Altäre der Moderne - Peter L. Berger - E-Book

Altäre der Moderne E-Book

Peter L. Berger

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Beschreibung

Religionen und religiöse Gemeinschaften weisen gegenwärtig Tendenzen sowohl zu mehr Liberalismus als auch zu mehr Fundamentalismus auf. Das religiöse Feld ist vielschichtiger geworden - und konfliktreicher. So führt Modernisierung nicht zwangsläufig zum Rückgang der Religionen, sondern zur Pluralisierung von Weltsichten und Wertsystemen. Dennoch ist die Säkularisierungsthese nicht einfach überholt. Richtig ist vielmehr die Einsicht, dass ein einflussreicher säkularer Diskurs dem religiösen Diskurs an die Seite getreten ist - dies lässt sich beispielsweise in Krankenhäusern studieren. Daher ist es erforderlich, zwischen einem innerreligiösen Pluralismus und dem Pluralismus von religiösen und säkularen Diskursen zu unterscheiden. Das Buch Bergers beansprucht, ein neues Paradigma zur Erfassung und Analyse dieses aktuellen Pluralismus zu entwickeln.

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Peter L. Berger

Altäre der Moderne

Religion in pluralistischen Gesellschaften

Aus dem Englischen von Ruth Pauli

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Religionen und religiöse Gemeinschaften weisen gegenwärtig Tendenzen sowohl zu mehr Liberalismus als auch zu mehr Fundamentalismus auf. Das religiöse Feld ist vielschichtiger und konfliktreicher geworden. So führt Modernisierung nicht zwangsläufig zum Rückgang der Religionen, sondern zur Pluralisierung von Weltsichten und Wertsystemen. Dennoch ist die Säkularisierungsthese nicht einfach überholt. Richtig ist vielmehr die Einsicht, dass ein einflussreicher säkularer Diskurs dem religiösen Diskurs an die Seite getreten ist. Peter L. Bergers Buch beansprucht, ein neues Paradigma zur Erfassung und Analyse dieser unterschiedlichen Formen des aktuellen religiösen und religiös-säkularen Pluralismus zu entwickeln.

Vita

Peter L. Berger, 1929 in Wien geboren, ist einer der renommiertesten Religionssoziologen weltweit. Er hatte Professuren u.a. an der New School for Social Research New York, an der Rutgers University sowie am Boston College und zuletzt an der Boston University.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1Das Phänomen Pluralismus

Weiterführende Literatur

Kapitel 2 Pluralismus und individueller Glaube

Weiterführende Literatur

Kapitel 3Pluralismus und religiöse Institutionen

Weiterführende Literatur

Kapitel 4Der säkulare Diskurs

Weiterführende Literatur

Kapitel 5Religion und multiple Modernitäten

Weiterführende Literatur

Kapitel 6Das politische Management von Pluralismus

Weiterführende Literatur

Kommentare

Kommentar von Nancy T. Ammerman: Moderne Altäre im Alltagsleben

1.Pluralismus in amerikanischen Kommunen

2.Soziale Strukturen für den Pluralismus

3.Pluralismus des Bewusstseins

4.Die soziale Organisation des modernen religiösen Bewusstseins

Literatur

Kommentar von Detlef Pollack: Auf dem Wege zu einem neuen religionssoziologischen Paradigma?

Literatur

Kommentar von Fenggang Yang: Agentgetriebene Säkularisierung und chinesische Experimente mit multiplen Modernitäten

Probleme beim Paradigmenwechsel

Eine normative Theorie der Religion in der modernen Welt

Die chinesischen Experimente einer agentgetriebenen Säkularisierung

Eine begriffliche Klärung der deskriptiven Theorie des religiösen Pluralismus

Schlussbemerkung

Literatur

Vorwort

Die Säkularisierungstheorie, die auf dem Gedanken basiert, dass Modernität unweigerlich zu einem Niedergang von Religion führt, hat lange Zeit als Paradigma für die Untersuchung von Religion gedient. Sie kann aber aufgrund empirischer Befunde nicht länger aufrechterhalten werden. Es braucht ein neues Paradigma. Ich denke, dieses muss auf den vielen Implikationen des Phänomens Pluralismus aufbauen. Meiner Meinung nach sollte ein neues Paradigma auf zwei Pluralismen eingehen können – auf die Koexistenz unterschiedlicher Religionen und auf die Koexistenz eines säkularen und eines religiösen Diskurses. Diese Koexistenz gibt es sowohl im Denken des Individuums als auch im sozialen Raum. Dieses Buch soll ein Schritt in Richtung eines neuen Paradigmas für das Verständnis von Religion und Moderne sein.

Gerade weil ich mittlerweile ein Furcht einflößendes Alter erreicht habe (hauptsächlich versetzt es natürlich mich selbst in Furcht und Schrecken), hat es mich gefreut festzustellen, dass ich in den letzten zwei Jahren einige vollkommen neue Ideen ausgerechnet zu jenem Thema gehabt habe, das mich schon meine ganze Laufbahn als Soziologe hindurch beschäftigt hat – zum Thema des Verhältnisses von Religion und Moderne nämlich. Vielleicht sind diese Ideen falsch, aber allein die Tatsache, dass sie neu sind, ist befriedigend – offensichtlich ist die »Sabberphase« meiner intellektuellen Biografie – noch – nicht angebrochen.

In der frühen Phase meiner Arbeit als Religionssoziologe habe ich die Gültigkeit dessen vorausgesetzt, was damals Säkularisierungstheorie genannt wurde. Ihre Grundidee war ziemlich einfach: Die Moderne führt notwendigerweise zu einem Niedergang der Religion. Ich war nicht der Einzige, der so dachte. In der einen oder anderen Formulierung wurde die Theorie von allen angenommen, die sich mit Religion in der modernen Welt auseinandersetzten – von den Kindern der Aufklärung, die das vermeintliche Faktum des Niedergangs der Religion begrüßten (übrigens gab es sogar ein paar Theologen, die es schafften, so zu denken), ebenso wie von all jenen (inklusive mir selbst), die das bedauerten, aber dachten, dass man den grausamen Fakten unbedingt ins Auge blicken müsse. (Ich denke, dass es das Selbstwertgefühl eines Gelehrten ungeheuer hebt, wenn er sich in der Vorstellung sonnt, dass er den Fakten ins Auge blickt, so grausam sie auch sein mögen.) In der Tat gab es Fakten, die die Idee der Säkularisierung zu unterstützen schienen, aber im Rückblick muss ich sagen: Wir haben diese Fakten missinterpretiert. Unser Hauptfehler war, Pluralismus als einen von mehreren Faktoren misszuverstehen, die Säkularisierung fördern; tatsächlich aber ist Pluralismus, also die Koexistenz verschiedener Weltanschauungen und Wertsysteme in ein- und derselben Gesellschaft, die große Veränderung, die die Moderne für die Stellung der Religion sowohl im Bewusstsein des Individuums als auch in der institutionellen Ordnung herbeigeführt hat. Man kann dies mit Säkularisierung in Zusammenhang bringen oder auch nicht – in jedem Fall aber ist der Pluralismus unabhängig von ihr. Allerdings stellt er für den religiösen Glauben eine Herausforderung dar, wenn auch eine andere Herausforderung als die Säkularisierung. Wie mein Lehrer Carl Mayer zu sagen pflegte: »Hier muss man sehr scharf unterscheiden!«

Ich habe 25 Jahre gebraucht, um herauszufinden, dass sich die Säkularisierungstheorie als empirisch unhaltbar erwiesen hat. Meine Sinnesänderung habe ich lautstark im Vorwort zu einem Buch verkündet, das ich 1999 herausgegeben habe – The Desecularization of the World. Es ist mir wichtig zu unterstreichen, dass mein Sinneswandel in keiner Weise die Folge einer philosophischen oder theologischen Bekehrung war. Meine religiöse Einstellung, die ich immer als »unheilbar lutherisch« bezeichnet habe, hat sich seit meiner Jugend nicht verändert. Was geschehen ist, war viel weniger dramatisch: Es wurde mir immer klarer, dass die empirischen Daten der Theorie widersprachen. Abgesehen von einigen Ausnahmen – das sind vor allem Europa und eine internationale Intelligenzija – ist unsere Welt alles andere als säkular; sie ist genauso religiös, wie sie immer war, mancherorts sogar noch stärker. (Die genannten Ausnahmen bedürfen einer Erklärung, die ich immer wieder zu geben versucht habe. Mehr dazu findet sich in meinem gemeinsam mit Grace Davie und Effie Fokas verfassten Buch Religious America, Secular Europe? 2008.) Ich war übrigens nicht der Einzige, der seine Sicht geändert hat. Fast jedem, der moderne Religion untersucht hat, ist es so ergangen. Es ist nur eine kleine Gruppe von Gelehrten übrig geblieben, die immer noch die Säkularisierungstheorie verteidigt. Natürlich widerspreche ich ihnen, aber ich bewundere sie auch irgendwie. Meine Sympathie gehört Menschen, die sich standhaft weigern, der Herde zu folgen.

Anfang 2012 kam mir unversehens ein einfacher Gedanke. Wie immer in solchen Fällen, habe ich mich gewundert, warum ich nicht schon früher darauf gekommen war. Es war ziemlich offensichtlich, aber je mehr ich darüber nachdachte, umso größere Implikationen erwuchsen daraus. Der bekannte Soziologe José Casanova (Georgetown University) hat sich einer sehr hilfreichen Aufgabe gestellt, indem er die verschiedenen Aspekte des Konzepts der Säkularisierung – einige davon problematisch, andere nicht – genau unterschieden hat. Ein Aspekt, mit dem weder Casanova noch jemand anders ein Problem hatte, war das Konzept der Differenzierung: Im Laufe der Modernisierung sind aus unterschiedlichen Gründen manche gesellschaftliche Funktionen, die üblicherweise religiösen Institutionen übertragen waren, auf religiöse und (neue oder neu definierte) andere Institutionen aufgeteilt worden – Kirche und Staat, Religion und Ökonomie, Religion und Bildung etc. Gut und schön, aber als ein gebührend anerkannter Spezialist der Wissenssoziologie hätte ich mir eine diesem Ansatz zugrunde liegende Erkenntnis in Erinnerung rufen sollen: Wenn sich eine Institution in einer Gesellschaft bewähren soll, dann muss sie eine Entsprechung im Bewusstsein haben. Daraus folgt: Wenn in der Gesellschaft eine Differenzierung zwischen religiösen und anderen Institutionen erfolgt ist, muss diese Differenzierung sich auch im Bewusstsein von Individuen manifestieren. In diesem Zusammenhang stolperte ich über eine sehr interessante Phrase, die der niederländische Jurist Hugo Grotius im 17. Jahrhundert geprägt hat. Er schlug vor, dass die neue Disziplin des Völkerrechts nach dem Prinzip »etsi deus non daretur« – »als ob es Gott nicht gäbe« – entwickelt werden sollte. Anders gesagt war sein Vorschlag also, dass eine gesamte Institution von allen religiösen Annahmen getrennt werden und von einem strikt säkularen Diskurs dominiert sein sollte. Ist diese Idee einmal begriffen, dann erscheint eine Unzahl empirischer Daten plötzlich in neuem Licht. Die meisten – sogar glühend – religiösen Menschen agieren in wichtigen Bereichen ihres Lebens im Rahmen eines säkularen Diskurses. Um es anders zu formulieren: Für die meisten Gläubigen gibt es keine starre Dichotomie des »Entweder-oder« zwischen Glauben und Säkularem, sondern vielmehr eine fließende Konstruktion des »Sowohl-als-auch«. Beim Entwickeln dieser Erkenntnis habe ich Alfred Schütz’ Konzepte der »multiplen Wirklichkeiten« und der »Relevanzstrukturen« als sehr hilfreich empfunden. Denkt man entlang dieser Markierungen, erlangt man ein besseres Verständnis für wichtige Themen der modernen globalen Religion, etwa für den kometenhaften Aufstieg des Evangelikalismus (besonders in seiner Ausprägung der »Pfingstler«) und seine positive Einstellung zur Modernisierung, für die eigenartige Überlappung des Bible Belt und des Sun Belt in den USA und für die intensiven Debatten in der muslimischen Welt, was die Beziehung des Islam zur Moderne betrifft. Blickt man aus dieser Perspektive auf die Welt, gibt es ein weiteres hilfreiches Konzept: Shmuel Eisenstadts Idee der »multiplen Modernen«. Westliche Säkularisierung ist nicht die einzige Erscheinungsform der Moderne; es gibt noch andere Versionen von Moderne, in denen der Religion ein viel zentralerer Platz zugestanden wird.

Ich spreche mich nun schon einige Zeit dafür aus, dass wir, wenn wir die Säkularisierungstheorie aufgeben, eine Theorie des Pluralismus brauchen, die sie ersetzt. Erstere ist bislang ein Paradigma gewesen. Das vorliegende Buch soll nun ein bescheidener Beitrag zu einem neuen Paradigma sein. Um es mit Fleisch zu versehen, wird es noch vieler Arbeit bedürfen. Für einen Einzelnen ist das zu viel. Es wird Bemühungen von Kollegen aus verschiedenen Disziplinen mit verschiedenen Kompetenzen erfordern.

Ein »bescheidener Beitrag«? Ein neues Paradigma vorzuschlagen scheint alles andere als bescheiden zu sein, eher eine Übung in Chuzpe, wenn nicht gar ein Symptom für Megalomanie. Ich nehme an, dass ich, wie andere Professoren jenseits eines gewissen Alters auch, gegen Größenwahn nicht immun bin. Allerdings kann ich für mich in Anspruch nehmen, dass ein unausrottbares Gefühl für das Lächerliche mich davor bewahrt hat, mich diesem Größenwahn völlig auszuliefern. Gibt es denn etwas Lächerlicheres als einen Professor, der vorgibt, ein großer Weiser zu sein? Sei es, wie es wolle. Ich glaube, dass ich etwas Brauchbares zu sagen habe. Und wie es in meinem Lieblingssprichwort der Zulu heißt: Wenn ich nicht meine Trommel rühre, wer dann?

Einem nichtakademischen Beobachter mag es wie eine obskure, unmögliche Übung vorkommen, wenn eine Theorie durch eine andere ersetzt wird. Ich hoffe, dass ich mit den folgenden Kapiteln klar machen kann, dass dem nicht so ist. Wenige Themen sind international so wichtig wie der laufende »Kampf um die Seele des Islam«, der von Nordafrika bis Südostasien wütet. Dabei stehen zwei Fragen zur Diskussion. Die eine ist stark persönlich geprägt: »Wie kann ich ein frommer, praktizierender Muslim sein und zur selben Zeit ein moderner Mensch?« Die andere ist politisch: »Wie könnte und sollte eine islamische Moderne aussehen?« Diese beiden Fragen müssen gemeinsam behandelt werden. Natürlich können die Antworten darauf nicht von der Sozialwissenschaft kommen, sondern müssen aus religiöser Überlegung innerhalb der Muslimischen Gemeinschaft entstehen. Da solche Überlegungen allerdings in sozialen Kontexten stattfinden, die offen für empirische Untersuchungen sind, können Sozialwissenschaftler, sogar wenn sie keine Muslime sind, relevante Erkenntnisse beisteuern. Als die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi), die islamistische »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung«, in der Türkei an die Macht kam, sagten einige ihrer Anhänger: »Wir wollen keinen islamischen Staat. Wir wollen gute Muslime in einer säkularen Republik sein.« Was immer aus diesem besonderen Experiment wird: Die Formulierung berührt den Kern der Theorie, auf die dieses Buch abzielt – also alles andere als ein obskures oder unmögliches Projekt! Ähnliche Fragen werden in vielen anderen Teilen der Welt diskutiert – in China, Indien, Russland, Israel, im säkularen Europa und nicht zuletzt in den USA.

Der britische Soziologe Steve Bruce gehört zu jenem ziemlich kleinen Kontingent von Sozialwissenschaftlern, die trotzig an der Säkularisierungstheorie festhalten. In einem freundschaftlich gemeinten Aufsatz aus dem Jahr 2001 legte er mir nahe, meinen »unnötigen Widerruf« der Säkularisierungstheorie zu widerrufen und gewissermaßen in den Schoß der Gemeinde zurückzukehren. Ich bin diesem Vorschlag damals nicht gefolgt und werde ihn auch jetzt nicht annehmen. Das ist es auch nicht, was ich mit diesem Buch bezwecke. Ich bin jedoch bereit einzugestehen, dass die Säkularisierungstheoretiker nicht ganz so falsch liegen, wie ich bisher dachte. Mir ist die globale Realität des säkularen Diskurses jetzt viel umfassender klar – und zwar nicht nur in Europa oder in akademischen Zirkeln in aller Welt, sondern im Leben vieler einfacher Gläubiger, denen es gelingt, beides zu sein – säkular und religiös. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass es diese Menschen sind, die den prototypischen kognitiven Balanceakt der Moderne vollführen und damit die starre Dichotomie zwischen Säkularisierungstheoretikern und jenen, die »die Wiederkehr der Götter« ausrufen, relativieren. Im letzten Kapitel dieses Buchs beschäftige ich mich mit unterschiedlichen »Friedensformeln«, mit denen die Koexistenz verschiedener Religionen in derselben Gesellschaft sichergestellt werden sollte. Vielleicht kann dieses Buch auch als Vorschlag einer »Friedensformel« zwischen rivalisierenden Interpreten der religiösen Szene gelesen werden.

Die Kapitel 1 bis 3 arbeiten Aussagen aus, die ich früher über Religion und Moderne gemacht habe, und relativieren sie bis zu einem gewissen Grad. Die Kapitel 4 bis 6 enthalten die Resultate meiner jüngsten Überlegungen zu diesem Thema. Die Leser müssen selbst entscheiden, ob sie meiner Argumentation folgen wollen. Ich hoffe, dass auch die, die nicht einverstanden sind, die Erörterung interessant und gelegentlich unterhaltsam finden. Ich glaube, dass es dem Verständnis von Religion förderlich ist, wenn man ihren zutiefst komischen Charakter erkennt – die Komödie der mutierenden Spezies der Menschenaffen, wenn sie versucht, die letzte Bedeutung der Galaxien zu verstehen. In jedem Fall glaube ich, dass die in diesem Buch skizzierte Perspektive dabei helfen kann, die unendlich faszinierende Wirklichkeit der religiösen Landschaft zu begreifen, und auch einige Bausteine für ein neues Paradigma von Moderne und Religion bietet.

Einige Danksagungen müssen gemacht werden. Ich möchte Professor Detlef Pollack danken, der mich im Mai 2012 eingeladen hat, den Eröffnungsvortrag zur Gründung des »Centrums für Religion und Moderne« zu halten, den er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit seinen Kolleginnen und Kollegen eingerichtet hat. Dieser Vortrag war die erste Gelegenheit, mit den Überlegungen, die mich neuerdings bewegten, an die Öffentlichkeit zu treten. Die daran anschließende Diskussion war sehr ermutigend und stimulierend für mich. 2013 gab Pollack diesen Vortrag in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Nach dem Niedergang der Säkularisierungstheorie« in einer Broschüre heraus, die auch einige Kommentare von Mitgliedern des Centrums enthielt.1 Der ursprüngliche englische Text ist unter dem Titel Further Thoughts on Modernity and Religion in der Zeitschrift Society (Juli/August 2012) veröffentlicht worden. Dafür möchte ich dem Herausgeber Jonathan Imber ebenso danken wie für seine Bereitschaft, die Referate zweier Konferenzen zum Thema Pluralismus zu veröffentlichen, die am Institute on Culture, Religion and World Affairs (CURA) der Universität Boston stattgefunden haben, das ich 1985 gegründet habe und dem ich noch immer als Senior research fellow angehöre. Des Weiteren danke ich Dan Schmidt von der Lynne and Harry Bradley Foundation, der die Mittel für diese beiden Konferenzen bereitgestellt hat und über lange Jahre ein treuer Unterstützer der Arbeit unseres Instituts gewesen ist. Ich danke auch allen, die mich eingeladen haben, diese Ideen vorzustellen – den Professoren Thomas Banchoff und José Casanova vom Berkeley Center der Georgetown Universität; Vater Gustavo Morello, SJ, vom Jesuitischen Institut am Boston College; Dr. Silke Löchner vom Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg. Schließlich möchte ich Walter Russell Mead danken, der mich eingeladen hat, auf der Website der Zeitschrift The American Interest einen Blog zu schreiben. Unter dem Titel Religion and Other Curiosities schreibe ich diesen Blog nun schon drei Jahre lang. Ich habe begonnen, dieses literarische Genre zu mögen, es ist die Hightech-Version der klassischen europäischen Institution des Zeitungsfeuilletons. Es zwingt dazu, kurz und prägnant zu argumentieren. Auch die Notwendigkeit, jede Woche etwas über Religion zu sagen zu haben, hat mich dazu gezwungen, mich ständig über die globale religiöse Szene auf dem Laufenden zu halten. Das ist eine wunderbare Art, ein Gefühl dafür zu bekommen, was sich alles tut, und abstrakte akademische Theorien den harten Prüfungen der ganz gewöhnlichen Realität zu unterziehen.

Kapitel 1Das Phänomen Pluralismus

Der Begriff »Pluralismus« hat eine lange Geschichte in der Philosophie; grundsätzlich bedeutet er, dass es verschiedene Arten der Realitätssicht gibt. Im jüngeren philosophischen Diskurs wurde der Terminus auf Ludwig Wittgensteins Konzept der »Sprachspiele« angewandt. So interessant das auch sein mag, der philosophische Gebrauch des Wortes beschäftigt mich hier nicht. Wenn ich das Wort Pluralismus verwende, meine ich nicht ein Phänomen, das sich im Denken eines Philosophen abspielt, sondern ein empirisches Faktum in der Gesellschaft, so wie es ganz gewöhnliche Menschen erleben (von denen es glücklicherweise mehr gibt als Philosophen). Dieses profanere Verständnis des Terminus wurde zuerst von dem in Harvard ausgebildeten Philosophen Horace Kallen (1882–1974) angewandt. Er unterrichtete lange Jahre an der New School of Social Research, die sich in New Yorks Greenwich Village befindet. In dieser unkonventionellen Umgebung erlebte Kallen eine viel größere Vielfalt von Menschentypen als in seinen Studentenjahren in Harvard. Kallen war der Sohn eines Rabbiners und als Fünfjähriger mit seiner Familie in die USA gekommen. Lange bevor er mit der Philosophie in Berührung kam, erlebte er die turbulente Realität des Einwandererschicksals – und sie gefiel ihm. Deshalb hat er die Multikulturalität der Vereinigten Staaten nicht nur beschrieben, sondern vielmehr gepriesen. Diese zweifache Bedeutung von Pluralismus – als simple Beschreibung gesellschaftlicher Fakten und als Ideologie – hat sich bis heute erhalten.

Auch ich bin als Einwanderer in die Vereinigten Staaten gekommen, wenn auch nicht als Fünf-, sondern als Siebzehnjähriger, und ich habe ihre Vielfalt seither immer genossen. Aber ich schreibe hier als Beobachter und nicht als Lobpreiser. Das Suffix »-ismus« suggeriert freilich eine Ideologie, und so habe ich stattdessen eine Zeit lang den eher beschreibenden Terminus »Pluralität« benutzt. Das führte dazu, dass ich ständig erklären musste, wovon ich eigentlich sprach – »wissen Sie, das ist so wie Pluralismus«. Dieser Ausdruck wird sofort verstanden und ist sogar Teil der Alltagssprache geworden. Ich benutze den Terminus hier in seiner umgangssprachlichen Bedeutung.

Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich genau definieren, wie ich den Terminus verwende: Pluralismus ist eine gesellschaftliche Situation, in der Menschen verschiedener Ethnien, Weltanschauungen und Moralauffassungen friedlich miteinander leben und freundlich miteinander umgehen. Die zweite Satzhälfte ist wichtig. Es macht kaum Sinn, von Pluralismus zu sprechen, wenn Menschen nicht miteinander sprechen – beispielsweise wenn Menschen miteinander nur als Herren und Sklaven kommunizieren oder wenn sie in scharf voneinander abgegrenzten Gemeinschaften leben und ausschließlich in ökonomischen Belangen interagieren. Damit der Pluralismus seine volle Dynamik entfalten kann, muss es zu einer andauernden Konversation kommen, nicht unbedingt unter Gleichen, aber über eine längere Zeitspanne hinweg und zu einem breiten Themenspektrum. Anthropologen haben dafür zwei hilfreiche Termini: Kommensalität und Konnubium – miteinander essen und einander heiraten. Anders ausgedrückt, wir beziehen uns auf Tischgespräche und Bettgeflüster.

Was dann abläuft, ist ein Prozess, den ich kognitive Kontamination benannt habe. Dieser Ausdruck ist keine großartige Bereicherung der Sprache, aber manchmal macht es Sinn, die Alltagssprache zu verlassen. Mit dieser Formulierung bezeichne ich ein weithin beobachtetes Phänomen: Wenn Menschen länger miteinander sprechen, werden sie einander beeinflussen. Sozialpsychologen haben massenweise Bücher darüber geschrieben. Einige davon sind lustig. Von Milton Rokeach beispielsweise ist das faszinierende Buch The three Christs of Ypsilanti (1964). Ypsilanti bezeichnet hier nicht den griechischen Ort, wo der Dichter Lord Byron sein Leben ließ, sondern eine psychiatrische Klinik in Michigan. Dort lebten zwei Insassen, die sich beide einbildeten, Christus zu sein. Irgendwie kamen sie gut miteinander aus, aber die Psychiater begannen, sich Sorgen zu machen, als ein dritter Patient hinzukam, der dieselbe Wahnvorstellung hatte. Um das Problem in den Griff zu bekommen, wurden die drei aber nicht getrennt, sondern vielmehr gemeinsam untergebracht. Rokeach beschrieb, was daraufhin passierte: Die drei entwickelten etwas, was man nur als geniale Theologie bezeichnen kann, die es jedem der drei gestattete, sich weiterhin als eine Art Christus zu bezeichnen. Menschen, die andauernd miteinander sprechen, auch wenn es Patienten einer psychiatrischen Einrichtung sind, beeinflussen einander schließlich; sie erzielen einen kognitiven Kompromiss.

Ich stelle hier zwei wichtige Behauptungen auf. Die erste ist, dass kognitive Kontamination relativiert. Und die zweite ist, dass Pluralismus kognitive Kontamination als permanenten Zustand erzeugt.

Was ich unter kognitiver Kontamination verstehe, ist eine Anmerkung zu Leon Festingers sehr wichtigem Werk darüber, was er als kognitive Dissonanz bezeichnet (A Theory of Cognitive Dissonance, 1957). So nennt er das, was geschieht, wenn Menschen mit angeblichen Fakten konfrontiert werden, die dem widersprechen, was sie bis dahin geglaubt haben. Festinger interessierte sich besonders für Strategien, die Menschen entwickeln, um diese Dissonanz zu vermeiden. So werden etwa Raucher einen Zeitungsartikel über die angeblichen Gesundheitsrisiken des Rauchens rasch überblättern. Interessanterweise hat Festinger das einige Jahre vor Beginn des großen Kreuzzugs gegen den Tabak beschrieben. Ich glaube, dass sich die Strategien seither nicht wesentlich verändert haben, außer dass der Dissonanz vermeidende Raucher jetzt mehr Artikel überblättern muss. Nach Festinger gibt es eine ganze Palette von Vermeidungsstrategien: die Gültigkeit der abweichenden Information bestreiten, was ich methodologischen Mord nenne würde, ein bei Sozialwissenschaftlern mit starken Vorurteilen sehr beliebtes Instrument; die persönlichen Motive des Informationsüberbringers angreifen, etwa, dass er dafür von irgendjemandem bezahlt würde, der daran ein Eigeninteresse hat; die Informationsträger physisch vom Schauplatz eliminieren oder selbst fliehen; oder, in Extremfällen, sie bekehren oder ermorden. Aber es gibt noch eine weitere Option: mit ihnen verhandeln. Das ist natürlich, was die Patienten in der von Rokeach beschriebenen Klinik getan hatten. Ich habe das Kognitives Feilschen genannt. Wenn man versucht, Pluralismus zu verstehen, ist das eine sehr wichtige Strategie.

Jede andauernde Interaktion mit anderen, die mit unserer eigenen Sicht der Welt nicht übereinstimmen, relativiert letztere. Menschen mit widersprüchlichen Ansichten müssen gar nichts über ihre Unstimmigkeiten sagen. Einfach nur zusammenzusitzen, kann schlimm genug sein. Ich möchte beim Beispiel des Rauchens bleiben. Viele Kinder werden heute sorgfältig über die Schädlichkeit des Rauchens indoktriniert. Dieser Glaube wird von den Familien und von Schulprogrammen, Vertretern der Gesundheitsberufe und den Medien unterstützt. Ich habe einmal ein einschlägiges Erlebnis gehabt. Ein kleines Mädchen, das eindeutig von Anti-Raucher-Tugendwächtern indoktriniert war, saß ihm Wohnzimmer seiner Eltern, als ein Gast seine Pfeife herauszog und anzündete. Keiner hatte etwas dagegen – es war noch im frühen Stadium dieses speziellen Kulturkriegs. Das kleine Mädchen erstarrte in seinem Sessel, die Augen weit aufgerissen. Es war deutlich zu sehen, wie schockiert es war. Der Besucher, der den Verstoß begangen hatte, sagte damals auch nichts. Aber nehmen wir einmal an, das Mädchen hätte sich aus seiner Erstarrung gelöst und den Gast gefragt: »Wissen Sie denn nicht, dass Rauchen Ihrer Gesundheit schadet?« Angenommen, er hätte geantwortet: »Nein, das glaube ich nicht« und hätte gelassen weiter geraucht. Eine Menge verschiedener Szenarien wären in der Folge denkbar gewesen, bis hin zu physischer Gewalt. Im Grunde ist das Argument einfach: Relativierung tritt zumindest minimal auf, wenn jemand sich sichtbar anders benimmt, als es dem Betrachter bislang als angemessen und selbstverständlich erschien. Die Relativierung wird stärker, wenn der Herausforderer die Unstimmigkeit verbalisiert. Auf diese Weise initiieren verschiedene Formen von Interaktion mit unterschiedlichen Weltanschauungen und daraus resultierendem Verhalten einen Relativierungsprozess.

Ein anderes Beispiel für diesen Prozess findet sich im Werk von Montesquieu, der ein eher unzuverlässiger, trotzdem aber enorm einflussreicher politischer Denker gewesen ist. In seinen Persischen Briefen (1721) illustriert Montesquieu genau den Punkt, auf den es mir hier ankommt. Das Buch enthält Briefe, die persische Parisbesucher angeblich nach Hause geschrieben haben. Darin äußern sie Verwunderung über vieles, was sie in den Kreisen, in denen sie sich bewegen, erleben. Etwa finden sie die Koexistenz von Monogamie und Ehebruch eigenartig. Sie berichten auch über das Erstaunen der Pariser, wenn sie ihnen vom Leben in Persien erzählen – beispielsweise von Polygamie und Harems. Die Pariser fragen: »Wie kann man nur ein Perser sein?« Die Frage, die Montesquieu allerdings wirklich aufwerfen wollte, ist aber: »Wie kann man nur ein Pariser sein?« Das genau ist Relativierung und genau darauf zielte Montesquieu ab. Es ist die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit anders wahrgenommen und gelebt werden kann, als es einem bislang als die einzig wahre Art und Weise erschienen ist. Oder, um es einfach zu sagen: Die Dinge können wirklich, wirklich anders sein. Anthropologen nennen diese Erfahrung den »Kulturschock« und gar nicht wenige von ihnen reagieren auf den Relativierungsschock durch »going native« (den Lebensstil oder die Ansichten einer beobachteten Gruppe annehmen). Pluralismus erzeugt eine Situation, in der Relativierung zum Dauerzustand wird. Das kann auf sehr verschiedenen Komplexitätsebenen geschehen – auf der eines kleinen Mädchens, das Zeugin eines in seinen Augen empörenden Benehmens wird, oder auf jener eines Anthropologen, der eine Theorie des Kannibalismus aufzustellen versucht.

Pluralismus, wie ich ihn definiert habe, hat in der Geschichte in verschiedener Form zu unterschiedlichen Zeiten existiert. Er hatte eine lange Tradition in den ostasiatischen Kulturen, besonders in China und Japan. Über mehrere Jahrhunderte legten die Länder entlang der Seidenstraße einen überschäumenden Pluralismus an den Tag, wo Christen, Manichäer, Zoroaster, Hinduisten, Buddhisten und Konfuzianische Gelehrte miteinander interagierten, oft im Kontext hellenistischer Staaten, die als Erbe der östlichen Feldzüge Alexanders des Großen zurückgeblieben waren. Ein wunderbares Beispiel für diese Art von Dialog ist ein klassischer buddhistischer Text, Die Fragen des Königs Milinda, der einen Dialog zwischen einem buddhistischen Weisen und einem hellenistischen Regenten beinhaltet, dessen griechischer Name wahrscheinlich Menander war. Vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrung mit der griechischen Philosophie stellt der König Fragen über den Buddhismus. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie zwei verschiedene Weltanschauungen, die beide – wenn auch in unterschiedlicher Weise – stark religiös geprägt sind, sich miteinander arrangieren. Der Hellenismus, der in den Städten des späten Römischen Reichs florierte, ist eine besonders ausgeprägte Form von Pluralismus und war äußerst wichtig für den Entwicklungsverlauf der europäischen Zivilisation. In diesem günstigen Kontext konnte sich das Christentum von seinem ursprünglichen Ausgangspunkt ausbreiten, zuerst durch die Missionsreisen des Apostels Paulus nach Athen, wo Paulus laut Apostelgeschichte eine Predigt hielt, die direkt auf den hellenistischen Pluralismus Bezug nimmt: »Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch.« Dann verkündete er die Lehre Jesu Christi, dessen Anbetung im Zentrum von Paulus’ Glauben stand. Es gab Perioden – manche kurz, andere länger – in der Geschichte des Islam, in denen muslimische Herrscher religiösen und kulturellen Pluralismus zuließen und sogar förderten, etwa im maurischen Spanien, im Indien der Mogule und im Osmanischen Reich; in Spanien wurde damals sogar ein eigener Begriff geprägt, der die freundliche Koexistenz von Muslimen, Christen und Juden bezeichnete – conviviencia. Das christliche Mittelalter war zwar eine Periode, die sich nicht gerade durch Toleranz auszeichnete, hatte aber auch seine pluralistischen Episoden. Ein Beispiel dafür ist die Herrschaft der Staufer auf Sizilien; ein anderes ist das Languedoc im heutigen Süden Frankreichs, das damals vom Comte de Toulouse beherrscht wurde, der selbst Katholik war, der aber die Albigenser tolerierte und sogar schützte, bis ein besonders grausamer Kreuzzug aus dem Norden die albigensische Häresie ausrottete und dadurch eine pluralistische Kultur zerstörte.

Pluralismus wird oft mit Städten assoziiert – mit Regierungssitzen, Handelszentren und Meereshäfen. Darauf bezieht sich ein altes deutsches Sprichwort: Stadtluft macht frei. Das ist kein großes Geheimnis. Städte sind meist jene Orte, wo Menschen mit sehr verschiedenem Hintergrund Schulter an Schulter leben und kognitive Kontamination ihr kreatives oder (je nach Standpunkt) destruktives Werk beginnt. Sinnvollerweise sollte man daran denken, dass es schon in vormoderner Zeit große Städte gab, etwa Alexandria, und dass Pluralismus somit viel älter ist als die beiden mächtigen treibenden Kräfte des modernen Pluralismus, der Buchdruck und die Dampfmaschine. Die prägnanteste Definition von Moderne ist wohl: die Veränderungen, die in den letzten Jahrhunderten durch Wissenschaft und Technik bewirkt wurden – ein Prozess, der immer rascher verläuft und Auswirkungen auf immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens hat. In gewisser Hinsicht bezeichnet Modernisierung eine Art expandierende Urbanisierung, sodass immer mehr Menschen in aller Welt »Stadtluft« atmen, sogar wenn viele von ihnen – noch – gar nicht in städtischen Gebieten leben. Auf diese Weise wurde Pluralismus globalisiert. Der gesamte Planet wuchs gewissermaßen zu einer riesigen Stadt zusammen.

In der Conditio humana führt Modernisierung zu einer enormen Veränderung – von Schicksal zu Entscheidung. Wir könnten annehmen, dass die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, beim Homo sapiens intrinsisch ist und dass ganz früh, beim ersten Auftreten unserer Spezies, der Einzelne bereits immer wieder entscheiden konnte (»Soll ich an diesem Flussufer Löwen jagen oder am anderen?«). Aber das Spektrum der Wahlmöglichkeiten wächst im Laufe der Geschichte – seit der Industriellen Revolution ist ihr Wachstum sogar exponentiell. Diese Veränderung ist im Grunde das Produkt eines enormen Aufschwungs der Technik – wie beispielsweise die Dampfmaschine und was danach kam –, die ihrerseits wieder durch die Entwicklung dessen ermöglicht wurde, was wir als moderne Wissenschaft kennen – eine kognitive Revolution, verbreitet durch den Buchdruck. Wir können uns neolithische Menschen vorstellen, wie sie in ihren Höhlen sitzen und mit einem simplen Hammer auf den Löwenkadaver einschlagen, den sie gerade hereingeschleift haben. Dieses Hämmern ging jahrhundertelang weiter – immer mit demselben Hammer. Jetzt haben wir nicht nur eine große Auswahl von Werkzeugen, sondern gänzlich alternative Technologiesysteme. Darüber hinaus können wir jetzt selbst entscheiden, wen wir heiraten, wie viele Kinder wir haben, welcher Arbeit wir nachgehen, wo wir wohnen, wie wir uns politisch und ökonomisch organisieren, worüber wir uns unterhalten, zu welchem Glauben wir uns bekennen (besonders natürlich in Kontexten mit einem gewissen Maß an religiöser Freiheit), und sogar was unsere Identität ist – frei nach dem modernen Mantra: »Ich will herausfinden, wer ich bin.« Diese Formulierung ist interessant, denn sie verwendet die Sprache des Schicksals (»wer ich bin«), um die Vorstellung eines Menschen zu vermitteln, der sich entscheidet, wer er ist. Das ganze Leben wird zu einem endlosen Prozess des Neudefinierens, wer jemand ist, im Kontext der scheinbar zahllosen Möglichkeiten, die die Moderne eröffnet. Dieses endlose Feld von Wahlmöglichkeiten wird von den kapitalistischen Strukturen verstärkt, die einen riesigen Markt für Dienstleistungen, Produkte und sogar Identitäten bieten, unter dem Schutz eines demokratischen Staats, der alle Entscheidungen legitimiert, nicht zuletzt jene für Religion. All diese Lebensbereiche eines Menschen waren einmal selbstverständlich, schicksalsgegeben. Jetzt sind sie Schauplatz von beinahe unendlich vielen Entscheidungen.

Die Schriften des deutschen Sozialtheoretikers Arnold Gehlen (1904–1976) helfen, diesen Prozess, der ein Resultat der sich ausdehnenden Wahlmöglichkeiten ist, zu verstehen. Der Mensch hat im Vergleich zu anderen Säugetieren ein vergleichsweise kleines Repertoire von Instinkten, die ihm sagen, was zu tun ist. Schon lange bevor die Moderne angebrochen war, hat diese biologische Tatsache den Menschen gezwungen, nachzudenken und Entscheidungen zu treffen. Müsste das Individuum allerdings jedes Mal, wenn eine Handlung ausgeführt werden soll, eine Entscheidung fällen, würde es in Unentschlossenheit versinken. (In diesem Fall, können wir uns ausmalen, würde der Löwe wohl eher den Menschen fressen als anders herum, was im grausamen Konkurrenzkampf der Evolution zu einer sehr schlechten Prognose für die Zukunft der Spezies führen würde.) Um den Mangel an menschlichen Instinkten auszugleichen, wurden Institutionen entwickelt. Institutionen bieten Handlungsanleitungen, die uns die Instinkte nicht geben. Das heißt, dass sie einen Bereich von Stabilität errichten, wo das Individuum praktisch automatisch und ohne viel nachzudenken handeln kann. Gleichzeitig ermöglichen sie auch einen anderen Bereich, in dem das Individuum frei entscheiden kann. Gehlen nannte diese beiden Bereiche den Hintergrund und den Vordergrund des menschlichen Gemeinschaftslebens. Der Hintergrund ist stark institutionalisiert, der Vordergrund deinstitutionalisiert; der Hintergrund ist der Bereich des Schicksals, der Vordergrund jener der Wahl. Konrad Lorenz, der Zoologe, der die Disziplin der Ethologie begründet hat, war besonders an »Triggern« interessiert – so bezeichnete er die Stimuli, die den einen oder anderen Instinkt veranlassen, zu erwachen und zu einem angemessenen Verhalten zu führen. Weibliche Säugetiere haben einen Instinkt, ihre Neugeborenen zu nähren. Lorenz wollte den Trigger entdecken, der dieses Nährverhalten bei einer besonderen Vogelart, der Graugans, auslöst, mit der er sich viele Jahre beschäftigt hat. Er versuchte, den Trigger selbst auszulösen, damit die Graugansmutter ihn füttern würde. Visuelle Trigger, die aus verschiedenen physischen Signalen bestanden, schaltete er aus. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass es einen akustischen Trigger geben muss – einen bestimmten Tschilpton. Wenn die Muttergans diesen Ton hört, schießt sie herab und füttert das Junge. Zu guter Letzt hatte Lorenz Erfolg und wurde selbst gefüttert. Er drehte einen Film über dieses Experiment, in dem der sehr große, behaarte Mann eifrig vor sich hin tschilpt. Mutter Gans kann ihn unmöglich angeschaut und mit ihrem Küken verwechselt haben, aber sie hörte das Tschilpen, flog sofort herab und fütterte den großen Menschen, der den richtigen Trigger ausgelöst hatte. Eine Art, Gehlens Konzept der Institutionen zu erklären, ist, sie als künstliche Trigger zu bezeichnen.

Sollten Gehlens anthropologische Annahmen richtig sein – und ich denke, sie sind es –, dann ist das immer so gewesen. Es musste so sein, oder das Gemeinschaftsleben hätte nicht funktionieren können. Gäbe es in der Gemeinschaft nur »Hintergrund«, wären wir alle programmiert wie Roboter – was rein biologisch unmöglich ist und jeder, der einmal mit kleinen Kindern zu tun hatte, wird das sofort verstehen: Zumindest eine Zeit lang wehren sie sich gegen das Verhalten, das ihnen ihre Eltern anerziehen wollen. Gäbe es, anderseits, in der Gemeinschaft nur »Vordergrund«, müssten wir jeden Tag Entscheidungen von Neuem treffen und das Gemeinschaftsleben würde zum Stillstand kommen. Sollte das etwas zu abstrakt sein, möchte ich das Gesagte so illustrieren, wie ich es oft in meiner Lehrtätigkeit getan habe. Wir befinden uns in einem Seminar, in dem beispielsweise die Theorien von Arnold Gehlen diskutiert werden sollen. Ich habe oft Seminare abgehalten und auch die meisten Studenten haben bereits an Seminaren teilgenommen. Wir kennen also die Regeln; wir müssen sie nicht bei jedem Treffen neu aushandeln. Wir nehmen diese Regeln so sehr als selbstverständlich, dass wir innehalten müssen, um uns in Erinnerung rufen zu können, was sie sind. Ich möchte einige nennen: Wir alle sitzen um diesen Tisch, wir geben uns nicht die Hände und tanzen um ihn herum. Auch wenn wir noch so sehr in unserer Meinung voneinander abweichen, werden wir keine physische Gewalt anwenden. Es wird zu keinen offenen sexuellen Handlungen kommen. In diesem Raum wird nicht gespuckt, uriniert oder der Darm entleert. Nun stellen Sie sich vor, dass es diese Regeln, die ein Teil der Institution der Höheren Bildung in den USA sind, nicht als Hintergrund unserer Zusammenkunft vorhanden wären. Wir müssten sie bei jedem Treffen neu verhandeln; lasst uns abstimmen – hinsetzen oder tanzen? Sexualkontakte, ja oder nein? Abgesehen davon, dass dies emotionell unerträglich wäre, würden wir niemals zur tatsächlichen Tagesordnung des Seminars vorstoßen: Nachdem endlich alle Regeln neu verhandelt worden sind, bleibt keine Zeit mehr für Gehlen! Wer alt genug ist, die sogenannte Studentenrevolte der späten 1960er-Jahre miterlebt zu haben, dem fallen dabei wohl die ärgerlichen, nicht enden wollenden Diskussionsrunden ein, die es angeblich gebraucht hat, um demokratische Entscheidungen zu treffen. Wir wissen auch, dass der stabile institutionelle Hintergrund eines Universitätsseminars verbal oder durch Verhalten infrage gestellt werden kann – also vielleicht nicht alle, aber doch viele der oben angeführten Regeln, die früher für die Definition der Rollen eines Professors und eines Studenten als selbstverständlich akzeptiert waren. Gehlen nannte dieses Infragestellen Deinstitutionalisierung. Dieser Prozess war in den späten Sechzigern an europäischen und amerikanischen Universitäten häufig anzutreffen. Natürlich dauerte dieses vorgeblich demokratische Chaos nicht an; es konnte das gar nicht. Nach einiger Zeit wurden neue institutionelle Programme formuliert. Das Resultat war, dass die Universität sich veränderte, aber in ihren grundlegenden Funktionen überlebte – beispielsweise darin, das gesamte Wissen weiterzugeben und als Auffangbecken für junge Menschen zu dienen, die sich notorisch daneben benehmen. Max Weber hatte einen speziellen Ausdruck für diesen Prozess: »die Veralltäglichung von Charisma«. Charisma ist die Kraft, die Alltagsroutinen infrage stellt und sprengt. Das kann nicht zum Dauerzustand werden; früher oder später entwickeln sich neue institutionelle Formen.

Dieser Prozess lässt sich gut mit einer Episode aus dieser Zeit illustrieren. Meiner Erinnerung nach trug sie sich in den frühen 1970er-Jahren bei einer Konferenz in Washington zu. Eine Arbeitssitzung wurde rüde und lautstark von einigen Radikalen im Publikum unterbrochen. Mir fiel auf, dass jemand aus dem Veranstaltungskomitee nicht weit vom Hauptstörenfried saß. Als es zu der Unterbrechung kam, stand diese Person auf und schlug vor, man solle eine spezielle Sitzung einberufen, bei der das Thema, das die Radikalen verlangten, diskutiert werden könnte. Ich kam zu dem Schluss, dass der Konferenzapparatschik die Störung erwartet und sich darauf vorbereitet hatte. Mit anderen Worten war ich Zeuge einer arrangierten, vielleicht sogar programmierten Störung geworden. Ich könnte mir einen Austausch kurzer Botschaften zwischen den beiden Beteiligten vorstellen: »Wenn es passt, stören wir die Tagung um 10 Uhr 15.« – »Wunderbar. Ich bin darauf vorbereitet. Wie wäre es, wenn wir eure Veranstaltung morgen um 11 Uhr 30 ansetzen?« Die Hochschulen in den USA und in Europa überlebten die turbulenten Zeiten genau wegen dieser Art von geheimem Einverständnis zwischen Revolutionären und Bürokraten. Am Ende geschah das Typische: Die Revolutionäre wurden selbst Bürokraten.

Pluralismus ist nicht der einzige Faktor bei der Vervielfältigung der Wahlmöglichkeiten, aber er ist ein sehr wichtiger. In Gehlens Terminologie ausgedrückt, befördert der Pluralismus die Ausdehnung des »Vordergrunds« auf Kosten des »Hintergrunds«. Das wird besonders deutlich auf dem Gebiet der Religion, die ja im Mittelpunkt dieses Buches steht. Aber betrachten wir noch ein anderes Feld, jenes der Genderbeziehungen. Hier war es der Feminismus jüngster Provenienz, der den Bereich des Selbstverständlichen verkleinert hat und es Individuen erlaubte zu wählen – ja, sie sogar dazu zwang. Lassen wir pikante Fälle von Sexualverhalten einmal beiseite und nehmen wir ein Beispiel aus der ganz gewöhnlichen gesellschaftlichen Etikette: einen wohlerzogenen Amerikaner der Mittelschicht, der sich in Begleitung einer Frau der Tür nähert. Es ist noch gar nicht so lange her, da hätte er, ohne überhaupt nachdenken zu müssen, die Tür für sie geöffnet und wäre erst hinter ihr durchgegangen. Er hätte sich keine Gedanken über ihre Reaktion machen müssen, vielleicht sogar »Ladies first« sagen können. Mit anderen Worten: Dieser banale Fall von sozialer Interaktion war seit langer Zeit institutionalisiert gewesen. Jetzt ist die Lage anders. Wenn der Mann die Frau nicht gut kennt, muss er rasch überlegen, welche Art von Reaktion er möglicherweise auslösen könnte – da deinstitutionalisierte Reaktionen von Dankbarkeit bis Feindseligkeit reichen können. Nehmen wir einmal an, dass er nicht viel über die fragliche Frau weiß. Da er rasch entscheiden muss, was er tun soll, muss der Mann versuchen, die Frau in jene kulturelle Typologie einzuordnen, die er in seinem Kopf herumträgt. Wenn sich sein Wissen darauf beschränkt, dass sie die ergraute Präsidentin des lokalen Republikanischen Klubs ist, wird er wohl auf altmodische Höflichkeit setzen. Wenn er weiß, dass sie eine Soziologieprofessorin mittleren Alters ist, wird er eher der Etikette der Gendergleichberechtigung folgen. In beiden Fällen ist er mit einer typischen Folge der Deinstitutionalisierung konfrontiert.

Gehlen hatte noch eine weitere Einsicht über Institutionen, nämlich, dass ihre Dekonstruktion zuerst ein berauschendes Gefühl des Befreitseins mit sich bringt. Sowohl die europäische, als auch die amerikanische Literatur ist reich an Geschichten über Menschen, die aus der tiefsten Provinz in die große Stadt kommen, wo sich ihnen plötzlich neue Horizonte eröffnen und alte Repressionen überwunden sind. Man kann voll Überschwang um den Baum der Freiheit tanzen. Nach einer Weile aber weicht der Freiheitstaumel einem wachsenden Angstgefühl. Es fühlt sich an, als hätte man keinen festen Boden mehr unter den Füßen; es gibt keine Sicherheiten mehr und auch keine verlässlichen Leitlinien, wie man leben soll. Man sucht nach einer neuen Befreiung, nach einer Befreiung von der vorhergehenden Befreiung, die die alten institutionellen Zwänge beseitigt hatte. Was dann typischerweise folgt, ist die Rekonstruktion von – alten oder neuen – Institutionen. Es gibt einen amerikanischen Witz, der die Psychologie gut illustriert, die dieser Entwicklung zugrunde liegt: Zwei Freunde sehen sich nach langer Zeit wieder. »Wie geht’s? Bist du immer noch arbeitslos?« – »Nein, ich habe jetzt einen Job. Aber es ist ein schrecklicher Job.« – »Was ist das für ein Job?« – »Nun, ich arbeite in einem Orangenhain. Ich sitze unter einem Baum im Schatten. Die Orangen werden zu mir gebracht und ich muss sie in drei Körbe sortieren – der Größe nach, die Kleinen, die Großen und die Mittleren. Das mache ich den ganzen Tag lang.« – »Also, das verstehe ich jetzt nicht. Das klingt doch wie ein sehr angenehmer Job. Warum sagst du, dass er schrecklich ist?« – »All diese Entscheidungen!«

Pluralismus relativiert und unterminiert so viele der Gewissheiten, nach denen die Menschen früher lebten. Anders gesagt: Sicherheit wird zu einem seltenen Gut. Ich will mich jetzt gar nicht darüber ausbreiten, ob es in der menschlichen Natur ein tiefes Bedürfnis nach Sicherheit gibt. Empirisch gesehen scheint das Bedürfnis weit verbreitet zu sein, und diejenigen, die es haben, regen sich auf, wenn es nicht befriedigt wird. Das scheint mir der Grund dafür zu sein, dass so viele moderne Menschen verängstigt sind und dass die ruhige Gewissheit der vormodernen Gesellschaften so attraktiv ist und für viele nervöse moderne Menschen zu einem Utopia wird – jene Anthropologen, die sich dem »Go-native« verschreiben, eingeschlossen. Der Traum von Shangri-la dauert an. Es gibt zwei scheinbar gegensätzliche, in Wirklichkeit aber zutiefst ähnliche Versuche, die Angst, die mit der Relativierung kam, zu zerstreuen: Fundamentalismus und Relativismus. Ich habe mich mit diesem Thema in einem Buch beschäftigt, das ich mit Anton Zijderveld geschrieben habe, Lob des Zweifels (2009). Ich gehe nicht davon aus, dass der Leser dieses Buches mit meiner früheren Schreiberei vertraut ist, daher möchte ich diese Themen hier noch einmal kurz streifen. Wie der legendäre Rabbi Meir aus Vilnius so richtig sagte: »Von wem soll ich schon abschreiben, wenn nicht von mir selbst?«