agitationstätigkeit auf die Arbeiterschaft richtete und sich auf den politischen Terror verlegte,32 artikulierten die Vertreter des „legalen“ narodničestvo den Wunsch nach einer Korrektur des idealisierten Bildes von der ländlichen Bevölkerung. Anstelle abstrakter philosophischer Traktate sollten Fakten Auskunft über die Lebenssituation und Interessen der Bauern geben. Hinter diesem Anliegen stand eine programmatische Wende. Hatte man zunächst an eine von sozialen und kulturellen Differenzen unabhängige geistige Verbindung zur ländlichen Bevölkerung geglaubt, waren die moderaten Nardoniki überzeugt, dass die Bauern erst mit der Anhebung ihres Lebensstandards und [<<38||39>>] einem entsprechenden kulturellen Bewusstsein die Verheißungen des Populismus verstehen würden. Die Vertreter dieser Auffassung entwickelten eine Mission, die nicht weniger idealistisch war als die Revolutionserwartungen in der Dekade zuvor: Durch „kleine Taten“ (malye dela) wollten sie konkret zur Verbesserung der Lebenssituation auf dem Dorf beitragen, um die Bauern anschließend für die Durchsetzung einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu gewinnen.33

Dass sich tausende Anhänger des legalen narodničestvo im ausgehenden 19. Jahrhundert der Umsetzung dieses Anliegens widmeten, war eine unintendierte Folge der Reformen Alexanders II. Mit den 1864 eingerichteten Organen der ländlichen Selbstverwaltung (sing: zemstvo) hatte die zarische Regierung einen sozialen Raum geschaffen, in dem Vertreter der gebildeten Schichten und die Bauern einander regelmäßig begegneten. Die Zemstvos übernahmen die Einrichtung von Schulen, Bibliotheken oder Krankenstationen, stellten tierärztliche Versorgungsangebote bereit und kümmerten sich um den Ausbau der lokalen Infrastruktur. Da Spezialisten für die Übernahme solcher Tätigkeiten auf dem Land knapp waren, löste die Etablierung der lokalen Selbstverwaltung einen Strom städtischer intelligenty in die russische Provinz aus. Das Dorf, das vorher für die meisten von ihnen eine „terra incognita“ gewesen war, wurde nun zu einem Bestandteil ihres täglichen Lebens.34 Vertreter des legalen narodničestvo